Zigeuner - Rolf Bauerdick - E-Book

Zigeuner E-Book

Rolf Bauerdick

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Beschreibung

Erhellend und eindrucksvoll: Einblicke in eine fremde Welt

Vorbehalte und Berührungsängste, die nicht zuletzt ein Erbe des Nationalsozialismus sind, verstellen in Deutschland den Blick auf das Thema Zigeuner. Rolf Bauerdick taucht ein in die Kultur der größten europäischen Minderheit. Auf über einhundert Reisen in elf Länder begegnete er Menschen, die sich mit selbstverständlicher Unbefangenheit als »Zigeuner« bezeichnen. Mit erzählerischer Kraft und kritischem Wohlwollen schöpft Bauerdick aus der Fülle seiner Erfahrungen und schildert den Alltag der Zigeuner, ohne ihre massive Diskriminierung zu beschönigen und sie von ihrer Eigenverantwortlichkeit zu entbinden. Er geht den Ursachen einer dramatischen Verelendung und der Zunahme ethnischer Konflikte auf den Grund, frei von dem Vorurteil, dass die einen immer Opfer, die anderen immer die Täter sind.

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Seitenzahl: 462

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Rolf Bauerdick

ZIGEUNER

Begegnungen mit einem ungeliebten Volk

Deutsche Verlags-Anstalt

Sämtliche Fotos auf den Bildseiten in diesem Buch stammen von Rolf Bauerdick.

1. Auflage

Copyright © 2013 Rolf Bauerdick

Copyright © 2013 Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Typografie und Satz: DVA/Brigitte Müller

Gesetzt aus der Jenson

ISBN 978-3-641-07950-5www.dva.de

»Die Menschen suchen das Glück wie unser Blut das Herz. Wenn kein Blut mehr zum Herzen fließt, trocknet der Mensch aus, sagt mein Vater. Das Ausland ist das Herz. Und wir das Blut.«

Aglaja Veteranyi, Warum das Kind in der Polenta kocht

Inhalt

VORWORT

»Ihr glaubt jeden Blödsinn, den man euch erzählt«

KAPITEL 1

Der Preis der Freiheit

KAPITEL 2

Träume und Traumata

KAPITEL 3

Orakel und fauler Zauber

KAPITEL 4

Aus der Zeit gefallen

KAPITEL 5

Im Sumpf des Hasses

KAPITEL 6

Unversöhnte Fronten

KAPITEL 7

Das Versagen der Politik

KAPITEL 8

Plädoyer für einen ehrenwerten Begriff

KAPITEL 9

Der Aufstand des Anstands

KAPITEL 10

Europa ohne Grenzen

KAPITEL 11

Antiziganismus überall

KAPITEL 12

Von Blaj nach Lourdes

KAPITEL 13

Glaube und Schicksal

KAPITEL 14

Das verlorene Paradies

Ausgewählte Literatur

BILDTEIL

VORWORT

»Ihr glaubt jeden Blödsinn, den man euch erzählt«

Vor einigen Jahren fuhr ich mit den Ethnologen Elena Maruschiakova und Vesselin Popov in den Osten Bulgariens. Das Ehepaar zählt zu den angesehensten Zigeunerforschern Europas und hatte erfahren, dass in einer entlegenen Hügellandschaft mit dem sinnigen Namen Lügenfeld eine Roma-Sippe campierte. Es waren Halbnomaden, Familien, die im Winter in der Industriestadt Harmanli wohnten und im Sommer mit Pferden, Eseln und Zelten über Land zogen, um seltene Harthölzer zu schneiden. Die Äste exportierte ein Aufkäufer nach Arabien, wo aus dem Holz edle Messerschäfte gefertigt wurden. Als die Männer abends mit vollgepackten Lasttieren hungrig in das Lager zurückkehrten, rührten die Frauen bereits in den Pötten über dem offenen Feuer. Beiläufig fragte ich den Sippenchef, was es zu essen gebe.

»Was wir finden«, antwortete Stojan Stajkov, ein überaus freundlicher Mensch. »Kaninchen sind gut, aber am besten schmecken Schlangen. Wir fangen sie zwischen den Sträuchern, ziehen ihnen die Haut ab und rösten sie über dem Holzfeuer.«

Ich notierte: »Holzschneider grillen Schlangen.«

»Was hat euer Reporter aufgeschrieben?«, fragte Stojan meine grinsenden Freunde.

»Dass ihr Schlangen esst.«

Die Männer bogen sich vor Lachen, die Frauen fassten sich entsetzt an den Kopf, Kinder kreischten. Ich schaute reichlich dümmlich drein, als Elena erklärte: »Kein Roma käme im Traum darauf, eine Schlange zu essen. Schlangen sind ein Tabu.«

»Ihr Schreiberlinge seid nette Leute«, klopfte mir Stojan auf die Schulter. »Ihr glaubt jeden Blödsinn, den man euch erzählt.«

Ich fürchte, der gute Stojan hat recht.

Die Zigeuner bezeichnen alle Nichtzigeuner als Gadsche, ein Begriff, der auch Dummkopf, Bauer oder Feind bedeuten kann. Trotzdem habe ich es als Gadscho stets als Glück empfunden, Menschen wie Stojan Stajkov zu begegnen. Und es gibt unter den Roma viele Stojans. Humorvolle, gastfreundliche, schlitzohrige, rundum liebenswerte Menschen. Der serbische Regisseur Emir Kusturica hat ihnen in seinen lebensprallen Filmen ein Denkmal gesetzt. Das Kinobild des freiheitswilden Zigeuners ist natürlich ein Klischee. Aber eines, das bisweilen die Wahrheit streift. Lange Jahre verkörperten die Zigeuner für mich das Fremde schlechthin, das anarchische, ungezähmt Andere, den Ort einer diffusen, gewiss auch romantisierenden Sehnsucht. Noch immer beruhigt mich die Gewissheit, dass eine Tagesreise entfernt, in slowakischen, ungarischen oder rumänischen Dörfern jene Stojan Stajkovs leben, denen der Habitus frostiger Distanziertheit und biederer Korrektheit fremd ist.

1990 fuhr ich erstmals nach Rumänien, um den Exodus der Siebenbürger Sachsen zu dokumentieren. Nach dem Ende der Schreckensherrschaft Ceauşescus konnten die Deutschen dem Reich der Schatten nicht schnell genug entfliehen und verscherbelten ihre Anwesen zu Spottpreisen. In viele Sachsenhöfe zogen Roma ein. Im Frühjahr darauf waren die Häuser ruiniert. Die neuen Bewohner hatten ihre Heime im wahrsten Wortsinn verheizt, zuerst die Klohäuschen, dann Türen, Fußböden und Dachbalken. Und weil bei Häusern ohne Dach auch die Dachrinnen überflüssig sind, wurde das Metall beim Schrotthandel versetzt. Die letzten verbliebenen Sachsen waren darüber keineswegs entsetzt. Sie meinten nur: »So sind sie halt, die Zigeuner.« Der Satz war kein Ausdruck von Rassismus, sondern der Fassungslosigkeit geschuldet, zu welch sonderbarem Verhalten der Mensch fähig ist. Oft habe ich vor jenem Graben gestanden, der einen Gadsche von den Roma trennt. Die Koordinaten unserer Wahrnehmung und Welterklärung schienen mir verschoben, als tickten da Uhren zeitversetzt in asynchronem Takt.

Als Fotograf der Reportage »Die Zukunft der Zigeuner« besuchte ich mit dem Spiegel-Redakteur Hans-Ulrich Stoldt slowakische Roma-Siedlungen am Fuß der Hohen Tatra. In einer Kolonie oberhalb des Dorfes Stráne pod Tatrami sagte der Woiwode Ernest Badzora: »Wir würden auch gern so leben wie die Gadsche, aber wir werden ausgeschlossen. Nicht einmal der Bus fährt noch hoch in unsere Siedlung.« Nein, nein, erklärten die Leute im Dorf, der Busfahrer weigere sich, in die Kolonie zu fahren, seit er bedroht und bestohlen wurde. »Die Weißen wollen uns nicht unten in ihrem Dorf haben«, argwöhnte Badzora. »Deshalb haben sie die Miete für Familienfeiern in dem öffentlichen Gemeindesaal auf 6000 Kronen erhöht. Soviel können wir nicht bezahlen.« Nein, nein, meinte der slowakische Bürgermeister Pitonák. »Die Hälfte des Geldes ist eine Kaution. Die gibt es zurück, wenn alles heil geblieben ist. Denn beim letzten Mal haben die Roma Fenster, Stühle und Tische demoliert und die Glühbirnen gestohlen.«

Wer hin und wieder Rumänien bereist, dem springt links und rechts der Überlandstraßen ins Auge, dass eine beträchtliche Zahl von Roma in den letzten Jahren zu Reichtum und Ansehen gekommen ist. Nur habe ich mich immer gewundert, weshalb viele schmucke Häuser, prächtige Villen, ja selbst protzigste Paläste unfertig ausschauten. Wie Rohbauten. Irgendwann fragte ich den Kupferschmied Victor Calderar, dessen Familie in einem üppigen, aber nackten Ziegelsteinbau am Ortsrand von Brateiu lebt, nach dem Grund. »Ist dein Haus fertig, bist du tot.« Was für ein Ausspruch! Ein Satz zum Mitschreiben! Mir schien er ein Ausdruck von Weisheit und Weitsicht. Bis mir mein rumänischer Begleiter, der Priester Lucian Mosneag, den profanen Hintergrund der ziganen Klugheit erklärte. »Ist dein Haus fertig, verlangt der Staat hohe Steuern.«

So sind sie nun mal. Hunderte Male habe ich diesen Satz gehört, und ebenso viele Male habe ich die Lebensweise der Roma gerechtfertigt: als Ausdruck des jahrhundertealten Erbes von Feindschaft und Ablehnung, Vernichtung und Hass; als Konsequenz von Versklavung und Leibeigenschaft; als Folge der Ohnmacht gegenüber Ausbeutern und Abschiebern und all den kühl kalkulierenden Populisten, die für ihre verkorkste Politik die Miserablen dieser Erde als Sündenböcke missbrauchen. Alles richtig, alles korrekt. Nur alles wenig hilfreich. Denn es gibt auch eine andere Wahrheit. Nach ungezählten Begegnungen in über zwanzig Jahren erinnere ich kaum einen Rom, der für die Wurzel seiner Misere ein Stück Verantwortung bei sich selber gesucht, geschweige denn gefunden hätte.

