Zellkultur - Clemens Dachs - E-Book

Zellkultur E-Book

Clemens Dachs

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Beschreibung

Zellkultur ist ein spannender und praxisnaher Roman für alle Manager, Führungskräfte und Vordenker, die ihre Organisation aus einem völlig neuem Blickwinkel verstehen wollen. Die Natur hat vor vier Milliarden Jahren geschafft, womit Unternehmen noch heute kämpfen: Erfolgreiche Organisationen, die jeder Veränderung trotzen und dauerhaft bestehen. Verstehen Sie, wie Unternehmen die Erfolgsprinzipien des Lebens nutzen können, um mit dem Wandel des 21. Jahrhunderts Schritt zu halten. Begleiten Sie den Manager Max Neumann dabei, wie er seinen schwächelnden Digitalisierungsbereich nach dem Vorbild lebender Zellen organisiert, um der drohenden Zerschlagung durch einen neuen Investor zu entgehen. In Zellkultur erfahren Sie • welche grundlegenden Funktionen jedes lebende System, egal ob Organismus oder Organisation, verwirklichen muss, um auf Dauer überleben zu können. • weshalb Lean und Agilität keine Erfindungen, sondern Entdeckungen sind, die in lebenden Zellen seit Anbeginn harmonisch zusammenwirken. • wie Sie lebende Organisationen schaffen, die sich an die Veränderungen der unsicheren Wirtschaftswelt erfolgreich anpassen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Zellkultur

Ein Business-Roman über bionisches Organisationsdesign

Clemens DachsMoritz Hornung

 

Impressum

 

Der vorliegende Text darf nicht gescannt, kopiert, übersetzt, vervielfältigt, verbreitet oder in anderer Weise ohne Zustimmung der Autoren verwendet werden, auch nicht auszugsweise: weder in gedruckter noch elektronischer Form. Jeder Verstoß verletzt das Urheberrecht und kann strafrechtlich verfolgt werden.

ISBN: 978-3-75460-550-9© 2021 Clemens Dachs und Moritz Hornung Clemens Dachs: Brahmsstrasse 1, 91077 Dormitz, [email protected] Hornung: Unter der Harbruck 7, 90584 Allersberg, [email protected] und Korrektorat: Dr. Gregor Ohlerich (www.freie-lektoren.de)Covergestaltung und Illustration: Moritz HornungVeröffentlicht über tolino media  

 

Widmung 

Clemens Dachs

Für Cornelia, Felix, Regina und Valentin

 

 

Moritz HornungFür Anastasia, Patrizia und Arthur

 

 

 

Einige Hinweise bevor es losgeht 

Als Leserinnen und Leser dieses Buches können Sie unseren Bionischen Funktionsplan für Organisationen herunterladen, der die wesentlichen Prinzipien und Zusammenhänge auf einen Blick darstellt. Außerdem funktioniert er wie eine Art Landkarte für diesen Roman, indem er die wichtigsten Zusammenhänge verknüpft. Den Funktionsplan und weitere Dokumente zu diesem Roman finden Sie unter: https://business-survivalist.com/zellkultur-downloads oder dem nachfolgenden QR-Code.

 

Sollten Sie diesen Roman auf einem E-Reader lesen, der nur schwarz-weiße Darstellung erlaubt, bietet es sich an, den farbigen Funktionsplan zumindest griffbereit zu haben. Im Laufe des Textes werden einige Hinweise auf die darauf genutzt Farben gemacht. So entgeht Ihnen nichts.

 

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Menschen, insbesondere aus unserem Umfeld, sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel – Ein Sturm zieht auf

Der neue CFO

Jetzt wird es Ernst

Die Konferenz

Paula und Frank

Wachstum (Bionik 1)

Kaffeeküchengespräche

Das Versäumnis

Zweites Kapitel – Zeit, zu beschleunigen

Einer für alle, alle für einen

Der erste Auftrag

Katalysatoren (Bionik 2)

Beste Arbeitsbedingungen

Autokatalyse (Bionik 3)

Gute Gewohnheiten

Der Rauswurf

Grünes Licht von oben

Der gemeinsame Start

Drittes Kapitel – Der modulare Baukasten des Lebens

Modulare Autokatalyse (Bionik 4)

Der modulare Ansatz

Die erste Abrechnung

Frust und Zweifel

DNA (Bionik 5)

Kochrezepte

Schmerzhafte Verluste

Bausteine (Bionik 6)

Mensch und Verhalten

Das Puzzle fügt sich

Viertes Kapitel – Ich bitte um Konzentration

Zellmembran (Bionik 7)

Organellen (Bionik 8)

Zur rechten Zeit am rechten Ort

Von wegen Systemgrenze

Fünftes Kapitel – Ein überlebensfähiges Ganzes

Geben und Nehmen (Bionik 9)

Vom Stakeholder zur Vision

Gemeinbeitrag

Der bionische Funktionsplan (Bionik 10)

Auf der Suche nach dem Engpass (Bionik 11)

In Whisky veritas

Das erste Gefecht

Überlebt! Vorerst …

Sechtes Kapitel – Die adaptive Organisation

Das Ziel (Bionik 12)

Autoregulation (Bionik 13)

Kunde droht mit Auftrag

Signalwege und Netzwerke (Bionik 14)

Fehlende Unterlagen

Kennzahlen

Genexpression (Bionik 15)

Lebe lang und erfolgreich

Evolution (Bionik 16)

Höheres Entscheiden (Bionik 17)

Die Geschäftsleitung unter Druck

Siebtes Kapitel – Symbiosen und Kommunikation

Flucht nach vorne

Der unerwartete Abgrund

War alles umsonst?

Ein Angebot, das ich nicht ablehnen kann

Die Gewissensfrage

Verstehen und verstanden werden (Bionik 18)

Dein Engpass ist mein Engpass

Innovation (Bionik 19)

Achtes Kapitel – Die Überlebensfrage

Die Entscheidung

Der letzte Strohhalm

Das Ganze und seine Teile (Bionik 20)

Das Plädoyer

Die Kurznachricht

Epilog – Wie alles zusammenhängt

Danksagung

Über die Autoren

Abbildungsverzeichnis

Quellen und weiterführende Literatur

Endnoten

 

 

Vorwort

D

ie Management-Literatur der letzten Jahre ringt um die Geltungshoheit des eigenen Weltbildes. Es wird viel darüber diskutiert, was besser, richtig und was falsch ist. Sind es schlanke Prozesse oder ist es doch die vielgerühmte Agilität, die mittlerweile auf so gut wie jeder Unternehmensagenda verortet ist? Vermehrt positionieren sich auch sinnerfüllte Organisationsphilosophien, die Fortschritt in Achtsamkeit und Selbstorganisation propagieren. Systemische Organisationsansätze hingehen versuchen, all die losen Enden aufzunehmen und den Blick für das große Ganze zu formen.

Im Kern adressieren alle Führungsströmungen eine grundlegende Frage, so unterschiedlich ihre Lösungen auf diese auch sein mögen. Sie versuchen, eine allgemeingültige Antwort auf die zunehmende Komplexität und Unsicherheit unserer Zeit zu geben, mit der Unternehmen tagtäglich konfrontiert sind.

Wir haben eine gute Nachricht: Die Frage ›Wie können Organisationen in einer veränderlichen Umwelt dauerhaft bestehen?‹ hat Mutter Natur vor fast vier Milliarden Jahren bereits beantwortet, indem sie ein Phänomen erschuf, das wir als Leben bezeichnen. Denn jedes Lebewesen ist eine unglaublich komplexe Organisation, die, egal, ob Einzeller, Tier, Pflanze oder Mensch, nach denselben grundlegenden Prinzipien funktioniert.

In den letzten hundert Jahren hat uns die Bionik einige technische Fortschritte ermöglicht, die ohne die Beobachtung der Natur kaum möglich gewesen wären: Nicht nur Reißverschlüsse, auch Flugzeugtragflächen, Nano-Beschichtungen und neuartige Wachstumsalgorithmen für den Leichtbau hat diese Disziplin hervorgebracht. Ist es daher nicht naheliegend, dass uns das Lernen aus der Natur, über technische Produkte hinaus, auch Erkenntnisse für die Gestaltung erfolgreicher Organisationen liefern kann?

Genau diese Idee liegt unserer Zellkultur zugrunde. Die diesem Roman zugrundeliegenden Erkenntnisse sind durch die Beobachtung des kleinsten gemeinsamen Nenners allen Lebens entstanden: Zellen. Denn in den Zellen liegt die Antwort darauf, wie alle Lebewesen organisiert sind, um sich erfolgreich anzupassen und dauerhaft zu überleben. Beides Fähigkeiten, die Unternehmen anstreben, um in der schnelllebigen Welt des 21. Jahrhunderts bestehen zu können.

