Zeitfahrer - Poul Anderson - E-Book

Zeitfahrer E-Book

Poul Anderson

0,0
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Aufbruch in die Unendlichkeit

Seit jeher träumen die Menschen von der Unsterblichkeit – aber diejenigen, die sie erreicht haben, wissen, dass sie ein Fluch ist. Manche Unsterbliche wandern schon seit über zweitausend Jahren durch die Zeit. Sie altern nicht, was Beziehungen zu normalen Menschen mehr als schmerzhaft macht. Die Unsterblichen haben miterlebt, wie die Zeiten sich ändern. Jetzt, in der Moderne, mit ausgefeilten Kommunikationsmethoden und Gentechnikern, die glauben, dem Geheimnis des ewigen Lebens auf der Spur zu sein, ist es beinahe unmöglich geworden, sich zu verstecken. Deswegen beschließt eine kleine Gruppe Unsterblicher, die Erde für immer zu verlassen und ihr ewiges Leben in den Tiefen des Alls fortzusetzen …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 895

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



POUL ANDERSON

ZEITFAHRER

Roman

Das Buch

Seit jeher träumen die Menschen von der Unsterblichkeit – aber diejenigen, die sie erreicht haben, wissen, dass sie ein Fluch ist. Manche Unsterbliche wandern schon seit über zweitausend Jahren durch die Zeit. Sie altern nicht, was Beziehungen zu normalen Menschen mehr als schmerzhaft macht. Die Unsterblichen haben miterlebt, wie die Zeiten sich ändern. Jetzt, in der Moderne, mit ausgefeilten Kommunikationsmethoden und Gentechnikern, die glauben, dem Geheimnis des ewigen Lebens auf der Spur zu sein, ist es beinahe unmöglich geworden, sich zu verstecken. Deswegen beschließt eine kleine Gruppe Unsterblicher, die Erde für immer zu verlassen und ihr ewiges Leben in den Tiefen des Alls fortzusetzen …

Der Autor

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Titel der Originalausgabe

THE BOAT OF A MILLION YEARS

Aus dem Amerikanischen von Jan Heinecke

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1989 by Poul Anderson

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Das Illustrat

Für G. C. und Carmen Edmondson

Salud, amor, dinero y tiempo para gustarlos

May he go forth in the sunrise boat,

May he come to port in the sunset boat,

May he go among the imperishable stars,

May he journey in the Boat of a Million Years.

(Möge er dahinziehen in der Barke des Sonnenaufgangs,

Möge er in den Hafen einlaufen in der Barke des Sonnenuntergangs,

Möge er fahren unter den ewigen Sternen,

Möge er reisen in der Barke der Million Jahre.)

- DAS BUCH VOM HERAUSTRETEN BEI TAGE

(Thebanische Papyrus-Fassung, ca. 18. Dynastie)

DANKSAGUNG

Das Dritte Buch, ›Der Kamerad‹ (›The Comrade‹), erschien ursprünglich in ›Analog Science Fiction/Science Fact‹, Juni 1988; Copyright © 1988 by Davis Publications, Inc.

Das Fünfte Buch, ›Niemand kann seinem Schicksal entrinnen‹ (›No Man May Shun His Doom‹), ist eine Hommage an den verstorbenen Johannes V. Jensen.

Karen Anderson hat das Epigraph beigesteuert, dessen (englische) Übersetzung sie auf meine Bitte hin leicht veränderte; außerdem war sie für das ganze Buch als Gelehrte und Kritikerin eine unschätzbare Hilfe.

Um das ›CCCP‹ hat sich George W. Price verdient gemacht.

INHALT

Erstes Buch

Thule

310 v. Chr.

Zweites Buch

Die Pfirsiche des ewigen Lebens

19 n. Chr.

Drittes Buch

Der Kamerad

359

Viertes Buch

Tod in Palmyra

641

Fünftes Buch

Niemand kann seinem Schicksal entrinnen

998

Sechstes Buch

Begegnung

1050

Siebtes Buch

Artgenossen

1072

Achtes Buch

Hofdame

1221

Neuntes Buch

Geister

1239

Zehntes Buch

In den Bergen

1570

Elftes Buch

Das Kätzchen und der Kardinal

1640

Zwölftes Buch

Die letzte Medizin

1710

Dreizehntes Buch

Folge der Kürbisflasche

1855

Vierzehntes Buch

Männer des Friedens

1872

Fünfzehntes Buch

Zusammenkommen

1931

Sechzehntes Buch

Erstes Buch Thule 

1

»Über die Welt hinaussegeln …«

Hannos Stimme verstummte. Pytheas musterte ihn scharf. Gegen die kahlen, weißgekalkten Wände des Raums, in dem die beiden Männer saßen, wirkte der Phönizier wie ein lebender Sonnenstrahl von draußen. Vielleicht lag es an dem Leuchten seiner Augen und Zähne oder der selbst im Winter gebräunten Haut. Ansonsten war er mittelgroß, schlank und geschmeidig. Die Gesichtszüge erinnerten an einen Adler, Haar und gestutzter Bart waren so schwarz wie ein Krähenflügel. Er trug eine schmucklose Tunika, abgetragene Sandalen und einen einzigen goldenen Ring am Finger.

»Das meinst du nicht ernst«, sagte der Grieche.

Hanno erwachte aus seinem Traum, schüttelte sich und lachte. »O nein. Das war bildlich gesprochen. Allerdings wäre es nicht schlecht, wenn die Mehrzahl Eurer Männer glauben würde, dass wir auf einer Kugel leben. Es stehen ihnen so viele Schrecken und Mühen bevor, dass sie nicht zusätzlich Angst haben sollten, über die Kante in einen Abgrund zu stürzen.«

»Du hörst dich sehr gebildet an«, sagte Pytheas.

»Warum auch nicht? Ich bin weit herumgekommen, habe aber auch viel studiert. Und Ihr, Herr, ein Gelehrter und Philosoph, tragt Euch mit dem Gedanken, eine Reise ins gänzlich Unbekannte zu wagen. Ihr hofft sogar, tatsächlich zurückzukehren.« Hanno nahm einen Becher von dem Tischchen zwischen ihnen und nippte an dem temperierten Wein, den ein Sklave gebracht hatte.

Pytheas rutschte auf seinem Schemel unruhig hin und her. Ein Holzkohlenbecken wärmte den Raum, machte die Luft aber auch stickig. Seine Lungen sehnten sich nach frischer Luft. »Nicht ins gänzlich Unbekannte«, erwiderte er. »Dein Volk fährt so weit. Lykias sagte mir, dass auch du dich rühmst, dort schon gewesen zu sein.«

»Ich habe die Wahrheit gesagt«, erklärte er ernst. »Ich habe diese Reise mehr als einmal gemacht, zu Wasser und zu Lande. Aber dort sind weite Teile Wildnis, andere verändern sich dauernd auf eine Weise, die man nicht vorhersehen kann, meist aber auf Gewalt hinausläuft. Die Karthager sind nur am Zinn interessiert, alles andere nehmen sie nur am Rande mit. Sie berühren nur die Südspitze der Pretanischen Inseln. Der Rest ist jenseits ihres Erfahrungsbereiches und dem aller anderen zivilisierten Völker.«

»Und dennoch willst du mit mir kommen?«

Jetzt musterte Hanno seinen Gastgeber genauer, ehe er antwortete. Auch Pytheas war einfach gekleidet. Er war groß für einen Griechen, hager, mit scharfen Zügen unter der hohen Stirn, glattrasiert, mit einigen tiefen Linien. Das gekräuselte braune Haar war an den Schläfen schon leicht ergraut. Der direkte Blick der grauen Augen verriet ein herrisches Wesen, aber auch Unschuld oder beides.

»Ich glaube schon«, erklärte Hanno vorsichtig. »Wir müssen noch darüber sprechen. Aber auch ich will auf meine Art, wie Ihr auf Eure, so viel wie möglich über diese Erde und ihre Bewohner lernen, solange ich darauf weile. Als Euer Mann Lykias in der Stadt nach möglichen Beratern suchte, habe ich mich gleich bei ihm gemeldet, als ich davon hörte.« Er lächelte wieder. »Außerdem suche ich zur Zeit Arbeit. In diesem Unternehmen dürfte ein satter Profit stecken.«

»Wir reisen nicht als Kaufleute«, erklärte Pytheas. »Wir nehmen zwar Waren mit; aber nur, um unsere Bedürfnisse unterwegs zu befriedigen, nicht um reich zu werden. Allerdings hat man uns eine überaus großzügige Bezahlung nach der Rückkehr zugesichert.«

»Ich nehme an, dass die Stadt nicht Geldgeberin des Unterfangens ist, oder?«

»Korrekt. Ein Konsortium von Kaufleuten übernimmt die Schirmherrschaft. Es will die Möglichkeiten und Kosten einer Seeroute in den fernen Norden erkunden, nachdem jetzt die Gallier den Landweg zu gefährlich machen. Es geht nicht allein um Zinn, musst du wissen. Zinn ist am unwichtigsten, es geht um Bernstein, Pelze, Sklaven und was die Länder sonst noch zu bieten haben.«

»Ja diese Gallier!« Mehr musste nicht gesagt werden. Sie waren über die Alpen geströmt, um Oberitalien in Besitz zu nehmen. Vor vielen Jahren waren Streitwagen durch Europa gerumpelt, hatten Schwerter geblitzt, Heimstätten gebrannt, Wölfe und Raben Festmähler abgehalten. Hanno fuhr fort: »Ich habe schon ein paar Mal mit ihnen das Vergnügen der Bekanntschaft gehabt. Das sollte helfen. Ich kann nur warnen, die Aussichten einer solchen Route sind schlecht. Außerdem gibt es da noch die Karthager.«

