Zen im Alltag - Charlotte Joko Beck - E-Book
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Zen im Alltag E-Book

Charlotte Joko Beck

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  • Herausgeber: Goldmann
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Jeden Moment bewusst erleben

Charlotte Joko Beck lehrt eine Zen-Praxis, die nicht aus unserem Alltag herausführt, sondern sich ihm ganz entschieden zuwendet: Zen als Weg, um mit Alltagsproblemen gut zu Rande zu kommen. Zen als Einstellung, die uns bei Beziehungen, bei der Arbeit, bei unseren Ängsten und Leiden hilft. Joko Becks Dharma-Vorträge in diesem Buch sind Musterbeispiele an Schlichtheit, Treffsicherheit und Vernunft. Sie sprechen Menschen unterschiedlichster religiöser und sozialer Zugehörigkeit an. Nicht zuletzt deshalb ist dieses Buch zu einem Klassiker der westlichen Zen-Literatur geworden.

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Seitenzahl: 426

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Buch

Charlotte Joko Beck lehrt eine Zen-Praxis, die nicht aus unserem Alltag herausführt, sondern sich ihm ganz entschieden zuwendet: Zen als Weg, um mit Alltagsproblemen gut zurande zu kommen. Zen als Einstellung, die uns bei Beziehungen, bei der Arbeit, bei unseren Ängsten und Leiden hilft. Joko Becks Dharma-Vorträge in diesem Buch sind Musterbeispiel an Schlichtheit, Treffsicherheit und Vernunft. Sie sprechen Menschen unterschiedlichster religiöser und sozialer Zugehörigkeit an. Nicht zuletzt deshalb ist dieses Buch zu einem Klassiker der westlichen Zen-Literatur geworden.

Autorin

Charlotte Joko Beck wurde in New Jersey geboren. Nach dem Scheitern ihrer Ehe ernährte sie sich und ihre vier Kinder durch ihre Tätigkeit als Lehrerin, Sekretärin und später als Verwaltungsassistentin einer großen Universität. Mit über vierzig begann sie unter der Anleitung von Maezumi Roshi den Zen-Übungsweg zu gehen. Schließlich wurde Joko zur dritten Dharma-Erbin Maezumi Roshis ernannt und zog 1983 in das Zen-Zentrum von San Diego, in dem sie bis 2006 lehrte. Bis zu Ihrem Tod im Jahr 2011 lebte und lehrte sie in Prescott/Arizona.

Charlotte Joko Beck

Zen im Alltag

Aus dem Amerikanischenvon Bettine Braun

Goldmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Everyday Zen« bei Harper & Row, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 1990 bei Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München, unter dem Titel »Zen im Alltag«.

© 2011 Wilhelm Goldmann Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München.

© 1990 der deutschsprachigen Erstausgabe

© 1989 Charlotte Joko Beck

Published by arrangement with HarperOne, an imprint of HarperCollins Publishers, LLC.

Covergestaltung: UNO Werbeagentur München

Covermotiv: © Clive Nichols/Corbis

SB Herstellung: cb

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN 978-3-641-10823-6V004

www.goldmann-verlag.de

VORWORT

Die Fähigkeit, lieben und arbeiten zu können, ist notwendig für ein glückliches, erfolgreiches Leben, erklärte Sigmund Freud. Die Lehre des Zen jedoch stammt aus einer klösterlichen Tradition, die der alltäglichen Welt von Liebe und Sexualität, Familie und häuslichem Leben und dem gewöhnlichen Berufsleben sehr fern liegt. Wenige der westlichen Studenten des Zen leben abgeschieden in traditionell strukturierten, klösterlichen Gemeinschaften. Die meisten von ihnen sind wie jedermann damit beschäftigt, Beziehungen aufzubauen oder aufzulösen, Windeln zu wechseln, Hypotheken aufzunehmen, sich um eine Beförderung zu bemühen. Doch die Zen-Zentren, die diesen Schülern zur Verfügung stehen, sind oft mit einer Aura esoterischer Besonderheit und Isoliertheit umgeben. Schwarze Gewänder, kahl geschorene Köpfe und traditionelle klösterliche Rituale tragen wohl noch dazu bei, dass Zen als eine exotische Alternative zum gewöhnlichen Leben gesehen wird und nicht als das gewöhnliche Leben selbst, das man in seiner Fülle erfährt. Da die Bilder- und Erfahrungswelt des klassischen Zen aus dem klösterlichen Dasein stammt, können traditionell ausgebildete Zen-Meister nicht immer auf die aktuellen Lebensprobleme ihrer westlichen Studenten des zwanzigsten Jahrhunderts eingehen. Ohne es zu wollen, werden sie vielleicht eine Lebenshaltung fördern, die ein Flüchten vor den Problemen des realen Lebens unter dem Vorwand der Suche nach besonderen, überwältigenden Erfahrungen beinhaltet. Wenn der Zen in die westliche Kultur integriert werden soll, muss auch seine Begriffswelt auf unsere Erfahrungsmöglichkeiten übertragen werden: »Hacke Holz, schöpfe Wasser« muss für uns übersetzt werden in: »Liebe und tu deine alltägliche Arbeit.«

Solange Menschen danach streben, für sich selbst und für ihr Leben, wie es ist, also für die Unmittelbarkeit dieses Augenblickes zu erwachen, wird der Geist des Zen lebendig sein. In einer ruhigen Seitenstraße einer Vorstadt von San Diego in einem kleinen und unscheinbaren Haus geschieht solch ein lautloses Keimen. Die Beschäftigung mit gewöhnlichen menschlichen Beziehungen, das Auflösen der Dilemmas von Karriere und Ehrgeiz, darum geht es in dem »erstaunlich reinen und lebendigen Zen« (Alan Watts), wie Charlotte Joko Beck es lehrt – Zen in der Kunst des Liebens und Arbeitens.

Joko (früher Charlotte) Beck ist ein amerikanisches Zen-Original. Sie wurde in New Jersey geboren, studierte am Oberlin-Konservatorium, gründete eine Familie. Als die Ehe sich auflöste, ernährte sie sich und ihre vier Kinder durch ihre Tätigkeit als Lehrerin, Sekretärin und später als Verwaltungsassistentin einer großen Universität. Mit über vierzig begann sie, unter der Anleitung von Maezumi Roshi (damals noch Sensei) aus Los Angeles und später zusammen mit Yasutani Roshi und Soen Roshi den Zen-Übungsweg zu gehen. Jahrelang pendelte sie zwischen San Diego und dem Zen-Center von Los Angeles hin und her. Ihre natürliche Begabung und ausdauernde Aufmerksamkeit förderten ihre stetige Weiterentwicklung; sie fühlte sich schon bald immer mehr zum Lehren hingezogen, denn die anderen Schüler erkannten, wie viel Reife, Klarheit und Mitgefühl sie entwickelt hatte. Schließlich wurde Joko zur dritten Dharma-Erbin Maezumi Roshis ernannt und zog 1983 ganz in das Zen-Zentrum von San Diego, in dem sie heute lebt und lehrt.

Als Amerikanerin, die ein sehr eigenständiges Leben geführt hat, bevor sie den Übungsweg antrat, lief Joko nie Gefahr, dem patriarchalen Geist des traditionellen japanischen Zen zu verfallen. Frei von Anmaßung oder Selbstüberschätzung lehrt sie eine Form des Zen, in der sich das alte chan-Prinzip des wu-shih manifestiert – »nichts Besonderes«. Seit sie ihre Tätigkeit nach San Diego verlegt hat, schert sie sich den Kopf nicht mehr kahl und schmückt sich nur noch selten mit traditionellen Gewändern oder Titeln. Sie und ihre Schüler sind damit beschäftigt, eine bodenständige Art des amerikanischen Zen zu entwickeln, der zwar immer noch streng und diszipliniert ist, aber sich dem westlichen Temperament und seiner Lebensweise anpasst.

