"Zeitgenossen" im Gespräch - Christine Rigler (Hg.) - E-Book

"Zeitgenossen" im Gespräch E-Book

Christine Rigler (Hg.)

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Beschreibung

Das Archiv der Zeitgenossen an der Donau-Universität Krems ist seit 2010 auf die Sammlung von Vorlässen aus dem Kunst- und Kulturbereich spezialisiert. In den Sparten Architektur, Film, Literatur und Musik werden vor allem schriftliche Unterlagen, unter anderem aber auch Bildmaterialien und audiovisuelle Medien zu Werk und Leben von Künstlern archiviert, erschlossen und wissenschaftlich aufgearbeitet. Die in diesem Band gesammelten Gespräche mit den Künstlern und Gästen geben nicht nur Einblick in die Entstehungsprozesse von Kunstwerken und -produktionen, sondern tragen auch zur Dokumentation ausgewählter Aspekte und Begebenheiten österreichischer Kulturgeschichte bei. Reich bebildert sind die Gespräche mit aufschlussreichen Dokumenten und Fotografien aus den eigenen Beständen.

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„Zeitgenossen“ im Gespräch

Dokumente eines lebenden Archivs

„Zeitgenossen“ im Gespräch

Dokumente eines lebenden Archivs

Christine Rigler (Hg.)

Impressum

Verlag Edition Donau-Universität Krems

Kontakt Archiv der Zeitgenossen

Sammlung künstlerischer Vor- und Nachlässe

Donau-Universität Krems

[email protected]

www.archivderzeitgenossen.at

Herstellung tredition GmbH, Hamburg

Redaktionelle Mitarbeit Brigitta Potz, Hanna Prandstätter,

Reinhard Widerin und Gundula Wilscher

Gestaltung Christoph Fuchs

Coverfotos Hertha Hurnaus, Jon Super

ISBN Taschenbuch 978-3-903150-75-1

ISBN e-Book 978-3-903150-76-8

DOI 10.48341/0005-t381

© 2021

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Die in der Publikation geäußerten Ansichten liegen in der Verantwortung der Autorinnen und Autoren und geben nicht notwendigerweise die Meinung der Donau-Universität Krems wieder.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Das Archiv als Labor. Eine Einleitung

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Am Tonhof

Gertraud Cerha und Friedrich Cerha im Gespräch mit Manfred Mittermayer

Skandal!

Zur legendären Aufführung des Klavierkonzerts von John Cage im Jahr 1959. Gertraud Cerha, Friedrich Cerha und Kurt Schwertsik im Gespräch mit Gundula Wilscher

Kunst und Wissenschaft im Dialog

Zur Entstehung der Alpensaga-Drehbücher. Wilhelm Pevny und Ernst Bruckmüller im Gespräch mit Karin Moser

Ad Personam / Künstlerleben

Über den Tellerrand

Peter Patzak im Gespräch mit Karin Moser

Ein Sonderfall im Üblichen

Der Verleger und sein Autor. Jochen Jung und Julian Schutting im Gespräch mit Gerhard Zeillinger

Gertraud Cerha – Pionierin für Neue Musik

Friedrich Cerha, HK Gruber, Kurt Schwertsik und Gertraud Cerha im Gespräch mit Gundula Wilscher

Werkstattgespräche

Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm

Zur Entstehung der Filmmusik. HK Gruber und Kurt Schwertsik im Gespräch mit Matthias Henke

Sieben Sekunden Ewigkeit

Sandra Cervik, Stephanie Mohr und Peter Turrini im Gespräch mit Maria Teuchmann

Fremdenzimmer

Ulli Maier, Erwin Steinhauer und Peter Turrini im Gespräch mit Christine Rigler

Das Archiv als Labor

Eine Einleitung

Das Archiv der Zeitgenossen wurde im Jahr 2010 als Sammlung künstlerischer Vor- und Nachlässe des Landes Niederösterreich an der Donau-Universität Krems gegründet. Den Grundstock bildeten zwei besonders umfangreiche Privatsammlungen, nämlich die Vorlässe von Friedrich Cerha und Peter Turrini. Mittlerweile hat sich das Sammlungsprofil auf vier Kunstsparten erweitert und der Bestand ist beträchtlich gewachsen. Derzeit werden im Archiv der Zeitgenossen Vorlassbestände in den Sparten Musik (Kurt Schwertsik, Friedrich Cerha, HK Gruber), Literatur (Julian Schutting, Peter Turrini), Film (Peter Patzak) und Architektur (Wolf D. Prix) betreut. Im August 2019 wurde mit der Sammlung des Musikverlegers Alfred Schlee der erste Nachlass übernommen. Allesamt sind es herausragende Persönlichkeiten, die österreichische Kulturgeschichte seit 1945 mitgestaltet und geprägt haben. Mit Ausnahme von Alfred Schlee, der 1999 im 98. Lebensjahr verstarb, sind sie alle immer noch künstlerisch produktiv.

Es ist unter diesen Voraussetzungen naheliegend, dass es zu einem regelmäßigen Austausch zwischen den Bestandsbildnern und den Archivarinnen und Archivaren gekommen ist. Unklarheiten und Fragen sind mit Hilfe der betreffenden Personen oft schnell zu klären. Als Archiv, das nicht nur Materialien bewahrt und erschließt, sondern auch einen Forschungsauftrag erfüllt und mit gelegentlichen Veranstaltungen auch die allgemeine Öffentlichkeit ansprechen möchte, war uns dieser Austausch, der direkte Kontakt zu den Künstlern aber nicht nur aus pragmatischen Gründen ein besonderes Anliegen. Sie begegneten uns als faszinierende Gesprächspartner, von deren Erfahrung und Wissen wir, ergänzend zu den im Archiv bereits gesicherten Unterlagen, etwas bewahren wollen. Diese Vorgangsweise hat auch eine empirische Komponente: Das Archiv und seine Bestandsbildner beeinflussen einander gegenseitig, und es kommt unweigerlich zu einer Reflexion der Praxis der archivarischen Vorlassbetreuung, die ebenso unweigerlich zu neuen Erkenntnissen in Bezug auf die Bestandsart „Vorlass“ führt. Nicht zuletzt wirkt sich die Beschäftigung mit dem eigenen Vorlass häufig auch auf die künstlerische Arbeit der betreffenden Person aus und kann neu entstehende Werke beeinflussen. Das Beispiel der mehrfachen Zusammenarbeit von Kurt Schwertsik und Julian Schutting zeigt, dass über den Umweg des gemeinsamen Archivs auch „Arbeitsbeziehungen“ gestiftet werden können.

