Ziemlich beste Freundinnen - Astrid Ruppert - E-Book
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Astrid Ruppert

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Beschreibung

Konstanze ist die wandelnde Perfektion: Die Herzchirurgin, Ehefrau und Mutter hat ihre Familie, ihren Alltag, ihr Bindegewebe, den OP-Plan und sogar das Unkraut im Garten fest im Griff. Die viel zu hell blondierte Glitzernudel Jacqueline dagegen improvisiert sich mehr schlecht als recht durch ihr Leben zwischen vier Minijobs und drei Kindern. Ausgerechnet diese beiden Frauen werden Zimmergenossinnen in der orthopädischen Rehaklinik. Eine explosive Mischung in körperlicher Ruhelage. Während die Knochen heilen, verändert sich in Zimmer 233 alles. Zwei Frauen. Zwei Welten. Eine Freundschaft. »Lebensnah, klug, amüsant!« Brigitta Lamparth, Allgemeine Zeitung

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Marion von Schröder ist ein Verlagder Ullstein Buchverlage GmbH

ISBN 978-3-8437-0431-1

© 2013 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Satz und eBook: LVD GmbH, Berlin

Für meine Freundinnen, meine Farbtherapien

Übe das Nichtstun, und es wird Ordnung einkehren.

Lao Tse

1Konstanze eilte im Laufschritt über die Station. Konstanze eilte immer im Laufschritt irgendwohin, weil sich all das, was sie an einem Tag zu bewältigen hatte, nur im Laufschritt bewältigen ließ. Wenn ihre Beine am OP-Tisch stillstanden, übernahmen ihre Hände das Tempo und hantierten virtuos und präzise mit dem Chirurgenbesteck. Innehalten konnte Kon­stanze nur, wenn sie schlief. Doch selbst dann flatterten ihre unruhigen Lider, während sie durch ihre Träume jagte. Der Laufschritt war ihre Art, sich durch die Welt zu bewegen. Und schneller als die Beine liefen Kon­stanzes Gedanken auf ihrer inneren, sich ständig erweiternden To-do-Liste immer schon ein paar Punkte vor­aus, stets bedacht, einen guten Vorsprung zu behalten. Man konnte nie wissen, wofür es gut war. Vorsprung konnte nie schaden. So überholten ihre Gedanken auch jetzt ihre Beine, schnell zum Stationszimmer zur Übergabe, an die zwei Akten denken, Kügler und Lehmann, oder hieß der doch Lohmann?, beide nach Hause mitnehmen, um abends noch die Arztbriefe zu diktieren, auf dem Heimweg Malte und seine zwei Freunde am Fußballplatz abholen, die zwei Freunde nach Hause bringen, unbedingt ans Tanken denken, unbedingt, dann Abendessen einkaufen – das Ende des Flurs war erreicht –, jetzt schnell die Treppe hoch, wenigstens war das gut für die Pomuskeln, ein Fitnessstudio hatte sie schon lange nicht mehr von innen gesehen, wann auch!? Die Rechenhefte für Lotte durfte sie nicht vergessen, und sie brauchte dringend neue Klingen für den Nassrasierer, sie konnte ja schon gar keine Röcke mehr – Hallo, Kollege Lammel! –, sie versuchte freundlich zu lächeln, obwohl der arrogante Fatzke ihr gerade vorhin bei der Visite in die Parade gefahren war, Blödmann, dieser Lammel, den hatte sie noch nie leiden können, ach ja, und die Zutaten für den Kuchen fürs Schulfest. Den Teig könnte sie nach dem Essen anrühren und den Kuchen in den Ofen schieben, bevor sie die Arztbriefe diktierte, und wenn sie sich richtig ranhielt, waren Kuchen und Briefe gleichzeitig fertig, und sie könnte mit Philipp noch ein Glas Wein trinken. Das musste auch mal wieder sein. Sie hatten nie Zeit füreinander. In einer Ehe, in der beide Vollzeit arbeiteten und eine Familie mit zwei Kindern zu managen war, war es wichtig, ab und an wenigstens ein bisschen Quality Time zusammen zu verbringen, den Begriff hatte sie letztens gelesen. Es musste nicht viel Zeit sein, hatte der Autor geschrieben, aber Qualität sollte sie haben. Das kam ihr total entgegen: Zeit hatten sie sowieso nie. Von viel Zeit mal ganz zu schweigen. Wenn man Beruf und Familie erfolgreich miteinander vereinbaren wollte, musste man eben Vollgas geben. Immer. Dann war alles möglich. Käsekuchen oder Muffins, überlegte sie, während ihre energischen Schritte den Gang entlanghallten. Muffins mochten die Kinder, Käsekuchen die Mütter, oder doch etwas mit Obst? Mist, wo war denn ihr Stethoskop? Wo hatte sie es zuletzt … ah, wie dumm, unten im Stationszimmer, ja, da hatte sie es liegen lassen, und der Patient hieß doch Lehmann, den hatte sie nämlich vorhin noch damit abgehört. Sie sah das Stethoskop förmlich vor sich, und dieser blöde Spruch ihrer Mutter sprang ihr in den Sinn, was man nicht im Kopf hat … Sie machte mit Schwung auf dem Absatz kehrt, das musste man eben in den Beinen haben, haha, hetzte die Treppe wieder hinunter, und dann …