Jokos Dharma-Vorträge sind Musterbeispiele an Schlichtheit, Treffsicherheit und Vernunft. Ihr eigenes, reiches Leben der Kämpfe und des Wachstums und die vielen Jahre, in denen sie mit sachlichem Mitleid auf die Traumata und Verwirrungen ihrer Schüler einging, haben nicht nur dazu geführt, dass sie über ungewöhnliche psychologische Einsicht verfügt, sondern auch zur Entwicklung der für den Lehrer so notwendigen Fähigkeit beigetragen, das rechte Wort und die richtigen Bilder zu finden. Was sie lehrt, ist ganz und gar pragmatisch, es geht ihr weniger um die intensive Suche nach besonderen Erfahrungen als um die Entwicklung wirklicher Lebenserkenntnis. Da es ihr nur zu sehr bewusst ist, dass starke spirituelle »Erweckungen«, die künstlich erzeugt werden, keineswegs zu einem geordneten und mitfühlenden Leben führen, sondern sogar schädlich sein können, ist Joko allen Anstrengungen gegenüber skeptisch, den inneren Widerstand mit Gewalt zu überwinden und Abkürzungen auf dem Heilsweg zu suchen. Sie bemüht sich um eine langsamere, gesündere, verantwortungsvollere Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit, innerhalb derer psychologische Barrieren bewusst wahrgenommen und nicht übergangen werden.

Einer ihrer Schüler, Elihu Genmyo Smith, beschreibt ihre Einstellung so:

Es gibt noch eine andere Art des Übens, die ich das »Arbeiten mit allem« nenne, und dazu gehören Emotionen, Gedanken, Empfindungen und Gefühle. Anstatt sie abwehren zu wollen, als verschanzten wir uns hinter einer eisernen Mauer, oder sie durch Konzentration zu durchbrechen, öffnen wir uns für sie. Wir entwickeln ein Bewusstsein dafür, was in jedem Augenblick geschieht, welche Gedanken aufsteigen und vorübergehen, welche Emotionen uns durchziehen usw. Anstatt uns auf einen einzigen Punkt zu konzentrieren, versuchen wir, unser Bewusstsein so weit wie möglich für alle Wahrnehmungen zu öffnen. Es geht darum, bewusster wahrzunehmen, was im Inneren und was im Äußeren geschieht. Beim Sitzen spüren wir, was ist, und lassen es zu, ohne es halten, analysieren oder wegschieben zu wollen. Je klarer wir das Wesen unserer Empfindungen, Emotionen und Gedanken sehen, desto eher sind wir in der Lage, sie auf ganz natürliche Weise zu durchschauen.

Joko Beck stellt sich nicht über die anderen, sie sieht sich eher als Begleiterin und lehnt es ab, sich auf irgendein Podest heben zu lassen. Sie teilt vielmehr die Schwierigkeiten ihres eigenen Lebens mit den anderen und schafft so eine menschliche Atmosphäre, die ihren Schülern hilft, ihren eigenen Weg zu finden.

Für die Aufsätze dieses Buches wurden spontane Vorträge bearbeitet, die bei Meditations-Intensivkursen (ses-shin) oder während der regelmäßig stattfindenden Sonntagmorgenprogramme aufgezeichnet worden waren. Joko Beck spricht darin über Zazen, die traditionelle Zen-Meditation, einfach als vom »Sitzen«. Sangha ist das buddhistische Wort für die Versammlung oder Gemeinschaft von Menschen, die zusammen üben, und Dharma könnte man etwa mit »Wahrheit«, »Lernen« oder »Richtiges Leben« übersetzen.

Die Intensivkurse, Sesshin (japanisch etwa: »geistige Sammlung«) genannt, dauern zwischen zwei und sieben Tagen und gehen in vollkommenem Schweigen vor sich, es sei denn, dass Lehrer und Schüler sich über wichtige Dinge austauschen. Die tägliche Arbeit beginnt sehr früh am Morgen; man »sitzt« acht oder mehr Stunden und macht zusätzlich noch meditative praktische Arbeit, und so sind solche Retreats eine Herausforderung für den Einzelnen, ein Ingangsetzen mächtiger Bewusstwerdungsprozesse.

Joko Beck hält nicht viel von romantisierender Spiritualität, bei der alles süßlich idealisiert wird und bei der man versucht, der Wirklichkeit und den mit ihr verbundenen Leiden zu entfliehen. Sie zitiert gerne eine Zeile aus dem Shōyō Rōku: »Dem verdorrten Baum entsprießt eine Blüte«. Wenn man jeden Augenblick so erlebt, wie er ist, schwindet das Ego allmählich dahin, und die Wunder des alltäglichen Lebens enthüllen sich. Joko Beck geht diesen Weg mit uns, und ihre Worte, gerade in ihrer Schlichtheit so ungewöhnlich, helfen uns, den Weg zu finden: hohe Weisheit im schlichten Gewand.

DANKSAGUNG

Zahlreiche Schüler und Freunde Jokos haben nach Kräften zur Entstehung dieses Buches beigetragen und alles dafür getan, dass meine eigene Arbeit daran von Freude und Liebe getragen war. Eine ganze Reihe anonymer Helfer verdienen Anerkennung; sie waren es, die Joko Becks Vorträge zunächst in schriftliche Form brachten. Es ist kaum möglich, sie alle aufzuzählen, aber sie wissen, wer gemeint ist. Sehr wichtig war auch Rhea Loudons Ermutigung und Unterstützung bei der Planung und Durchführung des Buches. Gespräche mit Larry Christensen, Anna Christensen, Elihu Genmyo Smith und Andrew Taido Cooper trugen dazu bei, dass dieses Buch Gestalt annahm; für ihre sachkundige Hilfe bin ich ihnen dankbar. Arnold Kotler von Parallax Press half großzügig mit klugen Ratschlägen über schwierige Phasen hinweg. Herzlich sei auch Elizabeth Hamilton für ihre Unterstützung gedankt – sie hat sich jahrelang Tag für Tag mit außerordentlichem Engagement den Angelegenheiten des Zen-Center von San Diego gewidmet. Mein Kollege Christopher Ives spielte eine wichtige Rolle als wissenschaftlicher Ratgeber und Befürworter unseres Vorhabens. Professor Masao Abes’ fundierte Quellenkenntnis war mir im letzten Vorbereitungsstadium eine große Hilfe. Pat Padilla leistete als Sekretärin einen ganz entscheidenden Beitrag, indem sie das Manuskript immer wieder schnell und tadellos abschrieb und mit Liebe und Interesse bei der Sache war. Lenore Friedmans gelungenes und unakademisches Porträt Joko Becks und ihrer Lehren in dem Buch Meetings with Remarkable Women: Buddhist Teachers in America (Boston and London, Shambala 1987) war mir beim Verfassen des Vorwortes sehr willkommen.

Der Weitblick John Loudons von Harper and Row war es, der letztlich die Realisation dieses Buches ermöglichte. Mit Hilfe seiner Assistentin Kathryn Sweet gab er dem Band den letzten Schliff. Die freundliche Bereitwilligkeit und die kompetente Unterstützung beider ließen meine Kontakte zum Verlag Harper and Row zum Vergnügen werden.

Trotz ihrer Skepsis angesichts der Veröffentlichung eines Buches, durch das man auf sie und das kleine Zen-Zentrum, in dem sie lehrt, noch mehr aufmerksam werden könnte, zeigte sich Joko Beck mir gegenüber unbeirrbar großzügig und freundlich – ob es nun um die Vorbereitungen zu diesem Buch oder um die mühsamen Fortschritte auf meinem eigenen Weg ging. So möchte ich vor allem ihr danken.