Von interessierten Besuchern werden wir oft gefragt, was denn ein Vorlass überhaupt genau sei. Auch wenn die Analogie zum Begriff „Nachlass“ rasch erkannt wird, ist das Vorstellungsvermögen in Bezug auf die genaue Zusammensetzung dieser personenbezogenen Art von Sammlung begrenzt. Fachspezifische Definitionen sind für Laien auch nicht unbedingt aufschlussreich: Ein Vorlass ist die Summe aller Materialien, die sich zu Lebzeiten einer Person bei ihr zusammengefunden haben und noch zu Lebzeiten übergeben werden.1 Tatsächlich ist ein Vorlass dem, was sich die meisten Menschen unter einem Nachlass vorstellen, ziemlich ähnlich. Der wesentliche Unterschied, dass Vorlässe im Gegensatz zu Nachlässen direkt von den Besitzern – also zu Lebzeiten – an eine Einrichtung übergeben werden, ist allerdings folgenreicher als die meisten Menschen vermuten würden. Die übergebende Person beeinflusst durch die Zusammenstellung und Kommentierung der Materialien nämlich unvermeidbar die Überlieferung. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, mit diesen Selbstinszenierungen, die ein Bestandsbildner auf seine Materialien überträgt, bewusst umzugehen und sie transparent zu machen. Privatarchive sind so individuell wie die Personen, von denen sie stammen, sie sind einzigartig im Hinblick auf die vorliegenden Materialien und die dahinter wirkende Sammlungslogik. Für das Verständnis von Kunst und künstlerischen Prozessen liegt der Wert der Vor- und Nachlässe aber vor allem in der hohen Dichte an Primärquellen, also jener Unterlagen, die unmittelbar auf den Urheber oder die Urheberin der Werke zurückzuführen sind. Wir bewahren nicht nur die abgeschlossenen Werke in Form von Manuskripten, Partituren oder wie sie sich auch immer manifestieren wollen, sondern wir bewahren auch Materialien, die den Schaffensprozess dokumentieren und diesen nachvollziehbar machen. Wir sehen nicht nur das Endprodukt, sondern ebenso den Weg dorthin, mit seinen Verwerfungen, Korrekturen, inneren und äußeren Entwicklungsfaktoren. Diese „Urquellen“ in Form von Skizzen, Notizen, Entwürfen, Korrespondenzen und anderen Aufzeichnungen sind der direkteste Zugang zum Kopf eines Künstlers, wenn dieser irgendwann nicht mehr verfügbar ist. Vor- und Nachlässe zählen außerdem zu den persönlichsten Bestandsarten, die man sich vorstellen kann. Das ist nicht etwa deshalb so, weil es sich in der Mehrzahl der Fälle um Dokumente des privaten Lebens handeln würde, sondern weil auch das Werk eines künstlerisch tätigen Menschen schwerlich als etwas vollkommen „Unpersönliches“ zu betrachten ist. Wenn sich also ein Schriftsteller, Filmemacher oder Komponist dazu entschließt, seine gesammelten Unterlagen einem Archiv zu übergeben, sichert er zwar das Fortbestehen dieser Unterlagen für die Nachwelt, exponiert sich aber zugleich als Forschungsgegenstand, der mitunter detailreich analysiert wird. Sammlungen, die Belege von Entscheidungsprozessen und Erfahrungen einzelner Menschen dokumentieren, werden uns immer auch an etwas Elementares erinnern: nämlich, dass Menschen in erster Linie von anderen Menschen lernen. Nicht nur im Privaten, sondern auch als Kollektiv.

Um auch der allgemeinen Öffentlichkeit Einblicke in die Archivarbeit, in die Forschung, in die Schatzkammer unserer Bestände zu eröffnen und Begegnungen mit außerordentlichen Künstlerpersönlichkeiten zu ermöglichen, haben wir über die Jahre verschiedene Typen von Gesprächs-Veranstaltungen entwickelt und ausprobiert. Die Grundidee war immer dieselbe, nämlich Hintergrundinformation aus erster Hand für das Archiv zu sichern und einen – meist kleinen – Kreis von Interessierten daran teilhaben zu lassen. Werkstattgespräche dienen der zeitnahen Auseinandersetzung mit neuen Werken und deren Eintritt in die öffentliche Sphäre. Die Initialzündung war eine Uraufführung des Theaterstücks Aus Liebe von Peter Turrini am 16. Mai 2013 am Theater in der Josefstadt. Es war der Beginn einer großzügigen Kooperation mit dem von Herbert Föttinger geleiteten Wiener Theater, die uns noch weitere wunderbare Veranstaltungen bescheren sollte. Am Abend vor der Premiere – in einer Phase höchster Anspannung für alle an der Produktion beteiligten also – war im Archiv des Zeitgenossen ein Theatergespräch anberaumt. Es reisten an: Autor Peter Turrini, Regisseur Herbert Föttinger sowie die Schauspielerin Sandra Cervik und der Schauspieler Ulrich Reinthaller. Im Gepäck hatten sie eine eigens angefertigte, verkleinerte Version des gemalten Original-Bühnenbildes, das die Kulisse für das Gespräch bildete.

Herbert Föttinger, Peter Turrini, Sandra Cervik, Ulrich Reinthaller (v. l. n. r.)