»Ich weiß.«

Hanno legte den Kopf schief. »Und trotzdem organisiert Ihr diese Expedition?«

»Um dem Wissen zu folgen«, antwortete Pytheas ruhig. »Ich habe das Glück, dass zwei der Gönner – intelligenter sind als die meisten. Sie schätzen Wissen an sich sehr hoch ein.«

»Wissen kann sich manchmal auf völlig unerwartete Art und Weise auszahlen.« Hanno lächelte. »Verzeiht mir, ich bin ein ungehobelter Phönizier. Ihr seid ein bedeutender Mann des öffentlichen Lebens – ererbtes Geld, habe ich gehört –, aber vor allem ein Philosoph. Ihr braucht auf See einen Navigator und an Land einen Führer und Dolmetscher. Ich glaube, ich bin Euer Mann.«

Pytheas’ Ton wurde scharf. »Was machst du eigentlich in Massalia? Warum bist du bereit, dich an einem Unterfangen zu beteiligen, das – nicht im Interesse Karthagos ist?«

Hanno schaute ihn ernst an. »Ich bin kein Verräter, da ich kein Karthager bin. Sicher, ich habe in der Stadt eine Zeitlang gewohnt, wie in vielen anderen Städten auch. Aber ich mag sie nicht besonders. Sie sind mir dort zu puritanisch, zu wenig von den Errungenschaften Griechenlands oder Persiens beleckt. Und dann die Menschenopfer dort …« Er verzog das Gesicht, zuckte aber dann die Achseln. »Nur ein Narr richtet über die Sitten anderer Völker. Sie machen sowieso weiter. Ich aber komme aus dem Alten Phönizien, aus dem Osten. Alexandras zerstörte Tyros, und die Bürgerkriege nach seinem Tod ließen diesen Teil der Welt in traurigem Zustand zurück. Ich suche überall mein Glück. Ich bin von Natur aus ein Wanderer.«

»Ich muss dich noch besser kennenlernen«, sagte Pytheas offener, als es sonst seine Art war. Hatte er keine Bedenken mehr bei diesem Fremden?

»Aber gewiss doch.« Hanno war bereits wieder fröhlich. »Ich habe mir schon Gedanken gemacht, wie ich Euch meine Fähigkeiten schon bald unter Beweis stellen kann. Ihr seid Euch darüber klar, dass Ihr Euch bald einschiffen müsst, oder? Wenn möglich, zu Beginn der Segelzeit.«

»Wegen Karthago?«

Hanno nickte. »Dieser neue Krieg in Sizilien wird die Stadt eine Weile ganz schön in Atem halten. Agathokles von Syrakus ist ein härterer Feind als die Suffeten, die höchsten gewählten Beamten in Karthago, herausfinden mussten. Ich wäre nicht überrascht, wenn er den Kampf bis an ihre Gestade trägt.«

Pytheas blickte ihn forschend an. »Wie kannst du so sicher sein?«

»Ich war erst kürzlich dort. Da ich gelernt habe, alles genau zu beobachten, tat ich das in Karthago natürlich auch. Ihr wisst sicher, dass die Stadt jeglichen Verkehr über die Säulen des Herkules hinaus verhindern will – oft mit Methoden, die man bei Privatleuten Piraterie nennen würde. Nun, jetzt sprechen die Suffeten ganz offen von völliger Blockade. Wenn sie diesen Krieg gewinnen – oder er unentschieden ausgeht –, fehlen ihnen meiner Meinung nach auf einige Zeit die nötigen Mittel, aber nicht für immer. Eure Expedition wird mindestens zwei, wahrscheinlicher drei oder mehr Jahre dauern. Je früher Ihr aufbrecht, desto früher kehrt Ihr zurück – wenn überhaupt – und geratet dann nicht in eine karthagische Patrouille. Wäre es nicht eine Schande, nach einer solchen Odyssee auf dem Grunde des Meeres oder auf der Sklavenauktion zu landen?«

»Wir haben Kriegsschiffe als Eskorte.«

Hanno schüttelte den Kopf. »O nein! Alles unter einem Fünfdecker wäre nutzlos; aber der lange Rumpf würde nie den Nordatlantik überstehen. Mein Freund, Ihr habt noch keine Wellen gesehen und keinen Sturm erlebt, bis Ihr dort draußen wart. Und wie wollt Ihr für die Männer auf den zweimal fünf Ruderbänken auf jeder Seite Proviant und Wasser mitführen? Die Ruderer verzehren alles wie neunköpfige Raupen, und Nachschub ist keineswegs gesichert. Mein Namensvetter könnte die afrikanischen Küsten mit Galeeren erforschen; aber er ging nach Süden. Ihr braucht Segel. Lasst mich Euch beraten, welche Schiffe Ihr kaufen müsst.«

»Du erhebst Anspruch, Experte auf vielen Gebieten zu sein«, meinte Pytheas.

»Ich bin durch sehr viele Schulen gegangen«, antwortete Hanno.

Die Männer sprachen noch eine weitere Stunde und verabredeten sich für den folgenden Tag. Pytheas geleitete seinen Besucher hinaus. An der Eingangstür blieben sie stehen.

Das Haus stand auf einer Anhöhe hoch über der Bucht. Im Osten, hinter den Stadtmauern, erglühten Berge im Sonnenuntergang. Die Straßen der alten griechischen Kolonie waren zu Schattenflüssen geworden. Stimmen, Schritte und das Knarren von Wagenrädern drangen nur schwach herauf. Die Luft war still und kühl. Nach Westen zu schlug die Sonne eine Brücke über das Wasser. Davor ragten die Masten der Schiffe im Hafen wie Filigran empor. Hoch oben fingen Möwen das Licht auf ihren Schwingen ein: Gold unter tiefem Blau.

»Welch schöner Anblick«, sagte Pytheas leise. »Diese Küste muss die schönste der Welt sein.«

2

Drei Schiffe zogen im Mondschein ihre Bahn. Die Kapitäne wagten nicht, in Gadeira oder einem anderen Teil von Tartessos – karthagischem Territorium – anzulegen und hielten trotz der Dunkelheit weiten Abstand von der Küste. Die Mannschaften murrten; aber schließlich war nächtliches Segeln in bekannten Gewässern durchaus üblich; aber draußen auf dem weiten Ozean zu sein, war ein überwältigendes Erlebnis.

Es waren drei Schwesternschiffe. Dadurch hatten sie keine Probleme, im Konvoi zu fahren. Es waren alles Handelsschiffe, allerdings bestand die Hauptladung aus hervorragend bewaffneten Soldaten samt Ausrüstung. Sie waren schmaler als die meisten dieses Schiffstyps. Der schwarze Rumpf teilte die Wogen einige hundert Fuß vom hohen Heck entfernt, wo die beiden Steuerruder sich befanden. Ein Schwanenkopf erhob sich als Galionsfigur am Bug. Ein Mast mittschiffs trug ein großes, quadratisches Segel und ein dreieckiges Marssegel. Vor dem Großmast befand sich ein kleines Ruderhaus. Hinter dem Mast lagen zwei Ruderboote, mit denen man das Schiff bei Bedarf ziehen oder Leben retten konnte, wenn es zum Schlimmsten kam. Sie konnte sich etwa achtzig Grad langsam und träge vom Wind abhalten. Es gab sehr viel wendigere Schiffe; aber sie machten weniger Fahrt. Heute, bei günstigem Wind, machte sie etwa fünf Knoten.

Hanno kam an Deck. Die Kabine, welche die Offiziere sich teilten, war eng für jemand mit seinen Gewohnheiten. Er schlief daher oft an Deck mit einigen Männern der Besatzung, denen es unten auch zu eng und zu stickig war. Manche lagen in Decken gewickelt auf Strohmatten entlang der Schiffswand. Die Luft war kalt. Hanno zog seine Chlamys fester. Der Wind strich über die zischenden Wellen dahin, Takelage und Planken knarrten leise. Das Schiff schaukelte sanft dahin, so dass man die Muskeln anspannen musste, um die Bewegung auszugleichen.

An der Steuerbordreling stand nahe dem vorderen Ausguck eine Gestalt. Hanno erkannte Pytheas’ Profil gegen die silbrige freie Stelle zwischen den Wolken und trat zu ihm. »Schön Euch zu treffen«, begrüßte er ihn. »Ihr könnt wohl auch nicht schlafen?«

»Ich hatte gehofft, Beobachtungen machen zu können«, erwiderte der Grieche. »Wir werden nicht viele so klare Nächte haben, oder?«

Hanno schaute aufs Meer hinaus. Das Mondlicht versilberte die Wellenkämme. Alles glitzerte; Gischt wirbelte gespenstisch. Die Laternen an der Rah berührten kaum den Gesichtskreis, obwohl er auch welche bei den Schwesternschiffen erkennen konnte. In der Ferne hob sich eine Landmasse aus dem Wasser: Iberien. Bei dem Wechselspiel von Nacht und Licht war die Entfernung schwer abzuschätzen. »Bis jetzt haben wir mit dem Wetter Glück gehabt«, meinte er. Dann zeigte er auf das Goniometer in Pytheas’ Hand. »Kann man mit dem Ding hier etwas anfangen?«

»An Land wäre es präziser. Wenn wir nur … Nun denn, ich werde bestimmt später noch bessere Gelegenheit haben. Dann stehen der Große und der Kleine Wagen höher.«

Hanno blickte zu den Sternbildern hinauf. Ihr Licht war schwächer geworden, als der Mond gestiegen war. »Was versucht Ihr zu messen?«