 

STEVE SMITH Berkeley, California Februar 1988

I. ANFÄNGE

Am Anfang des Zen-Übungsweges

Mein Hund macht sich keine Gedanken über den Sinn des Lebens. Es beunruhigt ihn vielleicht, wenn er sein Frühstück nicht bekommt, aber er sitzt nicht da und denkt darüber nach, ob er ein erfülltes Leben haben wird, ob er Freiheit oder Erleuchtung erlangen wird. Solange er etwas zu essen und ein bisschen Zuneigung bekommt, ist er mit seinem Leben zufrieden. Wir Menschen sind nicht wie Hunde. Wir haben einen egozentrischen Kopf, der uns in die größten Schwierigkeiten bringt. Wenn wir nicht zu der Erkenntnis kommen, dass der Fehler in der Art liegt, wie wir denken, wird das Bewusstsein, das wir von uns selbst haben und das unsere höchste Gabe ist, zugleich auch unser Scheitern bewirken.

Bis zu einem gewissen Grad finden wir alle das Leben schwierig, verwirrend und bedrückend. Selbst wenn alles gutgeht, was manchmal eine Weile lang der Fall ist, machen wir uns Sorgen, dass es wahrscheinlich nicht so bleiben wird. Je nach unserer persönlichen Geschichte treten wir mit sehr gemischten Gefühlen gegenüber diesem Leben in unser Erwachsenendasein ein. Wenn ich Ihnen sagen würde, dass Ihr Leben schon vollkommen, dass es ganz vollendet ist, so wie es ist, würden Sie mich für verrückt halten. Niemand hält sein Leben für vollkommen. Aber da ist etwas in jedem von uns, das im Grunde weiß, dass wir unbegrenzt sind. Wir sind in dem Widerspruch befangen, dass wir das Leben einerseits als ziemlich verwirrendes Rätsel betrachten, das uns eine Menge Kummer bereitet, zugleich aber undeutlich ahnen, wie unbegrenzt und weit das Leben eigentlich ist. Und so beginnen wir nach einer Lösung des Rätsels zu suchen. Dabei versuchen wir zunächst, die Antwort außerhalb unseres Selbst zu finden.

Dabei bewegen wir uns vielleicht zunächst auf einer sehr gewöhnlichen Ebene. Es gibt viele Menschen auf der Welt, die glauben, wenn sie ein größeres Auto, ein schöneres Haus, mehr Ferien, einen verständnisvolleren Chef oder einen interessanteren Partner hätten, würden sie mit ihrem Leben zurechtkommen. Wir haben das alle einmal durchgemacht. Doch diese Bedingungen verlieren allmählich an Bedeutung. Kaum jemand von uns entgeht diesem Prozess. Zunächst lassen wir die oberflächliche Ebene ganz allmählich hinter uns. Dann suchen wir auf subtileren Ebenen. Schließlich wenden wir uns einer spirituellen Schule zu auf unserer Suche nach der Sache außerhalb unserer selbst, von der wir hoffen, sie würde unseren Mangel beheben. Leider neigen wir dazu, uns auf diese neue Suche mit der alten Einstellung zu begeben. Die meisten Menschen, die ins Zen-Zentrum kommen, glauben nicht mehr, dass ein Cadillac ihnen Erfüllung bringen könnte, aber sie glauben, Erleuchtung könne es. Jetzt haben sie wieder etwas, nach dem sie sich in Sehnsucht verzehren, ein neues »Wenn ich nur ...«. »Wenn ich nur verstehen könnte, was Erkenntnis ist, dann wäre ich glücklich.« »Wenn ich nur eine Ahnung davon bekommen könnte, was Erleuchtung ist, ja dann wäre ich glücklich.« Wenn wir mit dem Zen-Übungsweg beginnen, bringen wir unsere alten Vorstellungen mit, dass wir irgendetwas erreichen werden – die Erleuchtung – und dann endlich gefunden haben, was wir bisher immer so entbehren mussten.

Unser ganzes Leben besteht darin, dass dieses kleine Subjekt nach draußen schaut, auf der Suche nach einem Objekt. Doch wenn wir etwas Begrenztes haben, wie Körper und Geist, und nach etwas suchen, das außerhalb ihrer liegt, wird auch dies zum Objekt und ist damit ebenso begrenzt. Also sucht etwas Begrenztes nach etwas Begrenztem, und so ist man auch nicht klüger als vorher, als einen das ewige Begehren so unglücklich gemacht hat.

Wir alle haben viele Jahre damit zugebracht, eine konditionierte Weltanschauung zu entwickeln. Hier bin ich, und da draußen ist dieses »Etwas«, das mich verletzt oder mir gefällt. Wir neigen dazu, unser Leben mit dem Versuch zu verbringen, alles, was uns verletzt oder missfällt, zu vermeiden und die Objekte, Menschen oder Situationen herauszufinden, von denen wir glauben, sie bereiteten uns Schmerz oder Vergnügen, wobei wir das eine vermeiden und dem anderen nachjagen. Und das tun wir alle, ohne Ausnahme. Wir stehen außerhalb unseres Lebens, betrachten es, analysieren es, beurteilen es und suchen die Antwort auf die Fragen: »Was habe ich davon? Bereitet es mir Vergnügen? Tröstet es mich? Sollte ich es vermeiden?« Wir tun das von morgens bis abends. Unter unseren hübschen, freundlichen Fassaden liegt tiefes Unbehagen. Wenn ich bei jedem ein bisschen am Lack kratzen würde, fände ich darunter Angst, Schmerz und wilde Verzweiflung. Wir haben alle unsere Methoden, diese Gefühle zu verbergen. Wir essen zu viel, wir trinken zu viel, wir arbeiten zu viel, wir sehen zu viel fern. Manche Menschen leben so bis zu dem Tag, an dem sie sterben. Im Laufe der Jahre wird es immer schlimmer. Was einem mit fünfundzwanzig noch nicht so schlimm vorkommt, sieht schrecklich aus, wenn man einmal fünfzig ist. Wir alle kennen Menschen, die beinahe schon gestorben sind; sie haben sich so sehr hinter ihren begrenzten Ansichten verschanzt, dass es für ihre Umgebung ebenso schmerzhaft wie für sie selbst ist. Beweglichkeit, Lebensfreude, Lebensschwung sind dahin. Und diese eher düstere Möglichkeit haben wir alle vor uns, es sei denn, wir erkennen die Tatsache, dass wir mit unserem Leben arbeiten müssen, dass wir üben müssen. Wir müssen das Trugbild durchschauen, dass es ein »Ich« gibt, das von »dem dort« getrennt ist. Bei unserem Üben geht es darum, diese Kluft aufzuheben. Erst in dem Augenblick, in dem wir und das Objekt eins werden, können wir unser Leben wirklich erkennen.

Erleuchtung ist nicht etwas, das man erlangen kann. Es ist die Abwesenheit von »Etwas«. Ihr ganzes Leben lang sind Sie hinter etwas hergewesen, haben nur ein Ziel verfolgt. Erleuchtung bedeutet, all das aufzugeben. Doch davon zu sprechen, nützt wenig. Jeder Einzelne muss den Weg des Übens gehen. Es gibt keinen Ersatz. Wir können Bücher darüber lesen, bis wir tausend Jahre alt sind, ohne dass sich für uns etwas verändert. Wir alle müssen üben, wir müssen mit vollem Einsatz üben – und das bis ans Ende unseres Lebens.

Was wir wirklich wollen, ist ein natürliches Leben. Unser Leben ist so unnatürlich geworden, dass ein Übungsweg wie der des Zen am Anfang außerordentlich schwierig für uns ist. Doch sobald wir zu ahnen beginnen, dass das Problem im Leben nicht außerhalb von uns selbst liegt, haben wir angefangen, diesen Weg zu gehen. Wenn wir einmal erwacht sind und zu sehen beginnen, dass das Leben offener und freudvoller sein kann, als wir es je für möglich gehalten haben, wollen wir üben.

Wir unterwerfen uns einer Disziplin wie dem Zen-Übungsweg, damit wir lernen können, auf vernünftige Weise zu leben. Zen ist schon fast tausend Jahre alt und längst aus den Kinderschuhen heraus; es ist zwar nicht einfach, aber es ist auch nicht unmäßig schwer. Es ist konkret und sehr praktisch. Es geht darin um unser alltägliches Leben. Es geht darum, im Büro besser arbeiten zu können, unsere Kinder besser erziehen zu können, bessere Beziehungen zu haben. Ein gesünderes und befriedigenderes Leben entspricht einem gesunden, ausgeglichenen, praktischen Üben. Wir wollen eine Möglichkeit finden, mit der Unvernunft umgehen zu lernen, die aus unserer Blindheit entspringt.