Unstrittig ist, dass die Roma nach dem Untergang des Sozialismus von den Gesetzen des freien Marktes ins soziale Elend katapultiert wurden. Bulgarische Schmiede und Verzinner haben keine Chance gegen billige Blechtöpfe aus China. Die ersten Arbeiter, die bei der Privatisierung ungarischer Paprika-Kolchosen entlassen wurden, waren die Zigeuner. Verhängnisvoll jedoch ist, dass viele keine Alternative zur staatlichen Alimentierung sehen, in Apathie erstarren und ihren Opferstatus verfestigen. Dabei zieht die Entwurzelung ihrer Familien einen fatalen Kreislauf aus Verelendung und Ghettoisierung, aus Gewalt und Gegengewalt nach sich, ein Prozess, der komplizierter ist, als dass die Mehrheitsgesellschaft immer nur die Täter stellt und die Minderheit immer nur die Opfer.

Verdrängt wird, dass die Zigeuner weit weniger von den Gadsche als von den Angehörigen des eigenen Volkes ausgebeutet werden. Sie selbst leiden am meisten unter Kindesmissbrauch, Frauenhandel und Zuhälterei, unter Kreditwucher, Erpressung und Bandendiebstahl. Die Kriminalität wird zusehends von verantwortungsbewussten Meinungsführern der Roma angeprangert, nicht jedoch von der moralischen Avantgarde der Gadsche. Sie missbraucht die Zigeuner als Objekt einer bloß imaginären Fürsorge, während sie die verschleißende Arbeit in den Armutsquartieren anderen überlässt. Erzieherinnen, Kindergärtnerinnen und Lehrer verzweifeln daran, dass Eltern ihre Kinder als Analphabeten aufwachsen lassen, zwölfjährige Töchter gegen Brautgeld verlobt werden, um mit fünfzehn zu heiraten und mit zwanzig vierfache Mutter zu sein. Westeuropäische Intellektuelle attestieren den Roma jederzeit, als Opfer der Gesellschaft um ein eigenverantwortliches Leben betrogen zu sein. Aber sie schweigen allesamt, wenn bulgarische Zigeuner Hunderte junger Frauen auf den Dortmunder Straßenstrich schicken und skrupellose Verbrecher in Mailand oder Marseille, ja selbst im frommen Lourdes nachts in Hinterhöfen verwahrlosten und apathischen Kindern das Bettelgeld abknöpfen.

Ich erinnere mich an eine Begegnung mit einer Studienrätin, die nach eigenem Bekunden alles »über die Sintis und Romas« gelesen hatte. Entrüstet belehrte sie mich während einer Fotoausstellung im westfälischen Münster, dass Wilma Lakatos, die auf einem meiner Bilder ein Baby stillt, »nie und nimmer« eine Romni sein könne. Denn eine Roma-Mutter würde niemals vor einem Fotografen ihre Brust entblößen. Ich würde diese Lehrerin nicht erwähnen, wäre sie nicht repräsentativ für ein intellektuelles Klima, in dem sich politisch korrekte Meinungen hartnäckig gegen jedes Erfahrungswissen behaupten wollen. Ende der neunziger Jahre suchte ich eine promovierte Soziologin an einer deutschen Universität auf, die sich mit ihren Publikationen über die Zigeuner eine hohe wissenschaftliche Reputation erworben hatte. Ich zeigte ihr einige Fotografien, darunter ein Porträt eines ungarischen Rom mit seinem Pferd. Dass Gáspár György sich als Schrottsammler mehr schlecht als recht durchs Leben schlug, interessierte die Forscherin nicht. Hingegen begeisterte sie sich für das geflochtene Zaumzeug des Kutschtieres. Die Knüpfarbeit nötigte ihr geradezu euphorischen Respekt vor dem handwerklichen Geschick der Zigeuner ab, ja sie glaubte sogar, das kunstfertige Pferdehalfter einem bestimmten Roma-Stamm zuordnen zu können, dessen Namen ich noch nie gehört hatte. Trotzdem befremdete mich die Soziologin weit mehr als jeder Zigeuner, dem ich je begegnet bin. Die Frau hatte sich ihr enormes Wissen komplett angelesen. Als wir uns verabschiedeten, verriet sie mir, noch nie in ihrem Leben eine Zigeunersiedlung betreten zu haben. Ein Hinweis sei an dieser Stelle eingefügt. Sollte die hier verwendete Terminologie zu Irritationen führen, ein Plädoyer für das Wort »Zigeuner« und Einblicke in einen grotesken Streit um die korrekten Begriffe liefert das Kapitel 8.

Der keimfreie Diskurs über die »Sinti und Roma« wird heute weitgehend von Antiziganismusforschern bestimmt, die Jahre in Bibliotheken und am Schreibtisch verbringen, aber keinen einzigen Tag ihres Lebens mit den Zigeunern auf osteuropäischen Müllkippen teilen; die von Kongress zu Kongress reisen, doch albanische, bulgarische oder ukrainische Elendsviertel nicht einmal vom Hörensagen kennen; die ignorieren, dass rumänische Waisenheime von Roma-Kindern überquellen, weil deren Eltern in westeuropäischen Fußgängerzonen betteln; die nie ungarischen Romungros eine Kiste Bier spendieren, nachdem sie beim Armdrücken verloren haben; die nicht mit spanischen Gitanos Tage und Nächte durchfeiern, aber trotzdem meinen, auf akademischen Podien den Sinti und Roma ihre Stimme geben zu müssen, verbunden gewöhnlich mit der Belehrung, wie rassistisch und antiziganistisch die Dominanzgesellschaft ist.

Als der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy 2010 rumänische Roma aus französischen Vorstädten ausweisen und ihre Lager zerstören ließ, nahm der Philosoph André Glucksmann die Abschiebungen zum Anlass, die Ressentiments gegenüber den Zigeunern im »postmodernen Europa« kollektivpsychologisch zu deuten. In dem Essay »Die Angst vor uns selbst« schrieb Glucksmann in der Welt: »Die Aufhebung der Grenzen, die Europäisierung der Nationen, die Globalisierung des Kontinents, das alles schleudert jeden von uns in ein Universum ohne klare Orientierung und ohne feste Normen.« Der Rom, erklärte der französische Denker, »ist uns ein Abbild des Entwurzeltseins, ein beängstigender Teil unseres Schicksals! Die Furcht vor den Roma ist nur die uneingestandene Angst vor uns selbst.« Mag sein.

»Bleib von den Zigeunern weg!« Den Ratschlag gab mir eine verhärmte Rumänin aus Apold, als ich sie im Herbst 1990 nach dem Weg nach Wolkendorf fragte. Ihre Begründung, »die Schwarzen« würden Kirchenbänke verheizen, Glühbirnen stehlen und den Leuten die Kartoffeln vom Acker klauen, entbehrte nicht eines gewissen Erfahrungskerns. Ihre Warnung indes, nie meine Fotoapparate aus den Augen zu lassen, erwies sich als unbegründet. Zumindest in Wolkendorf. Hier konnte ich keine achtsameren Begleiter finden als die Kinder der Gabor-Zigeuner, die mir nicht von der Seite wichen und sich ständig zankten, wer meine Fototasche tragen durfte. Dass die Gabor, nebenbei bemerkt, die wohlmeinende Bezeichnung Roma ablehnten und darauf bestanden, Tzigani genannt zu werden, hielt ich einst mit dem Dünkel politischer Aufgeklärtheit für einen Mangel an ethnischem Selbstbewusstsein. Ich sollte mich irren.

Seit ich den Rat der Rumänin ignorierte, habe ich weit mehr als einhundert Reisen zu Zigeunern in zwölf europäischen Ländern unternommen. Dabei war ich nicht als Ethnologe, Soziologe oder Menschenrechtler unterwegs, sondern als Berichterstatter und Fotograf. Ich war ein Besucher. Ein Gast. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Rückblickend entsinne ich mich keiner Situation, in der man mir die Tür verschlossen hätte. Dennoch: Trotz aller Offenheit, Gewogenheit und Herzlichkeit blieb ich nicht selten der Fremde. Der Gadscho, der nicht verstand. Für einen Völkerkundler ist das ein Problem. Nicht für einen Reporter. Ein Journalist ist in der privilegierten Lage, von seinem Befremden, seinem Nicht-Verstehen und bisweilen auch von seinem Erschrecken zu erzählen.