Archiv der Zeitgenossen, 15. 5. 2013

Foto: Archiv der Zeitgenossen/Andrea Reischer

Ein weiteres Werkstattgespräch widmete sich der Oper Onkel Präsident von Friedrich Cerha. Die Oper war als Koproduktion der Wiener Volksoper mit dem Münchner Staatstheater am Gärtnerplatz im Juni 2013 zur Uraufführung gekommen. Anlässlich der österreichischen Erstaufführung im Oktober 2014 in Wien diskutierten der Komponist Friedrich Cerha, der Librettist Peter Wolf und der verantwortliche Dramaturg der Wiener Volksoper, Christoph Wagner-Trenkwitz über das Werk und seine Entstehung. Leider war eine Aufzeichnung der Gesprächsinhalte nicht möglich, zumindest aber existieren fotografische Belege.

Während die Werkstattgespräche sich dem aktuellen Geschehen widmen, richten wir mit ZeitzeugInnen-Gesprächen oder Rückblenden den Blick in die Vergangenheit und versuchen Erinnerungsprozesse in Gang zu setzen. Ausgehend von Dokumenten, die wir im Archiv vorfinden, versuchen wir mit den Protagonisten von damals, bestimmte ausgewählte Vorgänge oder Begebenheiten zu rekonstruieren. Diese Ereignisse können spektakulär sein wie das „Skandalkonzert“ des Ensembles die reihe im Jahr 1959. Sie können aber auch im Hintergrund abgelaufen sein, wie etwa die Zusammenarbeit der Alpensaga-Autoren Turrini und Pevny mit dem Historiker Ernst Bruckmüller, die öffentlich kaum bekannt war. In allen Fällen erschien es lohnenswert, genauer hinzusehen und nachzufragen. Nach Möglichkeit wurden die Gespräche zu Dokumentationszwecken aufgezeichnet oder gefilmt. Einige Aufzeichnungen sind auch auf der Website des Archivs der Zeitgenossen verfügbar.

Peter Wolf, Friedrich Cerha und Christoph Wagner-Trenkwitz (v. l. n. r.)

Archiv der Zeitgenossen, 11. 9. 2014

Foto: Archiv der Zeitgenossen/Andrea Reischer

Für die Publikation wurde eine Auswahl der Gespräche, die seit 2013 geführt werden, niedergeschrieben und den Gesprächsteilnehmerinnen und -teilnehmern noch einmal zur Durchsicht vorgelegt. Die Inhalte wurden also noch einmal überprüft, wenn nötig korrigiert und stellenweise etwas präzisiert, sodass mit diesem Buch überarbeitete Versionen der Gespräche vorliegen. Dass die Schriftfassungen von den Originalgesprächen nun stellenweise abweichen, nehmen wir im Interesse der Informationsgewinnung, der wir uns als forschendes Archiv verpflichtet fühlen, bewusst in Kauf. „Authentisch“ sind beide Fassungen, sowohl die mündliche als auch die schriftliche. Bildmaterialien waren in einigen Fällen bereits Teil der Veranstaltungsdramaturgie und wurden in das vorliegende Buch integriert. Weitere Abbildungen sind zu illustrativen Zwecken eingestreut und – sofern vorhanden – veranschaulichen Fotos oder Videostills die Gesprächssituation.

An der Entstehung und Gestaltung dieses Buchs war nahezu das gesamte Team des Archivs der Zeitgenossen beteiligt: Gundula Wilscher, Reinhard Widerin, Hanna Prandstätter und Brigitta Potz haben in vielen Arbeitsstunden Gespräche niedergeschrieben, mit den Beteiligten für die Überarbeitungen gesorgt und geeignetes Bildmaterial ausgehoben. Für das Zustandekommen der Gespräche bedanke ich mich bei all unseren Kooperationspartnern, bei den äußerst sachkundigen Moderatorinnen und Moderatoren und bei allen Gästen, die aus Interesse an den Themen ihre Beiträge geleistet haben. Ohne sie gäbe es dieses Buch nicht, mit dem wir anlässlich unseres zehnjährigen Bestehens nun zeigen können: Wir archivieren nicht nur „Zeitgenossen“, sondern wir versuchen auch, ein zeitgenössisches Konzept von Archiv zu leben.

Christine Rigler

Dezember 2020

Anmerkung

1 Diese Definition aus den RNA (Regeln zur Erschließung von Nachlässen und Autographen, Stand 2010) wurde in der mittlerweile zu RNAB überarbeiteten Fassung dieses Regelwerks wie folgt geändert: Ein Vorlass ist demnach ein „Komplex von Ressourcen (Bestandsart) aus der Provenienz einer Person, die zu ihren Lebzeiten an eine bestandserhaltende Institution gelangt“. Ressourcenerschließung mit Normdaten in Archiven und Bibliotheken (RNAB) für Personen-Familien-, Körperschaftsarchive und Sammlungen. Richtlinie und Regeln. Berlin, Bern, Wien 2019, S. 115, https://d-nb.info/1186104252/34 (Abruf 2. 3. 2021)

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Am Tonhof

Gertraud Cerha und Friedrich Cerha im Gespräch mit Manfred Mittermayer

Der Tonhof in Maria Saal in Kärnten war im Besitz des Ehepaars Maja Weis-Ostborn (1919–2004) und Gerhard Lampersberg (1928–2002), die – selbst künstlerisch tätig – ihr Anwesen auch für andere Kunstschaffende öffneten und auf diese Weise als Mäzene der Avantgarde-Kunst in den 50er- und 60er-Jahren wirkten. Einige der wichtigsten österreichischen Künstler und Künstlerinnen erfuhren in der restriktiven kulturpolitischen Nachkriegszeit am Tonhof Unterstützung und Anerkennung, darunter H. C. Artmann (1921–2000), Thomas Bernhard (1931–1989), Konrad Bayer (1932–1964), Gerhard Rühm (geb. 1939), Jeannie Ebner (1918–2004) und Christine Lavant (1915–1973).