»Ich möchte den nördlichen Himmelspol exakter bestimmen als dies bisher geschah«, erklärte Pytheas. »Siehst du, wie die beiden hellsten Sterne im Kleinen Wagen mit dem ersten Stern in der Deichsel drei Ecken eines Quadrats bilden? Der Pol ist der vierte Eckpunkt, wird jedenfalls behauptet.«

»Ich weiß das. Ich bin Euer Navigator.«

»Verzeih mir, das hatte ich im Augenblick ganz vergessen, so vertieft war ich.« Pytheas lachte verlegen. Doch dann geriet er wieder in Begeisterung. »Wenn diese Peilung über den Daumen verbessert werden kann, dürfte das eine große Hilfe für die Seeleute sein. Das weißt du am besten. Noch wichtiger aber wird es für die Geographen und Kosmographen sein. Da die Götter es nicht für nötig hielten, direkt am Pol einen Stern hinzusetzen, nicht einmal in die unmittelbare Nähe, müssen wir uns behelfen, so gut es geht.«

»Es hat solche Sterne in der Vergangenheit gegeben«, sagte Hanno. »Es wird sie auch in der Zukunft wieder geben.«

»Was?« Pytheas schaute ihn im trügerischen Mondlicht scharf an. »Willst du damit sagen, dass der Himmel sich verändert?«

»Über die Jahrhunderte hinweg«, antwortete Hanno und machte eine abwertende Handbewegung. »Vergesst es! Wie Ihr habe ich ohne nachzudenken geredet. Ich erwarte nicht, dass Ihr mir glaubt. Haltet es einfach für Seemannsgarn.«

Pytheas strich sich übers Kinn. »Nun, in der Tat hat mir ein Geschäftsfreund in Alexandria, wo die große Bibliothek ist, geschrieben, dass sich in uralten Aufzeichnungen gewisse Andeutungen befinden … Das bedarf aber intensiveren Studiums. Aber du, Hanno …«

Der Phönizier lächelte entwaffnend. »Vielleicht treffe ich ab und zu mit meinen Vermutungen ins Schwarze.«

»Du bist – in mehr als einer Hinsicht einzigartig. Bis jetzt hast du mir nur wenig über dich mitgeteilt. Ist ›Hanno‹ der Name, mit dem du geboren wurdest?«

»Er tut’s.«

»Du scheinst ohne Heim, ohne Familie oder andere Bindungen zu sein.« Pytheas wurde heftig. »Ich verabscheue den Gedanken, dass du einsam und schutzlos bist.«

»Danke; aber ich brauche kein Mitgefühl.« Doch gleich wurde Hanno wieder umgänglicher. »Ihr beurteilt mich nach Euch. Habt Ihr schon Heimweh?«

»Nicht wirklich. Nicht auf dieser Mission, von der ich seit Jahren träume.« Der Grieche machte eine Pause. »Aber ich habe Wurzeln, Frau und Kinder. Mein ältester Sohn ist verheiratet. Er sollte Enkel für mich haben, wenn ich zurückkehre.« Er lächelte. »Meine älteste Tochter ist im heiratsfähigen Alter. Ich überließ meinem Bruder die Verantwortung für sie, mit dem Rat und der Zustimmung meiner Frau natürlich. Ja, meine kleine Danaë hat vielleicht auch schon etwas Kleines für mich bei der Heimkehr.« Er schüttelte sich, als habe ihn ein kalter Windstoß getroffen. »Es hat keinen Sinn, sich nach ihnen zu sehnen. Selbst wenn alles gut geht, werden wir sehr lange unterwegs sein.«

Hanno nickte. »Und bis dahin – die Frauen der Barbaren sind meist leicht zu gewinnen, wie ich feststellte.«

Pytheas schaute ihn schweigend an und sagte nichts über die Knaben, die bereits an Bord verfügbar waren. Ganz gleich, wie Hannos Geschmack war, glaubte er kaum, dass der Phönizier sich mit einem Mitglied der Expedition näher einlassen würde. Wie viel Humanität steckte wirklich in ihm, hinter dieser freundlichen Fassade?

3

Urplötzlich, wie ein Schlag in den Magen, waren die Keltoi da. Ein Dutzend großgewachsener Krieger sprang aus dem Wald und rannte über den grasbewachsenen Hang zum Strand hinunter. Es wurden zwanzig, hundert, zweihundert und noch mehr. Sie schwärmten auf die beiden Anhöhen, welche die Bucht schützten, in denen die Schiffe vor Anker gegangen waren.

Seeleute schrien und ließen alles fallen, womit sie gerade Lager aufschlagen wollten. Sie griffen zu den Waffen. Soldaten, schwer und leicht Bewaffnete, schoben sich durch das Chaos, um eine Formation zu bilden. Helme, Brustplatten, Schilde, Schwerter und Piken schimmerten im Nieselregen. Hanno lief zu ihrem Hauptmann Demetrios und packte ihn am Handgelenk. »Fangt keinerlei Feindseligkeiten an! Die warten nur darauf, unsere Köpfe als Kriegstrophäen mit nach Hause zu nehmen«, fuhr er ihn an.

Der Kriegsmann spottete: »Und wenn wir friedlich bleiben, fallen sie uns dann um den Hals?«

»Das kommt darauf an.« Hanno spähte in die diesige Umgebung. Die Sonne in seinem Rücken musste schon nahe dem Horizont sein. Die Bäume bildeten eine graue Wand hinter den Angreifern. Kriegsgeschrei übertönte die Brandung, hallte von den Klippen wider, dass die Möwen erschreckt hochflogen. »Jemand hat uns schon vor Tagen erspäht und seiner Sippe Bescheid zukommen lassen. Sie folgten unserem Kurs unter der Deckung der Bäume. Sie erwarteten, dass wir an einem Ort unser Lager aufschlagen, den die Karthager üblicherweise benutzen. Wir haben ja die Brandspuren und Abfälle der Lager gesehen. Und dann …« Er dachte laut.

»Warum warteten sie nicht, bis wir mit Ausnahme der Wachposten schliefen?«

»Sie müssen vor der Dunkelheit Angst haben. Dies kann nicht ihr Land sein. Und deshalb – warte einen Augenblick! Ich hätte einen Ast schälen oder einen grünen Zweig nehmen sollen. Aber das müsste es auch tun.« Er griff zur Standarte. Der Standartenträger fluchte und hielt die Stange fest.

»Befiehl ihm loszulassen, Demetrios!«, verlangte Hanno.

Der Anführer der Söldner zögerte kurz, befahl aber dann: »Loslassen, Kleanthes!«

»Gut. Jetzt lass die Trompeten blasen und auf die Schilde schlagen. Mach so viel Lärm wie möglich, bleib aber, wo du bist!«

Dann schritt Hanno mit erhobener Standarte vor. Er ging langsam und feierlich, in der rechten die Stange, in der linken Hand das blanke Schwert. Hinter ihm erscholl ein Höllenlärm.

Die Karthager hatten bis zur Quelle, wo sie Wasser holten, alles Gebüsch gerodet. Die Entfernung betrug etwa ein athenisches Stadion. Dahinter machte das dichte Unterholz jedes lautlose Vorrücken unmöglich. Ein Überraschungsangriff schied somit aus. Die Gallier hatten noch nicht mit dem Sturmangriff begonnen, den zivilisierte Gegner so fürchteten. Sie rückten noch einzeln oder in kleinen Gruppen, ungeordnet, aber tödlich, vor.

Die Männer waren groß und hellhäutig. Die meisten zierten lange Schnurrbärte. Keiner hatte sich in letzter Zeit rasiert. Die, welche ihr Haar nicht zu Zöpfen geflochten trugen, hatten es rot gefärbt und zu Spitzen hochgestellt. Tätowierungen und Bemalungen sah man auf den nackten Körpern. Allerdings trugen viele einen bunt gefärbten Kilt – eine Art primitiven Himation – oder Hosen und Tuniken in grellen Farben. Ihre Bewaffnung bestand aus Langschwertern, Speeren und Dolchen. Einige trugen Rundschilde, nur wenige Helme.

In vorderster Reihe war ein Hüne auf einem halbkreisförmigen Wagen mit einem vergoldeten Helm, der in Hörnern endete. Ein bronzener Halsring umschloss seine Kehle und goldene Spiralen seine Arme. Die Krieger rechts und links von ihm waren beinahe ebenso prächtig. Er musste der Häuptling sein. Hanno ging auf ihn zu.

Der Lärm der Griechen verblüffte die Barbaren, so dass sie innehielten. Sie schauten umher und murmelten miteinander. Pytheas sah, wie Hanno ihren Anführer begrüßte. Er hörte Hörnerschall und laute Stimmen. Männer liefen umher und riefen sich etwas zu, das er nicht verstand. Die Gallier waren murrend stehengeblieben. Sie setzten sich hin oder standen auf ihre Speere gelehnt da und warteten. Der Regen wurde dichter, das Tageslicht schwächer, so dass er nur noch Schemen erkennen konnte.

Eine Stunde verging. Es war dunkel geworden. Unter den Bäumen loderten Feuer auf.

Hanno kehrte zurück. Er schritt wie ein Schatten vorbei an Demetrios’ Wachposten, zwischen den verschreckten Seeleuten hindurch zu Pytheas, der unten bei den Booten wartete. Er hatte aber keineswegs fliehen wollen, sondern weil hier das Wasser etwas mehr Licht widerspiegelte.

»Wir sind sicher«, verkündete Hanno. Pytheas atmete erleichtert auf.