Als mich der Playboy vor einigen Jahren in einem Interview über meine Erfahrungen unter den Zigeunern befragte, bewies mein Gesprächspartner Rüdiger Winter den Mut zu unbefangenem Umgang mit vermeintlichen Vorurteilen. Er wollte wissen: »Wird man da nicht furchtbar beklaut?« Die Frage soll auch an dieser Stelle nicht unbeantwortet bleiben. Verglichen mit verlustreichen Reisen nach Südamerika nahmen sich die materiellen Ausfälle sehr überschaubar aus: ein Beutel mit benutzter Unterwäsche und schmutzigen Socken, diverse Plastikkugelschreiber und Einwegfeuerzeuge, eine Sonnenbrille, einige Miles-Davis-Musikkassetten sowie ein paar Zehnerpacks mit unbelichteten Diafilmen. Und dann war da noch eine teure Fotokamera, die plötzlich verschwunden war.

Ich hatte den Roma auf dem Gelände eines Zementwerks im rumänischen Turda Fotografien von einem früheren Besuch gezeigt, als ich in der Wohnstube von Carol Costea den Verlust bemerkte. Als ich drohte, ich würde das Haus nie mehr verlassen und selber ein Zigeuner werden, sollte der Apparat nicht zu mir zurückfinden, zog sich der Sippenchef Carol nachdenklich zurück. Nach einer halben Ewigkeit tauchte er wieder auf, die Kamera in seinen Händen, strahlend und mit der wohl wunderbarsten Erklärung, mit der je ein Diebstahl rückgängig gemacht wurde. Der Apparat habe sich, so Carol, aus meiner Fototasche heraus ins Nachbarhaus verirrt. »Weil nicht alle Zigeuner ehrliche Zigeuner sind.« Für mich gab es keinen Grund, dem guten Carol nicht zu glauben, als er mir versicherte: »Manchmal verschwinden wertvolle Dinge auf unerklärliche Weise. Und auf ebenso unerklärliche Weise kehren sie wieder zurück.«

So sind sie halt, die Zigeuner. Einerseits. Andererseits wollten mir Roma einen Steinwurf von Carol Costeas Haus entfernt 1992 zwei Säuglinge verkaufen. Der Preis: 3000 Deutsche Mark. Und als ich zwanzig Jahre später die erste Alternativschule für Tzigani-Kinder unweit von Sibiu, dem siebenbürgischen Hermannstadt, besuchte, trat nachts vor meinem Hotel im historischen Zentrum eine junge Zigeunerin an mich heran und zupfte an meinem Jackett. Sie mag fünfundzwanzig gewesen sein. In gebrochenem Deutsch und mit ziemlicher Hartnäckigkeit bot sie mir zwei kleine Mädchen für sexuelle Dienste an. »Kannst du aussuchen. Eine blond, eine schwarz, beide süß. Ganz lieb.« In diesem Moment hätte der Philosoph André Glucksmann begreifen können, dass es nicht nur eine Furcht vor, sondern auch eine Furcht um die Roma gibt. Um ein zerrissenes Volk, das keine Gadsche braucht, um den Traum von ziganer Freiheit zu zerstören. Wohl aber, um diesen Traum gemeinsam zu verwirklichen.

KAPITEL 1

Der Preis der Freiheit

Frostige Zeiten – Verlorene Schlachten um Lohn und Brot – Die Bleikocher von Heves – Der Tod in der Gaswolke – Wenn das Sozialamt bar auszahlt – Copşa Mică: Rumäniens dunkle Seele – Die »Schwarzen« in der schwarzen Stadt – Stelian Coseriar: ein Überlebender, dem die Luft ausgeht – Das Erbe der Sklaverei und die Last der Geschichte

Meine erste Reise zu den Zigeunern in Ungarn endete 1995 an einem trüben Herbstmorgen am Nordrand von Budapest, in dem Dorf Kerepes im Hinterhof des Schrottsammlers Gáspár György. Dort hatte ich einige Arbeiter fotografiert, die sich eine geschlagene Stunde damit abplagten, einen platten LKW-Reifen von einer rostigen Felge herunterzureißen. Ohne jedes Werkzeug, mit bloßen Händen. Ständig fluchten die Männer, weil sie sich die Finger quetschten, dann plötzlich fluchte ich. Gerade noch hatte ich Gáspár mit seinem Kutschpferd porträtiert, als ein frecher Kläffer an einer Kette aus einem Bretterverschlag hervorschoss, mich in die Wade biss und wie ein Blitz wieder in seiner Hütte verschwand. Gáspár und seine Kumpel versicherten, der Köter sei normalerweise vollkommen friedlich. Er tauge daher auch nicht zum Wachhund, weil er bei Fremden immer den Schwanz einziehe, allerdings neige er seit einigen Tagen zu sonderbarem Verhalten, für das es keine Erklärung gebe. Jedenfalls meinten die Cigány, wie sie sich nannten, der Hund sei wahrscheinlich verrückt. Sie rieten mir, meine Reise zu unterbrechen und mich vorsichtshalber in Deutschland impfen zu lassen. Und weil ich nicht enden wollte wie die junge María Sierva, die in Gabriel GarcÍa Márquez’ Von der Liebe und anderen Dämonen nach dem Biss eines tollwütigen Hundes wegen einer vermeintlichen Besessenheit zu Tode exorziert wird, ließ ich mir Zuhause vorbeugend ein paar Spritzen mit einem Antiserum geben.

Mit dem ersten Schneefall im Dezember kehrte ich nach Ungarn zurück, um Menschen zu treffen, von denen meine Begleiterin, die Journalistenkollegin und Dolmetscherin Viktória Mohácsi wusste, dass der freie Markt sie vom Prozess des Wirtschaftens ausschloss. Wir fuhren in Orte, deren Namen ich nie zuvor gehört hatte. Es hätten aber auch Hunderte anderer Ortschaften sein können, deren Namen zu behalten Mühe kostet, wenn man kein gebürtiger Ungar ist.

Bitterkalt war es geworden, und ein beißender Schneesturm fegte über die öden Ebenen der Puszta. Irgendwo zwischen Törökszentmiklos und Püspökladány verließen wir die Europastraße 60 und erreichten Tiszabö, ein Dorf, das von Gott verlassen und von Menschen geleert schien. Bis auf einen buckligen Greis, der mit einem Bündel Reisig einsam gegen den schneidenden Wind ankämpfte. Unendlich langsam quälte er sich vorwärts, hielt kurz inne, hob die Hand zum Gruß und zeigte mir, dass meine Vorstellungen von Lebenszeit und Effizienz hier am Ufer der Theiß keinen Wert besaßen.

Dreitausendfünfhundert Romungro-Zigeuner lebten in Tiszabö. Jahre nach dem Sieg der Freiheit dösten die Männer in der Dorfschenke auf kaputten Plastikstühlen vor sich hin. Sie wussten, dass sie die Schlacht um die Arbeitsplätze verloren hatten. Nur einer von zehn Männern aus Tiszabö stand in Lohn und Brot. Die anderen konnten sich nicht einmal betrinken, weil sie sich Bier und Schnaps nicht leisten konnten.

»Ich weine dem Kommunismus keine Träne nach. Aber das Leben war damals leichter«, erklärte József Mága, ein zupackender Sechzigjähriger mit kräftigem Händedruck. »Früher haben wir alle gearbeitet. Ich habe Straßen gebaut, Schienenstränge verlegt und auf den Feldern geschuftet. Was nützen uns Demokratie und Freiheit, wenn niemand uns Arbeit gibt. Man schickt uns in einen Krieg. Wir sollen kämpfen. Ohne Gewehre und Patronen.«

Ähnliches hatten auch ehemalige Kolchosearbeiter aus dem Städtchen Kalocsa behauptet. Die Gegend südöstlich des Plattensees ist berühmt für den Anbau von Paprika. Im Sozialismus waren drei von vier Roma in der Landwirtschaft beschäftigt, ungelernte Handarbeiter, die ihren Familien ein geregeltes Auskommen garantierten. »Mit den Forint, die wir verdienten, kamen wir über die Runden«, sagte Gabor Sztojka. Dann lösten die Gesetze des freien Marktes die planwirtschaftlich organisierte und subventionierte Agrarindustrie ab. Wie überall in Ungarn. Als das staatliche Paprika-Kombinat in Kalocsa mit seinen einst 2500 Arbeitern privatisiert und mit modernen Landmaschinen aufgerüstet wurde, saßen als erstes die Zigeuner auf der Straße. »Als Cigány musst du doppelt so hart arbeiten wie ein Weißer, um deinen Job zu behalten«, klagte Gabor. »Und beim geringsten Anlass fliegst du raus. Und dann stehst du vor der Tür des Arbeitsamtes. Einmal, zweimal. Vielleicht auch zehnmal. Irgendwann gehst du nicht mehr hin.«

»Mein halbes Leben lang war ich Klempner«, meinte auch der Nachbar János Korsós. »Heute bin ich dreiundfünfzig. Da stellt dich niemand mehr ein, schon gar nicht mit einem X in der Personalakte.«

Mit einem »X«?