In Maria Saal lebte seit 1945 auch Peter Turrini (geb. 1944) mit seiner Familie. Er hat seine Kindheit dort verbracht, kam als Jugendlicher mit den Bewohnern des Tonhofs in engeren Kontakt und lebte zeitweise dort. Sein schriftstellerisches Talent wurde vor allem von Gerhard Lampersberg erkannt und gefördert. Dem jugendlichen Peter Turrini eröffnete sich in diesem informellen Kunstzentrum eine ungeahnte neue Welt – und eine „Heimat“, die er im Dorf seiner Kindheit bis dahin nicht gefunden hatte.

Friedrich Cerha (geb. 1926) bewegte sich als aufstrebender junger Komponist in diesem Kreis, der einige seiner frühen Werke zur Uraufführung brachte. 1960 dirigierte Cerha die Uraufführung von Gerhard Lampersbergs Kammeroper Köpfe nach einem Libretto von Thomas Bernhard im legendären Stadel am Tonhof.

Im Gespräch mit dem Germanisten und Thomas-Bernhard-Experten Manfred Mittermayer erinnern sich Gertraud und Friedrich Cerha an ihre Begegnungen und Erfahrungen mit dem Ehepaar Lampersberg. Peter Turrini, der ebenfalls als Gesprächspartner vorgesehen war, musste seine Teilnahme aus gesundheitlichen Gründen absagen. Im Anschluss an das Gespräch wurde der Dokumentarfilm Peter Turrini. Rückkehr an meinen Ausgangspunkt (2014) von Ruth Rieser gezeigt. Die Dreharbeiten fanden am Tonhofstatt – im ehemaligen Wohnhaus der Lampersbergs, im Garten und im Stadel. Durch Turrinis teilweise sehr persönliche Erzählungen in situ wurde nicht nur der Geist dieses Ortes wieder spürbar gemacht, sondern auch ein berührendes biografisches Dokument geschaffen.

Friedrich Cerha (links) im Gespräch mit Manfred Mittermayer (rechts)

Kino im Kesselhaus Krems, 17. 9. 2015

Foto: Archiv der Zeitgenossen/Andrea Reischer

MANFRED MITTERMAYER

Friedrich Cerha, dieses Gespräch leitet die Vorführung eines Films über Peter Turrini ein, der im Tonhof in Maria Saal entstanden ist. Dieser Ort war Ende der 1950er-Jahre und auch noch danach eine wichtige Heimstatt für die österreichische Avantgarde. Wir assoziieren ihn heute vor allem mit einem seiner berühmtesten Gäste, mit Thomas Bernhard. Auch Sie waren dort zeitweise anwesend und haben mit Bernhard künstlerisch zusammengearbeitet. Wie sind Ihre Erinnerungen an die Begegnungen mit Bernhard und Lampersberg?

FRIEDRICH CERHA

Am Tonhof war, als Junger, auch Thomas Bernhard. Wenn ich dort war, sind wir halbe Nächte lang zu dritt gesessen, Bernhard, Gerhard Lampersberg und ich, und haben endlos geredet. Eigentlich niemals über unsere eigenen Werke, wir haben auch keine Fragen zur Arbeit des anderen gestellt. Wir haben uns immer über andere unterhalten. Das war einfacher – über die zu schimpfen.

Die Seele des Tonhofs war aber eigentlich Maja Weis-Ostborn. Das war eine beeindruckende Frau, die ich sehr bewundert habe: zurückhaltend, aber sicher und bestimmt, mit dem, was man im 19. Jahrhundert „Herzensbildung“ nannte. Sie hatte eine herrliche, etwas dunkle Sopranstimme und hat wunderschön Schumann gesungen – in Kantaten, die die Bach-Gemeinde im Konzerthaus aufgeführt hat. Und meine Minnelieder hat nachher nie jemand so schön gesungen wie sie. Sie war in den oft heftigen Gesprächen immer der ausgleichende Charakter. Es ist niemals ein Ton des Vorwurfs oder der Zurechtweisung über ihre Lippen gekommen. Und ich erinnere mich an eine Begebenheit: Sie hatte eine zinnerne barocke, sehr schöne Teekanne und die hat irgendjemand auf die Elektroplatte gestellt. Sie ist in sich zusammengesunken und war zerstört. Ich habe beobachtet, wie sie zusammengezuckt ist – sie hat diese Kanne sehr geliebt. Aber sie hat kein Wort gesagt, keinen Ton des Vorwurfs.

Peter Turrini am Tonhof, 2013

Standbild aus Dreharbeiten zu Rückkehr an meinen Ausgangspunkt

© Ruth Rieser/RR*Filmproduktion, Foto: Karlheinz Fessl

Thomas Bernhard gilt bei vielen Zeitzeugen als einer, der in größerer Gesellschaft sprachlich dominiert hat. Damals war das überhaupt nicht so – im Gegenteil. Er war ein aufmerksamer Zuhörer bei unseren Diskussionen über Neue Musik. Das stimmt übrigens, was Bernhard in Holzfällen schreibt: Lampersberg hat ursprünglich Lampersberger geheißen. Und es war eine nicht ganz schöne, weil unnötige Konzession, dass er das „-er“ am Schluss angesichts seiner aristokratischen Umgebung verschwinden ließ. Bernhard wusste wenig über Musik des 20. Jahrhunderts, kannte aber, vermutlich aus Studientagen, sehr gut Schubert und Schumann, den er besonders geliebt hat.

Und dann kam der Vorschlag, Köpfe, ein Stück von Thomas Bernhard, das Gerhard Lampersberg vertont hat, in Maria Saal aufzuführen. In einer großen Scheune, die neben dem Tonhof gestanden ist. Man hat mich also geholt, zum Dirigieren. Ich war zunächst schockiert über das Interieur dieser Scheune, aber man hat das dann recht hübsch, wenn auch rustikal, adaptiert. Dort fand die Aufführung vor einem erlesenen Publikum statt. Inszeniert hat Herbert Wochinz, der damals noch nicht das Klagenfurter Stadttheater als Intendant hatte, aber in Spittal an der Drau schöne Aufführungen gemacht hat. Ich habe mich gut mit ihm verstanden, schon deswegen, weil wir beide frankophil orientiert waren. Er war mit einer bildschönen Französin verheiratet. Viele namhafte Leute waren als Zuseher da; ich erinnere mich an Jeannie Ebner. Die Ausstattung hat Annemarie Siller gemacht, von der ich den Eindruck hatte, dass sie in Thomas Bernhard verliebt war. Es war ein großer Erfolg; ich weiß nicht mehr – haben wir zweimal oder dreimal dort gespielt? Und in den 70er-Jahren wurde in der gleichen Regie und Ausstattung davon in Wien eine Fernsehaufzeichnung gemacht.