»Aber wir haben eine arbeitsame Nacht vor uns«, fuhr Hanno fort. »Feuer machen, Zelte aufschlagen, das Beste von dem elenden Proviant muss gekocht werden. Unsere Gäste legen zwar wenig Wert auf Qualität, die Quantität ist ausschlaggebend.«

Pytheas bemühte sich, in Hannos Gesicht, das im Schatten lag, zu lesen. »Was ist geschehen?«, fragte er barsch. »Was hast du gemacht?«

Hanno blieb ruhig, hatte aber Mühe, ein Lachen zu unterdrücken. »Ich habe genug Keltisch gelernt, um mich durchzuschlagen. Außerdem kenne ich mich etwas mit ihren Sitten und ihrem Glauben aus. Diese unterscheiden sich nicht allzu sehr von anderen wilden Stämmen. Ich kann mich über meine Wissenslücken hinübermogeln. Ich ging wie ein Herold zu ihnen, und damit als heilige Person, und sprach mit ihrem Häuptling. Er ist kein übler Bursche. Ich habe bei Hellenen, Persern, Phöniziern und Ägyptern viel schlimmere Typen an der Macht erlebt. Aber das spielt keine Rolle.«

»Was … wollten sie eigentlich?«

»Uns niedermachen, ehe wir fliehen konnten, natürlich. Dann wollten sie mit unseren Booten zu den Schiffen fahren, sie entern und plündern. Diese Tatsache allein zeigt schon deutlich, dass dies hier nicht ihre Heimat ist. Karthager haben mit den Eingeborenen Verträge. Es wäre natürlich auch denkbar, dass sie diese aus irgendwelchen kindischen Gründen gekündigt haben. Aber dann hätten sie nach Einbruch der Dunkelheit angegriffen. Sie prahlen mit ihrer Furchtlosigkeit; aber wenn es mehr um Beute als um Ruhm geht, nehmen sie keine unnötigen Risiken auf sich. Während wir uns auf die Schiffe zurückziehen, würden von ihnen doch einige von unseren Soldaten getötet werden. Aber sie zeigten sich, sobald wir am Ufer waren. Das kann nur heißen, dass sie sich in dieser Gegend vor der Dunkelheit fürchten – vor Göttern und Geistern der hier Erschlagenen, die noch nicht versöhnt wurden. Unter anderem habe ich auch diese Karte ausgespielt.«

»Wer sind sie?«

»Pikten aus dem Osten, die sich in dieser Gegend niederlassen wollen.« Hanno lief vor Pytheas auf und ab. Sand knirschte unter seinen Füßen. »Sie ähneln aber gar nicht den zahmen und halbzahmen Stämmen im Hinterland Massalias, auch wenn sie entfernt mit ihnen verwandt sein müssen. Sie haben mehr Achtung vor handwerklichen Fähigkeiten und Wissen als ich bei Euren Griechen normalerweise feststellte. Ihr Schmuck, alle ihre Arbeiten sind wunderschön. Bei ihnen ist nicht nur ein Herold oder Poet heilig, sondern jeder Weise. Durch Taschenspielertricks und allerlei okkultistischen Unsinn wies ich mich als Magier aus, die sie Druiden nennen. Ich drohte – selbstverständlich sehr dezent –, sie mit einer Satire zu verspotten, sollten sie mich beleidigen. Ich bewies ihnen, dass ich auch ein Poet sei mit einem Plagiat von Homers Epen. Das muss ich aber noch verfeinern. Ich habe ihnen nämlich mehr davon versprochen.«

»Du hast was?«

Hanno lachte laut. »Macht das Lager bereit für ein Fest. Sagt Demetrios’ Leuten, sie sollen sich als Ehrengarde aufstellen. Bei Morgengrauen haben wir Gäste. Ich wage zu behaupten, dass die rauschenden Festivitäten den ganzen Tag dauern werden. Von Euch erwartet man großzügige Geschenke; aber das ist in Ordnung. Wir haben jede Menge Tauschwaren dabei, und die Ehre verlangt, dass Ihr um ein Vielfaches mehr als Gegengeschenk bekommt, und zwar Sachen, die wir gut brauchen können. Außerdem haben wir jetzt sicheres Geleit auf eine lange Strecke nach Norden.« Er machte eine Pause. Meer und Land um ihn her seufzten. »Ach ja, wenn wir morgen Abend gutes Wetter haben, müsst Ihr mit Euren Sternbeobachtungen fortfahren, Pytheas. Das wird sie namenlos beeindrucken.«

»Und … es ist ein Teil dessen, weswegen wir diese Reise unternehmen«, flüsterte Pytheas. »Was du gerettet hast.«

4

Hinter ihnen lagen die Dumnonischen Zinnminen und der Hafen, in den kein karthagisches Schiff einlaufen würde, solange der Krieg währte. Dort hatten sie die drei Schiffe unter Lykias’ Bewachung zurückgelassen, um sie zu überholen und auszubessern. Demetrios organisierte eine Landexpedition entlang der Küste nach Westen und Süden, während Pytheas sich das Landesinnere und den Norden Pretanias selbst vorbehielt.

Er kam mit Hanno und einer kleinen militärischen Eskorte aus den Hügeln auf eine leicht wellige Ebene mit gelegentlichen Weiden und gepflügtem Ackerland. Sie wurde beherrscht von einem gigantischen Erdwall in einer tiefen Grube. Der kalkige Krater war oben ausgehöhlt, so dass Bewaffnete sich dort aufhalten und wohnen konnten.

Der Kommandant nahm die Reisenden gastfreundlich auf, nachdem er sich ihrer guten Absichten vergewissert hatte. Die Leute waren immer begierig, etwas von der Welt draußen zu hören. Die meisten Barbaren hatten einen armselig engen Horizont. Die Gespräche verliefen etwas stockend mit Hilfe von Hanno und einem Dumnonier, der sie bis hierher begleitet hatte, aber jetzt heimgehen wollte. Ein Mann, mit dem seltsamen Namen Segovax, bot sich als Ersatz an und führte die Gäste zu einem großen Wunder in der Nähe.

Der Wind war kalt und stürmisch. Es roch nach Herbst. Die Blätter färbten sich gelb, braun und dunkelrot und lösten sich von den Ästen. Ein Pfad führte zu einer Hochebene, auf der nur wenige Bäume standen. Wolkenschatten und blasses Sonnenlicht fielen auf die sich unendlich weit dahinziehende, graugrüne Graslandschaft. Ganz in der Ferne sah man einsame Schafherden. Die Griechen marschierten wacker dahin und führten die Packpferde, die sie in Dumnonien erstanden hatten, am Zügel. Sie wollten nicht zur Erdwallfeste zurückkehren, sondern weiterziehen. Ein Winter war zu kurz, um dies Land systematisch zu erforschen. Im Frühjahr musste Pytheas wieder bei seinen Schiffen sein.

Langsam nahm das Ding in der Ferne Konturen an. Bis jetzt wirkte es eher unscheinbar. Pytheas nahm an, dass die Einheimischen viel Wirbel darum machten, weil sie nichts Besseres kannten. Doch beim Näherkommen wurde es immer größer und größer. Innerhalb eines verwitterten Erdwalles erhob sich ein dreifacher Kreis aus Steinen, etwa siebzig Ellen breit. Der höchste Stein war mehr als dreimal mannshoch. Steinplatten von ähnlicher Größe bildeten die obere Querverbindung. Die Steine waren grau, mit Flechten bewachsen, verwittert und unvorstellbar mächtig.

»Was ist das?«, flüsterte Pytheas.

»Ihr habt doch die Megalithbauten im Süden gesehen, oder?« Hannos Stimme klang weniger gelassen als seine Worte, die ihm der Wind fast von den Lippen riss.

»Ja, aber nichts, was hiermit vergleichbar wäre. Frag doch bitte.«

Hanno wandte sich an Segovax. Keltische Laute schwirrten durch die Luft.

»Er sagt, Giganten hätten dies am Morgen der Welt erbaut«, erklärte Hanno Pytheas.

»Dann sind seine Leute ebenso unwissend wie wir«, meinte der Grieche leise. »Wir werden hier übernachten. Vielleicht können wir etwas herausbringen.« Es war eher ein Gebet als Hoffnung.

Den Rest des Tages widmete er sich dem Schauen und den Instrumenten. Hanno konnte nicht viel helfen, und auch Segovax hatte kaum mehr Informationen. Pytheas verwendete viel Zeit darauf, den genauen Mittelpunkt des Kreises zu bestimmen, um von dort aus seine astronomischen Beobachtungen durchzuführen. »Ich glaube«, sagte er und zeigte mit dem Finger, »dass genau über diesem Stein da draußen die Sonne am Mittsommerstag aufgeht. Aber sicher bin ich nicht, und leider können wir nicht so lange warten, um zu sehen, ob ich Recht habe, stimmt’s?«

Die Nacht rückte näher. Die Soldaten hatten die Zeit genutzt, um sich auszuruhen. Jetzt machten sie Feuer und kochten das Abendessen. Dabei schwatzten und lachten sie unbekümmert. Sie hatten keinen Grund, einen Angriff von Menschen oder Geistern zu fürchten.

Das Wetter hatte aufgeklart. Nachdem es ganz dunkel geworden war, verließ Pytheas das Lager, um seinen Beobachtungen nachzugehen, was er bei jeder möglichen Gelegenheit tat. Hanno begleitete ihn und trug ein Wachstäfelchen und einen Griffel, um die Maße aufzuzeichnen. Er verstand sich auf den phönizischen Trick, auch ohne Licht zu schreiben. Pytheas konnte die Instrumente mit Hilfe von Kerben und erhöhten Markierungen mit den Fingerspitzen ablesen. Die Ergebnisse waren zwar nicht so genau, wie er sie sich gewünscht hätte, aber besser als gar keine. Als ein Stein den Schein der Feuer abschirmte, waren sie allein im Kreis mit dem Sternenhimmel.