»Daran«, so raunte mir János zu, »erkennt ein Firmenchef sofort, dass du ein Zigeuner bist.«

Mit kleinen, unscheinbaren Hinweisen in den Personalpapieren, erklärte Viktória Mohácsi, würden die Firmen bei Neueinstellungen viel Zeit sparen. »Weil sie dich als Zigeuner gar nicht erst zu einem Vorstellungsgespräch einladen.«

Obschon Viktória mit zwanzig Jahren recht jung war, moderierte sie Mitte der neunziger Jahre das Cigány-Magazin im ungarischen Fernsehen. Durch ihre engagierten und entschieden parteilichen Reportagen war sie über Budapest hinaus bekannt und unter den 700 000 ungarischen Zigeunern sehr geachtet. Vitza, wie sie gerufen wurde, war eine der ihren, eine Romni vom Stamm der standesbewussten Olah-Zigeuner, kämpferisch und leidenschaftlich, aber auch kompromisslos und konfrontativ, Eigenarten, die sie später als Abgeordnete im Europaparlament in Brüssel weiter ausprägen sollte. Von dem mächtigen Wirbel, für den sie als Politikerin in Ungarn sorgte, wird noch zu berichten sein. Die Roma vertrauten Viktória. Dies umso mehr, als sie mit Journalisten zusehends schlechte Erfahrungen machten. Aus der Kleinstadt Heves hatten Reporter so verächtlich über die »verantwortungslosen Dummheiten« der Zigeuner berichtet, dass die Presseleute zuletzt mit Steinen beworfen und vertrieben wurden. Als jedoch Vitza auftauchte, öffneten sich die Türen. Auch für mich, den Fremden, den Gadscho.

Die Ungarn nannten das Roma-Viertel an der Peripherie von Heves abschätzig Krakow, vielleicht weil sie die Zigeuner so wenig mochten wie die Polen. Ich hatte in Krakow eine Begegnung mit zornigen und wütenden Bewohnern erwartet, doch in Ferenc Konkolys schmuckloser Bierkneipe, in der eine Wandtapete mit herbstlichem Birkenwald so etwas wie Heimeligkeit verbreiten sollte, traf ich ausnahmslos wohlwollende Menschen. Ihre Freundlichkeit war ebenso groß wie ihre Sehnsucht nach einem gelungenen Leben. Sie erzählten ihre Version einer unheilvollen Geschichte, erwachsen aus Verzweiflung, naiver Ahnungslosigkeit und der Gleichgültigkeit der Behörden.

Weil die sozialistischen Staatsbetriebe längst bankrott waren und kein privater Arbeitgeber den Cigány aus Krakow einen Job gab, hatten sie sich Arbeit auf eigene Faust beschafft. Mit Pferdekarren und Lastwagen waren sie über Land getingelt, um auf Schrottplätzen und Autofriedhöfen ausrangierte Batterien zu sammeln. In primitiven, selbstfabrizierten Schmelzöfen verbrannten sie die Kunststoffe und glühten das Blei aus den Akkus. Keine der achtzig Bleikocherfamilien kam auf den Gedanken, sich vor den hochtoxischen Dämpfen zu schützen.

»Im Garten meines Nachbarn stapelten sich über tausend Autobatterien«, erzählt Gyuala Oláh. »Frag mich nicht, wie oft ich vor dem gefährlichen Zeug gewarnt habe. Immer und immer wieder.« Doch niemand hörte dem diplomierten Mechaniker zu. Bis die Kinder ihr Essen erbrachen und den Erwachsenen die Zähne ausfielen. Die knapp tausend Bewohner Krakows wurden zu einer Blutuntersuchung beordert. Fast zweihundert Kinder mussten in stationäre Behandlung und erhielten über Monate hinweg blutreinigende Infusionen. Auf Geheiß der ungarischen Regierung rückten Bulldozer an und trugen Tausende von Kubikmetern Erdreich ab. Der Boden von Krakow war völlig verseucht.

Mit seinen fünfunddreißig Jahren war Gyuala Oláh ein gebildeter, weltläufiger Mann. Lange hatte er in der Sowjetunion als Flugzeugmechaniker gearbeitet und legte, als würde ich ihm nicht glauben, eine Mappe mit Diplomen vor. In russischer Sprache. Nur nützten ihm die Zertifikate nichts mehr, denn nach Glasnost und Perestroika hatten die Russen keine Verwendung mehr für ihn, und auch in Ungarn waren sein Wissen und seine Arbeitskraft nicht gefragt. Auf viele qualifizierte Stellenangebote hatte er sich beworben, einige Male wurde er auch zu Vorstellungsterminen geladen. Doch Gyuala Oláh hat eine dunkle Haut. »Wenn ich durch die Tür eines Personalbüros komme, sehen die gleich, dass ich Zigeuner bin. Dann lächeln die Chefs und bedauern höflich, die Stelle sei leider schon vergeben.«

Dreißig Forint, nach heutigem Wert knappe zwanzig Cent, drückten die Schrotthändler den Bleikochern aus Heves für das Kilo des giftigen Schwermetalls in die Hand. Zu wenig zum Leben und genug zum Sterben – für die zweijährige Samanta Kállai. »Dauernd hatte die Kleine Schnupfen. Wir dachten, Samanta sei erkältet, aber dann aß sie nichts mehr und fiel ins Fieber«, erzählte ihr Großvater Menyhért. »Im Hospital konnten ihr die Ärzte nicht mehr helfen.«

Uralt schaute Menyhért Lólé aus, ausgezehrt und verbraucht, mit zerfurchtem Gesicht und dem welken Körper eines Greises, dabei zählte er gerade einmal neununddreißig Jahre. Nach dem Tod seiner Enkelin wusste er sich mit seinem Sohn Sándor nicht anders zu helfen, als zu einem schweren Hammer zu greifen. Damit kloppten sie kurzerhand die Hälfte ihres Hauses weg. »Wir haben die Ziegel verkauft«, erklärte uns Samantas Vater Sándor. »Mit dem Geld haben wir den Sarg und die Beerdigung bezahlt.«

Von Heves aus fuhr ich über die E 71 weiter Richtung Nordosten und passierte bei Tornyosnémeti die Grenze zwischen Ungarn und der Slowakei. Ich folgte einem Gerücht. Ganz in der Nähe sollten zwei Roma bei einem Industrieunglück ums Leben gekommen sein. Tatsächlich fiel in Velka Ida, einem Dorf unweit der slowakischen Stadt Kosice, auf einem unscheinbaren Friedhof eine prächtige Grabstätte auf. In ihr waren die Zwillinge Peter und Pavol Jano zur letzten Ruhe gebettet. Der üppige Blumenschmuck aus billigen Plastikrosen stammte von slowakischen Romungro-Zigeunern, den teuren Granitstein und die Grabplatte mit den eingravierten Namen hatte die Gemeinde von Velka Ida gestiftet, als wolle man den Brüdern im Tod jene Ehre erweisen, die ihnen zu Lebzeiten versagt geblieben war.

Die Behausungen der Roma-Siedlung von Velka Ida waren von erschreckender Armseligkeit. Die winzigen Hütten, zusammengeschustert aus bröselnden Lehmziegeln, rostigen Wellblechen und Presspappe lagen direkt neben den ausgedehnten Industrieanlagen der VSZ, der Ostslowakischen Eisenhütte. Das Stahlwerk hatte sich aus sozialistischer Vergangenheit in die kapitalistische Gegenwart hinübergerettet, mit reichlichen Blessuren, so dass es Mitte der neunziger Jahre zu einem schweren Unfall kam. Eine Rohrleitung mit hochgiftigem Gichtgas zerbarst und setzte große Mengen Kohlenmonoxid frei, das neun Hüttenarbeiter das Leben kostete. Zudem erstickten zwei Männer aus dem angrenzenden Roma-Slum. Ein Rätsel blieb, wie die beide arbeitslosen Peter und Pavol mit dem Gas in Berührung kamen.

»Die sind nachts in die Fabrik eingebrochen, um zu stehlen«, mutmaßten die slowakischen Nachbarn. »Werkzeuge, Kabel, Metall, irgendetwas Brauchbares.«

»Nein«, widersprach der Woiwode Ondres Jano: »Die beiden wollten sich bei den Arbeitern in der Werkskantine etwas zu trinken besorgen. Wenn ihnen der Schnaps ausging und der Laden im Dorf bereits geschlossen hatte, sind sie nachts immer durch ein Loch in dem Zaun in die Fabrik geklettert.«

Wie auch immer, ihre letzte Tour führte die beiden 34-jährigen durch die Gaswolke. Morgens lagen Peter und Pavol tot auf einem Acker. Beide hinterließen hochschwangere Frauen und viele Kinder. »Sehr viele Kinder«, sagte Ondres Jano.

An einem verschneiten Nachmittag kurz vor Weihnachten fuhr ein Lastwagen der Gemeinde mit einer Ladung Sperrmüll in der Siedlung vor. Irgendwo war ein baufälliges Verwaltungsgebäude abgerissen worden, und man hatte beschlossen, Holztüren und Regale, Tischplatten und Büroschränke den Roma von Velka Ida zu überlassen, als Baumaterial für ihre Hütten oder als Ofenholz zum Heizen. Eine Weile stritten sich die Bewohner um die brauchbarsten Stücke, schleppten Türen und Schrankwände ohne erkennbares Ziel von A nach B und wieder retour, bis ihr Interesse an dem gebrauchten Mobiliar erlosch und das Sperrgut über die ganze Siedlung verstreut im Schnee umherlag.