Es braucht Mut, gut zu sitzen. Zen ist keine Disziplin für jeden. Wir müssen bereit sein, etwas zu tun, was nicht einfach ist. Wenn wir es mit Geduld und Ausdauer tun, unter Anleitung eines guten Lehrers, bekommen wir allmählich Boden unter die Füße, unser Leben wird ausgeglichener. Unsere Gefühle sind dann nicht mehr so beherrschend. Wenn wir mit dem Sitzen beginnen, merken wir, dass es vor allem darum geht, an unseren geschäftigen, chaotischen Gedanken zu arbeiten. Wir alle sind in krampfhaftem Denken befangen, und beim Üben geht es darum, dieses Denken allmählich klar und maßvoll werden zu lassen. Wenn der Geist klar und ausgeglichen wird und nicht mehr von Objekten gefangen ist, kann eine Öffnung geschehen, und wir erkennen für einen Augenblick, wer wir wirklich sind.

Wir können aber nicht ein oder zwei Jahre sitzen und glauben, dass wir es dann beherrschen. Zazen ist etwas, das wir unser Leben lang üben. Der inneren Öffnung, die einem Menschen möglich ist, sind keine Grenzen gesetzt. Schließlich sehen wir, dass wir der grenzenlose Urgrund des Universums sind. Wir geben dann unser Leben daran, uns für diese unendliche Weite zu öffnen und sie zum Ausdruck zu bringen. Wenn wir immer stärker mit dieser Wirklichkeit in Beziehung sind, bewirkt das Mitgefühl für andere Menschen und verändert unser alltägliches Leben. Wir leben anders, wir arbeiten anders, wir gehen anders mit den Menschen um. Zen ist ein lebenslängliches Studium. Es geht nicht darum, eine halbe oder Dreiviertelstunde am Tag auf einem Kissen zu sitzen. Unser ganzes Leben wird zur Übung, vierundzwanzig Stunden am Tag.

Jetzt möchte ich einige Fragen über den Zen-Übungsweg, über seine Beziehung zu Ihrem Leben, beantworten.

 

SCHÜLER: Könnten Sie etwas mehr über das Loslassen der Gedanken während der Meditation sagen?

 

JOKO: Ich glaube, wir können nie irgendetwas ganz loslassen. Ich glaube, wir lassen einfach alles von selbst vergehen. Wenn wir uns gedanklich dazu zwingen, irgendetwas zu tun, sind wir schon wieder in dem Dualismus, aus dem wir herauskommen wollen. Die beste Möglichkeit, etwas loszulassen, ist es, die Gedanken, während sie aufsteigen, wahrzunehmen und anzuerkennen ... »Ach ja, jetzt tue ich wieder das« ... und ohne zu urteilen zur unverstellten Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks zurückzukehren. Seien Sie geduldig. Vielleicht müssen wir es zehntausendmal versuchen. Aber sinnvoll ist unser Üben gerade durch diese dauernde Wiederkehr des Geistes in die Gegenwart, immer und immer wieder. Suchen Sie nicht nach irgendeinem wunderbaren Ort, an dem keine Gedanken mehr sind. Da Gedanken im Grunde nichts Reales sind, werden sie von irgendeinem Punkt an schwächer und weniger aufdringlich, und Sie können bemerken, dass es gewisse Perioden gibt, in denen sie völlig zu verblassen beginnen, weil wir sehen, dass sie gar nicht real sind. Irgendwann werden sie sich einfach im Sande verlaufen, ohne dass Sie so recht merken, wie. Es sind die Gedanken, mit denen wir uns zu schützen versuchen. Keiner von uns möchte sie wirklich aufgeben, denn an ihnen hängen wir. Die einzige Möglichkeit, schließlich zu erkennen, wie unwirklich sie sind, liegt darin, den Film einfach ablaufen zu lassen. Wenn wir denselben Film fünfhundertmal gesehen haben, wird er unweigerlich langweilig!

Es gibt zwei Arten von Gedanken. Es ist nichts gegen Kopfarbeit in dem Sinne zu sagen, was ich mit »praktischem Denken« meine. Wir müssen denken, wenn wir in die andere Ecke des Zimmers gehen, einen Kuchen backen oder ein physikalisches Problem lösen wollen. Dazu ist der Verstand auch da. Hier kann man nicht von wirklich oder unwirklich sprechen; er ist einfach das, was er ist. Meinungen, Urteile, Erinnerungen, Zukunftsträume – neunzig Prozent der Gedanken, die in unserem Kopf kreisen, haben keine existenzielle Wirklichkeit. Und wenn wir nicht erwachen, verbringen wir unser Leben von der Geburt bis zum Tod damit und vergeuden unsere Zeit. Das Grauenhafte am Zazen (und es ist grausam, glauben Sie mir) ist, dass wir allmählich sehen, was sich in unserem Kopf wirklich abspielt. Es ist für uns alle ein Schock. Wir sehen, dass wir gewalttätig, von Vorurteilen geprägt und egozentrisch sind. Wir sind es, weil ein konditioniertes Leben, das auf falschem Denken beruht, dazu führt. Die Menschen sind im Grunde gut, freundlich, mitfühlend, aber man muss schon lange graben, um diesen verborgenen Schatz zutage zu fördern.

 

SCHÜLER: Sie sagen, dass, wenn unsere Hochs und Tiefs eine Weile gedauert haben, die Unordnung im Kopf allmählich nachlässt und schließlich ganz zur Ruhe kommt?

 

JOKO: Damit wollte ich nicht sagen, dass wir nicht immer wieder beunruhigt sein werden. Ich meinte, dass wir es nicht festhalten sollten, wenn wir solch eine Beunruhigung spüren. Wenn wir wütend werden, sind wir einen Augenblick lang wütend. Andere nehmen das vielleicht noch nicht einmal wahr. Das ist alles. Wir halten unsere Wut nicht fest, wir beginnen nicht, in Gedanken darum zu kreisen. Das soll nicht heißen, dass wir nach Jahren des Übens zu einem gefühllosen Wunderwesen werden. Ganz im Gegenteil. Wir haben dann viel ursprünglichere Emotionen und stärkeres Mitgefühl für die Menschen. Wir sind nicht mehr so mit unserem Innenleben beschäftigt.

 

SCHÜLER: Könnten Sie etwas zu unserer Alltagsarbeit als Teil des Übens sagen?

 

JOKO: Die Arbeit ist der wichtigste Teil der Zen-Praxis und des Übens. Was wir auch tun, wir sollten es mit Hingabe und vollkommener Aufmerksamkeit für das, was wir vor uns haben, tun. Wenn wir den Ofen reinigen, sollten wir nichts als dies tun und uns der Gedanken bewusst sein, die die Arbeit unterbrechen. »Ich hasse es, den Ofen zu reinigen. Ammoniak stinkt! Wer macht schon gerne so etwas? Ein gebildeter Mensch sollte so etwas gar nicht tun müssen.« All das sind überflüssige Gedanken, die mit dem Reinigen des Ofens nichts zu tun haben. Wenn die Gedanken abschweifen, kehre man zur Arbeit zurück. Da ist auf der einen Seite die konkrete Aufgabe, die wir gerade erfüllen, und auf der anderen Seite sind all die Überlegungen, die sich darum ranken. Arbeiten heißt, sich einfach damit beschäftigen, was jetzt getan werden muss; doch auf diese Weise arbeiten sehr wenige von uns. Wenn wir geduldig üben, beginnt uns die Arbeit allmählich leicht von der Hand zu gehen. Wir tun einfach immer genau das, was gerade getan werden muss.

Wie Ihr Leben auch aussehen mag, ich möchte Sie ermutigen, es zur Übung werden zu lassen.