… wusste sie eigentlich gar nicht, wieso sie auf dem Rücken lag, über sich ein helles Licht, so hell, dass sie gleich wieder die Augen schloss. »Frau Keller-Stein?«, sagte eine Stimme, und sie schlug die Augen probeweise wieder auf und sah genau in das Gesicht von diesem blöden Lammel. Ausgerechnet der schon wieder. Und was faselte der da?

»Sie ist wach!« Natürlich war sie wach, was denn sonst! »Frau Keller-Stein, Sie hatten einen Unfall mit einem komplizierten Beinbruch, Weber C, wir müssen gleich operieren.«

War das über ihr eine Behandlungslampe? Dieses Ding war ja völlig falsch eingestellt, eigentlich sollten die Lampen nicht blenden, sie musste gleich Bescheid sagen, damit sich jemand darum kümmerte. Weber C? Hatte Lammel eben Weber C gesagt? Sie wusste, was das war, aber Mist, sie kam grade nicht drauf, und bevor sie den Mund öffnen konnte, was ihr irgendwie sehr schwerfiel, schob sich Philipps Gesicht vor die Lampe, und sie hörte endlich auf zu blenden. Er beugte sich zu ihr und lächelte sie auf so eine bestimmte, besorgte Art an, die ihn viel jünger aussehen ließ als sonst, ein Lächeln wie damals, als sie Lotte mit einem Kaiserschnitt holen mussten. Dabei war sie doch gar nicht schwanger? Und dann fielen ihr die Augen wieder zu.

»Du hättest dir den Hals brechen können.« Philipp saß später, nachdem die Operation gut verlaufen und Konstanze wieder völlig wach war, an ihrem Bett, drückte ihre Hand und schüttelte besorgt den Kopf. »Ich möchte gar nicht darüber nachdenken. Nur zwei Schritte weiter, und es hätte nicht nur deine Beine erwischt. Du hattest wieder ein Tempo drauf …«

»Das Krankenhaus ist schließlich kein Ort zum Lustwandeln.«

»Die Treppe musst du dich aber auch nicht gleich runterstürzen.«

»Glaub mir, das war keine Absicht.« Konstanze sah Philipp ungnädig an. Mühsam versuchte sie, trotz des schmerzenden Beines ihre Position zu ändern. Irgendwie tat ihr alles weh, und gleichzeitig fühlte sich alles so fremd und wattig an. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, ihr Gewicht zu verlagern. Doch das half auch nicht wirklich.