Im Frühling kehrte ich nach Velka Ida zurück. Ich hatte Fotos von der ersten Reise mitgebracht, hochwertige Schwarzweißabzüge, handgefertigt in der Dunkelkammer. Kaum hatte ich die Bilder ausgepackt, wurden sie mir aus den Händen gerissen und zerfetzt. Die Stimmung war miserabel. Sturztrunken torkelten die Männer umher, die Kinder schrien, die Frauen kreischten, alle gifteten einander an, während ein schmieriger Typ wie Pech an mir klebte, hartnäckig bemüht, mir Ficki-facki-Videos anzudrehen. Vielleicht hätte ich besser an einem anderen Tag nach Velka Ida fahren sollen, nicht an einem Montag, statistisch gesehen der ungünstigste Tag für den Besuch eines Gadscho. »Jeden zweiten Montag wird die Sozialhilfe ausgezahlt«, erklärte mir der Woiwode Jano mit aufrichtigem Bedauern. »Dann kaufen die Leute Branntwein, trinken sich besinnungslos und wissen nicht, was sie tun. Komm in ein paar Tagen wieder, wenn alle wieder nüchtern sind.«

Der Absturz in die Bewusstlosigkeit war tragisch. Die verzweifelte Strategie, vor einem entwürdigten Leben in den Vollrausch zu fliehen, ließ die Menschen nur noch tiefer in die Entwürdigung taumeln. Dass die Flucht ins Delirium staatlicherseits nicht nur geduldet, sondern sogar gefördert wurde, war nirgends in Europa so offenkundig wie in Rumänien. Ausgezehrt und ausgelaugt, versumpft in Lethargie lag das Land nach dem Ende der bizarren Ceauşescu-Diktatur danieder. Anders als bei den samtenen Revolutionen in der Deutschen Demokratischen Republik, in Ungarn oder der Tschechoslowakei stand bei der Geburt des neuen Rumänien der Tod an der Wiege. Die Freiheit brach herein, roh, gewalttätig, mit entfesselter Wut. Neunzig Patronen feuerten Milizionäre Weihnachten 1989 aus ihren Kalaschnikows auf das Ehepaar Ceauşescu ab, als könne man im Moment der epochalen Abrechnung die bösen Geister der Vergangenheit gleich miterledigen. Der Hinrichtungsszene haftete etwas Surreales an. Zwei alte Menschen lagen in ihrem Blut, staatsmännisch bekleidet und doch beschämend nackt. Nichts war übriggeblieben vom »Titan der Titanen, der selbst der Sonne trotzte«. Der Conducator, der einst mit Phantasieschärpen auf der weltpolitischen Bühne umhergockelte, von Hofschranzen beklatscht, war zurückmutiert zu dem, was er in seinem Kern war, ein vom Machtinstinkt besessener Schustergeselle. Doch er hatte Spuren hinterlassen, eine erschreckende Entwurzelung und Verrohung und die Gewissheit, dass Rumäniens tiefe Wunden noch lange schmerzen würden.

Meine pure Ahnungslosigkeit über den Zustand des Landes wurde mir bewusst, als ich in einer abgrundtief tristen Bergbaustadt namens Dr. Petru Groza, benannt nach einem moskautreuen Politiker und heute zurückbenannt in Ştei, einen leeren Lebensmittelladen betrat. Egal, wonach ich fragte, immer hieß es: »Nu avem.« Haben wir nicht! Weil ich durstig war, kaufte ich schließlich zwei unetikettierte Glasflaschen mit Mineralwasser, die zusammen nach heutigem Wert etwa vierzig Euro-Cent kosteten. Was für rumänische Verhältnisse damals relativ teuer war. Beim Öffnen realisierte ich, dass ich zwei Liter grauenvollen Industrie-Vodka erworben hatte.

Natürlich trieb mich die journalistische Neugier auch nach Siebenbürgen in »die schwarze Stadt«. Nach Copşa Mică. Der Name kursierte als Synonym für den Irrsinn ungehemmten staatsmonopolistischen Misswirtschaftens. Nirgends sonst in Europa hatte der Mensch die Natur und sich selbst brutaler vergewaltigt als hier. In Copşa Mică offenbarte die Terra incognita Rumänien die schwärzeste Seite ihrer Seele. Eine so verdreckte, eine so trostlose Stadt im Schatten eines monströsen, Menschen verschlingenden Fabrikungeheuers hatte die Welt bis dato nicht gesehen.

Copşa Mică, auf Deutsch Klein-Kopisch, liegt links des Flusses Târnava, rechts liegt der alte Sachsenweiler Klein-Probstdorf. Als ich 1990 erstmals die halsbrecherische Brücke überquerte, die beide Orte miteinander verband, zählte man in Siebenbürgen knapp 120 000 Deutsche. Heute sind es noch 13 000. Die Gründe, die in den frühen neunziger Jahren zu dem Massenexodus führten, leuchteten nirgends unmittelbarer ein als in der Region um Probstdorf. Zu Hunderten waren die Sachsen in die Bundesrepublik geflüchtet. Hals über Kopf hatten sie eine unwirtlich gewordene und perspektivlos erscheinende Heimat hinter sich gelassen, von der Hans Schörrwerth sagte, hier gehe jeden Tag die Welt unter. Schörrwerth war einer der letzten verbliebenen Sachsen. In seinem Kummer über den Niedergang seines Geburtsortes leisteten ihm nur ein paar Alte, Kranke und Verlorene noch traurige Gesellschaft. Und die Schwarzen, die Negru, wie die Rumänen die Zigeuner nannten. 1940 war Probstdorf noch ein reiner Sachsenweiler, nun stellten die Roma neunzig Prozent der Einwohner.

Galt den internationalen Medien Copşa Mică schon als ein Vorhof zur Hölle, so lebten die Zigeuner dort inmitten eines apokalyptischen Alptraums. Sie hausten in einem Elend, das sogar meinen kommentarfreudigen rumänischen Dolmetscher Victor Sineac in die Fassungslosigkeit trieb. Niemals sonst auf unseren gemeinsamen Reisen kam ihm das Wort »unbelievable« so häufig über die Lippen wie in der »fucked-up black city«. Tiefer als in Copşa Mică konnte man nicht fallen, so glaubte ich. Was sich später als Irrtum erwies.

Alles in Copşa Mică war schwarz. Das Wasser der Târnava, die Fassaden und Dächer der einst so schmucken Sachsenhäuser, die Wiesen und Felder, die Blätter an den Bäumen, das Gemüse in den Gärten, die Kühe und Schafe, die Hühner und Hunde, die Wäsche an den Leinen und die Kleider auf den Leibern. Schwarz waren auch die Menschen. Staub und Qualm verklebten die Poren ihrer Haut, krochen in die Lungen und raubten ihnen den Atem. Das amerikanische Magazin National Geographic druckte damals ein Satellitenfoto der Umgebung von Copşa Mică, um zu beweisen, dass sich das unsägliche Schwarz nicht einmal von der erhabenen Warte des Weltalls verflüchtigte. Tonnen von Ruß lasteten auf dem Land, herausgerotzt von den rauchenden Schloten einer berüchtigten Fabrik, die Lampenschwarz produzierte, das zum Färben von Autoreifen benutzt wurde. »Bis Mitte der achtziger Jahre lief das Werk einigermaßen«, erzählte Hans Schörrwerth. »Dann ging dem Ceauşescu das Geld aus. Die Filter der Anlage wurden nie mehr gereinigt.« Weit gefährlicher noch als der allgegenwärtige Ruß waren die toxischen Ausdünstungen einer gigantischen Buntmetallfabrik. Neununddreißig lange Jahre hatte Schörrwerth hier geschafft. Mit dreizehn belud er Eisenbahnwaggons mit Schlacke, diente sich hoch zum Schmelzer, um schließlich als Kontrolleur für die Wartung von Elektromotoren und Pumpen verantwortlich zu sein.

»Für die schlimmsten Arbeiten wurden ungelernte Rumänen und Straffällige herangezogen. Vor allem aber Zigeuner.« Sie mussten mit Schaufeln in die Brandkessel klettern und den Dreck aus den Ecken kratzen, wobei ein Gemisch aus Blei und Zink, Arsen und Schwefelsäure ihre Gesundheit ruinierte und ihre Lungen zerfraß. Mitgefühl schwang mit, wenn Hans Schörrwerth über »die Schwarzen« sprach. Weil er sich in Zeiten der Diktatur nicht den Respekt für seine Mitmenschen hatte nehmen lassen, hatte sich der Sachse eine unter seinen Landsleuten eher seltene Achtung vor den Zigeunern bewahrt. »Die wurden regelrecht verheizt. Morgens traten sie hungrig zur Schicht an, und wenn gegen die Bleivergiftung eine Ration Milch verteilt wurde, nahmen sie die Milch mit nach Hause für ihre Kinder.«

Einer dieser Männer war Stelian Coseriar. Ich lernte ihn in Blaj kennen, einem 22 000-Einwohner-Städtchen eine halbe Autostunde von Copşa Mică entfernt. Blaj liegt im Herzen Siebenbürgens und ist für mich seit Jahren weit mehr als eine Anlaufstelle auf meinen Rumänienreisen. Die engagierten Mitarbeiter der örtlichen Caritas haben ebenso dafür gesorgt, dass ich mich in dem alten sächsischen Blasendorf zu Hause fühle, wie mein Freund Lucian Mosneag, daselbst Priester für knapp viertausend Roma, die sich in Blaj auf drei Gemeinden verteilen. Eine davon liegt in Barbu Liautiarul, einem quicklebendigen Viertel mit verwinkelten Gassen, bescheidenen bunten Häuschen und freundlichen Menschen. Bei meinem ersten Besuch allerdings, ich meine, es war 2005, war Stelian Coseriars Ehefrau Ionina mir alles andere als gewogen. Aus einer kritischen Distanz heraus beobachtete sie argwöhnisch meine Schritte und registrierte genau, wen und was ich in ihrer Siedlung fotografierte. Auf einigen Aufnahmen ist sie im Hintergrund zu sehen, mit misstrauischem Blick. Doch der ist längst einer herzlichen Verbundenheit gewichen.