Die faszinierende Erkenntnis aus der Beobachtung lebender Zellen ist, dass erfolgreiche Business-Methoden, egal, ob Lean Management, Agilität, Selbstorganisation oder Theory of Constraints, vermutlich nicht deshalb erfolgreich sind, weil sie etwas Neues darstellen, sondern weil sie einen Teil genialer Systemdynamik anwenden, die lebende Systeme seit jeher erfolgreich macht. Denn eines sollten Sie sich klarmachen: Leben ist in unserem Universum mit all seinen Naturgesetzen vor allem eines: höchst unwahrscheinlich. Und dennoch überdauert Leben seit Jahrmilliarden, weil es Mechanismen gefunden hat, eine Systemdynamik zu erzeugen, die selbst höchst Unwahrscheinliches dauerhaft und zuverlässig möglich macht.

Deshalb, so hoffen wir, wird Ihnen das vorliegende Buch einen neuen Blick darauf geben, was wir bei der Organisationsgestaltung von der Natur lernen können. Wir möchten Ihnen ein Organisationsverständnis an die Hand geben, in dem es nicht um einzelne populäre Methoden geht, sondern vielmehr darum, welchen Zweck jedes Puzzleteil für die Lebensfähigkeit eines Unternehmens beiträgt. Egal, ob nun lean oder agil, nur zusammen können Organisationen sowohl die nötige Stabilität als auch Dynamik erzeugen, die Leben ausmacht.

Wenn Sie uns die Frage stellen, wie wir Organisationen gestalten sollten, sodass sie in der veränderlichen Umwelt des 21. Jahrhunderts überleben können, lautet unsere Antwort: Indem sie die Systemdynamik und Organisation des Lebens nachahmen. Organisationen brauchen eine Zellkultur.

 

Clemens Dachs und Moritz Hornung

im August 2021

Erstes Kapitel–Ein Sturm zieht auf

Der neue CFO

E

s ist entschieden!« Elisabeth von Bergens strenger Blick verharrte für einige weitere lange Momente auf Oliver Schneider, dem amtierenden Geschäftsführer ihres Unternehmens.

»Das kannst du nicht machen!«, platzte es aus Oliver heraus. Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Das Geschirr schepperte unangenehm auf der Oberfläche des großen Eichenholztisches.

Elisabeth fuhr erschrocken zurück, während ihr Begleiter, Herr Ernst, keine Miene verzog. »Oh doch, Oliver. Leider habe ich keine andere Wahl.«

»Seit über zehn Jahren haben wir zusammen jede Krise gemeistert. Und das ist der Dank? Du stellst mir einen Aufpasser zur Seite! Das glaube ich jetzt nicht, Elisabeth! Wie …«

Bevor Oliver nachlegen konnte, fuhr ihm Elisabeth ins Wort. »Schluss jetzt! Ich habe viel, sehr viel Geduld gezeigt!« Sie atmete einige Male tief durch, um sich zu beruhigen. »Gesteh es dir doch ein. Dieses Mal ist es anders. Ich bin es unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern schuldig, dass wir uns endlich der Zukunft stellen. Du magst ein guter Geschäftsführer gewesen sein in den vielen Jahren, aber die Zeiten ändern sich. Die Zusammenarbeit mit einem internationalen Investor wird uns dabei helfen, im 21. Jahrhundert anzukommen. Die haben Erfahrung damit, Unternehmen wie unseres neu aufzustellen. Und deshalb werde ich die Mehrheit an dieser Firma abgeben, bevor wir den Anschluss noch völlig verlieren.«

Sie blickte Oliver entschlossen an.

Elisabeths Begleiter im dunkelgrauen Anzug hatte das ganze Spektakel bisher regungslos mitverfolgt. Seine stahlgrauen Augen ruhten ausdruckslos und kühl auf Oliver. Dieser hatte den Eindruck, Spuren von Geringschätzung zu erkennen. Aber womöglich war es einfach nur eine groteske Gleichgültigkeit, die auf seinen Zügen lag. Die kantige Miene von Herrn Ernst war wie in Stein gemeißelt und trotzte bewegungslos der greifbaren Anspannung, die im Raum lag.

Nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, räusperte er sich: »Elisabeth, was genau hat das jetzt für mich zu bedeuten? Wie soll das überhaupt funktionieren?«

Elisabeth wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als ihr eine tiefe, kehlige Stimme zuvorkam: »Es bedeutet, dass ich Ihnen als kaufmännischer Geschäftsführer mit sofortiger Wirkung unter die Arme greifen werde. Mein Auftraggeber, Ihr neuer Investor, verlangt einschneidende Veränderungen, um die Firma wieder auf Erfolgskurs zu bringen. Er hat mich damit beauftragt, diesen Umbau durchzuführen und für die nötigen Ergebnisse zu sorgen.«

Elisabeth machte keine Anstalten, Ernsts Aussage zu kommentieren, und so fuhr er an Oliver gewandt fort: »Sie hingegen, Herr Schneider, werden mir als technischer Geschäftsführer dabei helfen, das Ruder herumzureißen. Ihre langjährige Expertise wird notwendig sein, um die Firma wieder in die Gewinnzone zu bringen. Zudem sind Sie in der Belegschaft anerkannt und werden für die operative Umsetzung der leider notwendigen Maßnahmen sorgen.«

Oliver schauderte darüber, wie berechnend Herr Ernst war.

Dieser nippte an seinem Wasserglas, blickte für einen Moment auf seine blitzende Uhr und sah dann fordernd zu Elisabeth hinüber. Ihr Blick wanderte zur Wanduhr hinter Oliver.

»So ist es, Oliver. Der Investor hat verlangt, dass wir die Geschäftsführung den neuen Anforderungen anpassen. Deshalb werden du und Herr Ernst die Firma fürs Erste gemeinsam führen.«

Oliver saß wie versteinert auf seinem Stuhl und sah Herrn Ernst und Elisabeth gequält an. Dann beschloss er, zunächst einmal einzulenken. Er würde dieser Person nicht die alleinige Leitung der Firma überlassen.

»Wie du meinst, Elisabeth. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich deine Entscheidung noch ändern kann.«

»Die Entscheidung ist getroffen. Unser Investor hat klare Vorstellungen und hält in Kürze die Mehrheit an der Firma. Und sei versichert, Herr Ernst macht sowas nicht zum ersten Mal.« Sie atmete tief durch und fuhr fort: »Ich bin mir sicher, auf lange Sicht ist es besser so.«

Dann ergriff Herr Ernst wieder das Wort. Sein distanzierter Tonfall ließ vermuten, dass Gespräche dieser Art für ihn an der Tagesordnung waren. »Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit, Herr Schneider. Ich mache Ihnen nichts vor. Es wird hart werden. Es wird Veränderungen geben. Ich habe die klare Aufgabe, diese Firma wieder profitabel zu machen.« Er blickte durchdringend über den Rand seiner Brille und fixierte Oliver. »Und ich gehe davon aus, dass wir gemeinsam mit aller Konsequenz jeden Stein dieser Firma umdrehen werden, um dieses Ziel zu erreichen. Die Details besprechen wir kommende Woche. Ich bin gespannt, wie Sie die Situation einschätzen.«

Er erhob sich, straffte seinen engen Anzug und reichte Oliver die Hand über den Tisch.

Der nickte, richtete sich auf und erwiderte: »In Ordnung. Wir sehen uns dann kommende Woche.«

Herr Ernst hatte einen Händedruck wie ein Schraubstock.

Jetzt wird es Ernst

I

ch bog mit einem Schwung durch die weit geöffnete Tür des Besprechungszimmers. Der große Tisch in der Mitte des Raumes war bereits gut besetzt. Doch anstelle des üblichen Wirrwarrs aus leisen Gesprächen, Gemurmel und Lachen empfing mich eine dumpfe Stille, die nur von vereinzeltem Flüstern und dem Klicken der Computermäuse durchbrochen wurde. Unbewusst verlangsamte ich meinen beherzten Schritt und ließ mich mit einem kurzen Nicken auf einem der leeren Schwingstühle im vorderen Bereich des Besprechungstisches nieder. Der Stuhl knarzte so laut, dass ich mich kurz verunsichert umsah. Ich erntete verhaltenes Lächeln der Kollegen. Sie waren nahezu vollzählig versammelt: Victoria, die Leiterin unserer Personalabteilung, Oliver, der Geschäftsführer, sowie all die anderen Bereichs- und Abteilungsleiter und eine Vertreterin des Betriebsrates.

Während ich den Blick kreisen ließ, erblickte ich einen hageren, hochgewachsenen Mann neben Oliver, den ich noch niemals in dieser Runde gesehen hatte. Er trug einen perfekt sitzenden grauen Nadelstreifenanzug und sein Haar war akkurat zur Seite gekämmt. In diesem Moment blickte er zu mir herüber, als ob er meinen musternden Blick gespürt hätte. Sein Blick war durchdringend und kalt. Schnell wandte ich meine Augen verlegen ab. Wer ist dieser neue, unangenehme Typ, schoss es mir durch den Kopf, noch bevor meine Gedanken durch eine laute Stimme unterbrochen wurden.

»Liebe Kolleginnen und Kollegen«. Oliver erhob die Stimme. »Vielen Dank, dass ihr euch so kurzfristig Zeit genommen habt.«

Er ließ einige Momente verstreichen und räusperte sich. »Wir haben euch etwas mitzuteilen. Wie ihr alle wisst, laufen die Geschäfte nicht sehr gut. Deshalb hat unsere Eigentümerin Frau von Bergen beschlossen, sich mit einem internationalen Investor zusammenzutun, um der Situation Herr zu werden.«

Ein Raunen ging durch den Raum und vereinzelte, kurze Wortfetzen wurden unter einigen Teilnehmern ausgetauscht.