Unglaublich, dass das ausgerechnet ihr passieren musste. Als Ärztin im eigenen Krankenhaus die Treppe runterstürzen und sich weiß Gott was brechen. Das waren die Geschichten, die bei jeder Weihnachtsfeier von neuem erzählt wurden und von Jahr zu Jahr lustiger wurden. Sie hegte weder die Absicht, hier die Patientin zu geben, noch stand sie gerne im komischen Zentrum solcher Geschichten, die mit ›Wisst ihr noch, als die Keller-Stein die Treppe runtergeflogen ist‹ anfingen. »Nicht Weber A, nicht Weber B, nein Weber C! Haha. Die macht’s nicht unter hochkompliziert …« Die Rolle als Opfer hatte in dem Rollenrepertoire von Konstanzes Leben nicht vorzukommen. Hilflosigkeit war etwas, das sie – wenn sie ehrlich war – verachtete. Sie war eine Frau der Tat. Immer gewesen.

»Lammel hat gesagt, dass alles gutgegangen ist.«

»Dass ausgerechnet der an meine Beine musste. Der freut sich doch, dass ich hier liege, dieser Kleingeist. Bestimmt hat er mich zum Krüppel gemacht.«

»Du weißt genau, dass Lammel der Beste ist. Sei froh, dass er dich operiert hat.«

»Hören Sie ruhig auf Ihren Mann.« Natürlich war es die Stimme von Lammel, der gerade das Krankenzimmer betrat. »Es wäre schädlich für meinen Ruf, wenn ich eine Kollegin zum Krüppel machen würde, gehen Sie davon aus, dass ich alles tun werde, um meinen Ruf zu wahren.«

Konstanze verdrehte die Augen. »Warum hast du mir kein Zeichen gegeben?«, raunzte sie Philipp an. »Ich entwickle mich noch zum Stationsliebling.«

Philipp seufzte. Seine Frau war eine großartige Ärztin, er vermutete, dass sie im OP besser war als er, besser sogar als die meisten hier, aber auf der Kandidatenliste für den Posten des Stationslieblings stand sie – wenn überhaupt – ohnehin ganz hinten an. Lammel würde sie mit oder ohne diese Bemerkung niemals zum Liebling küren, und alle anderen Kollegen auch nicht. Dafür sorgten schon Konstanzes regelmäßige Vorträge darüber, was man ihrer Meinung nach hätte besser machen können. Und das war meist eine Menge. »Effizienz« war eines ihrer Lieblingswörter. In Konstanzes Abteilung konnte es schon keiner mehr hören.

»Und wie ist Ihre Prognose? Wie lange liege ich hier? Wie lange darf ich das Bein nicht belasten? Wie geht es weiter?«

»Da wir auf Ihre begnadeten Hände in diesem Haus nicht verzichten wollen …«

»Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass hier alles auf einen Beinbruch hindeutet und nicht auf einen Handbruch?«, unterbrach Konstanze ihn ungehalten.

»Das ist mir keineswegs entgangen.« Lammel nickte geduldig. »Aber da Sie weiterhin mehrstündige OPs durchstehen wollen, im wahrsten Sinne des Wortes, ist in Ihrem Fall besonders strenge Reha angesagt. Wir beobachten den Heilungsprozess und gehen erst einmal von ungefähr sechs Wochen ohne jegliche Belastung aus, dann sehen wir weiter.«

Konstanze begriff sofort den Ernst der Lage und sah Lammel direkt an: »Sechs Wochen? Null Belastung? Also Krücken. Und dann?«

Lammel nickte ernst. »Sehr langsame Wiederbelastung, sehr langsame Wiedereingliederung. Ohne konsequente Schonung wird Ihr Bein nie wieder so belastbar wie vorher.«

»Und mit konsequenter Schonung?« Konstanze sah ihn stirnrunzelnd an. »Ehrlich. Bitte«, setzte sie nach, als er für ihr Gefühl einen kleinen Moment zu lange mit der Antwort zögerte. Lammel legte den Kopf schief »Stehen die Chancen gar nicht so schlecht.«

Konstanze schloss die Augen. Gar nicht so schlecht. Das war eine richtig miese Nachricht in vier kleinen harmlosen Wörtern.