Üben in diesem Augenblick

Ich möchte über das Grundproblem des Sitzens sprechen. Ob Sie nun erst seit einer kurzen Zeit üben oder schon zehn Jahre lang, das Problem bleibt immer das gleiche. Als ich vor vielen Jahren zu meiner ersten sesshin ging, wusste ich nicht, wer verrückter war, ich oder die Leute, die um mich herumsaßen. Es war schrecklich! Die Temperatur betrug in dieser Woche fast dauernd 40 Grad, Fliegen krabbelten auf mir herum, es war eine geräuschvolle, unruhige Meditation. Das Ganze regte mich auf und brachte mich vollkommen durcheinander. Doch ab und zu sah ich Yasutani Roshi, und bei ihm fand ich etwas, das mich bei der Stange hielt. Leider ist das erste halbe Jahr das härteste. Man muss sich mit Verwirrung, Zweifeln und Problemen auseinandersetzen und hat noch nicht lang genug geübt, um die wirklichen Früchte ernten zu können. Doch diese Schwierigkeiten sind natürlich, sie sind sogar gut. Wenn Ihr Kopf mit der Zeit all diese Stadien durchmacht, während Sie im Schneidersitz dasitzen und alles vielleicht höchst merkwürdig und lächerlich finden, lernen Sie ungeheuer viel über sich selbst. Und das kann Ihnen nur zugutekommen. Bitte fahren Sie fort, so oft wie möglich in einer Gruppe zu meditieren, und gehen Sie so oft wie möglich zu einem guten Lehrer. Wenn Sie das tun, wird das Üben des Zazen allmählich das Beste und Schönste sein, was Sie in Ihrem Leben haben.

Es ist nicht wichtig, wie Ihr Übungsweg genannt wird. Ob es darum geht, dem Atem zu folgen, ob Sie Shikan-taza machen oder koan-Studien betreiben – im Grunde arbeiten wir alle an denselben Fragen: »Wer sind wir? Was ist unser Leben? Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin?« Wir müssen erst ein ganzes Menschenleben durchmessen haben, um zu ein wenig Erkenntnis darüber zu gelangen. So möchte ich zunächst über die Grundlage, das Sitzen, sprechen, und wenn ich darüber spreche, sollten Sie bedenken, dass das Sprechen darüber nicht das Wesentliche ist. Über solche Dinge reden, heißt, mit dem Finger auf den Mond zeigen.

Beim Zazen entdecken wir die »Wirklichkeit«, die »Buddha-Natur«, »Gott«, das »wahre Wesen«. Manche nennen es den »großen Geist«. Meine Weise, mich heute diesem Thema zu nähern, lässt sich am besten in die Worte fassen: »dieser Augenblick«.

Das Diamant-Sutra sagt: »Die Vergangenheit ist nicht fassbar, die Gegenwart ist nicht fassbar, die Zukunft ist nicht fassbar.« Wir, die wir hier in diesem Raum sind, wo sind wir? Sind wir in der Vergangenheit? Nein. Sind wir in der Zukunft? Nein. Sind wir in der Gegenwart? Nein. Wir können nicht einmal sagen, dass wir in der Gegenwart sind. Es gibt nichts, auf das wir deuten und sagen könnten: »das ist die Gegenwart«. Es gibt keine Begrenzung, die diese Gegenwart definierte. Alles, was wir sagen können, ist: »Wir sind in diesem Augenblick.« Und da es keine Möglichkeit gibt, ihn zu messen, zu definieren, festzuhalten, selbst zu erkennen, woraus er eigentlich besteht, ist er maßlos, grenzenlos, unendlich. Und wir sind es auch.

Wenn es nun so einfach ist, was tun wir denn eigentlich hier? Ich kann sagen: »dieser Augenblick«. Das klingt sehr einfach, nicht? Aber das ist es keineswegs. Es wirklich zu erkennen, ist gar nicht so einfach, denn sonst würden wir nicht alle hier sein, um zu üben.

Warum ist es nicht einfach? Warum können wir es nicht erkennen? Und was ist notwendig, um es zu erkennen? Ich möchte Ihnen dazu eine kleine Geschichte erzählen.

Vor vielen Jahren studierte ich im Oberlin-Konservatorium als Hauptfach Klavier. Ich war eine sehr gute Studentin, nicht hervorragend, aber sehr gut. Und ich wünschte mir sehr, bei einem bestimmten Lehrer studieren zu können, der zweifellos der beste dort war. Aus gewöhnlichen Studenten wurden bei ihm wunderbare Pianisten. Endlich bekam ich eine Chance, bei genau diesem Lehrer zu studieren.

Als ich in die erste Stunde kam, sah ich, dass er mit zwei Klavieren unterrichtete. Er sagte nicht einmal guten Tag. Er setzte sich einfach an sein Klavier und spielte fünf Noten und sagte dann zu mir: »Tun Sie dasselbe.« Ich sollte einfach das spielen, was er gespielt hatte. Ich spielte es – und er sagte: »Nein.« Wieder spielte er dieselben Noten, und ich wiederholte sie. Wieder sagte er: »Nein.«

Das ging eine Stunde lang so. Und jedes Mal sagte er: »Nein.«

In den nächsten drei Monaten spielte ich etwa drei Takte Musik, die vielleicht eine halbe Minute dauerten. Ich hatte natürlich gedacht, ich sei gar nicht so schlecht. Immerhin war ich schon als Solistin mit kleinen Symphonieorchestern aufgetreten. Trotzdem ging das drei Monate so, und ich weinte fast die ganze Zeit. Er hatte alles, was ein guter Lehrer braucht, unglaubliche Intensität und Entschlossenheit, den Schüler zum Erkennen zu bringen. Deshalb war er so gut. Und nach diesen drei Monaten sagte er eines Tages: »Gut.«

Was war geschehen? Ich hatte endlich gelernt, zuzuhören. Und wie er sagte: Wenn man zuhören kann, kann man auch spielen. Was war in diesen drei Monaten geschehen? Ich hatte die gleichen Ohren wie am Anfang; mit meinen Ohren hatte sich nichts verändert. Was ich spielte, war technisch nicht schwierig. Geschehen war dies, dass ich zum ersten Mal gelernt hatte, zuzuhören ... und dabei hatte ich doch schon jahrelang Klavier gespielt. Ich lernte es, aufmerksam zu lauschen. Deshalb war er ein so guter Lehrer: Er brachte seinen Schülern bei, wirklich zuzuhören. Nachdem sie mit ihm gearbeitet hatten, konnten sie wirklich hören, wirklich lauschen. Wenn man wirklich hören kann, kann man spielen. Und nach der Ausbildung verließen ihn wunderbare Pianisten.

Diese Art von Aufmerksamkeit ist auch für unser Zen-Üben notwendig. Wir nennen sie Samadhi, das vollkommene Einssein mit dem Objekt.1 In meiner Geschichte war diese Aufmerksamkeit relativ einfach. Es ging um eine Sache, die mir lag. Es ist das Einssein jeder großen Kunst. Jeder große Athlet, jeder, der auf einem Gebiet viel geübt hat und begeistert davon ist, muss diese Art von Aufmerksamkeit gelernt haben. Das ist mit Samadhi gemeint.

Das ist eine Art von Aufmerksamkeit, und sie ist sehr wertvoll. Was wir im Zen tun müssen, ist aber viel schwerer. Wir müssen aufmerksam auf diesen einen Augenblick sein, auf die Gesamtheit dessen, was genau in diesem Augenblick geschieht. Der Grund dafür, dass wir nicht bereit sind, aufmerksam zu sein, liegt darin, dass es nicht immer angenehm ist. Es passt uns nicht.

Als Menschen haben wir einen Verstand, der denken kann. Wir erinnern uns an das, was schmerzhaft war. Wir träumen immerzu von der Zukunft, von all den Dingen, die wir haben werden oder die uns widerfahren werden. So filtern wir alles, was in der Gegenwart geschieht, durch diese Art von Gedanken: »Das mag ich nicht. Das will ich nicht hören. Ich kann es sogar vollständig vergessen und von dem träumen, was irgendwann geschehen wird.« Das passiert andauernd. Die Gedanken kreisen und kreisen in unserem Kopf, und wir versuchen immer, uns eine Art von Leben zu verschaffen, das angenehm sein wird, in dem wir Sicherheit haben, wir streben nach Wohlbefinden.