Victoria, die direkt auf dem Platz neben mir saß, beugte sich leicht zu mir hinüber und murmelte: »Halt dich fest, Max. Das ist nicht alles.« Ich schluckte und wartete gespannt darauf, dass Oliver fortfuhr.

»Doch diese Veränderung wird nicht nur unsere Eigentümerstruktur betreffen.« Er hob die rechte Hand leicht an und deutete auf den unbekannten Gast neben ihm. »Das ist … Herr Ernst.« Seine Stimme klang ungewohnt gepresst, als er den Namen aussprach. »Herr Ernst ist mit sofortiger Wirkung unser neuer kaufmännischer Geschäfts-führer, der von unserem neuen Eigentümer eingesetzt worden ist. Er wird …«

Aber ich bekam die nächsten Worte gar nicht mehr mit. Stattdessen blickte ich auf den grau melierten Teppichboden zwischen meinen Füßen und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Wie konnte das sein? Freitagmittag hatte ich mit Oliver noch zu Mittag gegessen. Da war noch alles in Ordnung gewesen. Klar, es gab Gerüchte über einen möglichen Verkauf, aber …

Mein Gedankenkarussell wurde jäh durch ein lautes Räuspern gestoppt und ich blickte wieder auf. Herr Ernst hatte sich erhoben. Verdammt, fuhr es mir durch den Kopf, denn sein Blick lag anklagend auf mir.

»Danke, dass Sie mir Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenken«, tönte seine raue Stimme durch den Besprechungsraum. »Ich möchte Ihnen nichts vormachen. Die Situation ist ernst. Die Zahlen sehen nicht gut aus. Die gute Nachricht ist: Ich habe Erfahrung mit Unternehmen wie diesem. Es gibt sicherlich ausreichend Potenzial, um wieder in die Gewinnzone zu kommen. Für gewöhnlich überschätzt man die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Produkte, arbeitet planlos am Wandel zur Digitalisierung und hat völlig vergessen, was operative Exzellenz bedeutet. Deshalb werde ich mit Ihnen allen bis Ende des Jahres sehr eng zusammenarbeiten, um die Standorte, Bereiche und Produkte zu finden, die ihren Beitrag nicht leisten können.«

Ende des Jahres? Das waren nur vier Monate! Mit einem Male fühlte sich mein Hals trocken an und mein Magen krampfte sich zusammen. Hatte jemand die Heizung angestellt? Ich fingerte nervös an meinem Hemdkragen. Mein Nacken fühlte sich schweißnass an. Bereiche? Oh nein, bei mir lief es gerade gar nicht gut. Warum musste er gerade die Digitalisierung erwähnen? Bedeutete das etwa, er hatte mich schon auf der Liste?

»Aber Herr Ernst! Wir haben doch erst vor einigen Monaten umorganisiert und einige Bereiche befinden sich gerade noch in der Umstellung.«

Die Blicke wanderten zu der Stimme von Frau Meier aus dem Betriebsrat, die Ernst mit sichtlicher Geringschätzung ansah.

»Eine sehr gute Idee!« Ein gekünsteltes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Mit diesen Bereichen und den anderen offensichtlichen Problemfällen fangen wir gleich an.« Er blickte durch die Reihen der Anwesenden. »Unser neuer Investor verlangt in den kommenden Monaten einen klaren Restrukturierungsplan. Entweder leistet ein Bereich seinen Beitrag, er wird umstrukturiert oder abgeschafft. Und ja, bevor Sie fragen: Sicherlich werden wir nicht darum herumkommen, personelle Anpassungen zu treffen. Wer sich dieser Aufgabe also nicht stellen möchte, der kann sich gleich bei mir persönlich melden.«

Er zog eine Augenbraue hoch und blickte herausfordernd auf die Anwesenden, erntete aber nur ausweichende oder entsetzte Blicke.

Ernst beendete seine Brandrede. »Wunderbar, wir sind uns offenbar einig! Meine Sekretärin wird kommende Woche die Termine mit Ihnen vereinbaren. Alle weiteren Instruktionen zur Information Ihrer Mitarbeiter folgen. Bitte nehmen Sie die Sache ernst, denn es wird keine Ausnahmen geben!«

Einige Minuten später wankte ich wie benommen aus dem Besprechungsraum und flüchtete, so es meine weichen Knie zuließen, in Richtung meines Büros, während sich die Gedanken in meinem Kopf schier überschlugen. Ich musste mir etwas einfallen lassen. Und zwar schnell.

Die Konferenz

A

nfangs hatte ich jede Gelegenheit genutzt, darüber zu fluchen, wie ungelegen diese Konferenz in Amsterdam mir gerade kam. Aber glücklicherweise verstand es unsere Personalleiterin Victoria bestens, mit deutlichen Gefühlsäußerungen und meinem Unmut im Speziellen umzugehen. Sie schaffte es, mich wieder in ruhiges Fahrwasser zu bringen, indem sie mir klarmachte, wie notwendig diese Konferenz für uns war. Nur weil die unmittelbare Situation sich geändert hatte, bedeutete dies nicht, dass andere Baustellen weniger wichtig waren.

Denn wie es das Schicksal wollte, hatten Victoria und ich nur wenige Tage nach der unheilvollen Ankündigung von Herrn Ernst geplant, gemeinsam eine Konferenz zu besuchen. Wenn ich mich recht entsann, war die Idee des Konferenzbesuches einige Wochen zuvor geboren worden, als wir im Leitungskreis darüber fachsimpelten, wie wir unseren angestaubten Betrieb attraktiver für junge Talente machen könnten. Unser Unternehmen war nicht nur in jedem Sinne klassisch organisiert. Auch unser Firmenimage und Portfolio waren zumindest nach außen hin nicht wirklich hip genug, um Informatikabsolventen und andere IT-Fachkräfte in Scharen zu uns zu locken. Dass wir unter der Haube einige kreative Köpfe und Ideen hatten, musste man der Welt erst einmal klarmachen. Das war nur eines der Probleme, die insbesondere meinen Digitalisierungsbereich in Atem hielten.

Da waren wir nun auf einer Konferenz, in der es einzig und allein darum ging, Unternehmen und Menschen erfolgreich durch die Digitalisierung zu führen. Victoria und ich hatten uns schon am Vorabend während unseres Fluges die Vorträge und Workshops notiert, die uns besonders ansprachen. So huschten wir von Vortrag zu Vortrag, nahmen an Workshops teil und plauschten in den Kaffeepausen mit anderen Konferenzteilnehmern. Wie erwartet war der Espresso erstklassig und das Catering ließ keine Wünsche übrig. Ungeachtet der zahlreichen Fachvorträge kamen wir beide zu einer zumindest beruhigenden Erkenntnis: Gefühlt hatte jeder, mit dem wir gesprochen hatten, vergleichbare Schwierigkeiten, wenn es darum ging, die eigene Organisation für die kommenden Jahrzehnte aufzustellen.

Da die Konferenz über zwei volle Tage ging, gab es auch eine Abendveranstaltung. Hierfür tauschte ich meine Lederschuhe gegen ein paar bequeme Sneaker und streifte einen dünnen Baumwollpullover über. Ein Blick auf meine Armbanduhr verriet mir, dass ich Victoria in zwei Minuten in der Lobby treffen sollte. Auch mein Magen meldete sich zu Wort und gab mir zu verstehen, dass die Häppchen des Tages keine vollwertige Mahlzeit ersetzt hatten. Also trieb ich mich zur Eile an und beschloss, anstelle des Aufzugs, die Treppen zu nehmen.

Unten öffnete ich die Tür zur Hotellobby und wurde von einer Klangkulisse aus plätschernden Stimmen und säuselnder Jazz-Musik empfangen. Ich ließ meinen Blick durch die weite, von unzähligen Lichtspots erleuchtete Lobby streifen. Victoria saß bereits in einem der tiefen, dunkelroten Loungesessel, die den Eingangsbereich flankierten. Als ob sie meinen suchenden Blick spürte, hob sie ihren Blick von ihrem Mobiltelefon und sah zu mir hinüber. Sie winkte, erhob sich mühelos aus dem tiefen Sessel und strich ihre langen, welligen Haare zurück.

»Guten Abend, Max. Bereit fürs Abendessen?«

»Sicher doch, ich habe einen Bärenhunger«, antwortete ich ehrlicher, als ich es beabsichtigt hatte.

»Na dann lass uns keine Zeit verlieren. Das Taxi ist schon da.«

Kurze Zeit später waren wir wieder mittendrin im Getümmel. Mit vielen anderen hundert Teilnehmern saßen wir an mehreren Dutzend Tischen verstreut. Wir verbrachten fast zwei geschlagene Stunden damit, uns über das Gehörte des heutigen Konferenztages mit unseren zufällig ausgewählten Tischgenossen zu unterhalten. Das aufgetischte Vier-Gänge-Menü ließ ausreichend Zeit, um sich auszutauschen und Kontakte zu knüpfen. Gesprächsthema Nummer eins war ein Vortrag, den wir ebenfalls besucht hatten. Die Meinungen unserer Tischnachbarn rangierten von »originell« bis hin zu »abgefahren« und »etwas weit hergeholt«. Die Rede war von einem Vortrag über die bionische Organisation der Zukunft. Ich konnte mich noch gut an den wohlbeleibten älteren Herren erinnern, Professor Stafford Bateson. Sein wohltuender britischer Akzent klang mir noch jetzt in den Ohren.