»Es wird leider langwierig. Und wir wissen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was Ihr Sprunggelenk letztlich abbekommen hat. Kann sein, dass das nicht die letzte OP war. Und Sie wissen um die Entzündungsgefahr.«

Das war unmöglich. Komplett unmöglich. Das ging einfach nicht. Das war ein Witz! Aber irgendwie war das alles nicht witzig. Ganz im Gegenteil. Sie spürte, wie ein Kloß dort wuchs, wo eigentlich ihre Luftröhre saß. Nein. Bitte nicht. Nur jetzt nicht schluchzen. Nicht hier. Nicht vor einem Kollegen in Tränen ausbrechen. Kein Mitleid. Um Gottes willen, alles nur das nicht. Sie atmete konzentriert flach weiter, und es gelang ihr, die Tränen zurückzudrängen.

»Und wie soll das funktionieren?«, fragte sie Philipp, als sie wieder allein waren und sich der Kloß in ihrem Hals zumindest für den Moment halbwegs aufgelöst hatte. »Hier. Und zu Hause. Die Kinder … was ist eigentlich mit den Kindern …? Oh je. Und der Kuchen, ach Gott, ich wollte heute noch so viel –«

»Konstanze …«, unterbrach Philipp sie und nahm ihre Hand in seine, um sie zu beruhigen. »Es wird schon irgendwie gehen.«

»Aber du musst ja noch einkaufen, Lotte braucht morgen Rechenhefte. Oh, und die Arztbriefe, wenn du mir die Unterlagen bringst, kann ich ja vielleicht gerade noch …«

»Die Kinder sind versorgt, alles okay. Und heute wird bestimmt nichts mehr eingekauft. Es ist fast Mitternacht. Wenn wir unbedingt einen Kuchen brauchen, dann wird er gekauft. Und Lotte hat morgen zwar kein Rechenheft, aber eine super Entschuldigung. Ein Notfall in der Familie …«

»Aber«, versuchte Konstanze zu protestieren, doch Philipp verschloss ihr den Mund mit einem Kuss. »Der Notfall muss versuchen zu schlafen. Du hast eigentlich genug Traumsand bekommen, du solltest schlafen können. Mach dir keine Sorgen, Schatz. Wir kriegen das schon hin. Und ich gehe jetzt nach Hause und schau nach dem Rechten, okay? Morgen früh bin ich wieder da.«

Konstanze schloss seufzend die Augen. Das klang gut, nach dem Rechten sehen klang gut. Und sie war wirklich müde. Sie nickte. »Grüß die Kinder. Du musst aufpassen, dass sie sich keine Sorgen …«

»Ich mach das schon«, versicherte Philipp. »Du schläfst jetzt, hörst auf, dir Sorgen zu machen, und ich übernehme. Okay?«