Aber genau aus diesem Grunde sehen wir nie das, was gerade jetzt ist, diesen einen Augenblick. Wir können ihn nicht sehen, weil wir alles filtern. Was wir in uns einlassen, ist sehr verändert. Fragen Sie zehn Leute, die dieses Buch lesen. Sie werden merken, dass jeder Ihnen etwas anderes erzählt. Jeder wird die Teile vergessen haben, von denen er sich nicht besonders berührt fühlte. Jeder wird sich etwas anderes herauspicken, und die Aspekte, die ihm nicht gefielen, wird er vollständig übersehen haben. Selbst wenn wir zu unserem Zen-Lehrer gehen, hören wir nur das, was wir hören wollen. Für einen Lehrer offen zu sein, heißt nicht nur, das zu hören, was man hören möchte, sondern alles zu hören. Und der Lehrer ist nicht dazu da, möglichst nett zu einem zu sein.

So geht es beim Zazen also darum: Alles, was wir tun müssen, ist, immer wieder von dieser sich in unseren Köpfen drehenden Gedankenwelt Abstand zu nehmen, um ins Hier und Jetzt zurückzukehren. Darum geht es bei unserem Üben. Die Intensität und Fähigkeit, wirklich im gegenwärtigen Augenblick zu sein, ist es, was wir entwickeln müssen. Wir müssen in der Lage sein, zu sagen: »Nein, ich möchte nicht, dass es sich wieder hier oben im Kreis dreht.« Diese Entscheidung müssen wir immer wieder treffen. In jedem Augenblick besteht unser Üben in dieser Entscheidung. Wir sind andauernd an einer Weggabelung. Wir können den einen Weg nehmen, aber auch den anderen. Immer müssen wir den richtigen Weg wählen, Augenblick für Augenblick, müssen wir uns entscheiden zwischen der rosaroten Welt, die wir uns in unserem Kopf zurechtdenken, und dem, was wirklich ist. Und was in einer Zen-Sesshin wirklich ist, das sind oft Müdigkeit, Langeweile und schmerzende Beine. Doch was wir daraus lernen, gerade weil wir mit all diesen Unannehmlichkeiten ruhig dasitzen, ist so wertvoll, dass man es erfinden müsste, wenn es es nicht gäbe. Wenn man Schmerzen hat, kann man nicht in Gedanken abheben. Man muss dabeibleiben. Es bleibt kein Raum zum Ausweichen. Deshalb ist der Schmerz wirklich wertvoll.

Unser Zen-Übungsweg ist dazu bestimmt, uns zu befähigen, ein gutes und angenehmes Leben zu führen. Doch die einzigen Menschen, die sich wirklich wohlfühlen, sind diejenigen, die gelernt haben, sich nicht in ihren Träumen zu verlieren und ihrem Leben dabei entrinnen zu wollen, sondern die in dem sind, was hier und jetzt ist, gleichgültig, wie es ist: gut, schlecht, angenehm, unangenehm. Kopfschmerzen, Krankheit, Glück. Es ist kein Unterschied. Ein Kennzeichen des Reifens eines Schülers ist, dass er mit beiden Beinen auf dem Boden steht. Begegnet man einem solchen Menschen, dann spürt man das. Er nimmt das Leben an, wie es wirklich ist, und ergeht sich nicht in Fantasievorstellungen darüber. Deshalb schütteln die Stürme des Lebens ihn schließlich auch weniger heftig. Wenn wir die Dinge so annehmen können, wie sie sind, wird uns nichts mehr besonders aufregen. Und wenn wir uns nicht aufregen, geht es schneller vorbei.

Betrachten wir den Prozess des Sitzens selbst. Auch hier müssen wir einfach in dem sein, was gerade jetzt geschieht. Sie müssen mir nicht glauben, Sie können es für sich selbst herausfinden. Wenn ich merke, dass ich aus der Gegenwart herausfalle, muss ich nur auf die Verkehrsgeräusche hören. Ich achte darauf, dass mir nichts entgeht. Nichts. Ich höre einfach zu. Und das ist ebenso gut wie ein Koan2, denn es ist das, was in diesem Augenblick geschieht. Als Zen-Schüler hat man also eine Aufgabe, und die ist sehr wichtig: Das eigene Leben aus einem Traumland in die wirkliche und unendliche Realität, die es eigentlich ist, zurückzuholen. Das ist keine einfache Aufgabe. Sie erfordert Mut. Nur Menschen mit größter Ausdauer können diesen Übungsweg länger als ein Weilchen gehen. Aber wir tun es nicht nur für uns selbst. Vielleicht am Anfang, und das ist auch gut so. Aber in dem Maß, wie unser Leben auf den Boden kommt, wirklich wird, im Hier und Jetzt fundiert ist, spüren das andere Menschen unmittelbar, und das, was wir sind, beginnt unsere Umgebung zu beeinflussen.

Wir sind in Wirklichkeit das ganze Universum. Aber bevor man das nicht klar erkannt hat, muss man sich an das halten, was einem der Lehrer als Aufgabe stellt, muss man einen gewissen Glauben an den gesamten Entwicklungsprozess haben. Es ist nicht nur Glaube, es ist auch etwas wie Wissenschaft. Andere vor Ihnen haben das Experiment schon gemacht, und sie haben ihre Ergebnisse erzielt. Zumindest könnte man sagen: »Nun, dann unternehme ich das Experiment eben einmal. Ich kann es versuchen. Ich kann hart arbeiten.« So viel kann jeder von uns.

Der Buddha ist nichts außer dem, was Sie gerade jetzt in diesem Augenblick sind: Sie lauschen dem Geräusch der Autos, Sie fühlen den Schmerz in Ihren Beinen, Sie hören meine Stimme. Das ist der Buddha. Sie können das nicht festhalten; in dem Augenblick, wo Sie es festzuhalten versuchen, hat es sich schon verändert. Das zu sein, was wir in jedem Augenblick sind, bedeutet beispielsweise, wirklich unser Zorn zu sein, wenn wir zornig sind. Diese Art von Zorn verletzt nie jemanden, er ist vollständig. Wir fühlen ihn wirklich, diesen Knoten in unserem Magen, und wir werden niemand anderem deshalb wehtun. Die Art von Ärger, die andere Menschen verletzt, ist jene, die im Untergrund brodelt, während wir freundlich lächeln.

Wenn Sie sitzen, sollten Sie nicht erwarten, etwas Besonderes zu sein. Wenn wir diese kreisenden Gedanken in unserem Kopf auch nur für ein paar Minuten aufgeben und einfach dasitzen und wahrnehmen, was ist, dann ist diese Gegenwart, die wir sind, wie ein Spiegel. Wir sehen alles. Wir sehen, was wir sind: unsere Bemühungen, gut auszusehen, die Ersten zu sein oder uns zu demütigen. Wir sehen unsere Wut, unsere Angst, unsere Wichtigtuerei, unsere sogenannte Spiritualität. Wirkliche Spiritualität bedeutet, all das einfach zu sein. Wenn wir mit Buddha einfach das sein können, was wir sind, dann verwandelt es sich.

Shibayama Roshi sagte einmal in einer Sesshin: »Dieser Buddha, den ihr alle sehen wollt, ist sehr scheu. Es ist schwer, ihn hervorzulocken, damit er sich zeige.« Warum? Weil wir der Buddha selbst sind, und weil wir ihn nicht sehen werden, solange wir noch an all diesen überflüssigen Dingen hängen. Wir müssen bereit sein, ganz aufrichtig in uns selbst hineinzuschauen. Wenn wir vollkommen aufrichtig demgegenüber sein können, was jetzt, in diesem Augenblick, geschieht, dann werden wir ihn sehen. Wir können nicht einfach ein kleines Stückchen des Buddha erwischen. Der Buddha kommt ungeteilt. Unser Üben hat nichts mit Dingen zu tun wie: »Oh, ich sollte gut sein, ich sollte freundlich sein, ich sollte dieses oder jenes sein.« Ich bin, was ich in diesem Augenblick bin. Und genau dieses So-sein ist der Buddha.