Nach dem Abendessen beschlossen Victoria und ich kurzerhand, einen kleinen Spaziergang zu machen, bevor wir uns für ein Stündchen an die Bar gesellen wollten. Wir schlenderten die fast menschenleere Treppe des Konferenzgebäudes hinunter. Die Musik und das Stimmenwirrwarr von hunderten Teilnehmern folgte uns noch einige Meter, bis wir am Fuße angekommen waren. Unsere Schritte hallten in der geräumigen Eingangshalle.

Da war sie wieder, diese britische Stimme. Sie kam aus einer kleinen Sitzecke. Ich blickte mich um und erkannte Professor Bateson. Er nahm gerade sein Mobiltelefon vom Ohr und legte es neben die Tasse auf dem kleinen Tisch vor sich. Ich stupste Victoria an, die ihn offensichtlich noch nicht bemerkt hatte.

»Ist das nicht dieser Professor von heute Morgen?«

Sie lugte über meine Schulter in die von mir angedeutete Richtung.

»Ja, du hast recht. Komm, lass uns hingehen. Wenn der erst einmal oben an die Bar geht, wirst du ihn kaum noch zu greifen bekommen.«

Gesagt, getan. Wir schlenderten zu der kleinen Sitzgruppe hinüber.

»Guten Abend, genießen Sie auch ein paar ruhige Momente abseits des Trubels da oben?« Ich deutete einen Blick in Richtung der oberen Stockwerke an, von der leise Stimmfetzen und Hintergrundmusik zu uns herunterdrangen.

Er hob den Blick und wand sich etwas ungelenk in dem modernen, jedoch viel zu klein geratenen Sessel um. Ich musste innerlich grinsen, da mir sofort ein zugegeben bitterböser Gedanke kam: Der werte Herr hatte schon eine gewisse Ähnlichkeit mit den Zellen, über die er referiert hatte. Bateson lächelte herzlich, machte Anstalten, sich zu erheben, und deutete auf die verbliebene Sitzbank, die gerade genügend Platz für uns beide bot.

»Ganz recht. Als Redner hat man auf diesen Konferenzen kaum Ruhe, um durchzuatmen. Aber bitte, nehmen Sie doch Platz.«

Wir ließen uns nieder und ich betrachtete mein Gegenüber im Lichte der schummrigen Beleuchtung. Der Professor war von runder und gedrungener Gestalt. Er trug das gleiche Outfit wie noch heute Vormittag, ein weißes Hemd, eine rote Krawatte und einen schwarzen Anzug mit passendem Einstecktuch. Erst jetzt sah ich, dass ein verzierter schwarzer Gehstock neben seinem Sessel lehnte. Ein echter britischer Gentleman.

»Sie haben doch den Vortrag über bionische Organisationen heute gehalten, nicht wahr? Wir haben schon bei Tisch mit anderen Teilnehmern darüber gesprochen«, begann ich das Gespräch.

»Splendid! Und was halten Sie davon?«

Wir blickten uns an und Victoria beantwortete seine Frage.

»Nun, zugegeben war ich erstmal überrascht, dass Sie als Molekularbiologie auf einer Konferenz für Organisationsentwicklung und -kultur zu finden sind. Für gewöhnlich wimmelt es hier eher vor Psychologen und Betriebswirtschaftlern.«

Er schien ganz und gar nicht über diese Bemerkung überrascht zu sein.

»Ja, das höre ich häufig.« Er lehnte sich vor und blickte uns beide verschwörerisch an. »Aber wissen Sie was? Das liegt nur daran, dass die Leute in ihren Schubladen denken. Diese Disziplinen sind sich ähnlicher, als man denkt.«

Victoria runzelte die Stirn und Bateson legte eine Frage nach.

»Warum sind Sie beide hier? Also auf dieser Konferenz?«

»Nun, wir möchten ein paar Ideen sammeln, wie wir unsere Organisation besser auf die Veränderungen einstellen können, die der digitale Wandel mit sich bringt. Strukturen, Prozesse, aber auch, wie wir für bestehende und neue Mitarbeiter attraktiv sein können«, fasste ich den Sachverhalt in einem Satz zusammen. Victoria nickte mir zu.

»Das habe ich mir gedacht! Und waren Sie erfolgreich?«, erkundigte sich Bateson.

»Ja, wir haben Anregungen bekommen. Da werden wir das eine oder andere gleich angehen, wenn wir wieder zurück sind«, entgegnete ich zuversichtlich.

Sein Gesicht hellte sich um einige Nuancen auf und sein buschiger Schnauzer wackelte aufgeregt. »Das hört sich wunderbar an. Da können Sie sich glücklich schätzen.«

War das Ironie? Ich blickte Victoria fragend an, aber sie zuckte nur mit den Schultern. Dann wandte sie sich an unser Gegenüber.

»Ich vermute, Sie wollen darauf hinaus, dass es in der Realität nicht so einfach ist? Also einfach heimkehren und eben mal ein paar tolle Dinge auf den Weg bringen?«

»Exactly! Sie wären damit eine sehr glückliche Ausnahme, denn zumeist funktioniert das ja gerade nicht. Ideen und großartige Ziele haben alle Unternehmen. Und doch schaffen es nur die wenigsten, diese in die Realität zu bringen. Wissen Sie, jede Fußballmannschaft hat das Ziel, mehr Tore als die andere Mannschaft zu schießen, es kommt aber nur eine an die Tabellenspitze. Wäre es so einfach, würden Sie vermutlich gar nicht hier sein.«

Sein Kommentar saß. Mehr noch, ich musste mir eingestehen, dass er recht hatte. In meinem Kopf tauchten Szenen des täglichen Büroalltags auf. Kompetenzgerangel, Task-Forces, Krisenmeetings und das Abwenden der täglichen Katastrophen. Geordnete und zukunftsorientierte Veränderung kam dabei eher selten vor.

»Okay, Sie haben recht. Und woran liegt das ihrer Meinung nach?«

Er nahm einen Schluck aus seiner Teetasse, wobei er den kleinen Finger steil ausstreckte. Dann fuhr er sich durch den Bart und blickte uns aus großen Augen an.

»Spezielle Gründe gibt es dafür wie Sterne am Himmel. Aber grundlegende nur wenige. Organisationen brauchen eine bestimmte Systemdynamik, nämlich die von Lebewesen.«

Victoria kam mir zuvor: »Ach, so einfach?«

»Of course. Die meisten Leute reagieren erstmal verwundert. Wissen Sie, weshalb ich in die Unternehmensberatung gegangen bin? Weil viele Firmen nicht in der Lage sind, ihre großartigen Ideen umzusetzen. Sie sind zu starr und gefangen in ihren Strukturen, Regeln und Gewohnheiten. Aber als Molekularbiologe bin ich gewissermaßen Experte darin zu erklären, wie Organisationen einerseits stabil und andererseits anpassungsfähig sein können. Denn Lebewesen vereinen diese offensichtlichen Gegensätze seit Milliarden von Jahren äußerst erfolgreich.«

Obwohl wir das schon heute Morgen gehört hatten, waren wir einmal mehr verblüfft, wie selbstsicher Bateson wirkte. Er strahlte eine natürliche Gelassenheit aus, die einem das Gefühl vermittelte, dass es das Natürlichste der Welt war, mit Zellen die Funktion von Unternehmen zu erklären.

»Mutter Natur hat bereits vor Urzeiten geniale Prinzipien entwickelt, um Probleme zu lösen, mit denen Unternehmen noch heute kämpfen. Und das Beste ist, dass diese für jede Art von lebender Organisation gültig sind, egal, ob Einzeller, Tier, Baum, Mensch oder soziale Organisation. Leider machen sich die meisten Menschen nicht die Mühe, die Genialität, die uns umgibt, die uns allen innewohnt, zu verstehen.«

Was sollte ich davon halten? Der Herr Professor schien überzeugt davon, meinen täglichen Kampf im Büro mit Hilfe seiner eigentümlichen bionischen Methoden lösen zu können – und das offensichtlich, ohne einen Hintergrund in Betriebswirtschaft oder gar Management zu haben. Ich sah fragend zu Victoria, die meinen Blick mit einem belustigten Lächeln quittierte.

»Ich sehe schon, Sie haben Ihre Zweifel.« Bateson neigte das Haupt. »Das geht vielen zu Beginn so. Ich bin mit meinem Thema vermutlich noch etwas vor der Zeit.«

Er holte eine Visitenkarte aus dem Inneren seines Jacketts und drückte sie mir in die Hand. Dann erhob er sich und blickte uns abwechselnd an.

»Oh, Sie wollen schon gehen?«, entfuhr es Victoria, die ebenso überrascht über das mehr als abrupte Ende unserer Konversation war wie ich. Der rundliche Herr blickte uns verzeihend an und nickte.