Nachdem die Tür hinter Philipp ins Schloss gefallen war, fühlte sich das Zimmer plötzlich sehr leer an, und sie merkte, wie elend ihr zumute war. An ihrer Hand war ein Zugang gelegt worden, durch den eine Infusion aus durchsichtigem Schmerzmittel tröpfchenweise in ihren Kreislauf gelangte. Diese Nadel tat weh. Sie erzählte ihren Patienten immer, dass es nicht weh tat. Aber offensichtlich hatte man bei ihr einen Stümper ans Werk gelassen, der es nicht konnte. Neben ihr piepste ein Gerät, und sie schloss die Augen. Sie wollte nichts mehr mitbekommen. Einschlafen und erst wieder aufwachen, wenn das Ganze vorbei war. In Konstanzes Ohren klang alles furchtbar, was sie eben gehört hatte. Gar nicht so schlechte Chancen. Diese Formulierung benutzte sie auch immer dann, wenn sie einem Patienten und seinen Angehörigen Mut machen wollte, ohne sich genauer festzulegen. Oder dann, wenn es von vorneherein wenig Sinn machte, allzu zuversichtlich zu erscheinen. Falls es eben doch nicht so auskam, wie erwünscht. Und was hieße das wohl in ihrem Fall? Ein steifes Bein? Humpeln? Gesundheitsschuhe? Dauerschmerz? Nicht mehr lange im OP stehen können? Wie fürchterlich. Ihre Gedanken fuhren in ihrem brummenden Kopf Achterbahn und schlingerten dabei haltlos hin und her. Die Klinik, das Geschnatter der Kollegen, ihre Station, die Arztbriefe, die sie noch diktieren wollte. Sie hatte doch so viel zu tun. Und wenn sie von nun an immer ein Bein nachzog? Wenn Lammel es nicht hinbekam? Und selbst wenn er es hinbekam. Sie fiel auf jeden Fall erst einmal aus. Und es gab so vieles, um was nur sie sich kümmern konnte. Dieses blöde Stethoskop, warum hatte sie es nur liegen lassen. Man sollte es immer bei sich haben. In Zukunft würde sie es immer um den Hals tragen, auch wenn sie es eigentlich bescheuert fand, so herumzulaufen. Herumlaufen, ha, wenn sie das nur erst wieder könnte. Nun hatte sie Schrauben im Bein, und Laufen lag in wochenweiter Ferne. Und die Kinder zu Hause, und der große Wäschekorb im Keller. Sie musste morgen die Putzfrau umbestellen, damit sie öfter kam. Hoffentlich hatte sie Zeit. Ob man sie auch dazu bekommen könnte, Unkraut zu jäten? Bestimmt nicht. Auch die Kinder sahen sich immer an, als wäre sie verrückt, wenn sie sie bat, beim Jäten mitzuhelfen, und Philipp griff sich regelmäßig mit dramatischer Geste in den Rücken und schüttelte mit schlecht gespieltem Bedauern den Kopf. Den Kampf über ihre mühsam gesäuberten Beete würde dieses Jahr also der Giersch gewinnen. Ob die Kinder die Hausaufgaben gemacht hatten? Alleine bestimmt nicht. Hoffentlich dachte Philipp auch daran, das zu kontrollieren. Aber wenn es jetzt schon nach Mitternacht war, hatte das alles sowieso keinen Sinn mehr.

Ihr Mund war trocken, und sie drehte den Kopf zu dem Nachttisch, der neben ihrem Bett stand. Allein davon wurde ihr schon schwindelig. Hoffentlich hatte sie nicht auch noch eine Gehirnerschütterung. Mit ihrem brummenden Kopf und einem entsetzlich trockenen Mund sah sie, dass die Schnabeltasse mit dem kalten Krankenhaus-Hagebuttentee außerhalb ihrer Reichweite stand. Als sie den Tisch – mit dem festen Vorsatz, nicht nach einer Schwester zu klingeln – trotz großer Anstrengung nicht erreichen konnte, um ihn näher zu sich zu ziehen und die blöde Schnabeltasse zu ergreifen, ging ihre gesamte bis dahin an den Tag gelegte Selbstbeherrschung flöten. Der Kloß in ihrem Hals, den sie so diszipliniert weggeatmet hatte, schwoll wieder an, und eine Woge von Selbstmitleid erfasste sie. Die Tränen, die ihr nun hemmungslos über die Wangen strömten, wollten überhaupt nicht mehr versiegen.