Titanische Schwärze hüllte sie ein. Sterne glitzerten dazwischen, als habe man sie eingefangen. Hoch oben schwebte die Milchstraße, ein Nebelstrom, der dem Schwan Flügel verlieh. Still hing die Leier da. Der Drache rollte sich halb um eine Stange, seltsam hoch am Himmel. Es wurde kälter, während sich das große Rad drehte. Frost bedeckte die Steine mit Raureif.

»Sollten wir nicht lieber etwas schlafen?«, fragte Hanno schließlich. »Ich vergesse langsam, wie sich Wärme anfühlt.«

»Von mir aus«, antwortete Pytheas schleppend. »Ich habe so viel wie möglich herausgefunden.« Dann wurde er heftig. »Aber das ist nicht genug und wird es nie sein! Unsere Leben sind um eine Million Jahre zu kurz.«

5

Nach der langen Seereise gen Norden, vorbei an Land, das immer zerklüfteter wurde, immer mehr von Riffen, aber auch fetten Weiden gesäumt war, bog die Küste endlich nach Osten. Hier war das Meer so rau wie der Untergrund, an dem sich die Brandung brach. Die Schiffe ankerten bei Sonnenuntergang weit draußen. Es war besser, ohne Feuer zusammenzukriechen, als die Zufahrt durchs Ungewisse zu wagen. Am vierten Tag stieg über dem Dunst eine rotgelbe Insel herauf. Pytheas beschloss, zwischen ihr und dem Festland hindurchzusegeln. Bis in die Dunkelheit kämpften die Schiffe sich voran.

Die Männer sahen keine Morgendämmerung, da dichter Nebel herrschte. Hinter ihnen stand eine weiße Wand vom Heck bis zum unsichtbaren Ende der Welt. Es ging eine leichte Brise, die Sicht betrug etwa ein Dutzend athenischer Stadien, deshalb hissten sie die tropfnassen Segel. Die kleine Insel fiel zurück. Auf der Steuerbordseite tauchte eine Nebelbank auf, die aber nicht allzu schlimm zu sein schien. Das Tosen der Brecher wurde stärker wie ein unterirdischer Donner.

Dann überrollte sie die weiße Wand. Sie waren blind. Die Brise erstarb. Sie lagen hilflos da.

Noch nie hatte jemand an Bord einen solchen Nebel erlebt. Ein Mann mittschiffs sah weder Bug noch Heck. Der Blick verschwand im erstickenden, grauen Wirbel. Seitwärts konnte er nur mit Mühe die Schaumspur ausmachen. Wasser senkte sich aufs Tauwerk und tropfte herab. Das Deck glänzte. Die Nässe nistete sich auch in Haare und Kleidung ein. Das Atmen fiel schwer, die Kälte ging bis auf die Knochen, als würden sie bereits ertrinken. Das graue Nichts war voll Lärm. Die See wurde schwerer, Planken und Maste ächzten, der Rumpf schwankte stärker. Die Wellen tobten und schlugen auf Deck, die Brandung dröhnte. Hörner ertönten, die Mannschaft schrie sich heiser, ein Schiff schrie verzweifelt nach den unsichtbaren Schwestern.

Pytheas stand achtern am Ruder und schüttelte den Kopf. »Was lässt die Wellen so anschwellen, wenn wir keinen Wind haben?«, fragte er im Tumult.

Der Steuermann packte sein nutzloses Ruder und zitterte. »Wesen aus der Tiefe«, krächzte er, »oder die Götter dieser See sind wütend, weil wir sie stören.«

»Lasst die Boote zu Wasser!«, rief Hanno zu Pytheas. »Sie können uns warnen, wenn wir auf ein Riff oder einen Felsen zutreiben. Vielleicht können sie uns auch durchschleppen.«

Der Steuermann schrie vor Entsetzen auf. »O nein! Ihr werdet keine Männer da hinunter zu diesen Meeresungeheuern schicken. Keiner wird gehen.«

»Ich werde sie nicht schicken«, erwiderte Hanno. »Ich werde sie führen.«

»Oder ich«, fügte Pytheas hinzu.

Doch jetzt schüttelte der Phönizier den Kopf. »Wir können Euer Leben nicht aufs Spiel setzen. Wer hätte uns so weit bringen können und wer sollte uns wieder heimführen? Ohne Euch wären wir alle tot. Helft mir aber, die Mannschaft zu begeistern.«

Pytheas’ ruhige Worte dämpften die Angst der Männer, so dass sie ein Boot losmachten und seitwärts über Bord ließen, als das Schiff krängte und die weißen Schaumkronen ganz nahe vorbeigaloppierten. Hanno sprang hinab, stemmte sich zwischen zwei Ruderbänke und nahm ein Ruder, das ihm ein Seemann reichte. Andere folgten ihm. Sie kämpften sich frei, hingen aber an einer Schleppleine. Das nächste Boot wurde zu Wasser gelassen.

»Ich hoffe nur, die anderen Kapitäne …«, fing Hanno an. Ein Schwung Salzwasser fing auf, was sowieso niemand gehört hätte.

Das Schiff verschwand im Nebel. Das Beiboot erklomm eine Woge, die sich wie ein Berg auftürmte, stand kurz auf dem Scheitel, um dann in ein Wellental zu stürzen, dass die Männer von riesigen Wasserwänden umgeben waren. Das Tosen kam aus jeder Richtung. Hanno hatte das Ruder übernommen. Er konnte nur versuchen, nicht in die Trosse verwickelt zu werden. »Pull!«, schrie er. »Pull, pull, pull!« Die Männer griffen zu den Riemen und Pützen, um das Wasser auszuschöpfen, das den Männern bis an die Knöchel reichte.

Dann wurde das Boot wie von der Hand eines Riesen ergriffen und herumgewirbelt. Aus der Nebelwand schoss ein Wasserfall über sie. Als sie wieder sehen konnten, war das Schiff über ihnen. Das Boot knallte gegen den Rumpf und wurde von der See entlanggeschoben, dass die Planken knackten und das Boot auseinanderbrach.

Pytheas sah es von oben. Ein Mann ruderte verzweifelt mit Armen und Beinen; aber die Wellen schleuderten ihn gegen die Bordwand, dass sein Schädel zersprang. Gehirn, Blut, Körper versanken.

»Leinen raus!«, rief Pytheas. Er nahm sich nicht die Zeit, das Tau vom Poller abzuwickeln, sondern schnitt mit dem Messer ein Stück vom schlaffen Großsegel. Als er es über Bord warf, verschwand das Ende in Schaum und Nebel. Keiner der Schwimmer hatte es gesehen.

Er rief nach einem zweiten Tau, das er ebenfalls über die Reling ließ. Dann stemmte er sich ein und hielt das Tau mit einer Hand gespannt, während er sich hinausbeugte und mit der rechten das Ende wie eine Peitsche schwang.

Jetzt konnten ihn die sehen, die er retten wollte, ausgenommen wenn sich das Schiff an dieser Seite hob. Ein Mann tauchte vor ihm auf. Pytheas warf ihm das lose Tauende ins Gesicht. Der Mann konnte es packen. Matrosen an Deck holten ihn an Bord.

Hanno wurde als dritter von Pytheas gerettet. Er hatte sich an ein Ruder geklammert. Nachdem der Phönizier an Bord war, ließ er sich von zwei Matrosen zurückholen und sank erschöpft neben Hanno nieder. Kein anderer wagte sein Rettungsmanöver. Es wurden aber auch keine Überlebenden im tobenden Meer gesichtet.

Hanno bewegte sich. »In die Kajüte, Ihr, ich und die beiden«, sagte er mit klappernden Zähnen. »Sonst bringt die Kälte uns um. Keine zehn Minuten hätten wir in dem Wasser überlebt.«

Unter Deck zogen die Männer sich aus und trockneten sich so kräftig ab, bis das Blut wieder durch die erstarrten Glieder floss und der ganze Körper kribbelte. Dann wickelten sie sich in Decken. »Ihr wart phantastisch, mein Freund«, sagte Hanno. »Ich hätte nie erwartet, dass Ihr, ein Gelehrter – zäh, aber doch ein Gelehrter, so etwas schaffen kann.«

»Ehrlich gesagt, ich auch nicht.« Pytheas klang erschöpft.

»Ihr habt uns von den Folgen meiner Torheit gerettet.«

»Das war keine Torheit. Wer konnte damit rechnen, dass die See bei Windstille so schnell so stürmisch würde.«

»Was ist wohl die Ursache?«

»Dämonen«, murmelte ein Matrose leise.

»Nein«, widersprach Pytheas. »Es muss ein Trick dieser gewaltigen Atlantikgezeiten sein, das Wasser wird durch eine Meerenge voll Inseln und Riffen gepresst.«

Hanno lachte leise. »Immer noch der alte Philosoph!«

»Ein Boot haben wir noch«, sagte Pytheas. »Und vielleicht wendet sich das Glück. Wenn ihr wollt, könnt ihr ja eure Götter darum anflehen, Männer.« Dann legte er sich auf seine Koje. »Ich schlafe erst einmal.«

6

Die Schiffe überlebten. Nur eines lief über einen Felsen und riss sich ein Leck. Als der Nebel sich gehoben hatte und die See etwas ruhiger geworden war, ließen sich die drei Männer zur hohen Insel hinüberrudern. Sie fanden einen sicheren Ankerplatz, wo sich das Gelände sanft neigte, wo sie bei Niedrigwasser die Reparaturen ausführen konnten.

In der Nähe der Bucht lebten mehrere Familien: Unrasierte, in Häute gekleidete Fischer, die ein paar Tiere hielten und zwischen Mauern winzige Gärten angelegt hatten, die sie mit verrottetem Tang düngten. Ihre Behausungen waren aus Steinen ohne Mörtel errichtet und hatten Rasendächer über offenen Feuergruben. Zuerst waren sie geflohen und hatten aus sicherer Entfernung die Ankömmlinge beobachtet. Pytheas ließ alle möglichen Waren ausbreiten. Verängstigt kamen sie und sammelten die Geschenke ein. Danach waren die Griechen ihre Hausgäste.