»Bitte nehmen Sie mir es nicht übel, aber ich hatte einen anstrengenden Flug und einen noch längeren Tag. Ich sehne mich nach ein paar Stunden Schlaf, bevor es morgen in aller Frühe weitergeht.«

Er streckte die Hand nach seinem Mantel aus, hielt dann aber kurz inne und blickte uns tief in die Augen. Dann sprach er mit gesenkter Stimme, als wolle er uns ein Geheimnis anvertrauen: »Nur für den Fall, dass die Einführung Ihrer neuen Ideen doch nicht so reibungslos läuft, wie Sie sich das wünschen, melden Sie sich gerne bei mir. Ich kann Ihnen das Geheimnis nachhaltig wachsender und anpassungsfähiger Organisationen gerne etwas detaillierter erläutern.« Er hob beschwichtigend die Hand. »Und keine Angst, ich werde Ihnen keine Methoden oder Werkzeuge verkaufen. Ich werde Ihnen auch nicht versprechen, dass es nur drei Schritte zum Glück sind, die Sie gehen müssen. Aber was ich Ihnen versprechen kann, ist, dass Sie ein neues Verständnis Ihrer Organisation und Ihrer Probleme bekommen werden.«

Dann nahm er gelassen seinen Gehstock und gab uns zum Abschied die Hand. Wir verabschiedeten uns in aller Förmlichkeit vom Professor und blickten ihm für einige Momente schweigend nach, während er langsam in Richtung Ausgang schlenderte.

Ich drehte mich mit seiner Visitenkarte in der Hand grinsend zu Victoria und ließ diese dann langsam in meiner Jackettasche verschwinden.

»Die behalte ich besser, falls wir doch noch Bedarf an Lösungen haben, die etwas älteren Datums sind – also so ein paar Milliarden Jahre alt.«

Paula und Frank

Z

urück im Büro holte mich der Alltag schneller ein, als mir lieb war. Im selben Maße, wie ich mich auf der Konferenz darüber geärgert hatte, nicht im Büro zu sein, wünschte ich mich jetzt zurück nach Amsterdam.

Anstelle frisch gebrühten Espressos und ausgefallenem Finger-Food in den Pausenräumen empfingen mich Paulas vorwurfsvolle Blicke, als ich wenige Minuten nach neun in unser Besprechungszimmer eilte. Sie räumte gerade die Nicht-Whiteboard-Marker in den Büroschrank, um zu verhindern, dass die Stifte fälschlicherweise an der großen weißen Tafel verwendet wurden. Wenn es etwas gab, auf das ich mich in dieser Firma absolut verlassen konnte, dann, dass Paula die erste im Raum war und dabei war, irgendetwas in einen besseren Zustand zu bringen.

»Morgen Max«, schallte es mir entgegen.

»Guten Morgen Paula«, bemühte ich mich, ihren sarkastischen Unterton bestmöglich zu überspielen, da ich mir meiner Verspätung bewusst war. »Großartig, dass du schon alles vorbereitet hast.«

Ich setzte mich an die Stirnseite und fand einen bereits vorgewärmten Beamer vor. Ohne Verzug machte ich mich daran, mein Notebook anzuschließen.

»Ist Frank noch gar nicht da?« Ich blickte mit einer ausladenden Bewegung auf meine Armbanduhr. Es war inzwischen geschlagene zehn Minuten nach neun.

In diesem Moment glitt die Tür auf und Frank betrat den Besprechungsraum. Er lief gemächlich zu einem der Stühle und schlürfte aus seinem Kaffeebecher, den in dicken Lettern der Satz ›Nur das Genie beherrscht das Chaos‹ zierte.

»Morgen, ihr zwei«, rief er.

Paula setzte sich und warf mir einen erwartungsvollen Blick zu. Dabei klackerte sie rhythmisch mit ihren langen, dunkel lackierten Fingernägeln auf dem Tisch. »Wollen wir JETZT endlich anfangen?«, eröffnete sie die Besprechung mit einem Tonfall, der uns klarmachte, dass wir unseren Spielraum in Sachen Unpünktlichkeit bereits ausgereizt hatten.

»Natürlich. Fangen wir an«, erwiderte ich und lächelte Paula zu, in der Hoffnung, die Wogen etwas zu glätten. »Schön, dass ihr da seid. Wir haben viel zu besprechen.«

»Wie wäre es, wenn wir damit anfangen, dass wir endlich unser Vorhaben umsetzen, pünktlich bei unseren Terminen zu erscheinen? Und wenn wir gerade beim Thema Pünktlichkeit sind, uns auch gleich der Zuverlässigkeit von Zusagen zuwenden?«

Paula blitzte Frank und mich kampflustig an und reckte ihr Kinn nach vorne.

»Paulaaa.« Frank sprach ihren Namen unnötig langsam aus, machte eine einladende Handbewegung und setzte seinen Becher ab. »Ich bin doch nur ein paar Minuten später gekommen. Hab‘ dich nicht so. Man kann eben nicht immer alles auf den Punkt planen.«

Ich blickte kopfschüttelnd auf Frank. Seine lockigen, wuscheligen Haare, die leicht schief sitzende Brille, seine diversen silbernen Ohrringe und der Dreitagebart unterstrichen eindrucksvoll seine liberale Haltung zu Konventionen und Regeln.

Doch anstelle eines Einspruchs wandte sich Paula direkt an mich: »Max, so geht das nicht! Wir haben ständig Schwierigkeiten mit Franks Team. Ich kann mich auf keine Zusage verlassen. Wir sind zu wenige, um die anstehende Arbeit zu stemmen. Da fehlt es mir echt noch, denen ständig hinterherzulaufen und unsere wertvolle Zeit mit Warten zu vergeuden.«

»Ich verstehe dich ja.« Ich blickte zu Frank hinüber, der die Kritik wie gewohnt souverän wegsteckte und abwehrend die Hände hob. »Frank, bitte kümmere dich darum, dass ihr mehr darauf achtet, eure Zusagen einzuhalten. Das gilt für mich natürlich ebenso«, fügte ich pflichtbewusst hinzu.

»Ist klar, Chef«, antwortete Frank in seiner unverbindlichen Art und salutierte flapsig, bevor er fortfuhr. »So ist das eben in der Software-Entwicklung. Wir wissen nicht, wie lange manche Dinge dauern, und es gibt immer wieder Unvorhersehbares. Das habe ich euch schon so oft gesagt. Leider wird das Release unserer neuen Applikation für die Predictive Maintenance1-Lösung nicht wie geplant fertig.«

Abbildung 1: Zusammenarbeit Paula und Frank.

Frank ist für die Applikationen, Werkzeuge und das Benutzer-Interface verantwortlich, während Paula sich um die Plattform und Datenbasis kümmert, die sie aus den Kundenmaschinen im Feld und den Engineering-Abteilungen wie der Elektrik und Automatisierung zugeliefert bekommt.

Er blickte schuldbewusst drein und setzte gleich zu einer Rechtfertigung an.

»Max, wir springen ständig zwischen der Erweiterung unserer bestehenden Produkte und unserer Neuentwicklung hin und her. Das eine ist wichtig, das andere dringend – und dann kommt wieder irgendein wichtiges Kundenfeature rein.« Er deutete mit den Fingern zwei Gänsefüßchen an. »Und unser aller Zukunftsthema Augmented Reality2 zieht halt doch meistens den Kürzeren. Am schlimmsten ist aber, dass wir uns echt im Kreis drehen, denn die Mehrheit der Daten aus Paulas Plattform sind einfach unbrauchbar. Wir können nichts wirklich testen und deshalb quillt unser Ticket-System über. Wir haben so viele Bugs, dass ich genügend Stoff für die nächsten Jahre im Backlog habe, ohne irgendwas Neues zu entwickeln. Das ist echt zum Haare raufen!«

Er deutete zur Verdeutlichung auf seinen beeindruckenden Lockenkopf.

»Mann«, schnaubte ich, während ich den Zieltermin in meiner Excel-Liste rot einfärbte, »das ist echt nicht der Zeitpunkt für Verzögerungen! Ihr wisst, dass wir unter strenger Beobachtung stehen. Frank, ich erwarte ein paar Maßnahmen, damit ihr das neue Release wie angekündigt in zwei Wochen fertig habt.«

Frank verdrehte die Augen.

»Ja klar, wir lassen alles Zukunftsträchtige liegen und biegen das irgendwie hin. Das mit der Wartungsdatenbrille ist ohnehin alles nicht so einfach, wie man denkt. Weil wir so gut wie keine sinnvollen User-Stories haben. Wenn wir nicht wissen, was wir entwickeln sollen, kommt nicht das raus, was du von uns erwartest. Und Paula, wenn die Datenkonsistenz nicht besser wird, klappt das auch in Zukunft nicht. Shit in, shit out.«

Ich überging den Kommentar zu unserem Entwicklungsvorhaben über eine Wartungsdatenbrille für unser Service-Personal, da diese Verzögerung auch etwas mit meiner skeptischen Einschätzung des Business Cases zu tun hatte. Ganz zu schweigen davon, dass wir keinen Product Owner hatten, sondern Frank das gerade irgendwie mitbetreute. Aber das war kein Grund, dass die Entwicklung unserer Bestandsprodukte ständig verspätet war.