Vielleicht noch etwas zu Thomas Bernhard. Eines Tages beim Frühstück gab er mir ein Bändchen, die rosen der einöde, mit einer sehr schönen langen Widmung. Diese Zeilen habe ich sehr geschätzt, schätze ich bis zum heutigen Tag. Ich habe immer bedauert, dass er sich in späteren Zeiten der Lyrik ganz versagt hat. Ich habe der Frau des Opernkomponisten Rolf Liebermann davon erzählt und ihr beim nächsten Treffen den Band geliehen. Er ist nie wieder zurückgekommen. Mir tut es um die schöne Widmung leid.

In Maria Saal habe ich auch einmal Christine Lavant getroffen. Das war ein eindrucksvolles Erlebnis, in dieser ästhetischen Umgebung einer Frau, die aussah wie eine Bäuerin – mit Kopftuch und zerfurchtem Gesicht – zu begegnen. Und ich habe erst später ihre Gedichte und auch Prosa kennengelernt und bewundert.

Ensembledie reihemit Thomas Bernhard und Gerhard Lampersberg bei Fernsehaufzeichnungen zuKöpfe, o. J.

Foto: unbekannt, Quelle: AdZ-VFC

MANFRED MITTERMAYER

Sie haben nun eine große Zahl an Namen und Bezügen ins Spiel gebracht. Sie haben von Turrini einen großen Bogen geschlagen bis zu Christine Lavant, die ja dort auch eine sehr präsente Persönlichkeit gewesen ist.

Gertraud Cerha, gibt es Eindrücke, die Sie zu diesen frühen Erlebnissen noch ergänzen möchten?

GERTRAUD CERHA

Christine Lavant war eine im Verborgenen präsente Persönlichkeit. Sie war immer still irgendwo. Ich kann nicht sagen, dass ich ihr begegnet bin. Ich habe zugehört, wie sie sich sehr viel und intensiv mit Maja Lampersberg unterhalten hat.

Mein Mann hat nicht erwähnt, dass auch in der Wiener Wohnung der Lampersbergs in der Gumpendorfer Straße immer solche Zusammenkünfte gewesen sind, Leute dort ein und ausgegangen sind. H. C. Artmann, Jeannie Ebner, Joana Thul … alle diese Leute habe ich eigentlich in der Gumpendorfer Straße kennengelernt. Die Beziehung meines Mannes zu Gerhard war ja eine sehr alte und intensive, sie haben zusammen studiert, und ich bin „mitgenommen“ worden in diesen Kreis. Ich habe das als unglaublich anregend empfunden. Ich bin aufgewachsen in der Provinz, in Gmunden. Wie ich nach Wien gekommen bin, war ich zunächst einmal glücklich, klassische Musik in wirklich wunderbaren Aufführungen live zu erleben. Ich habe das, was sich während unserer Studienzeit von 1946 bis 1950 ereignet hat, zunächst gar nicht mitgekriegt. Aber durch meinen Mann bin ich dann eben in die Secession, in den Art Club, in den Strohkoffer gekommen und habe alle diese Künstler – die dann wirklich, wie sich herausgestellt hat, ein Who-is-Who der österreichischen Kunstszene waren – kennengelernt und für mich war das unglaublich anregend und bereichernd. Einer jungen Musikwissenschafterin, die eine Dissertation über meinen Mann gemacht hat, habe ich vom Tonhof erzählt und sie hat gefragt: „Was war das? War das ein Festival?“ Nein. Das waren einfach junge Künstler, die zueinandergefunden haben, und Gerhard Lampersberg war eine sehr diese Gesellschaft synthetisierende Natur. Er hat sie alle angezogen, miteinbezogen, er hat sie nicht miteinander bekannt gemacht, sie haben einander kennengelernt. Und so ist dieser Kreis entstanden.

Einladung zur Uraufführung der OperKöpfeam Tonhof-Theater, 1960

Quelle: AdZ-VKS

MANFRED MITTERMAYER

Sie haben damit zwei für die österreichische Avantgarde wichtige Orte zusammengebracht, den Tonhof und den sogenannten „Strohkoffer“ – einerseits einen künstlerischen Treffpunkt auf dem Land, andererseits einen, der in der Großstadt liegt. Wie man von Zeitzeugen hört, war bei der Aufführung Köpfe im Sommer 1960 auch tatsächlich der Großteil des Publikums aus Wien angereist; vieles von dem, was sich in Maria Saal künstlerisch abgespielt hat, war also aus dem urbanen Bereich implantiert. Aber die Atmosphäre, die Sie angesprochen haben, war natürlich so etwas wie ein kreatives Ferment für viele Persönlichkeiten, die dort – wie Sie gesagt haben – von Lampersberg zusammengeführt wurden.

GERTRAUD CERHA

Offensichtlich! Das war nicht nur die Atmosphäre am Tonhof, sondern es hat sich auch in Wien und überhaupt im Alltag ereignet – das wollte ich betonen. Diese Aufführungen am Tonhof waren dann ein besonderer Punkt, aber es war eine ständige künstlerische Begegnung. Und Gerhard Lampersberg hat sicher dazu beigetragen, dass die Komponisten beispielsweise mit den Literaten überhaupt erst in engeren Kontakt gekommen sind.