Als Ionina mir ihren Ehemann vorstellte, war Stelian Anfang sechzig und bereits von seiner Krebserkrankung gezeichnet. Er war von schmächtiger Statur und schien sich in seiner ausgebeulten Reebok-Jogginghose zu verlieren. Niemals erlebte ich Stelian launig oder mürrisch. Sein stachelbärtiges Gesicht strahlte gütige Sanftmut aus, und hinter den Gläsern seiner dicken Hornbrille blitzten die wachen Augen eines Schalks auf. Bisweilen hielt er bei seinen Erzählungen inne. Wenn er dann eine Weile keuchend nach Luft rang, zahlte Stelian den Preis für die Jahre in Copşa Mică.

Bis zur Wende arbeiteten 1500 Männer allein in der Lampenschwarzfabrik. Dreihundert Männer aus der Belegschaft kamen aus Blaj, gut die Hälfte davon waren Roma aus den Quartieren Barbu Liautiarul und Plopilior. Um vier Uhr dreißig war für sie die Nacht zu Ende, denn um fünf rollte der Zug über Teius in Richtung schwarze Stadt. Bei unserer ersten Begegnung zählte Stelian einige Namen auf. Er kam auf elf. Die Namen ehemaliger Kollegen, die noch lebten. Ein Jahr später zählte er nur noch sieben oder acht. Im Jahr 2010 waren es vier. Keiner der Verstorbenen war annähernd siebzig geworden.

»Die Arbeit in der Fabrik war gut, aber ungerecht verteilt.« Stelian sagte das nicht anklagend, eher wie eine Feststellung. »Die Roma mussten die gefährlichsten und schmutzigsten Arbeiten erledigen. Alle, die mit Arsen, Blei und Gold zu tun hatten, starben bald an Lungen- und Herzkrankheiten. Ich selbst war zuerst in der Rußproduktion, später in der Bleigewinnung. An meinem Platz war es sehr heiß, nichts funktionierte, und ständig waren die Öfen kaputt. Wenn der Schamott zerbröckelte, mussten wir in die Kessel kriechen und die Risse wieder zumauern.« Für den Umstand, überhaupt noch am Leben zu sein, hatte Stelian eine ihm plausible, aber auch reichlich abenteuerlich klingende Erklärung: Bier statt Schnaps!

»Mein Glück war, dass mir von dem Zeug immer übel wurde. Ich habe den billigen Alkohol nie vertragen. Alle Arbeitskollegen, die zu oft und zu viel harte Sachen getrunken haben, sind tot. Alle! Aber ich habe immer nur Bier getrunken. Höchstens feiertags mal einen Konjaki. Aber Bier war besser. Bei der Hitze am Ofen hat es das Blei aus meinem Körper herausgeschwemmt, ausgeschwitzt und weggespült. Ich sag dir, hätte ich kein Bier getrunken, wäre es längst aus mit mir.«

Als die Giftschleudern in Copşa Mică abgeschaltet wurden, verlor Stelian Coseriar weit mehr als Arbeit und Lohn. Mit der demütigenden Einsicht, mit Mitte vierzig nicht mehr gebraucht zu werden, musste er sich auch von seinem Lebenstraum verabschieden: ein großes Haus für Kinder und Enkel. »Unter Ceauşescu«, so versicherten er und Ionina, »lebten wir sehr viel besser.« Wie oft dieser Satz den Verlierern der wirtschaftlichen Liberalisierung über die Lippen kam, ist nicht zu zählen, doch selten sprach daraus eine Verklärung der Vergangenheit oder eine klammheimliche Sehnsucht nach der Wiederkehr des Despoten. Eher die bittere Erkenntnis, dass Freiheit allein nicht satt macht. 150 Euro Rente werden Stelian monatlich ausgezahlt. Die Hälfte davon verschlingen schmerzstillende Medikamente und Antibiotika. »Früher wies man uns den Dreck zu, aber wir hatten ein Auskommen. Nun leben wir von der Hand in den Mund.« Obschon ihn seine Lunge quält und fast alle seine einstigen Kollegen unter der Erde liegen, waren die Jahre in der schwarzen Stadt für Stelian »gute Jahre«. Vier Söhne und drei Töchter wurden geboren, und mit vorerst fünfzehn Enkelkindern und zwei Urenkeln dürfte die Zukunft der Familie Coseriar gesichert sein. Stelian und Ioninas Zukunftswünsche muten beschämend bescheiden an: noch ein wenig leben und jeden Tag Ciorba und Polenta, Kuttelsuppe und Maisbrei. Und sonntags ein Gulasch.

Längst hat das Satellitenbild aus National Geographic nur noch historischen Wert. Das Schwarz ist verschwunden. Das Buntmetallwerk wurde saniert und zuerst von holländischen, dann von schwedischen und später von kanadischen Unternehmen weitergeführt. Welche internationale Holding den Betrieb derzeit auch besitzen mag, anscheinend lassen sich auch unter den Umweltauflagen der Europäischen Union mit Blei, Kupfer und Zink noch Profite erwirtschaften. Von der alten Lampenschwarzfabrik ragt nur noch ein fossiles Gerippe aus Beton und Stahl in den Himmel. In rasendem Tempo setzte die Natur Kräfte zu ihrer Selbstheilung frei. Zehn, zwanzig oder tausend Jahre, für die Natur spielt Zeit keine Rolle. Für den Menschen schon. Bei unserem letzten Treffen 2012 lebten von Stelians Kollegen noch zwei. Er selbst war gerade achtundsechzig geworden und musste wieder zur Diagnose ins Hospital nach Aiud. Dort sollte untersucht werden, ob Metastasen von der Lunge in den Rücken gewandert waren, denn Stelian litt starke Schmerzen. Ionina sorgte sich nicht nur um ihren Mann, sondern auch um die Beschaffung des obligatorischen Schmiergeldes, ohne das, wie sie sagte, die Ärzte erst gar nicht mit der Behandlung beginnen würden. Als ich mich von den beiden verabschiedete, nahmen wir uns vor, beim nächsten Wiedersehen zusammen ein Fläschchen Konjaki zu trinken. »Keinen Fusel«, sagte Ionina, »nur ganz feines Zeug.« Stelian hatte schwach genickt, gelächelt und mir mit matter Geste die fünf Finger einer Hand gezeigt. »Er meint fünf Sterne«, erklärte seine Frau, »ich sag ja, nur den Besten.« Die Zahl cinci vermochte der gute Stelian nicht mehr auszusprechen. Er bekam nicht mehr genug Luft.

Von den zwei Dutzend Roma mit dem Namen Victor Calderar, die ich im Lauf der Jahre treffen sollte, lebte einer in Copşa Mică. Ich erinnere mich gut an ihn, weil er mich 1990 bat, ihm einmal »echtes deutsches Geld« zu zeigen. Lange hatte der Fünfzigjährige eine Zwanzig-Mark-Note betrachtet, hatte den Schein gedreht und gewendet, ihn gegen das Licht gehalten und ihn mir zufrieden und mit anerkennendem Nicken zurückgereicht. Victor Calderar aus Klein-Kopisch legte Wert darauf, auf keinen Fall ein Tzigan genannt zu werden und zwar mit der Begründung, die Zigeuner würden im Gegensatz zu ihm, einem Rom, erstens faul sein, zweitens keinen Bart tragen und drittens lieber betteln und stehlen, anstatt einer ehrbaren Arbeit nachzugehen. Nebenbei bemerkt, sollte ich später viele Tzigani treffen, die auf diesem Namen bestanden, weil sie umgekehrt die Roma für Kriminelle hielten, mit denen sie auf keinen Fall in einen Topf geworfen werden wollten. Einige der Roma, die hinter der schwarzen Fabrik siedelten, bezeichneten sich als Kalderasch. Nur war von dem Stolz, zum Stamm der Kesselschmiede zu gehören, allein der Name geblieben. Mit den standesbewussten, traditionstreuen und wohlhabenden Kalderasch, die Romani sprachen und ein paar Dörfer weiter in Brateiu Kochtöpfe und Kupferkannen fabrizierten, hatten die Roma aus Copşa Mică nichts gemein. Sie produzierten nichts. Der vollbärtige Victor besaß weder Werkzeug noch Material noch gar eine Werkstatt. Dennoch behauptete er, wie schon sein Vater und wie schon dessen Vater wolle er wieder als Schmied und Blechschneider sein Brot verdienen, würden die hohen Preise für Kupfer und Zink wieder sinken.

Auch Petru Carolea glaubte, ein Kesselschmied zu sein. In wirre Selbstgespräche versunken, schien er mir von einer beklemmenden und traurig stimmenden Verrücktheit. Wenn er eine Fotokamera sah, schnappte er sich einen Hammer und drosch auf einen kaputten und vom Rost zerfressen Blechtopf ein, der irgendwo herumlag. Zuerst glaubte ich, sein Tun wäre ohne Sinn und Verstand, bis mir ein Nachbar steckte, amerikanische Fernsehleute hätten Petru ein Bündel Lei gegeben, um vor laufender Kamera zu zeigen, wie die Kalderasch-Zigeuner einst Pötte aus Kupfer schmiedeten.