»Schaut bitte beide, dass ihr den nächsten Release für unser Produkt hinbekommt. Ihr wisst ja: Die Features, über die wir hier sprechen, sind bereits verkauft. Die Projekte laufen bereits und die Meilensteine kommen jeden Tag näher!«

Ich seufzte innerlich. Konnten die beiden nicht endlich einmal selbst anfangen, ihre Probleme zu lösen? Immer musste ich ran.

Dann wandte ich mich Paula zu, die den Schlagabtausch mit Falten auf der Stirn mitverfolgt hatte. Ich bemerkte, dass sie in ihrer ledernen Schreibmappe fein säuberlich Notizen machte, und bewunderte einmal mehr, dass ihre Handschrift wirkte, als entspränge sie direkt einem Textverarbeitungsprogramm.

»Und wie läuft es bei dir in der Plattform- und Standardisierungstruppe?«, fragte ich sie vorsichtig.

Sie lächelte gezwungen. »Was glaubst du denn, Max?« Sie machte eine lange, unangenehme Pause, als ob sie wirklich eine Antwort erwartete. »Nicht nur kommen wir bei den Stellenausschreibungen nicht voran, weil du die Profile noch vorher sichten wolltest, schlimmer noch, Albert hat mir erst heute Morgen gesagt, dass er bald die Segel streicht. Weißt du, was das für unsere Abteilung bedeutet? Albert ist unser Universal-Genie. Egal, was kommt, er kümmert sich drum und biegt es irgendwie hin. Es war klar, dass dies nicht ewig so weitergehen kann.«

»Ist es echt so ernst? Hat er gesagt, warum?«, fragte ich entgeistert.

»Work-Life-Balance, starre Strukturen, geteilte Verantwortungslosigkeit, das gleiche Hamsterrad. Und jetzt noch diese Restrukturierung!« Frank drängelte sich energisch in die Diskussion.

Doch Paula ignorierte den Einwurf und fuhr an mich gewandt fort: »Wir alle arbeiten hier auf Anschlag. Seit diese Digitalisierungseinheit aufgestellt wurde, sind wir unterbesetzt und finden nur sehr schwer geeignetes Personal. Den versprochenen Cybersecurity-Experten haben wir bis heute nicht! Albert hat versucht, diese ganzen unbesetzten Themen mitzubetreuen. Sonst wird das nichts mit Datenwolken und wir können wieder zurück zu unseren lokalen Installationen. Ich warte nur auf den Tag, an dem unsere Anlagendaten irgendwo im Netz landen. Albert hat einfach zu viele Überstunden auf der Uhr. Das geht so nicht weiter!«

Sie schüttelte entnervt den Kopf und verstummte.

Ich rang nach Worten »Ich kümmere mich gleich nach dem Meeting um die Unterlagen für unsere Personalabteilung, um mit der Vakanz weiterzukommen. Wir finden eine Lösung.«

Innerlich fluchte ich, da ich noch unbedingt ein paar Auswertungen für Herrn Ernst erstellen musste. Mir war bewusst, dass ich der Grund war, weshalb wir bei der Suche nach dem Cybersecurity-Experten nicht vorankamen, ich wollte da unbedingt mitbestimmen.

»Außerdem funken uns ständig die Kollegen und Kolleginnen aus der Projektabwicklung dazwischen, wenn wieder einer meiner Leute auf ein Krisenprojekt soll, um eine poplige IT-Installation zu retten. Das ist nicht unsere Aufgabe, auch wenn mein Team das kann«, zischte Paula.

»Verstehe! Ich muss das unbedingt auf Bereichsebene mit Johann abklären. Die müssen auch einmal verstehen, dass wir unsere eigenen Themen betreuen und nicht die Ersatzbank für das Projektgeschäft sind«, warf ich zugegeben etwas übereifrig ein und notierte mir den Punkt – und das nicht zum ersten Mal. Johann war unser Leiter der Elektrotechnik und Automatisierung.

Dann wandte sich Paula Frank zu, dessen Vorwurf noch unbeantwortet im Raum lag.

»Es ist sehr schwer, aus unseren Bestandsanlagen konsistente Daten zu bekommen, weil das alles gewachsen ist. Aber wir kommen ja nicht einmal dazu, mit deinen Jungs und Mädels drüber zu sprechen, was wir aus dem Datensalat noch machen können. Mein Team beschwert sich regelmäßig, dass unsere Fragen bei euch untergehen. Plant ihr überhaupt irgendwas, Frank?«

Trotzig verschränkte sie ihre Arme, was mir deutlich machte, dass es an mir war, eine Brücke zu bauen.

»Frank, du hast recht. Wir drehen uns im Kreis. Paula braucht eure Hilfe, um die Datenqualität verbessern zu können. Bekommen wir die Abstimmung kommende Woche hin?«

»Jo, muss ja irgendwie gehen. Ich klär das«, entgegnete Frank schmallippig.

»Max, am Ende sind wir für die ganzen Vorhaben einfach unterbesetzt. So einfach ist das.« Paula rüstete sich bereits für die nächste Auseinandersetzung.

»Weiß ich doch. Aber die Vertriebszahlen sind gerade nicht gut, um noch mehr Personalbedarf anzumelden als die Stelle, die wir genehmigt bekommen haben. Wir haben viel zu wenig Auftragseingang und unser Entwicklungsvorhaben gibt noch keine Story her, um den Umschwung zu verkünden. Ich habe Bedenken wegen Herrn Ernst und kann die Situation einfach nicht einschätzen.«

»Ich auch nicht, Mann. Diese Kapitalisten sind mir unheimlich. Dem Ernst geht es doch nur um die Rendite, den interessiert gar nicht, was wir hier täglich leisten«, warf Frank ein.

»Das hilft uns auch nichts«, erwiderte Paula aufgebracht. »Ich habe so eine Unternehmensrestrukturierung schon erlebt. Da bleibt kein Stein auf dem anderen. Gerade wenn ein neuer Investor ins Spiel kommt. Ich schlage vor, wir halten uns einfach an unsere Absprachen und tun, was nötig ist.«

Wir diskutierten noch einige Zeit die neue Unternehmenssituation, bevor ich meine beiden Abteilungsleiter wieder auf die anstehenden Probleme lenken konnte. In den verbleibenden Minuten rekapitulierten wir unsere To-Do Liste, färbten Kästchen um und gelobten Besserung. Zu meiner Ernüchterung wurde diese Liste nicht kürzer, sondern länger, und nahm eine unangenehme Rotfärbung an, die nichts Gutes verhieß.

Nach Ende des Meetings schlug ich mein kleines Notizbuch auf. Das Gefühl des schweren, stählernen Tintenfüllers in der Hand strahlte immer eine beruhigende Wirkung auf mich aus. Ich atmete tief durch, sortierte meine Gedanken und setze die Feder an, um mir einige Notizen zu machen.

Bevor ich Herr Ernst an das Ende der Liste setzte, hielt ich inne. Das Problem ist, dass wir in einem Teufelskreis festsitzen, fuhr es mir durch den Kopf.

Gerade als ich darüber nachdenken wollte, forderte mein Mobiltelefon ratternd meine Aufmerksamkeit ein. Mist, der nächste Termin! Ich packte meine Sachen und eilte los.

Wachstum (Bionik 1)

E

s war wieder einer dieser Abende, an denen ich mich ernsthaft fragte, an welcher Weggabelung ich in meinem Leben falsch abgebogen war. Seit der Konferenz war eine gute Woche verstrichen und ich hatte nicht eine Minute Zeit gehabt, darüber nachzudenken, wie ich etwas aus den großartigen Ideen machen konnte. Stattdessen übte ich mich als hauptberuflicher Feuerwehrmann oder jagte in Großwildjäger-Manier irgendwelchen Zahlen und Berichten nach. Ich war doch bisher immer so verdammt gut darin gewesen, Struktur ins Chaos zu bringen. Was war nur los mit mir? Von der Erfüllung meiner Umsatzziele hatte ich mich innerlich ohnehin schon verabschiedet.

Ich kramte in meinem Notizbuch herum und fand nach wenigen Minuten, wonach ich suchte. Die mit Leinenprägung veredelte weiße Visitenkarte lag in meinen Händen. »Nachhaltiges Wachstum und Anpassungsfähigkeit«, murmelte ich nachdenklich. »Vielleicht hat ja dieser kauzige Professor eine sinnvolle Lösung auf meine Probleme.«

Ich blickte auf meine Armbanduhr. Es war erst halb sieben und so zückte ich kurzentschlossen mein Mobiltelefon und tippte die Nummer ein. Das Freizeichen ertönte.

»Good evening, who’s there?«, tönte es mir knisternd aus dem Hörer entgegen.