Peter Turrini (2. v. r.) mit seinen Eltern und seinen Brüdern in Maria Saal, 1957

Foto: Privat, Quelle: AdZ-VPT

MANFRED MITTERMAYER

Bernhard sagt ja auch selber, dass er Lampersberg bei Jeannie Ebner in Wien kennengelernt hat. Turrini hat einmal gemeint – das ist eine vielzitierte Stelle, wo er versucht, seine Eindrücke aus Maria Saal zusammenzufassen –, dass es dort eine unglaublich kreative Situation der Grenzüberschreitung gab, in der auf der einen Seite eine Art Anarchie herrschte, während diese gesamte Community – wie man heute sagen würde – auf der anderen Seite von Maja Lampersberg als zentraler Person zusammengehalten wurde. Darum wollte ich Sie fragen: Wie kann man diese Atmosphäre beschreiben?

GERTRAUD CERHA

Darf ich zuerst noch etwas ergänzen? Man unterschätzt heute wirklich die Aktivitäten von Gerhard Lampersberg. Zum Beispiel als der Strohkoffer langsam versandet ist, war es Lampersberg, der im Domcafé die neuen musikalischen Ereignisse organisiert hat. Man vergisst eben auch, dass er in Klagenfurt als ORF-Abteilungsleiter tätig gewesen ist. Gerhard war also schon eine wichtige Figur. Der Strohkoffer war das Lokal des Art Clubs. Die österreichische Sektion des Art Clubs ist, wenn ich mich recht erinnere, 1949 gegründet worden. Sie haben das Lokal im ersten Bezirk gefunden, übrigens nicht direkt unter der Loos-Bar, wie immer behauptet wird, sondern im Haus daneben. Der Raum wurde von den Künstlern selbst mit Neusiedler Stroh ausgekleidet – daher hat es den Namen „Strohkoffer“ bekommen. Das war ein noch viel wilderer und wichtigerer Treffpunkt, wo viel mehr junge Künstler zusammengekommen sind. Aber das ist von der Malerei ausgegangen und die anderen sind dazu gekommen.

MANFRED MITTERMAYER

Herr Cerha, Sie haben beschrieben, wie Sie mit Lampersberg und Bernhard nächtelang zusammensaßen und Gespräche führten, in denen es nicht um Ihre Kunst und Ihre ästhetischen Konzepte ging. Turrini sagt, es war eine Möglichkeit, freier zu sein, Grenzen zu überschreiten, die in der sehr konservativen Kulturszene der 50er-Jahre doch ziemlich eng gezogen waren. Haben Sie das auch so erlebt, dass man dort andere Gedanken entwickeln, die Enge der österreichischen Kulturbürokratie überschreiten konnte? Oder was hat die Atmosphäre des Tonhofs sonst für Sie bedeutet?

FRIEDRICH CERHA

Es gab in dieser Umgebung die Faszination des Absurden. Einer versuchte den anderen durch besonders absurde Feststellungen zu übertreffen. Und wenn dann alle gelacht haben, dann sagte Thomas und auch Gerhard: „Es ist doch so.“ Und wenn ich diese Formel „Es ist doch so“ heute noch gebrauche, muss ich immer an ihre Herkunft denken. Natürlich geht die Freude am Absurden auch zurück auf die Wiener Gruppe und auf Jandl.

Vielleicht noch zu den Ausführenden der Köpfe: Für die anspruchsvolle Sopranpartie habe ich Marie-Thérèse Escribano geholt, die ich mit Aufführungen der reihe so gut wie bekannt gemacht habe. Sie hat das vorzüglich gemacht. Der Schlagzeuger war Peter Greenham, der damals an der Oper gespielt hat.

GERTRAUD CERHA

Der selber auch poetisch tätig gewesen ist. Peter und seine Frau Lilli, sie hat gemalt damals, waren auch zwei Menschen, die zu diesem Kreis gehört haben.

FRIEDRICH CERHA

Und natürlich wurde in diesen Gesprächen unendlich viel gelacht.

GERTRAUD CERHA

Aber das konstante Negativieren, nicht nur in einer Situation, die wirklich grauslich war und bei der man jede Ursache hatte, sie negativ zu beurteilen, ist etwas, das auch in der ganz normalen Alltagskommunikation in diesem Kreis sehr üblich gewesen ist. Der Gerhard hat einfach so geredet. Dieses permanente Negativieren alles Möglichen ist etwas sehr Charakteristisches gewesen. Wir haben ja später erst entdeckt, dass das bei Thomas Bernhard zum Stil geworden ist.

MANFRED MITTERMAYER

Darf ich dazu gleich weiterfragen? Das ist ja eine Zeit gewesen, in der es nach der Katastrophe des Nationalsozialismus darum gegangen ist, ein neues Österreich aufzubauen, neue Identitäten zu stiften, neue Stabilitäten, wobei man alle diese neuen Werte sehr ernst genommen hat. So dass es relativ schnell in Richtung Majestätsbeleidigung gegangen ist, wenn man diese Ernsthaftigkeit in Frage gestellt hat. Ich denke an die berühmte „Staatspreisrede“ Thomas Bernhards von 1968, in der er sagte, dass alles lächerlich sei, wenn man an den Tod denkt, aber auch das österreichische Volk als apathisch alles hinnehmend beschrieb und darauf ein Skandal folgte. Hatte diese Betonung des Absurden, dieses sich Freispielen von stabilen Ernsthaftigkeiten in Bezug auf den beschriebenen Zeitgeist auch eine subversive Bedeutung?

Telegramm von Gerhard Lampersberg an Peter Turrini, 1963

Quelle: AdZ-VPT

GERTRAUD CERHA

Das muss man die Psychologen fragen.

FRIEDRICH CERHA

In unseren Gesprächen ist der Wiederaufbau nie vorgekommen.

MANFRED MITTERMAYER

Wir sollten nicht nur über Thomas Bernhard, sondern auch über Peter Turrini sprechen. Wie haben Sie seine Anwesenheit am Tonhof wahrgenommen?