Petru Carolea hatte acht Kinder. Ein-, zweimal am Tag reichte ihre Mutter ihnen ein paar Scheiben weißes Brot und angebrannte Maispampe, die sie gierig aus einem rostigen Blechtopf kratzten, von dem die Emaille abgeplatzt war. Nachts krochen sie mit knurrendem Magen unter schmierige Laken, morgens wachten sie hungrig auf, mit aufgeblähten Bäuchen und so schmutzig, wie sie eingeschlafen waren. An warmen Sommertagen sprangen die Kinder in die Târnava. Sie badeten in der trüben Brühe, spielten, lachten und bewarfen sich mit Schlamm, als sei der Schmutz kein Feind, sondern ein natürliches Element einer Normalität, die nur dem pervertiert dünkte, der um eine Alternative wusste. So wie die Sachsen. Für sie stand die Tür nach Deutschland offen, und schlussendlich nutzte auch Hans Schörrwerth die Möglichkeit der Wahl. Auch er hatte, wie die Siebenbürger zu sagen pflegten, bei den Behörden »eingereicht« und wartete auf seine Ausreisepapiere. Er meinte: »Hier bleiben nur die vom letzten Kapitel.«

Ob die Menschen im Schatten der schwarzen Fabrik sich nun Kalderasch nannten, Roma oder Tzigani, blieb sich letztlich gleich. Sie hatten nichts mehr, auf das sie eine selbstbewusste Identität hätten gründen können. Sie ließen weder den Wunsch, geschweige denn den Willen erkennen, einen Weg aus der Misere zu suchen. Anders als die Sachsen aus Siebenbürgen und die Schwaben aus dem Banat, die alle unter dem Heimatverlust litten. Ohne die Perspektive, den Kreislauf aus Demütigung und Entwürdigung aus eigener Kraft unterbrechen zu können, hatten sich die Zigeuner aus Copşa Mică mit ihrer Rolle als Ausgestoßene abgefunden. Wie so oft in der Geschichte ihrer Ethnie.

Nur selten waren sie willkommen, seit die Roma vor mehr als tausend Jahren in Migrationswellen aus dem indischen Punjab aufbrachen und über den Iran, die Türkei und den Balkan, manche über Afrika wandernd, zu Beginn des 15. Jahrhunderts Mittel- und Westeuropa erreichten. Ob sie aus ihrer angestammten Heimat von arabischen Kriegsherren vertrieben oder von Eroberern verschleppt und versklavt wurden, ist nicht überliefert. Ständig unterwegs gaben die Roma ihr zum Überleben notwendiges Wissen nur mündlich weiter. Schriftliche Chroniken besaßen für das Volk »ohne Heim und ohne Grab«, wie es der ehemalige Präsident der Internationalen Romani Union Rajko Djurić nannte, keinerlei Wert. Auf rund zwölf Millionen schätzt man die Zahl der Zigeuner heute, und selbst Ethnologen tun sich schwer, das verzweigte Geflecht unterschiedlichster Stämme, Gruppen, Sippen und Familienverbände sowie die ungezählten Fremd- und Eigenbezeichnungen auch nur ansatzweise zu überblicken. Die ursprüngliche gemeinsame Sprache, das dem indoeuropäischen Sanskrit verwandte Romani, lebt zwar in diversen Dialekten fort, wird jedoch nur mehr von eher traditionstreuen Stammesgemeinschaften gepflegt, wohingegen sich das Gros der Roma zusehends an die jeweilige Landessprache assimiliert. Streng genommen suggeriert die Rede vom Volk der Roma oder vom Volk der Zigeuner eine ethnische Homogenität, die schon lange nicht mehr existiert.

Es dauerte eine Zeit, bis ich verstand, dass in Ungarn nur die standesbewussten Vlach-Zigeuner, die sich Oláh nennen, das Romani beherrschen, während die Mehrheit der Romungros, je nach Staatszugehörigkeit ungarisch, tschechisch oder slowakisch spricht. In Rumänien grenzen sich stolze Kalderasch vom Stamm der Kesselschmiede von dem Heer verarmter Vatrasi-Herdzigeuner ab, die jede zigane Identität verloren haben. In Bulgarien finden sich christliche walachische Roma neben muslimischen und türkischsprachigen Xoraxane. Derweil sich französische Manouches, deutsche Sinti und spanische Cale als nationale Minderheiten in ihren Heimatländern weitgehend integriert haben, leben die Zigeuner in den postkommunistischen Ländern zumeist isoliert am Rande der Dörfer und Städte, am Rande Europas, am Rande der Zeit. Wo immer sie auftauchten, blieben sie die Fremden. Gerüchte eilten ihnen voraus, Furcht vor ihrer Andersartigkeit trat ihnen entgegen, eine Furcht, die oft umschlug in Hass und Verfolgung.

»So sind einmal die Europäer!«, rief 1840 der Dichter und Historiker Mihail Kogălniceanu in einem leidenschaftlichen Appell gegen Gleichgültigkeit und Herzlosigkeit aus. Er beklagte, die selbstgerechten Intellektuellen würden philanthropische Vereine zur Abschaffung der Sklaverei in Amerika bilden, »während vierhunderttausend Zigeuner im eigenen Schoße Europas noch unter dem Sklavenjoch seufzen«. In seinen Lebenserinnerungen spricht Kogălniceanu, der später der erste rumänische Präsident wurde, von einem »schrecklichen, himmelschreienden Schauspiel«, das er in jungen Jahren erlebte und das ein Beweggrund gewesen sein mag, emphatisch für die Befreiung der Zigeuner zu kämpfen.

»Noch in meiner Jugend sah ich in den Straßen von Jassy menschliche Wesen mit Ketten an Händen und Füßen, einige trugen sogar eiserne Stirnbänder. Sie wurden grausam geschlagen, ausgehungert, geräuchert, in private Gefängnisse gesteckt, nackt in den Schnee oder in vereiste Flüsse geworfen. Und dann die Missachtung der heiligsten Bindung, der Familie: das Weib wurde dem Manne, die Tochter den Eltern, die Kinder ihren Zeugern entrissen. Gleich Rindern verkaufte man sie in alle vier Himmelsrichtungen des Landes. Weder die Menschlichkeit noch die Religion, auch nicht das Zivilrecht schützten diese bedauernswerten Wesen.«

Als eine fast fünfhundertjährige Geschichte der Leibeigenschaft der Zigeuner in den Fürstentümern Moldau und Walachien um 1860 endlich ihr Ende fand, hatten sich die Leidenserfahrungen längst fest im kollektiven Gedächtnis der Zigeuner verankert, um sich fortan von Generation zu Generation zu tradieren. Die Zeit der Versklavung hat bei manchen Stämmen einen ziganen Stolz und eine hohe Wertschätzung von Freiheit und Unabhängigkeit hervorgebracht, als Schattenseite jedoch auch erschreckende Abhängigkeiten und eine lethargische Unmündigkeit begünstigt.

Vor dem Zweiten Weltkrieg kursierten in Rumänien ärztliche Berichte, in denen die Roma als »Schwarze Pest« beschimpft wurden. Der faschistische Marshall Ion Antonescu, bis 1944 mit dem nationalsozialistischen Deutschland liiert, stellte die Zigeuner auf eine Stufe mit »Mäusen, Ratten, Krähen, Vagabunden und Juden«, just zu der Zeit, als der Reichsführer der SS und Polizei-Chef Heinrich Himmler Ende 1942 mit dem »Auschwitzbefehl« ihre Einweisung in Konzentrationslager und ihre »totale Liquidierung« anordnete. Die Zahl der von den Nazi-Schergen Ermordeten wird auf mindestens 220 000, meistens sogar auf eine halbe Millionen Zigeuner geschätzt. Sie wurden in Auschwitz-Birkenau vergast, durch Arbeit, Hunger und Krankheit vernichtet oder in medizinischen Experimenten zu Tode gequält. In Rumänien ließ Antonescu etwa 90 000 Zigeuner deportieren, teils an die Ostfront, wo rumänische Soldaten mit der deutschen Wehrmacht in Stalingrad kämpften, teils nach Transnistrien und in die Lager der Nazis, wo allein 36 000 Roma, vorwiegend Wandernomaden vom Stamm der Kortorare, elendig ums Leben kamen.

Nicolai Ceauşescu schließlich machte in einem despotischen Akt kultureller Willkür die Roma per Dekret zu ethnischen Rumänen. Zigeuner gab es demnach in Rumänien nicht. Ceauşescus Kollektivwahn kannte im Land nationale Minderheiten wie die Ungarn oder die Deutschen; die Zigeuner hingegen wurden als »Romani« eingestuft, als »Rumänen auf niederem Kulturniveau«. In seinem aberwitzigen Plan, dem Agrarland Rumänien die Gesetze einer sozialistischen Industrienation aufzudrücken, versagte er den Zigeunern jegliche Minderheitenrechte, die Pflege ihres Handwerks, ihres Brauchtums und ihrer Sprache. Ein Gesetz gegen »das soziale Parasitentum« hatte zur Folge, dass sie in verslumten Wohnsilos zusammengepfercht wurden. Die Erlaubnis, ein Kleingewerbe auszuüben, wurde ihnen verweigert, der private Handel war verboten ebenso wie das für die saisonalen Landarbeiter überlebensnotwendige Nomadenwesen. Der Versuch, die Verwurzelung der Roma mit Gewalt zu erzwingen, perpetuierte nur das verhängnisvolle Wechselspiel aus Ausgrenzung und Verwahrlosung, aus Apathie und Abhängigkeit von staatlicher und karitativer Alimentierung. Dieser Teufelskreis hält bis heute an.