Das erwies sich als Glücksfall. Von Westen kam Sturm auf. Die Schiffe waren durch die Anhöhen um die nach Osten geöffnete Bucht halbwegs geschützt; aber ansonsten wütete der Sturm ungebremst Tag und Nacht. Die Männer konnten ihm nicht trotzen. Selbst unter Dach konnten sie nur mit Mühe sprechen und hören. Gegen die Klippen im Westen schlugen Brecher, die höher als Stadtmauern waren. Tonnenschwere Felsbrocken wurden von Untiefen heraufgerissen. Die Erde bebte. Die Luft war ein Gischtstrom, dessen Salz die Augen blendete, wenn er ins Gesicht peitschte. Es war, als sei die Welt ins urzeitliche Chaos zurückgestürzt.

Pytheas, Hanno und ihre Gefährten kauerten eng beieinander auf getrocknetem Tang in einer düsteren Höhle. Nur schwach glimmte die Holzkohle der Feuerstelle. Durch die Kälte zog beißender Qualm. Pytheas glich einem Schemen, seine Worte drangen nur wie Flüstern durch das Tosen. »Erst der Nebel und jetzt das. Hier ist weder Land noch Meer oder Luft. Alle sind verschmolzen, eine Art Kammqualle. Weiter nördlich kann nur das Große Eis liegen. Ich glaube, wir sind nahe der Grenze des Reiches menschlichen Lebens.« Er hob den Kopf. »Aber wir sind noch nicht am Ende unserer Suche angelangt.«

7

Vier Tage segelten sie von der Nordspitze Pretaniens nach Osten. Dann stießen die Entdecker wieder auf Land. Es erhob sich steil aus dem Wasser. Kleinere Inseln schützten eine große Bucht. An einem Ufer wohnten Leute, welche die Ankömmlinge freundlich empfingen. Es waren keine Keltoi, viel größer und blond. Ihre Sprache war mit einem germanischen Dialekt verwandt, den Hanno auf seinen Wanderungen etwas erlernt hatte. Schnell würde er sich hier verständigen können. Die Eisenwerkzeuge, Waffen und Schmuck, sowie ihre Lebensweise, war keltisch geprägt. In geistiger Hinsicht unterschieden sie sich aber sehr.

Die Menschen wirkten nüchterner, weniger vom Übersinnlichen besessen.

Die Griechen hatten vor, nur so lange zu bleiben, bis sie Erkundigungen über die Gebiete eingezogen hätten, die ihr Ziel waren und frischen Proviant an Bord zu nehmen. Aber ihr Aufenthalt zog sich in die Länge. Plackerei, Gefahr und Verluste hatten sie verschlissen. Hier fanden sie Gastfreundschaft und Bewunderung. Mit dem Erlernen der Sprache wuchs auch die Kameradschaft. Sie unternahmen vieles gemeinsam mit den Dorfbewohnern, tauschten Gedanken und Erinnerungen aus, sangen und feierten. Die Frauen waren auch recht entgegenkommend. Niemand drängte Pytheas, Anker zu lichten, oder fragte, warum er dies nicht tat.

Die Gäste waren aber keine Schmarotzer. Sie brachten herrliche Geschenke. Auf einem ihrer Schiffe fuhren Männer, die nur Langboote kannten, die aus Planken zusammengefügt waren und mit Paddeln angetrieben wurden. Diese Männer lernten mehr über ihre eigenen Gewässer und andere Gemeinden, als sie sich je hätten träumen lassen. Man trieb Handel miteinander und besuchte sich gegenseitig zum ersten Mal. Das Hinterland war ein ausgezeichnetes Jagdgebiet, so dass die Soldaten Unmengen Fleisch heimbrachten. Die Anwesenheit der Griechen, ihre Enthüllungen der Welt da draußen, machte das Leben strahlender. Sie fühlten sich wie in einer Bruderschaft aufgenommen.

Dies war das Land, das seine Bewohner Thule nannten.

Es kam der Mittsommer, mit seinen hellen Nächten.

Hanno ging mit einem Mädchen Beeren sammeln. Allein unter der Süße der Birken liebten sie sich leidenschaftlich. Als sie nach einem langen Tag ins Haus ihres Vaters zurückkehrten, war sie so müde, dass sie gleich glücklich einschlief. Hanno dagegen fand keinen Schlaf. Er lag eine Stunde lang neben ihr auf dem Bett aus Häuten und spürte ihren warmen Körper neben seinem, hörte sie und ihre Familie fest und tief atmen und roch die Kühe, die am anderen Ende des langen, offenen Raumes standen. In der Feuerstelle züngelte ab und zu ein Flämmchen auf, der Himmel hinter der aus Weiden geflochtenen Tür sandte ein mildes Licht herein. Schließlich stand Hanno auf, zog sich die Tunika wieder über den Kopf und stahl sich fort.

Der weite, klare Himmel über ihm erinnerte an weiße Rosen. Kaum ein halbes Dutzend Sterne waren hell genug, dass er ihr Funkeln sehen konnte. Die Luft war so kühl und still, dass er die Wellen in der Bucht plätschern hörte. Tau glitzerte auf dem Abhang, der sanft zum Silberspiegel des Wassers hinabführte. Landeinwärts ragten Berggipfel hoch hinauf in den blaugrauen Himmel.

Hanno verließ das Dorf, dessen Häuser eng in einer Doppelreihe standen, welche mit einer großen Scheune abschloss, wo in diesem nassen Klima das Getreide gedroschen wurde. Bei einem Angriff konnte sie aber auch als Festung dienen. Weiter hinten lagen die Pferche, die Bienenstöcke und die Felder, die sich schon golden färbten. Hanno schritt hinab zum Strand. Sobald er auf die Wiese kam, wischte er sich den Kot von den bloßen Füßen, den die frei herumlaufenden Hühner und Schweine auf der Dorfstraße hinterließen. Die Feuchtigkeit war eine Wohltat. Danach trat er auf kalte, aber glatt geschliffene Steine. Ebbe hatte eingesetzt. Im Mittelmeer war dieser mächtige Sog der Gezeiten kaum sichtbar. Hier ließ das zurückweichende Meer Tang am Ufer zurück, der nach Salz, Tiefe und Geheimnis roch.

In einiger Entfernung stand ein Mann und schaute zum Himmel empor. Messing blitzte auf, als er sein Instrument ausrichtete. Hanno trat näher. »Ihr auch?«, sagte er leise.

Pytheas fuhr zusammen, drehte sich um und antwortete mechanisch: »Welche Freude.« Hanno sah, dass er sich zwingen musste zu lächeln.

»Nicht leicht zu schlafen in dieser Umgebung«, meinte Hanno. Auch die Einheimischen schliefen nicht viel.

Pytheas nickte. »Ich hasse es, auch nur eine Minute zu versäumen.«

»Aber schlecht für Astronomie.«

»Hm, tagsüber habe ich Daten gesammelt, die einen besseren Wert für die Neigung der Ekliptik ergeben.«

»Inzwischen müsstet Ihr mehr als genug haben. Die Sonnenwende ist schon vorbei.«

Pytheas schaute in die andere Richtung.

»Ihr klingt, als müsstet Ihr Euch verteidigen«, fuhr Hanno fort. »Warum bleiben wir immer noch hier?«

Pytheas biss sich auf die Lippe. »Wir … wir müssen noch eine Unmenge Entdeckungen machen. Es ist wie eine ganz neue Welt.«

»Wie das Land der Lotusesser?«

Pytheas hielt den Quadranten wie einen Schild. »Nein, nein. Dies sind richtige Menschen. Sie arbeiten, haben Kinder, werden alt und sterben – wie wir.«

Hanno schaute ihn nachdenklich an. Die Wellen flüsterten. Dann sagte der Phönizier: »Es ist Vana, nicht wahr?«

Pytheas stand stumm da.

»Viele Mädchen hier sind wunderschön«, sprach Hanno weiter. »Groß, schlank, eine Haut, welche die Sommersonne braun küsst, Augen wie der Himmel um diese Sonne und diese blonden Mähnen. O ja! Und die, welche bei Euch wohnt, ist die Allerschönste.«

»Es ist mehr als das«, antwortete Pytheas. »Sie ist frei. Unverbildet, arglos; aber begierig zu lernen, stolz und furchtlos. Wir Griechen sperren unsere Frauen in Käfige. Ich habe mir nie darüber Gedanken gemacht. Erst in letzter Zeit. Aber … ist es nicht unsere Schuld, dass die armen Geschöpfe so langweilig werden, dass wir uns lieber männliche Geliebte nehmen?«

»Oder Huren.«

»Vana ist so unterhaltsam wie die witzigste Hetäre. Aber sie ist nicht zu verkaufen, Hanno. Sie liebt mich ehrlich. Vor ein paar Tagen kamen wir zu dem Schluss, dass sie mein Kind trägt. Lachend und weinend warf sie sich in meine Arme.«

»Sie ist eine sehr liebe Person, aber eine Barbarin.«

»Das kann man ändern.«

Hanno schüttelte den Kopf. »Macht Euch nichts vor, mein Freund. Das ist doch nicht Eure Art. Träumt Ihr etwa, sie mitzunehmen, wenn wir absegeln? Falls sie die Reise übersteht, würde sie in Massalia dahinwelken und sterben wie eine entwurzelte Wildblume. In was sollte sie sich verwandeln? Welches Leben könntet Ihr ihr bieten? Es ist zu spät. Für euch beide.«

Wieder stand Pytheas stumm da.