Ich räusperte mich. »Hallo Professor Bateson, Max Neumann hier. Vielleicht erinnern Sie sich noch. Wir haben uns vor einer Woche auf der Konferenz in Amsterdam kennengelernt.«

»Aber sicher doch, Herr Neumann. Schön, dass Sie sich melden. Sie können mich gerne Stafford nennen, wenn das in Ordnung ist. Ich konnte mich mit dem Sie nie so richtig anfreunden, egal, wie lange ich auf dem Festland unterwegs war.«

»Klar, nennen Sie mich Max.«

»Gut, Max. Also was kann ich für dich tun?«

»Nun, um ehrlich zu sein, würde ich gerne erfahren, was es mit dem Wachstum auf sich hat.« Ich stutzte kurz. Das hörte sich irgendwie saublöd an.

»Du hast Glück. Ich habe ein paar Minuten, um es dir zu erklären. Ich vermute mal sehr, dass dein Unternehmen auch wachsen will. Aber dazu muss es sich irgendwie ändern, sodass dieses Wachstum möglich wird, und daran scheitern die meisten. Leben ist da deutlich geübter. Wenn das Umfeld passt, kann sich die Anzahl der Bakterien alle dreißig Minuten verdoppeln. Das sind hundert Prozent Wachstum in einer halben Stunde.«

Ich blickte den Hörer verdutzt an und überlegte kurz was ich darauf erwidern sollte.

»Gut, ich gebe zu, dass ist in einer Größenordnung, von der Unternehmen nur träumen können, aber«, ich versuchte, mich diplomatisch auszudrücken, »versteh’ mich bitte nicht falsch. Mir geht es eher um die Probleme in meiner Firma. Das ist schon was anderes als Bakterien, die sich vermehren.«

Stafford lachte. »Nein, das ist viel ähnlicher, als du denkst.«

In diesem Moment zweifelte ich daran, ob es richtig gewesen war, einen eigentümlichen Biologieprofessor um Rat zu Fragen. Vermutlich hätte ›Wie bekomme ich meine Organisation in den Griff‹ bei Google mehr brauchbare Antworten erzeugt. Inzwischen gibt es Leute, die meinen, dass sogar Bakterien mehr draufhaben als ich. Ich ließ mich in meinen Bürosessel zurücksinken und schwieg. Stafford spürte wohl, dass er mir mehr bieten musste als krude Verweise auf die Wachstumsrate von Bakterien, und so fuhr er fort.

»Gut, fangen wir doch damit an, weshalb Lebewesen und Firmen ähnlich sind. In Ordnung?«

»Okay, warum nicht.«

»Wonderful«, freute sich Stafford überschwänglich und legte sofort los: »Es ist ganz einfach, denn Lebewesen und Firmen haben dasselbe Ziel: Überleben!«3

»Das mag sein, ist aber doch etwas weit hergeholt, oder?«, entgegnete ich. »Sicher wollen Firmen überleben, und zwar nicht nur kurzfristig, sondern dauerhaft. Kurzfristig verdient man Geld, aber das investiert man wieder in die Firma, damit sie auf lange Sicht gedeiht.«

»Richtig, Max. Und um dauerhaft zu überleben, ist Wachstum absolut unabdingbar.«

Ich runzelte die Stirn. »Verstehe ich nicht. Wir haben doch ohnehin schon zu viel Wirtschaftswachstum und die Umwelt wird dadurch immer mehr in Mitleidenschaft gezogen. Und du sagst, Wachstum sei die Lösung?«

»Diese Art des Wachstums und ihr Ausmaß ist eine ganz andere Sache. Die meine ich nicht. Allerdings benötigt jedes Unternehmen ausreichende Wachstumsmechanismen selbst dann, wenn die Wachstumsrate gleich Null ist. Dein Körper, Max, besteht aus lebendigen Zellen, die sich ständig selbst erneuern. Wenn das nicht funktionieren würde, würde alles nach kurzer Zeit zerfallen und du wärst tot. Auch bei einer Firma muss ständig etwas erneuert werden, sonst fällt sie irgendwann auseinander.«

Das leuchtete mir ein und ich beschloss, der ausgelegten Fährte zu folgen. »Okay, Stafford, dann leg mal los. Wie macht das eine Zelle mit dem Wachsen?«

Abbildung 2: Zellinneres.

Moleküle im Zellinneren bei 1.000.000-facher Vergrößerung. Abbildung angelehnt an Fig.5.1 Cellular Compartments aus The machinery of Life (Goodsell 2010).

Stafford war Feuer und Flamme. »Fangen wir ganz vorne an. Zellen bestehen aus vielen verschiedenen Molekülen. Stell’ dir das Innere einer Zelle wie ein großes Bällebad vor. Alles dicht an dicht. Die großen Moleküle sind die sogenannten Makromoleküle. Von ihnen gibt es vier Arten: Proteine, Fette, Kohlehydrate und Nukleinsäuren. Diese stellen die Zellen mittels chemischer Reaktionen selbst her. Nehmen wir einmal die Bakterie als Einzeller. Sie benötigt dreißig Minuten, um genauso viele Moleküle herzustellen, wie sie gerade im Moment besitzt. Denn das ist vereinfacht gesagt Wachstum: Die Herstellung der eignen Bestandteile.«

»Sie hat Mechanismen, die dazu führen, dass alles nach einer halben Stunde verdoppelt ist? Das wäre ja so, als ob meine Firma alle Gebäude, Mitarbeiter, Büromaterialien und Werkzeuge innerhalb von dreißig Minuten neu beschafft.«

»Genau. Stark vereinfacht gibt es drei Hauptmechanismen, um dieses nachhaltige Wachstum zu erreichen: einen für Selbstbau, einen für Schutz und einen für die Anpassung dieses wundervollen Mechanismus an die Umwelt – die sogenannte Adaption.«

Abbildung 3: Wachstum und seine drei Hauptmechanismen.

Wachstum ist Zugewinn durch Selbstbau abzüglich der Verluste, die durch Selbstschutz verringert werden. Selbstbau und Selbstschutz sind stetig an die Umwelt anzupassen (Adaption).

»Und mit diesen drei Mechanismen kann man so schnell wachsen?«, fragte ich, nun merklich interessiert.

»Ja. Der Kern des Ganzen ist der Selbstbau-Mechanismus. Der stellt all die Makromoleküle her, aus denen die Zelle besteht. Das sorgt für das Brutto-Wachstum.«

»Es gibt also auch ein Netto«, schob ich ein, um zu zeigen, dass ich noch mitdachte.

»Selbstverständlich. Das Problem ist nämlich, dass alle diese Moleküle wieder von selbst zerfallen. Sie können auch verloren gehen oder durch Gifte zerstört werden. Das ist die Natur unseres Universums, in der jegliche Ordnung mit der Zeit zerfällt. Dieses Phänomen nennt sich Entropie4. Aber die Hintergründe sind an dieser Stelle nicht so wichtig.«

»Entropie, soso.«, brummte ich. »Was du beschreibst, ist das, was regelmäßig in meiner Wohnung geschieht. Man räumt auf und bringt alles in Ordnung, und ohne eigenes Zutun verteilt sich alles wieder. Auch in der Firma geschieht das am laufenden Band. Eine Dateiablage wird organisiert, aber nach kürzester Zeit findet keiner mehr irgendwas. Dann fangen wir wieder von vorne an. Gut zu wissen, dass dies ein ehernes Gesetz der Natur ist.«

»Genau das ist es.« Stafford war begeistert. »Aber es ist nicht unvermeidlich! Und viel wichtiger noch: wenn nichts neu erzeugt wird, kann sich auch nichts ändern. Du hast zudem zurecht erkannt, dass es keine Ordnung im Universum gibt, die ohne stetigen Selbstbau erhalten bleibt.

Ein anderer Beitrag zum Erhalt von Ordnung sind die Schutzmechanismen. Dadurch sorgt eine Zelle dafür, die Verluste an der selbsterzeugten Ordnung so gering wie möglich zu halten. Denn jeden Verlust muss sie ja sonst ersetzen.«

Das klang einleuchtend. »Okay, Selbstbau und Schutz, das habe ich verstanden. Und was war nochmal der dritte Mechanismus?«

»Adaption. Das ist der Anpassungs-Mechanismus an die Umwelt, die sich ständig um einen herum verändert. Wachsen wie Schützen brauchen ausgeklügelte Mechanismen, die immer von der konkreten Situation abhängen, in der sich die Zelle befindet. Durch die Adaptionsfähigkeit passt sie beide Mechanismen so an, dass sie im Gleichgewicht mit der Umwelt arbeiten.«

Ich dachte nach. Die Schlagworte waren mir nicht neu. Wachstum, Schutz und Anpassung. Mir gingen spontan viele Dinge durch den Kopf, die man sich immer mal wieder vornimmt und einigermaßen zu passen schienen: Prozessverbesserungen als Selbstbaumaßnahmen, Cybersecurity zum Schutz unserer Daten und iteratives, agiles Arbeiten und Lernen, um uns an neue Bedingungen anzupassen.