Einmal sagte ich im Zendo3 etwas, das viele Leute aufgeregt hat. Ich sagte: »Um diesen Übungsweg zu gehen, müssen wir die Hoffnung aufgeben.« Damit konnten viele überhaupt nichts anfangen. Aber was meinte ich damit? Ich meine, dass wir diese Vorstellung aufgeben müssen, dass wir irgendwie das vollkommene Leben, das für uns das ideale ist, erlangen könnten, wenn wir nur herausfänden, wie es wirklich geht. Das Leben ist so, wie es ist. Und nur, wenn wir diese Ausweichmanöver aufgeben, beginnt das Leben, allmählich befriedigender zu werden.

Wenn ich sage, es gilt, die Hoffnung aufzugeben, meine ich damit nicht, dass wir unsere Bemühungen aufgeben sollen. Als Zen-Schüler müssen wir unglaublich hart arbeiten. Aber wenn ich hart sage, meine ich nicht anstrengend und verkrampft; das ist es nicht. Hart ist es, immer wieder diese Entscheidung treffen zu müssen. Und wenn man intensiv übt und zu vielen Sesshins kommt, wenn man hart mit einem Lehrer arbeitet und bereit ist, eine Zeitlang diese Entscheidung immer wieder zu treffen, wird man eines Tages die erste kleine Ahnung bekommen, die erste kleine Ahnung davon, was dieser gegenwärtige Augenblick ist. Das kann ein Jahr, zwei Jahre oder zehn Jahre dauern. Und das ist der Anfang. Dieser kleine Blick, diese Ahnung, die eine Zehntelsekunde währt. Das allein aber ist nicht genug. Das erleuchtete Leben besteht darin, es immer zu sehen. Es bedarf vieler, vieler Jahre der Arbeit, in denen wir uns selbst verwandeln, um so zu werden, dass wir das können.

Ich möchte nicht, dass meine Worte entmutigend klingen. Vielleicht haben Sie das Gefühl, es blieben Ihnen nicht mehr genug Jahre, um das zu vollbringen. Aber darum geht es nicht. An jedem Punkt Ihres Übungsweges ist es so, wie es sein soll. Und indem wir üben, wird das Leben allmählich erfüllender, befriedigender, besser, nicht nur für uns, sondern auch für andere Menschen. Aber das ist ein langer, langer Weg. Die Leute haben die merkwürdige Vorstellung, dass sie in zwei Wochen zur Erleuchtung kommen können.

Wir sind der Buddha, schon immer. Daran besteht kein Zweifel. Wie könnten wir etwas anderes sein? Wir sind alle jetzt hier. Wo könnten wir sonst sein? Es geht nur darum, wirklich zu erkennen, was das bedeutet, dieses vollkommene Einssein, diese Harmonie; und darum, das in unserem Leben zum Ausdruck zu bringen. Dazu bedarf es schier endloser Arbeit und Übung. Man braucht Mut dazu. Es ist nicht einfach. Wir müssen wirkliche Hingabe uns selbst und anderen Menschen gegenüber aufbringen.

Natürlich wächst all das mit der Übung, sogar unser Mut. Wir müssen beim Sitzen Schmerzen aushalten, und das hassen wir. Auch ich mag es nicht. Aber wenn wir es geduldig »durchsitzen«, entsteht allmählich etwas in uns. Wenn wir mit einem guten Lehrer arbeiten und erkennen, was sie oder er ist, erleben wir im Üben eine allmähliche Verwandlung. Sie geschieht nicht durch etwas, was wir denken, nicht durch etwas, was wir uns im Kopf vorstellen. Wir werden verwandelt durch das, was wir tun. Was ist es, was wir tun? Wir treffen immerzu diese Entscheidung. Wir geben unsere egozentrischen Träume auf um der Realität willen, die wir wirklich sind.

Zunächst verstehen wir vielleicht gar nicht, was da vorgeht; es ist verwirrend für uns. Als ich die ersten Vorträge von Zen-Lehrern hörte, dachte ich: »Wovon sprechen die eigentlich?« Doch haben Sie genug Vertrauen, um weiter zu üben: Sitzen Sie jeden Tag. Gehen Sie durch all diese Unsicherheiten hindurch. Seien Sie sehr geduldig, und respektieren Sie sich selbst dafür, dass Sie üben. Das ist nicht einfach. Man muss jedem gratulieren, der eine Zen-Sesshin durchsteht. Ich möchte es Ihnen nicht extra schwer machen; ich glaube, dass Menschen, die hierherkommen, um zu üben, ganz erstaunliche Menschen sind. Doch es ist an Ihnen, diese Fähigkeiten, die Sie haben, anzunehmen und mit ihnen zu arbeiten.

Wir sind alle noch kleine Kinder. Unserem Wachsen sind keine Grenzen gesetzt. Und wenn wir geduldig sind und hart genug arbeiten, haben wir zuletzt vielleicht die Möglichkeit, wirklich etwas für die Welt zu tun. In diesem Einssein, in dem zu leben wir schließlich lernen, finden wir Liebe; nicht irgend so ein verwaschenes Gefühl, sondern Liebe mit wirklicher Kraft. Wir wollen sie in unserem Leben verwirklichen und im Leben anderer Menschen. Wir wollen sie für unsere Kinder, unsere Eltern und unsere Freunde verwirklichen. Deshalb ist es an uns, diese Arbeit zu tun.

Das ist der Weg, der uns bevorsteht. Es liegt an uns, ob wir uns dafür entscheiden, ihn zu gehen. Vielen von Ihnen ist vielleicht nicht klar, was Sie da vor sich haben; es dauert Jahre, bis es einem klar wird, bis man wirklich weiß, was man eigentlich tut. Tun Sie einfach das Bestmögliche. Bleiben Sie dabei, sitzen Sie täglich und kommen Sie zu den Sesshins, kommen Sie zu den Meditationen; wir wollen alle versuchen, unser Bestes zu geben. Es geht wirklich um etwas Wichtiges: die vollkommene Verwandlung des menschlichen Lebens ist das Wichtigste, was wir überhaupt tun können.

Autorität

Ich habe nun jahrelang zu vielen Menschen gesprochen, wundere mich aber immer noch, dass wir aus unserem Leben und Üben solch ein Problem machen. Denn es gibt kein Problem. Das einfach so zu sagen, ist eine Sache. Es zu erkennen, ist natürlich eine andere.

Die letzten Worte des Buddha waren: »Sei ein Licht, das für dich selbst leuchtet.« Er sagte nicht: »Lauf diesem oder jenem Lehrer nach, geh in dieses oder jenes Zentrum« – er sagt: »Sei ein Licht für dich selbst.«

Ich möchte hier über das Problem der Autorität sprechen. Entweder sind wir für andere eine Autorität (wir sagen ihnen, was sie zu tun haben), oder wir suchen jemanden, der für uns eine Autorität darstellt (und uns sagt, was wir zu tun haben). Doch wir würden nie nach einer Autorität suchen, wenn wir Vertrauen in uns selbst und in unsere Einsicht hätten. Vor allem, wenn in unserem Leben etwas Unangenehmes, Verwunderliches oder Aufregendes geschieht, glauben wir, wir müssten zu einem Lehrer oder zu einer Autorität laufen, die uns sagen können, was wir zu tun haben. Es amüsiert mich immer, dass, wenn ein neuer Lehrer in die Stadt kommt, alle zu ihm eilen, um ihn kennenzulernen. Ich sage Ihnen, wie weit ich gehen würde, um einen neuen Lehrer zu sehen: vielleicht quer durchs Zimmer, aber weiter nicht! Es liegt nicht daran, dass ich kein Interesse an dieser Person hätte; es gibt nur einfach niemanden, der mir etwas über mein Leben sagen kann, außer – wem?