»Ihr könnt Euch aber auch nicht hier niederlassen«, fuhr Hanno fort. »Denkt doch mal nach! Ihr, ein zivilisierter Mann, ein Philosoph, mit anderen Menschen und Tieren in einer dieser primitiven Katen? Keine Bücher. Kein Briefwechsel. Keine Diskussionen. Keine Skulpturen, keine Tempel, keine Eurer Traditionen. Nichts, das bisher Eure Seele geformt hat. Die Dame Eures Herzens wird schnell altern. Ihr werden die Zähne ausfallen und der Busen erschlaffen. Dann werdet Ihr sie hassen, weil sie der Köder war, der Euch in die Falle lockte. Denkt, sage ich, denkt!«

Pytheas ballte die freie Hand zur Faust und strich sich immer wieder über den Schenkel. »Aber was kann ich machen?«

»Fortgehen. Sie hat keine Schwierigkeiten, einen Ehemann zu finden, der das Kind aufzieht. Ihr Vater ist nach hiesigen Verhältnissen recht wohlhabend, sie hat sich als fruchtbar erwiesen. Hier ist jedes Kind wertvoll, da sie so viele verlieren. Hisst die Segel und legt ab! Wir kamen auf der Suche nach dem Bernsteinland, erinnert Ihr Euch? Falls es sich als Mythos erweist, wollten wir die Realität feststellen. Wir wollen mehr über diese östlichen Gewässer und Küsten erkunden. Wir wollten nach Pretania zurück und die Umsegelung beenden, damit wir Größe und Gestalt aufzeichnen können, da dies Land für Europa so viel wichtiger ist, als Thule in Jahrhunderten sein kann. Und dann kehrt Ihr zurück in Euer Land, zu Eurer Stadt, Eurer Frau und Euren Kindern und Enkeln. Tut Eure Pflicht, Mann!«

»Du … sprichst sehr hart mit mir.«

»Ja, ich achte Euch so hoch, Pytheas.«

Der Grieche blickte von den Bergen zum Himmel empor, in dessen Schein sich die Sterne verbargen, dann über die Wälder und Wiesen und schließlich über die silbrige Bucht hinaus aufs unsichtbare Meer. »Ja«, sagte er endlich. »Du hast Recht. Wir hätten schon längst ablegen sollen. Wir werden die Anker lichten. Ich bin ein graubärtiger Narr.«

Hanno lächelte. »O nein, nur ein Mann. Sie brachte den Frühling in Euer Herz, von dem Ihr glaubtet, ihn längst verloren zu haben. Wie oft habe ich das schon geschehen sehen.«

»Dir auch?«

Hanno legte dem Freund die Hand auf die Schulter. »Kommt«, sagte er, »lasst uns zurückgehen und versuchen zu schlafen. Auf uns wartet eine Menge Arbeit.«

8

Müde, mitgenommen, verblichen und triumphierend näherten sich drei Schiffe dem Hafen Massalia. Es war ein kühler Herbsttag. Das Meer glitzerte und funkelte, als seien Diamanten auf Saphiren ausgestreut. Der Wind wehte nur schwach, die Unterseiten der Schiffe waren dicht bewachsen, so dass sie nur sehr langsam dahinzogen.

Pytheas winkte Hanno zu sich. »Stell dich neben mich aufs Vorderdeck«, bat er. »Vielleicht ist es das letzte Gespräch, das wir in Ruhe führen können.«

Der Phönizier trat zu ihm an den Bug. Pytheas war in der letzten Stunde der Seereise sein eigener Ausguck. »Euch erwarten mit Sicherheit hektische Zeiten«, meinte Hanno. »Alle und jeder, der Vetter dritten Grades eingeschlossen, wird Euch besuchen wollen, ausfragen, Eure Vorträge hören, Euch Briefe schreiben, ein Exemplar Eures Buches erbitten, das Ihr eigentlich schon gestern hättet schreiben sollen.«

Pytheas’ Mundwinkel gingen nach oben. »Dir liegt doch immer eine spöttische Bemerkung auf den Lippen, stimmt’s?«

Eine Zeitlang standen sie schweigend da und schauten hinaus. Die Segelsaison neigte sich dem Ende zu. Die Wellen – wie klein und zahm waren sie doch hier, weit weg vom Atlantik – waren übersät von Booten. Ruderboote, Prahme, mit Teer beschmierte Fischerkähne, ein bauchiger Kauffahrer, ein großes Getreideschiff aus Ägypten, ein goldverziertes Galaboot, zwei schlanke Kriegsschiffe, die wie Spinnen auf den Rudern zu laufen schienen – alle suchten Durchfahrt. Schreie und Flüche wurden laut. Segel blähten sich, eine Rahnock schlug gegen den Mast, Dollen knarzten. Die Stadt schimmerte in der Ferne, weißes Gitterwerk warf blaue Schatten auf die Stadtmauern. Rauchwölkchen stiegen aus den roten Ziegeldächern. Villen und Bauernhöfe standen inmitten brauner Stoppelfelder, daneben noch grüne Weiden, dunkle Pinien und sich gelb färbende Obstgärten. Hinter diesen Hügeln ragte dunkel ein Gebirge auf. Möwen kreisten und stießen kreischend herab. Es waren Hunderte, wie ein Schneesturm im Norden.

»Und du willst deine Meinung nicht ändern, Hanno?«, fragte Pytheas.

Hannos Gesicht wurde grimmig. »Ich kann nicht. Ich bleibe nur, um meinen Lohn abzuholen, dann bin ich über alle Berge.«

»Warum? Das verstehe ich nicht, und du willst es mir nicht erklären.«

»Es ist besser so.«

»Ich sage dir, einem Mann mit deinen Fähigkeiten steht hier eine brillante Zukunft bevor – ohne Grenzen. Und nicht als Metöke. Mit meinem Einfluss kann ich dir die massaliotische Staatsbürgerschaft besorgen, Hanno.«

»Ich weiß, das habt Ihr schon gesagt. Ich danke Euch; aber nein.«

Pytheas berührte die Hand des Phöniziers, die die Reling hart umschloss. »Hast du Angst, dass die Leute dir deine Herkunft übelnehmen könnten? Das tun sie nicht. Ich verspreche es dir. Wir stehen über solchen Dingen. Wir sind eine Kosmopole.«

»Ich bin überall ein Fremdling.«

Pytheas seufzte. »Niemals hast du … mir deine Seele geöffnet wie ich dir gegenüber meine. Und dennoch … habe ich mich noch nie jemand so nahe gefühlt. Nicht einmal …« Er brach ab. Beide Männer schauten auf die Seite.

Hanno schlug wieder den kühlen Ton an. Er lächelte. »Wir haben unwahrscheinliche Dinge erlebt, gute und schlechte, grauenvolle und langweilige, fröhliche und angsteinflößende, ergötzliche und tödliche. Das schmiedet feste Bande.«

»Und dennoch willst du sie … einfach so zerschneiden?«, fragte Pytheas nochmals. »Du willst mir lediglich Lebwohl sagen?«

Einen winzigen Augenblick zerriss der Schleier in Hannos Augen, so dass der Grieche in eine Qual blickte, die ihn zutiefst erschütterte. Doch dann lachte der Phönizier bitter. »Woraus besteht denn sonst das Leben, wenn nicht aus ständigem Lebwohlsagen?«

Zweites Buch Die Pfirsiche des ewigen Lebens 

Zu Yen Ting-kuo, dem Unterpräfekten des Sturzbach-Distrikts, kam ein Aufseher aus Ch’ang-an mit einem Auftrag vom Kaiser persönlich. Vor ihm traf schon ein Eilbote ein, um dem Haushalt ausreichend Zeit für die Vorbereitungen eines angemessenen Willkommens zu geben. Die Delegation kam zur nächsten Mittagswende. Erst sah man nur eine Staubwolke auf der östlichen Straße, dann eine Abteilung Berittener, Diener und Soldaten, gefolgt von einer Kutsche, die von vier weißen Pferden gezogen wurde.

Mit flatternden Wimpeln und blitzenden Rüstungen boten sie einen prächtigen Anblick. Das fand auch Yen Ting-kuo, vor allem durch den Gegensatz zu der sanften Landschaft ringsum. Von seinem umzäunten Grundstück auf dem Berg schweifte sein Blick hinunter zum Mühlstein-Dorf. Lehmhäuser, Dächer aus Ziegeln oder Schilf drängten sich eng aneinander. Auf den schmalen Gassen liefen Schweine herum. Hier lebten die Bauern. Es war kein hässlicher Anblick – ein Auswuchs, ein Teil des gelbbraunen Lößbodens, aus dem die Menschen ihr Leben holten. Dahinter erstreckte sich das weite Land. Es war Frühsommer, Gerste und Hirse leuchteten in saftigem Grün auf den Terrassen. Dazwischen blau gekleidete Arbeiter wie Punkte. Bauernkaten lagen verstreut dazwischen. Die Obstgärten waren schon verblüht. Schon sah man Früchte und Blätter voll Sonnenlicht. Entlang der Bewässerungskanäle zitterten silbrige Weiden in einer leichten Brise, die nach Wärme und Wachstum roch. Pinien und Zypressen verliehen den Hügeln in der Ferne eine dunkle Würde. Die Anhöhen rechts und links wurden als Weiden genutzt. Kühn ragten sie aus dem Schatten heraus.

Westlich des Dorfes wurden diese Anhöhen sehr steil. Wald bedeckte die meisten. Eine Reise an die Grenze dort drüben, zu den Reichen der Tibeter, Mongolen und anderer Barbaren, war lang und beschwerlich. Aber auch hier wurde die Zivilisation schon spärlicher. Vielleicht schätzten die Menschen sie deshalb mehr als die im Herzland des Reiches.