2»Jetzt hau endlich ab!! Abgang, ja?! Ich will dich hier nicht mehr sehen!« Jacqueline stand an ihrer geöffneten Wohnungstür und schleuderte wutentbrannt Mikes Jeansjacke ins Treppenhaus. Und alles andere, was Mike gehörte und ihr gerade in die Hände fiel, flog direkt hinterher. Sein Feuerzeug, ein Turnschuh, die Autozeitung, die im Flur lag, die Sonnenbrille, sein Schlüsselbund. Ein Ding nach dem anderen schmetterte sie auf die Stufen, und wenn sie nicht gewusst hätte, dass sie die Scherben sowieso selbst würde wegmachen müssen, dann hätte sie seine angebrochene Bierflasche am liebsten auch noch hinterhergeworfen, das wäre ja mal ein richtig tolles Geräusch gewesen. Und sie hätte es ihm gegönnt, wenn das Bier in sein Handy gelaufen wäre, dann hätte diese blöde Laila mit ihren blöden blauen Haaren ihn wenigstens nicht mehr anrufen können, blaue Haare, na, wenn er jetzt auf so was stand, sollte er doch. Aber dann tschüs. Für immer. Die würde schon sehen, was sie davon hatte.

»Raus!« Sie hielt ihm mit einer dramatischen Geste die Tür auf. »Raus. Und zwar jetzt.«

»Ach Mäuschen, das war doch nur …«

»Schluss mit Mäuschen.« Jacqueline blieb knallhart und nickte noch mal Richtung Treppenhaus. »Da lang.«

Mike schaute sie ungläubig an, aber heute schien sie sich wirklich nicht zu beruhigen. Also bewegte er sich zögernd Richtung Wohnungstür, nickte den Kindern, die erschrocken in der Kinderzimmertür standen, noch einmal zwinkernd zu und ging dann betont langsam an der vor Wut bebenden Jacqueline vorbei, die es kaum erwarten konnte, die Tür hinter ihm mit einem lauten Krach zuzuschlagen. Ah, das war das Geräusch, das ihr noch gefehlt hatte. So ein richtig schöner Knall. Kaum war der richtig schöne Knall verhallt, klopfte es von nebenan. »Ruhe!«, tönte es durch die dünne Wand. »Beruhig dich selber!«, rief Jacqueline aufgebracht zurück, atmete einmal tief durch, versuchte, das wilde Zittern zu ignorieren, das von ihrem Körper Besitz ergriff, und ein kleines, zuversichtliches Lächeln aufzusetzen. Dann wandte sie sich zu den Kindern, die sie skeptisch musterten. Sie seufzte. Dann eben nicht. Besser bekam sie es heute nicht mehr hin. »Ihr müsst jetzt schlafen, meine Süßen, ja? Wir vergessen einfach den ganzen Ärger und versuchen alle mal zu schlafen.«

Aufgereiht wie die Orgelpfeifen schauten ihre drei Kinder sie abwartend an. »Warum hast du Mike weggeschickt?«, fragte Nicki sie mit großen Augen. »Und ­warum bist du so böse?« Jacqueline ließ sich neben ihren Kindern auf den Boden sinken, und die zwei kleineren Mädchen krochen sofort zu ihr auf den Schoß und kuschelten sich an sie. Timmi blieb vor ihnen stehen und versuchte, den großen Bruder zu spielen. »Mama ist nicht böse«, erklärte er. »Oder?« Hilfesuchend schaute er seine Mutter an. Jacqueline schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin gar nicht böse. Vor allem nicht auf euch.« Sie drückte der kleinen Mandy einen Kuss aufs Haar und der kleinen Nicki ebenfalls. »Mike hat sich nicht gut benommen. Deshalb will ich ihn nicht mehr sehen.«

»Nie mehr?« Die kleine Mandy schaute Jacqueline entsetzt an. Jacqueline zuckte die Achseln. Timmi zuckte ebenfalls die Achseln. »Schaffst du eh nicht.«