Es gibt keine Autorität außerhalb meiner eigenen Erfahrung. Sie sagen vielleicht: »Ich brauche aber einen Lehrer, der mich von meinen Leiden befreien kann. Ich leide und verstehe nicht, warum. Ich brauche doch jemanden, der mir sagt, was ich tun soll, oder etwa nicht?« Nein! Sie brauchen vielleicht einen Begleiter, einen Führer, jemanden, der Ihnen deutlich macht, wie Sie übend mit Ihrem Leben umgehen können. Was Sie brauchen, ist jemand, der Ihnen klarmacht, dass die Autorität in Ihrem Leben, ihr wirklicher Lehrer, Sie selbst sind – und wir üben, um dieses »Ich selbst« zu erkennen.

Es gibt nur einen Lehrer. Was ist dieser Lehrer? Das Leben selbst. Und natürlich ist jeder von uns eine Manifestation des Lebens; wir können gar nichts anderes sein. Das Leben ist zugleich ein strenger und ein unendlich gütiger Lehrer. Es ist die einzige Autorität, der wir vertrauen müssen. Und dieser Lehrer, diese Autorität, ist überall anwesend. Sie müssen nicht an einen besonderen Ort gehen, um diesen unvergleichlichen Lehrer aufzusuchen, Sie müssen sich in keiner besonders ruhigen oder idealen Situation befinden: im Gegenteil. Je chaotischer die Situation, desto besser. Ein durchschnittliches Büro ist ein wunderbarer Ort dafür, ein durchschnittliches Zuhause ebenso. An solchen Orten geht es meistens ziemlich chaotisch zu – das wissen wir aus eigener Erfahrung. Dort finden wir die Autorität, den Lehrer.

Das ist eine sehr radikale Lehre, die nicht jedem passt. Von solch einer Lehre nehmen viele Menschen Abstand. Sie wollen das nicht hören. Was wollen sie denn hören? Was wollen Sie hören? Bevor wir so weit sind (was gewöhnlich heißt, bevor wir gelitten haben und bereit sind, aus dem Leiden zu lernen), sind wir wie junge Vögel in einem Nest. Was tun die jungen Vögel? Sie öffnen ihre Schnäbel und warten, dass sie gefüttert werden. Wir sagen: »Bitte, füttere mich mit deiner wundervollen Lehre. Ich sperre den Mund auf, und du fütterst mich damit.« Damit sagen wir eigentlich: »Wann kommen Mama und Papa? Wann kommt ein großer Lehrer, eine erhabene Autorität, und füttert mich mit dem, was meinen Schmerz, mein Leiden beendet?« Das Erstaunliche ist, dass Mama und Papa schon da sind! Hier, gerade hier. Unser Leben ist immer da! Doch da einem das Leben vielleicht unangenehm, ja beschwerlich, einsam und deprimierend vorkommt, will natürlich kaum einer das Leben, so wie es ist, annehmen.

Fast niemand. Wenn ich beginne, diesen einen Augenblick, die Gegenwart zu erleben, den wahren Lehrer, wenn ich aufrichtig jeden Augenblick meines Lebens sein kann, was ich denke, was ich fühle – dann wird sich dieses Erlebnis verwandeln zu dem Annehmen dessen, was »gerade jetzt« ist, der freudigen Samadhi4 des Lebens, dem Wort Gottes. Und das ist der Zen-Übungsweg. Wir müssen das Wort »Zen« dazu nicht einmal in den Mund nehmen.

 

Diese Mama und dieser Papa, auf die wir gewartet haben, sind schon hier – jetzt, an diesem Ort. Wir können dieser Autorität gar nicht aus dem Weg gehen, selbst wenn wir wollten. Wenn wir zur Arbeit gehen, ist sie da; wenn wir mit unseren Freunden zusammen sind, ist sie da; in unserer Familie ist sie da; »übe immerzu Zazen, bete immerzu«. Wenn wir erkennen, dass jeder Augenblick unseres Lebens der Lehrer ist, können wir gar nicht anders. Wenn wir wirklich jeden Augenblick unseres Lebens sind, ist gar kein Platz mehr für einen äußeren Einfluss, für eine Autorität. Wo sollte sie auch sein? Wenn ich mein eigenes Leiden bin, wo ist dann die Autorität? Die Aufmerksamkeit dafür, die Erfahrung, ist die Autorität, sie ist auch die klare Erkenntnis all dessen, was getan werden muss.

Es gibt allerdings noch eine kleine Illusion, der wir alle leicht unterliegen, wenn es um die Frage der Autorität geht. »Nun gut, ich werde meine eigene Autorität sein, danke. Niemand soll mir sagen, was ich zu tun habe.« Was ist daran falsch? »Ich werde meine eigene Autorität sei! Ich werde meine eigenen Vorstellungen über das Leben entwickeln, meine eigenen Vorstellungen davon, was der Zen-Übungsweg ist.« Wir laufen alle Gefahr, solchen Unsinn zu denken. Wenn ich versuche, meine eigene Autorität zu sein (in diesem engen Sinn), bin ich ebenso Sklave, wie wenn ich anderen die Autorität überlasse. Doch wenn der andere nicht die Autorität ist und ich nicht die Autorität bin, was dann? Wir haben schon darüber gesprochen, aber wenn es uns nicht wirklich klar ist, kommen wir ins Schwimmen.

Der Flaschenhals der Angst

Die Begrenztheit des Lebens ist bereits bei der Empfängnis gegenwärtig. Schon in den genetischen Faktoren liegen Begrenzungen. Wir sind männlich oder weiblich, wir haben eine Tendenz zu bestimmten Krankheiten oder körperlichen Schwächen. Alle genetischen Elemente wirken zusammen, um ein bestimmtes Temperament hervorzubringen. Jede schwangere Mutter erfährt an sich selbst, dass die Kinder schon vor der Geburt sehr unterschiedlich sind. Für unsere Zwecke jedoch wollen wir bei der Geburt beginnen. Für die Augen eines Erwachsenen ist ein neugeborenes Kind offen und frei von Konditionierungen. In seinen ersten Lebenswochen geht es dem Kleinkind nur darum, zu überleben. Hören Sie, wie ein neugeborenes Kind schreit – es kann leicht die ganze Familie in Trab halten. Es gibt für mich kaum etwas so Fesselndes wie das Schreien eines Neugeborenen. Wenn ich diese Laute höre, möchte ich etwas tun, irgendetwas, damit das Schreien aufhört. Das Baby braucht jedoch nicht lange, um zu lernen, dass trotz seiner anstrengenden Bemühungen das Leben nicht immer angenehm ist. Ich erinnere mich daran, dass ich meinen ältesten Sohn auf den Kopf fallen ließ, als er sechs Wochen alt war. Ich dachte, ich sei doch so eine erfahrene junge Mutter, aber er war glitschig von Seife, und da ...

Sehr früh beginnen wir alle, uns gegen die bedrohlichen Dinge zu schützen, die uns immer wieder begegnen. Sie erzeugen in uns Angst, und aus dieser Angst heraus beginnen wir, uns zu verkrampfen. Die offene Unbegrenztheit unseres jungen Lebens fühlt sich eingefangen, durch den Flaschenhals der Angst gepresst. Sobald wir beginnen, sprechen zu lernen, nimmt die Verkrampfung immer mehr und schneller zu. Vor allem aber mit der Entwicklung unserer Intelligenz wird der Prozess ungeheuer beschleunigt. Wir versuchen dann nicht nur, der Bedrohung zu begegnen, indem wir sie in jeder Zelle unseres Körpers speichern, sondern setzen jede neue Bedrohung zu allen vorangegangenen in Beziehung, indem wir unser Gedächtnis benutzen, und so wird das Ganze immer schlimmer.

Wir alle wissen, wie Konditionierung vor sich geht: Nehmen wir an, dass ich als kleines Mädchen erlebte, wie ein rothaariger,