»Okay, Stafford, das gibt es in einer Firma natürlich auch alles. Aber was ist daran neu?«

»Daran ist eigentlich gar nichts neu«, erwiderte Stafford gelassen. »Das Einzige, was eventuell neu ist, ist die Möglichkeit, diese Erkenntnisse auf Firmen zu übertragen und nutzbar zu machen. Auch auf die Gefahr hin, arrogant zu klingen: Die Mechanismen von Zellen sind denen von heutigen Unternehmen deutlich überlegen. Firmen können noch einiges von Zellen lernen.«

Nach einer kurzen Pause fuhr Stafford amüsiert fort: »Benchmarking heißt das Zauberwort. Und zwar Best-of-Best Benchmarking. Wenn du einmal überlegst, wie lange es Leben in dieser Form auf der Erde gibt und welche radikalen Veränderungen dieser Mechanismus gemeistert hat, sehen Google, Apple und Tesla doch alle sehr blass aus. Keine Frage, dass das sind alles großartige Unternehmen, aber Leben funktioniert seit nahezu vier Milliarden Jahren exakt so und nicht anders. Meteoriteneinschlägen und Eiszeiten zum Trotz.«

»Okay, verstanden. Lebewesen sind also in Sachen Wachstum das Aushängeschild. Aber vielleicht kannst du deine Übersetzung weniger abstrakt erklären?«

»Gerne! Nun, eine Firma stellt Produkte oder Dienstleistungen her. Sie stellt aber noch etwas viel Wichtigeres her, und das sogar noch, bevor sie irgendein Produkt erzeugen kann.«

»Ach ja, und das wäre?«, fragte ich skeptisch.

»Die Firma baut sich selbst.5 Dann schützt sie diese selbsterzeugte Ordnung. Und letztendlich passt sie sich an die sich veränderlichen Rahmenbedingungen an, damit die beiden Mechanismen weiterhin gut funktionieren. Du trinkst doch sicher Bier, oder?«

»Äh, klar.«

»Also dann nehme einmal eine Bierhefe6. Diese Einzeller produzieren nämlich auch etwas, und zwar Alkohol. Aber das ist eben nicht das Wesentliche. In erster Linie bauen sie sich selbst.«

»Du willst also sagen, ohne das Selbstbauen gäbe es dieses herrliche Gerstengebräu nicht? Das wäre wirklich tragisch«, erwiderte ich flapsig.

»Exactly! Ohne Selbstbauen kein Bierbrauen. Eine Firma baut sich auch selbst, und zwar durch ihre eigenen Geschäftsprozesse. Jeder Arbeitsplatz wird durch Geschäftsprozesse der Firma selbst geschaffen. Es gibt Prozesse, um Menschen einzustellen, auszubilden und sie schlussendlich richtig einzusetzen. Auch die Möbel und die Rechner mit der Software sind nicht vom Himmel gefallen, denn sie sind durch Beschaffungsprozesse in die Firma gekommen. Es gibt Vertriebsprozesse, um Aufträge hereinzuholen, und Abwicklungsprozesse, um etwas für externe Kunden zu erzeugen. All das passiert durch wiederkehrende Geschäftsprozesse innerhalb einer Firma, womit sie ihre eigene Organisation erzeugt, aber auch erneuern kann.«

»So langsam verstehe ich deine Analogie«, murmelte ich. »Wenn die Firma schnell wachsen will, braucht sie natürlich mehr qualifizierte Mitarbeiter, Möbel und Rechner, und auch mehr Aufträge. Das heißt, dass im Grunde jeder einzelne Geschäftsprozess viel schneller laufen müsste, um schneller zu wachsen, oder?«

»Correct. Wenn du zum Beispiel hundert Mitarbeiter hast und jedes Jahr zwanzig Prozent Wachstum haben willst, müsstest du in diesem Jahr zwanzig Mitarbeiter netto einstellen und ausbilden. Das ist jetzt extrem vereinfacht, denn natürlich gibt es noch andere unternehmerische Möglichkeiten, aber das Prinzip bleibt bestehen.«

»Du meinst also, dieser Selbstbau-Mechanismus ist der Prozess, um alles aufbauen. Und ich vermute, der Schutz-Mechanismus sorgt dafür, dass nichts verloren geht, also zum Beispiel kein guter Mitarbeiter kündigt, die Infrastruktur veraltet oder man Datenverluste erleidet?«

»Genau«, stimmte Stafford zu. »Wenn das Betriebsklima schlecht ist und fünf Mitarbeiter deswegen gehen, müssen die erstmal ersetzt werden, um wieder dort zu sein, wo man vorher war. Am Ende müsstest du brutto fünfundzwanzig Mitarbeiter einstellen, um die fünf Abgänge zu ersetzen und netto noch zwanzig neue Stellen zu besetzen.«

»Und was ist mit der Adaption, also der ganzen Anpassung an die Umwelt?«

»Ich nehme an, dass Adaption ein Teil deiner Aufgabe ist. Wie ich dich einschätze, bist du in der Linie tätig.«

»Stimmt, Bereichsleitung.«

»Okay. Also wird von dir erwartet, dass es Adaptionsmechanismen gibt, die Erzeugungs- und Schutzprozesse ständig verändern, um sich an die aktuellen internen und externen Gegebenheiten anzupassen. Gesetzgebungen können sich ändern, neue Konkurrenten auftauchen oder die nächste Generation an Arbeitskräften stellt ganz neue Erwartungen an die Firmenkultur. Die äußere Unternehmensumwelt ist in einem stetigen Wandel.«

»Das stimmt wohl, verändern tut sich die Welt wirklich.«

Ich musste an Herrn Ernst und die neuen Investoren denken und seufzte innerlich. Mit einem Male kühlte sich meine Laune schlagartig um einige Grad ab. Bei dem bloßen Gedanken an die Veränderung, die ich zu bewältigen hatte, grummelte mir der Magen.

»Stafford, ich gebe dir recht. Natürlich ist das alles irgendwie ähnlich. Mit ist aber nicht klar, was ich jetzt daraus schlussfolgern soll. Ich habe echt einen Haufen Probleme und ich habe gerade keine Idee, wie ich diesen gordischen Knoten zerschlagen kann.«

»Fair enough. Aus der groben Analogie kann man natürlich noch nichts Konkretes ableiten. Das Gute ist, dass ich die fundamentalen Mechanismen nicht nur theoretisch studiert, sondern auch übersetzt habe. Und zwar so, dass man sie praktisch in jeder Organisation einführen kann. Der gordische Knoten, den du beschreibst, ist zudem nicht unüblich. Symptome für nicht funktionsfähige Strukturen können überall auftreten. Um aber die Ursache beheben zu können, benötigt man ein passendes Modell und ein geeignetes Vorgehen. Genau daran fehlt es den meisten Menschen. Um die wachstumsbegrenzende Ursache zu finden, muss man verstehen, wie alle Geschäftsabläufe miteinander vernetzt sind.«

Stafford schien sich seiner Sache ziemlich sicher zu sein. Aber waren seine Übersetzungen denn wirklich zulässig? Würde mir seine Unterstützung bei den aktuellen Problemen in der Firma helfen?

Die Tatsache, dass ich mit einem Biologieprofessor gerade über Bierhefen diskutiert hatte, zeigt mir deutlich, dass ich verzweifelter war, als ich mir eingestehen wollte. Was soll’s. Wenn ich nicht bald den Kopf für die wichtigen Themen freibekam, würde Ernst mich ohnehin an die Luft setzen.

Ganz überzeugt war ich noch immer nicht, aber ich war interessiert. Der Gedanke an externe Unterstützung war zwar verlockend, es fühlte sich aber auch so an, als würde ich mir zum ersten Mal in meinem Leben eingestehen, überfordert zu sein.

»Einverstanden, Stafford. Ich werde über deinen Vorschlag nachdenken. Ich würde mich in den kommenden Tagen bei dir melden.«

Er vernahm wohl meinen zweifelnden Unterton. »Agreed, Max. Doch gleich vorneweg: Systemische Defizite löst man nicht in Tagen, sondern in Wochen und Monaten. Es gibt keine Abkürzung zu dauerhaftem Erfolg, wenn die Grundlagen nicht da sind. Wir können erst einmal mit einigen wenigen Tagen meiner Unterstützung starten, um dir ein Bild meiner Arbeitsweise zu machen. Aber ich arbeite grundsätzlich nicht halbherzig an Themen. Deshalb möchte ich, dass du diese Entscheidung ganz bewusst triffst und sie dann auch durchziehst.«

Das gefiel mir. Er war ehrlich und machte keinen reißerischen Versprechungen. Also antwortete ich: »Keine halben Sachen, was?«

»Keine halben Sachen!«

Nachdem ich aufgelegt hatte, schlug ich mein Notizbuch auf und machte mir ein paar Notizen, bevor ich mich auf den Heimweg machte.

 

Organisationen wachsen wie Lebewesen

 

Der Primärzweck

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von Organisationen ist es, zu überleben. Überleben wird durch ausreichendes Wachstum sichergestellt.

Positives Wachstum einer Organisation wird erzeugt durch den Selbstbau von Ordnung und durch die Vermeidung von Schäden und Verlusten an dieser Ordnung.

Da sich die äußere Umwelt ständig verändert, müssen diese Selbstbau- und Schutzmechanismen angepasst werden, um optimal zu funktionieren.

Da alle Geschäftsprozesse vernetzt sind, benötigt man ein passendes systemisches Modell, um strukturiert an den drei Grundmechanismen arbeiten zu können.

---ENDE DER LESEPROBE---