Yen Ting-kuo sprach leise vor sich hin:

»Herrlich der Wechsel der Jahreszeiten,

der uns geschenkt ist von den Göttern,

und die Vielfalt der Sitten und Riten,

die uns vermachten die Ahnen …«

Doch dann brach er das alte Gedicht ab und ging zurück durchs Tor. Normalerweise wäre er ins Haus gegangen und hätte dort gewartet. Doch um einen kaiserlichen Gesandten zu empfangen, stellte er sich mit seinen Söhnen, alle in ihren besten Kleidern, auf der Veranda auf. Diener flankierten den Weg dorthin über den Außenhof. Überall bildeten Sträucher eine Art Labyrinth, das zum Goldfischteich führte. Frauen, Kinder und Arbeiter hatten sich in andere Gebäude zurückgezogen.

Hufschlag, Rasseln und Klirren kündigte das Eintreffen an. Ein hoher Beamter des kaiserlichen Haushalts tat dies auch formell. Er stieg vom Pferd und ging auf das Haus zu. Auf halbem Weg empfing ihn der Haushofmeister des Unterpräfekten. Sie tauschten die gebührenden Worte und Verbeugungen aus. Danach erschien der Aufseher. Die Diener warfen sich vor ihm zu Boden, Yen Ting-kuo erwies ihm die Ehrbezeugung, die ihm von einem Adligen niedereren Ranges gebührte.

Ts’ai Li erwiderte sie höflich. Er war nicht übermäßig eindrucksvoll, da er klein und ziemlich jung für eine solche Position war. Der Unterpräfekt dagegen war groß und grauhaarig. Selbst die Embleme, welche der Aufseher nach dem Verlassen der Kutsche übergeworfen hatte, zeigten Spuren der beschwerlichen Reise. Doch viele Generationen enger Verbindung zum Thron verliehen ihm Selbstsicherheit. Man konnte sehen, dass Gast und Hausherr sich auf den ersten Blick mochten.

Jetzt konnten sie sich allein unterhalten. Ts’ai Li war zu seinem Quartier geleitet worden. Dort hatte er ein Bad genommen und die Kleidung gewechselt. In der Zwischenzeit wurden auch sein Gefolge, seine Assistenten und Diener, je nach Rang untergebracht und versorgt. Die Soldaten wohnten bei den Dorfbewohnern. Köstliche Düfte durchzogen die Luft. Ein Festmahl wurde vorbereitet: Gewürze, Kräuter, Braten – Geflügel, Spanferkel, junge Hunde und Schildkröten. Alkoholische Getränke wurden leicht erwärmt. Ab und zu hörte man den Klang einer Zither oder das Läuten eines Glöckchens aus dem Haus, wo Sänger und Tänzerinnen probten.

Der Aufseher hatte angedeutet, dass er vor dem offiziellen Treffen mit den örtlichen Würdenträgern ein Gespräch unter vier Augen wünschte. Es fand in einem Zimmer statt, das bis auf zwei Wandschirme, frische Strohmatten, Armstützen und einem niederen Tisch mit Wein und Reiskuchen aus dem Süden kahl war. Die Proportionen des Raumes waren angenehm, die Luft frisch. Die Bilder, eines mit Bambus, das andere mit einer Berglandschaft, waren ebenso ausgezeichnet wie die Kalligraphie auf den Wandschirmen. Ts’ai Li bewunderte alles gebührend, gerade hinreichend, um zu zeigen, dass er es zu schätzen wusste, aber nicht so sehr, dass man es ihm zum Geschenk machen musste.

»Der Diener meines hohen Herrn erwidert untertänigsten Dank«, sagte Yen Ting-kuo. »Ich fürchte, dass Ihr uns in diesen abgelegenen Teilen des Landes arm und unkultiviert finden müsst.«

»Keineswegs«, antwortete Ts’ai Li. Die langen, polierten Fingernägel schimmerten wie Perlmutt, als er die Tasse an die Lippen führte. »In der Tat scheint mir hier ein Hafen des Friedens und der Ordnung zu sein. Welch schlimme Zustände herrschen dagegen in der Nähe der Hauptstadt. Banditen und Aufrührer überall, offene Rebellion herrscht in anderen Regionen, und die Hsiungnu jenseits der Großen Mauer blicken wieder einmal habgierig in unsere Richtung. Deshalb bin ich auch gezwungen, mit militärischer Eskorte zu reisen.« Ts’ai Lis Tonfall ließ keinen Zweifel, wie sehr er diese niederste der freien Klassen verachtete. »Durch die Gunst der Götter wären sie nicht nötig gewesen. Die Astrologen hatten in der Tat einen günstigen Tag für meine Abreise bestimmt.«

»Die Anwesenheit der Soldaten hat vielleicht auch zur sicheren Reise beigetragen«, meinte Yen Ting-kuo trocken.

Ts’ai Li lächelte. »Das sind die Worte eines freimütigen, alten Edelmannes. Ich nehme an, Eure Familie hat diesem Distrikt schon geraume Zeit die Führer gestellt?«

»Seit Kaiser Wu-ti meinen ehrenwerten Ahnen Yen Chi nach seinem Dienst gegen die Barbaren des Nordens ernannte.«

»Ach ja, das waren glorreiche Zeiten.« Ts’ai Li stieß einen tiefen Seufzer aus. »Wir verarmte Erben können nur noch gegen eine immer höher werdende Flut von Schwierigkeiten kämpfen.«

Yen Ting-kuo wechselte die Stellung auf den Absätzen, räusperte sich und blickte seinem Gegenüber in die Augen. »Ihr, edler Herr, steht sicher in erster Linie bei diesem Bemühen, wenn Ihr eine so lange und beschwerliche Reise auf Euch genommen habt. Wie können wir Euch bei Eurem gerechten Vorhaben behilflich sein?«

»Hauptsächlich benötige ich Informationen, vielleicht auch einen Führer. In die Hauptstadt ist die Kunde über einen Weisen gedrungen, einen wahrhaft heiligen Mann, hier in Eurem Herrschaftsbereich.«

Yen Ting-kuo blinzelte. »Was?«

»Reisende haben davon erzählt; aber wir haben mehrere ausführlich befragt, und die Geschichten stimmen überein. Er predigt das Tao. Seine Tugend hat ihm offenbar ein außergewöhnlich langes Leben beschert.« Ts’ai Li zögerte. »Eigentlich Unsterblichkeit. Was könnt Ihr mir darüber sagen, Ehrenwerter Unterpräfekt?«

»Hm.« Yen Ting-kuo runzelte die Stirn. »Ich verstehe. Der Mann, der sich Tu Shan nennt.«

»Ihr seid skeptisch?«

»Er entspricht nicht meiner Vorstellung eines heiligen Mannes, Ehrenwerter Aufseher.« Yen Ting-kuo machte ein finsteres Gesicht. »Wir haben nicht wenige, die behaupten, heilige Männer zu sein. Das einfache Landvolk ist nur allzu willig, ihnen zuzuhören, besonders in so unruhigen Zeiten wie jetzt. Herrenlose Wanderer, die nicht arbeiten wollen, sondern sich mit Betteln oder Lügengeschichten durchschlagen. Sie erheben Anspruch, ungeahnte Kräfte zu besitzen. Bauern schwören, dass sie gesehen haben, wie einer Kranke heilte, Dämonen austrieb, die Toten wiedererweckte oder was Ihr sonst noch wollt. Ich habe einige Fälle untersucht und keinerlei Beweise gefunden, außer dass der Streuner sich Geldbörsen und Frauenkörper bemächtigt hatte, indem er den Leuten einredete, dies sei der ›Weg‹, ehe er weiterzog.«

Ts’ai Li verengte die Augen. »Wir wissen über Scharlatane Bescheid«, sagte er. »Wir kennen auch gewöhnliche wu, Zauberer aus dem Volk, die zwar ehrlich sind, aber weder lesen noch schreiben können. Sie sind überaus abergläubisch. Ihr Glauben und ihre Praktiken sind auch in die einst so reinen Lehren Lao-tzus eingedrungen. Das ist ein Unglück.«

»Folgt der Hof nicht stattdessen den Vorschriften des Großen K’ung Fu-tze?«

»Gewiss doch. Aber – Weisheit und Stärke werden immer seltener, Ehrenwerter Unterpräfekt. Wir müssen sie mühsam suchen. Was wir über diesen Tu Shan hörten, führte den Einen Mann selbst zu der Überzeugung, dass er eine wünschenswerte Stimme unter den kaiserlichen Ratgebern sein könnte.«

Yen Ting-kuo starrte in seine Tasse, als suche er dort eine tröstliche Offenbarung. »Es steht jemandem wie mir nicht zu, die Meinung des Sohnes des Himmels in Frage zu stellen«, sagte er schließlich. »Und ich wage zu behaupten, dass dieser Kerl keinerlei ernsthaften Schaden anrichtet.« Er lachte. »Vielleicht ist sein Rat nicht schlechter als der manches anderen.«

Ts’ai Li betrachtete ihn eine Weile schweigend, ehe er leise sagte: »Wollt Ihr damit andeuten, Ehrenwerter Unterpräfekt, dass der Kaiser in der Vergangenheit gelegentlich irregeführt wurde?«

Yen Ting-kuo wurde erst blass, dann rot. »Über meine Lippen kommt kein respektloses Wort, Ehrenwerter Mandarin«, erklärte er beinahe barsch.

»Natürlich nicht«, sagte Ts’ai Li besänftigend.

»Allerdings – nur zwischen uns gesagt – ist die Andeutung durchaus zutreffend.«

Yen Ting-kuo blickte ihn überrascht an.