Jacqueline sah ihren Ältesten einen Moment verwundert an, dann sah sie zu Boden. Timmi wusste, dass sie Mike immer wieder reingelassen hatte, egal wie oft sie ihn schon vor die Tür gesetzt hatte. Aber jetzt war Schluss, sie konnte nicht mehr. Was zu viel war, war zu viel. »Ihr geht ins Bett, alles andere besprechen wir morgen. Ich muss hier noch aufräumen. Ab marsch.«

Keines der Kinder widersprach, sie trollten sich ins Kinderzimmer, und Jacqueline beugte sich liebevoll zu jedem Kind für einen Gutenachtkuss, ging hinaus und schloss leise die Tür hinter sich.

Sobald die Tür zu war, fiel sie in sich zusammen. Verdammt, Mike, dachte sie. Verdammt. Sie wusste genau, dass sie anfällig war für Typen wie ihn. Wenn so ein großer Kerl sie ansah, dann fühlte sie sich gut. So sicher irgendwie. Sie wusste, dass sie sich da immer wieder reinsteigerte, aber sie konnte nicht anders. Es wäre so schön, wenn sie sich mal sicher fühlen könnte. Aufgehoben. Es war ein Gefühl, das sie eigentlich überhaupt nicht kannte. Aber sie träumte davon, mein Gott, wie sie davon träumte, mal keine Sorgen zu haben. Mal nicht alles alleine wuppen zu müssen. Mal jemanden zu haben, auf den Verlass ist. Sie lachte bitter. Da hat die blöde Jacki mal gedacht, sie hätte einen guten Mann gefunden, auf den Verlass ist. Endlich! Nein. Ihr Leben würde sich nie ändern. Niemals. Schmink’s dir ab, Jacki, dachte sie. Sie war müde und leer. Jemand wie sie würde nie einen Guten finden, sie bekam immer nur die halbgaren Typen. Die ihr süßes Zeugs ins Ohr flüsterten, solange sie verknallt waren. Die einem was von Liebe erzählten. Und verdammt, sie hatte ihm geglaubt. Heiße Tränen der Wut schossen ihr in die Augen, und sie wusste nicht, auf wen sie wütender war. Auf Mike, der nichts Besseres zu tun gehabt hatte, als mit dieser Laila rumzumachen, während sie vormittags im Discounter an der Kasse gesessen hatte? Oder auf sich selbst? Dass sie so naiv war. Ausgerechnet Laila, mit der sie in der Kneipe manchmal die Schicht tauschte. Laila blieb gern länger, damit Jacki nachts früher nach Hause gehen konnte zu den Kindern und nicht noch den Laden dichtmachen musste nach dem letzten Gast. Jetzt wusste sie ja, warum sie ihr das immer so scheißfreundlich angeboten hatte. Wenn Jacki bei den Kindern war, konnte sie nicht zugucken, wie Laila Mike anmachte. Falsche Schlange. Und sie hatte ihr als Dankeschön letztens sogar noch die Nägel gemacht. Blau. Wie ihre Haare.