FRIEDRICH CERHA

Des Öfteren, wenn wir im Freien gegessen sind, war da auch ein Bub, von dem ich später erfahren habe, dass es der junge Turrini war. Gerhard Lampersberg war den Kindern sehr nahe. Er hat die Kinder verleitet, das zu tun, was ihnen die Eltern und die übrige Welt verboten haben. Die Kinder hat das unglaublich amüsiert und sie haben den Gerhard geliebt, auch meine Tochter Irina.

MANFRED MITTERMAYER

Wir werden im Film nachher sehen, wie Turrini selbst das erlebt hat, der aus einer stabil geordneten Welt kommt, aber sich durch seine Herkunft als Sohn eines Italieners, der sich nicht zugehörig fühlt, grundsätzlich als Außenseiter versteht und dann plötzlich zu Lampersberg kommt. Der aber dann später, und das schildert er sehr berührend, erkennen muss, dass seine Mutter das natürlich als Verlust erlebt hat, als Verrat: Da geht der Sohn weg, dorthin, wo es besseres Essen und interessantere Erlebnisse gibt usw. Da entstehen Konfliktfelder, die künstlerisch sehr fruchtbar geworden sind, sich aber sehr komplex entwickelt haben. Anders, als wenn jemand aus Wien kommt, wird er aus dem Kontext dieses Dorfes selbst herausgenommen und damit für neue Erlebnisse, für neue Möglichkeiten, für neue Welten und einen viel größeren Horizont geöffnet. Das Wort „subversiv“ passt, glaube ich, auch in diesem Zusammenhang. Kommen wir vielleicht noch einmal zu Ihren Erinnerungen an Gerhard Lampersberg, speziell zu Lampersberg als Komponisten.

FRIEDRICH CERHA

Ich habe die Violinstücke Lampersbergs gerne in Konzerten gespielt und wir haben auch mit der reihe seine Sinfonie aus der Taufe gehoben. Es stimmt schon, dass Gerhard Lampersberg in späterer Zeit an Webern angeknüpft hat, als reinen Webern-Epigonen, wie Thomas Bernhard das in Holzfällen tut, würde ich ihn aber nicht bezeichnen. Zwischen Bernhard und Lampersberg gab es damals eine enge freundschaftliche Vertrautheit. Wie es zum Holzfällen gekommen ist, ist mir völlig unerklärlich. [Einwurf von Gertraud Cerha: „Mir nicht“]. Irgendetwas muss zwischen den beiden vorgefallen sein. Ich glaube, es macht keinen Sinn, Vermutungen anzustellen. Man muss das akzeptieren.

MANFRED MITTERMAYER

Wie es dazu kam, ist eine lange komplizierte Geschichte. Frau Cerha, Sie sagen, Ihnen ist dieser Bruch nicht unerklärlich – was ist Ihre Sicht der Dinge?

GERTRAUD CERHA

Ich möchte das hier nicht ausführen. Wenn man die entsprechenden Stellen in den 58 Gesprächen über Thomas Bernhard liest, die Sepp Dreissinger geführt hat, versteht man mehr. Ich habe manche Dinge nicht gewusst, über Freundschaften, familiäre Beziehungen, die der Thomas Bernhard gehabt hat. Zur Familie Hufnagl, zur Familie Altenburg. Da drängen sich dann einfach Analogien auf, dass da ein bestimmtes psychisches Muster abgelaufen ist. Aber das hat sicher bei der Beziehung zwischen Thomas Bernhard und Gerhard Lampersberg noch andere Gewichtungen gehabt.

MANFRED MITTERMAYER

Sie haben jetzt Namen genannt, die in Zusammenhang mit Bernhard immer wieder fallen, die – genau wie jene von Lampersberg und seiner Frau – zur österreichischen Aristokratie hinführen. Turrini hat ja gesagt, dass hier ein letztes Beispiel von Mäzenatentum stattgefunden hat. Nicht vom Staat, nicht von einem reichen Industriellen, sondern von einem Abkömmling der Aristokratie – der eine sehr freie Kunst ermöglicht hat, auch Menschen hingeführt hat zu ganz anderen Formen des Denkens, als es die Tradition vorgibt. Wenn Sie von heute aus darauf zurückblicken, ergeben diese eher soziologischen Überlegungen für Sie einen interessanten Aspekt?

FRIEDRICH CERHA

Die Weis-Ostborns hätten die Vorstellung des Mäzenatentums schroff zurückgewiesen. Es war einfach eine Gastlichkeit, eine Selbstverständlichkeit, eine natürliche.

GERTRAUD CERHA

Aber die natürliche Selbstverständlichkeit ist sicher auch in einer Tradition gewachsen.

MANFRED MITTERMAYER

Ich glaube, der Komponist Ernst Kölz war es, der gesagt hat, es ist dort einfach so gewesen, dass man zu Besuch war und sich wohlgefühlt hat und sich daraus Kunst, Denken und eine Befreiung des Horizonts entwickelt hat. Trotzdem ist diese Konstellation interessant, wenn man sich etwa auch die spätere Situation der Künstlerinnen und Künstler in Österreich und die der Kunstförderung allgemein vergegenwärtigt. Hat es ein solches Modell, einen solchen Ort des Zusammenlebens, wo man sich für gewisse Zeit trifft und versucht, Kunst wie in einer Art Labor – auch das ein Begriff, den Turrini gebraucht – Ihrer Erfahrung nach später noch irgendwo gegeben?

GERTRAUD CERHA

Das hat sich natürlich entwickelt, aus einer bestimmten Zeitsituation heraus. Und als die sich geändert hat, ist das verschwunden. Wir haben vor nicht allzu langer Zeit mit einem jungen Komponisten gesprochen, mit Gerhard Resch, der beklagt hat, dass er und seine Kollegen sich sehr isoliert fühlen und keinen Kontakt untereinander haben. Es gibt in der jungen Generation Leute, die bedauern, dass es das nicht mehr gibt. Irgendwie ist mir klar, dass es nicht so sein kann. Der gleiche Komponist hat mir, als ich ihn gefragt habe: „Warum geht ihr eigentlich nicht in Konzerte, wo Werke eurer Freunde aufgeführt werden?“, geantwortet: „Wir können uns ja alles aus dem Internet herunterholen.“ Dieser natürliche und absolut notwendige Kontakt, die gemeinsame Neugier, die geherrscht hat, das gibt es einfach nicht mehr.

FRIEDRICH CERHA

Es sitzt zunehmend jeder an seinem Computer in seinem Kämmerlein allein.

MANFRED MITTERMAYER

Herr Cerha, ich habe vorher schon angedeutet, dass die Beziehung zu Thomas Bernhard ja weitergegangen ist. Sie haben später zwei Texte von Bernhard vertont, zumindest Ausschnitte daraus. Der zweite war interessanterweise der schon mehrmals erwähnte Roman Holzfällen, aber zunächst einmal die Erzählung Gehen aus dem Jahr 1971. Sie haben ein Requiem daraus gemacht; es heißt Requiem für Hollensteiner, eine Figur in diesem Text. Können Sie dazu noch etwas erzählen?

FRIEDRICH CERHA

Ich habe irgendwann in diesen Jahren den Großen Österreichischen Staatspreis bekommen. Sinowatz war damals, glaube ich, Unterrichtsminister.

MANFRED MITTERMAYER

Ich glaube, Herbert Moritz.

FRIEDRICH CERHA

Ja, Moritz. In meiner Dankesrede habe ich ausführlich Thomas Bernhard zitiert. bevor es zu spät ist – das ist später ein Satz geworden für Tenor und Orchester. Und Hollensteiner ist eine Figur von Thomas Bernhard, das wurde schon gesagt, ich habe einen Ausschnitt aus dieser Erzählung vertont. Ich war aber in Sorge, ob er damit einverstanden ist, da wir uns inzwischen nur ein paar Mal getroffen und keine nähere Beziehung hatten. Ich wusste ja, dass er auch schwierig sein kann. Ich bin dann in sein Haus in Ohlsdorf gefahren und er hat mich ganz freundlich aufgenommen und gesagt: „Nimm den Text, mach was du willst“. Es ist das Requiem für Hollensteiner entstanden, in dem der Staat beschuldigt wird, mit allen künstlerischen Ambitionen nicht zurecht zu kommen. Es wurde in Hamburg uraufgeführt.

MANFRED MITTERMAYER

Es hätte aber in Österreich uraufgeführt werden sollen.

GERTRAUD CERHA

Die Uraufführungsgeschichte war eigentlich eine typisch Bernhard’sche. Es war geplant, dass die Uraufführung in Graz stattfindet, mit dem Chor der Jeunesse Musicale, das Stück sollte beim steirischen herbst aufgeführt werden, dagegen hat es einen verborgenen Widerstand gegeben, gleichzeitig eine verschlampte Choreinstudierung, sodass es aus mehrfachen Gründen zu dieser Uraufführung nicht gekommen ist. Und die bereits festgesetzte deutsche Erstaufführung ist somit zur Uraufführung des Stücks geworden.

MANFRED MITTERMAYER

Es gibt Briefe im Archiv der Zeitgenossen, aus denen hervorgeht, dass der Sänger Theo Adam Schwierigkeiten damit hatte, Texte eines Autors vorzutragen, der im Ruf stand, Österreich ständig zu beschimpfen. Er sei hier in einem Land zu Gast, in dem er immer wieder auftritt, und solle nun Thomas Bernhard die Stimme leihen – er hat abgesagt. Das unterstreicht noch, was Sie gesagt haben, wie auch die Bernhard-Rezeption hineingewirkt hat. Aber wir müssen gar nicht bei Bernhard bleiben. Bei der Staatspreisverleihung haben Sie ja auch mit Minister Moritz eine eigentümliche Erfahrung gehabt, indem er zu Ihnen gesagt hat, wenn ich es richtig im Kopf habe, dass er über dieses Werk schockiert gewesen sei oder dass es ihn sehr erschüttert hätte, und Sie haben dann gesagt, das wäre eigentlich der Sinn dieser Aufführung gewesen.

Ist das auch ein Spiegel dieser Zeit, der damaligen kulturpolitischen Situation, wenn man feststellt, wie in den 80er-Jahren Thomas Bernhard auf eine Weise Skandale ausgelöst hat, die uns ja manchmal sehr fern erscheint?

GERTRAUD CERHA

Das war schon von uns geplant, dass die Verleihung des Staatspreises im Konzerthaus stattgefunden hat und nach der Verleihung dieses Konzert angesetzt war, in dem im ersten Teil drei Teile aus dem großen Orchesterzyklus Spiegel gespielt wurden und im zweiten Teil das Requiem für Hollensteiner. Aus der Korrespondenz geht auch hervor, dass Minister Moritz darauf vorbereitet war, dass da etwas passiert, was ihm vielleicht nicht so wunderbar gefällt. Trotzdem hat er dann geantwortet: „Sie sehen in mir einen vor dem Kopf Gestoßenen“, und das hatte auch noch ein Nachspiel.

MANFRED MITTERMAYER

Der Text zu bevor es zu spät ist, das Sie erst angesprochen haben, ist ja aus Holzfällen. Es handelt sich um den Schluss, in dem der Erzähler unbedingt aufschreiben will, was er erlebt hat, und es in einem unheimlichen Getriebensein, wie Sie es in einem Kommentar formuliert haben, notieren möchte. Und es ist das Überraschende am Schluss von Holzfällen, dass er die Stadt Wien trotzdem als die seine erklärt und die Menschen in Wien als die seinen. Was hat Sie daran fasziniert?

FRIEDRICH CERHA

[überlegt einige Zeit] Ich weiß es nicht mehr.

GERTRAUD CERHA

Die ihm selber vertraute Situation.

Friedrich Cerha, Minister Herbert Moritz bei der Verleihung des Großen Österreichischen Staatspreises für Musik, 26. 10. 1986

Foto: Unbekannt, Quelle: AdZ-VFC

MANFRED MITTERMAYER