Sie kickte einen von Mikes Pullis, der heruntergefallen war, aus dem Weg. Jetzt würde sie nicht mehr aufräumen. Dazu war morgen auch noch Zeit. Sie war zu müde. Streiten machte so furchtbar müde. Ihr ganzer Körper fühlte sich an wie ein Pudding, der gerade aus seiner Form gestürzt war und nun wackelig vor sich hin zitterte und vielleicht doch kurz davor war, auseinanderzufallen. Aber alles, was Mike berührt hatte, musste raus, raus und weg, auf Nimmerwiedersehen. Sie warf alles, was im Bad von ihm herumstand, in eine Mülltüte, stopfte sein Handtuch dazu, und das Bettzeug würde auch gleich in dem Müllsack landen. Raus mit Mike, raus, weg, Abgang, für immer. Sie bückte sich, um mit einer schnellen Bewegung die Bettwäsche abzuziehen, und erstarrte. Ein gellender Schmerz schoss in ihren unteren Rücken. Ihr wurde fast schwarz vor Augen. So einen Schmerz hatte sie noch nie erlebt, verdammt, was war das denn jetzt? Vorsichtig versuchte sie, sich mit der Hand auf dem Bett abzustützen. Es ging weder vor noch zurück. Keinen Zentimeter. Ihr reichte es so was von. War das immer noch nicht genug für heute? Was für ein absoluter Scheißtag. Verzweifelt versuchte sie, sich irgendwie abzustützen, doch jede kleinste Gewichtsverlagerung tat höllisch weh. Und was nun? Panik ergriff sie. Musste sie jetzt die Nacht vornübergebeugt im Stehen verbringen, oder was? Dabei wollte sie nur noch ins Kissen fallen, um sich in den Schlaf zu heulen. Hoffen, dass morgen alles wieder gut war. Der Rest ein böser Traum. Noch nicht mal Mike konnte sie nun um Hilfe bitten. Der stand in der Kneipe bei der blauhaarigen Laila und suchte ein Bett für die Nacht. Passte ja alles super. Und sie hier ganz allein und konnte sich nicht rühren. Vorsichtig drehte sie den Kopf, ob sie ihr Handy irgendwo entdeckte. Das steckte wahrscheinlich noch in ihrer Jacke im Flur. Weit weg. Da kam sie niemals dran. Ob ihre Nachbarn sie hören könnten? Die Wände waren ja dünn genug.

»Hilfe«, rief sie einmal testweise. »Hilfe!!« Sie warf ihre Uhr an die Wand und wartete. Stille. Idioten. Wenn sie eine Tür zuschlug, war das Geschrei groß. Aber wenn sie mal Hilfe brauchte, waren die natürlich taub. Verdammt. Vielleicht ging das ja auch ganz schnell vorbei? Bestimmt hörte das gleich wieder auf. Manchmal verrenkte man sich doch plötzlich, und dann renkte sich alles wieder ein. Zack. Aber hier gab es kein Zack. Überhaupt gar keins. Im Gegenteil, der Schmerz zog immer weiter, bis ins Bein sogar. Irgendwann wusste sie gar nicht mehr genau, wo der Schmerz eigentlich anfing und wo er aufhörte.

Als sie viel später einen Schlüssel hörte, der sich vorsichtig im Schloss drehte, und Mike dann plötzlich erschrocken vor ihr stand, dieser Typ hatte doch echt den Schlüssel mitgenommen, so ein Idiot, da war sie so froh, ihn zu sehen, dass sie ihn vielleicht sogar angelächelt hätte, wenn es ihr irgendwie möglich gewesen wäre zu lächeln.

3»Das ist nicht Ihr Ernst!?« Konstanze schaute die Dame, die ihr gegenüberstand, fassungslos an. Frau Unterkofer, Empfang, stand auf einem Schildchen, das an einer pinken Bluse steckte. Sehr unvorteilhafte Farbe, dachte Konstanze, während sie beobachtete, wie sich auf Frau Unterkofers Hals hektische rote Flecken ausbreiteten. Sie wuchsen aus ihrem Kragen heraus und wucherten allmählich Richtung Kinn und Ohrläppchen. Konstanze verspürte nicht ein Quäntchen Mitleid. Im Gegenteil, am Empfang sollte man schon aushalten können, dass eine Kundin verlangte, was ihr zustand. Das und nichts anderes war hier der Fall.

»Mir wurde ein Einzelzimmer zugesichert, sonst wäre ich überhaupt nicht hier. Ich bin Privatpatientin.« Konstanze machte eine kleine dramaturgische Pause, doch Frau Unterkofer reagierte überhaupt nicht darauf. Sie blickte starr in den Computer, während die Flecken auf ihrem Hals sich zu einem immer tieferen Dunkelrot verfärbten.

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