KAPITEL 2

Träume und Traumata

Freie Fahrt in Richtung Osten – Die Meister des Wartens – Zabit, der Galan – Wolkendorf: Wo die Schotterpiste endet – Die Gabors: Clara, Gorbi und neun Kinder – Wenn der Deutsche kommt, wird alles gut – Ein Weiler wacht auf – Das traurige Ende einer Idee, die allen Erfolg verdient gehabt hätte – Die Sehnsucht nach dem gerechten Patron

Die Berliner Mauer fiel, der Eiserne Vorhang zerriss, und so plötzlich wie unerwartet stand das Tor Richtung Osten sperrangelweit offen. Wege taten sich auf, in ein Paradies, in ein Eldorado für fixe Typen, die irgendwelche Joint ventures auskungelten, für Abschöpfer subventionierter Investitionsprogramme, für Gebrauchtwagenhändler und nicht zu vergessen, für Vertreter von Pornovideos und aufblasbarem erotischen Plastikgedöns. Natürlich fuhren auch ehrbare Geschäftsleute gen Osten. Und Journalisten. Wir packten den Kofferraum mit Dieselkanistern voll, setzten uns in unscheinbare Pkws, vorzugsweise in den soliden Golf II, und fuhren los. Mit Lenkradkralle, leeren Notizblöcken, Hunderterpacks Fuji-Color und voll brennender Neugier. Fluchend erduldeten wir die Autoschlangen an Grenzübergängen mit Namen, die sich kaum aussprechen ließen. Wir passierten Städte wie Hajdúszoboszló und Berettyóújfalu, wünschten den sturen Grenzbeamten in Hegyeshalom, Ártánd oder Nagylac die Pest an den Hals und zahlten dennoch die unverschämten Visa-Gebühren als Einlass-Ticket für Rumänien, Bulgarien und die Ukraine; exotische Länder, die kaum jemand aus dem Westen zuvor besucht hatte. Stunde um Stunde quälten wir uns durch unbeleuchtete Schattenwelten, bretterten am Rande des Achsenbruchs von Schlagloch zu Schlagloch, verschenkten Stangen von Marlboros an Polizisten, spendierten korrupten Staatsdienern grüne Dollar-Scheine und grüne Heineken-Bierdosen – und wurden am Ende überreich belohnt: mit Säcken voller Reportagen, prall gefüllt mit Geschichten über Menschen, von deren Existenz, geschweige denn deren Schicksalen ich bis dato keine Ahnung hatte.

Die Völker Osteuropas hatten das Experiment des Kommunismus beendet und pfiffen auf die Signale zum letzten Gefecht. Die Weltherrschaft des Proletariats wurde auf unabsehbare Zeit vertagt, eine Ideologie im Übrigen, für die sich Zigeuner nie ereifern konnten. Der reale Sozialismus starb, nachdem er splitternackt dastand und seinen Wesenskern entblößt hatte. Der entpuppte sich als Warten. Warten auf irgendwas, das irgendwann vielleicht irgendwo geschieht. Die Warteschlange, so der Journalist Alexander Smoltczyk, war keine Begleiterscheinung, sondern »die nackte Wahrheit eines Systems«, das vor allem mit einem beschäftigt war: »der Vernichtung von Zeit, von Lebenszeit«. Im Grunde brach der ganze sozialistische Block zusammen, weil Menschen des Wartens überdrüssig waren.

Die wahren Meister des Wartens sind die Zigeuner, vor allem die Roma auf dem Balkan. Rund 30 000 leben in dem Viertel Shutka am Rande der mazedonischen Hauptstadt Skopje. Es können aber auch 40 000 sein. Oder 50 000. Niemand will das genau wissen. Jedes Mal, wenn ich dort war, oft in Zusammenarbeit mit der deutschen Caritas, schienen die Menschen dort zu warten, die Alten in ihren abgetragenen Mänteln ebenso wie die Jungen in ihren US-Jeans made in Turkey. Rund um eine Kreuzung im Zentrum hockten duldsame Schuhputzer hinter ihren Cremes und Bürsten, doch kaum jemand ließ sich das Schuhwerk polieren. Ein Dutzend Arbeiter stand im Herbst neben benzinbetriebenen Motorsägen, doch niemand wollte Bau- oder Feuerholz zuschneiden lassen. Kleinunternehmer saßen auf den Kutschböcken ihrer Pferdefuhrwerke, doch es gab nichts zu transportieren. Auch die Fahrer des Unternehmens Roma-Taxi harrten stundenlang der Kunden. Für mich sah es so aus, als erschöpfe sich in der wohl größten Roma-Siedlung in Europa der Sinn der alltäglichen Existenz im geduldigen Warten. Im Warten und im Träumen. Wie aus einer anderen Welt parkte zwischen all den Pferdekutschen seltsam deplatziert ein schwarzer Porsche 911 mit albanischem Kennzeichen. Wochenlang stand er da, verstaubt, unbewegt und ungewaschen, wie ein trotziger Beweis, dass Reichtum und Prestige für den wachsam Wartenden unverhofft Wirklichkeit werden können, ohne dass ihm der Lohn des Ausharrens wirklich nützt.

Geschlechtsspezifisch korrekt muss man sagen, dass die Kultur des Wartens unter Männern ungleich ausgeprägter ist als unter Frauen. Weil es der Romni, um derlei mentale Kunstfertigkeit auszubilden, ganz einfach an Zeit mangelt, allein schon wegen der Schar der Kinder und der echten Herausforderung, tagtäglich den Mangel zu verwalten und dennoch etwas Essbares in den Kochtopf zu zaubern.

Während ich die Menschen in Shutka in einem Moment wegen ihrer wirtschaftlichen Not bedauerte, bewunderte ich sie schon im nächsten Augenblick für ihre stoische Ruhe und die heitere Gelassenheit, mit der sie ihren Alltag akzeptierten. Wann immer mich als Gadscho das nervöse Gefühl beschlich, die Zeit rinne mir aus den Händen, hielten die Zigeuner den Lauf der Welt an. Niemand konnte dies trefflicher als der herzerfrischende Zabit Memedov. Zabit war einer der begnadeten Laiendarsteller in Zeit der Zigeuner und Schwarze Katze, weißer Kater, den legendären Spielfilmen des serbischen Regisseurs Emir Kusturica. In Zeit der Zigeuner, gedreht in den mazedonischen Roma-Siedlungen Shutka und Topana, spielt Zabit den schrägen Galan Zabit, der fiedelnd und singend, tänzelnd und scharwenzelnd die leibespralle Chaditza im Liebesrausch zum Schmelzen bringt. Die beiden Turtelnden erbringen den Beweis, dass die flüchtige Laune der körperlichen Attraktion nichts ist im Vergleich zum Einklang gemeinsam pulsierender Herzen. Dass Zabit Memedov in dieser Rolle des wundervollen Charmeurs im Grunde sich selber spielt, daran ist nicht zu zweifeln.

Wenn Zabit nicht vor der Kamera stand, arbeitete er in Shutka auf dem Gemüsemarkt und verkaufte Kartoffeln. Kam keine Kundschaft, vertrieb er sich die Zeit mit einem weißen Vögelchen aus Plastik. Dessen Kopf war mit Blei beschwert, so dass man den Vogel mit etwas Geschick mit dem Schnabel auf den Fingerspitzen balancieren konnte. Stundenlang und mit wachsender Begeisterung beschäftigte sich Zabit mit dem komischen Ding, wobei er lachte und ein Gebiss entblößte, das nur noch aus einer Fassade kariöser Ruinen bestand. So ein Mensch war natürlich eine Idealbesetzung für Filme, in denen Truthähne zu magischen Sonnenvögeln mutieren, Schweine Trabbis aus Presspappe fressen und Telegrafenmasten vorm Telefonieren zwecks besserer Tonübertragung mit der Gießkanne gewässert werden müssen. Ich verknipste eine Filmrolle, und als ich ihm bei meinem nächsten Besuch in Shutka ein großformatiges Foto von ihm und dem Plastikvogel mitbrachte, nickte Zabit anerkennend und hängte das Bild an seinem Marktstand mit einer Klammer an einer Wäscheleine über den Kartoffeln auf. Sodann bat er höflich um weitere Fotos, wobei er mich anlächelte mit einem nagelneuen Gebiss aus lauter glänzend polierten Goldzähnen. In dem Moment erinnerte mich Zabit an die Romanfigur des zahnlosen Zigeuners Melchiades, der in Gabriel GarcÍa Márquez’ Hundert Jahre Einsamkeit die Bewohner von Maconda verblüfft, weil eine Zahnprothese sein welkes Greisengesicht in das Antlitz eines strahlenden Jünglings zurückverwandelt. Niemand sonst als Zabit Memedov hätte in Kusturicas Schwarze Katze, weißer Kater den herrlich schrulligen Großvater Zarije mimen können, der die Zeit staut, indem er in Trance seinen eigenen Tod simuliert und gekühlt unter einem mächtigen Eisklotz in einer Dachkammer dem passenden Moment seiner Auferstehung entgegensieht.

Nun muss, was auf der Kinoleinwand möglich ist, im wirklichen Leben nicht zwangsläufig unmöglich sein. Aufzuerstehen aus Ruinen, aufzuwachen aus dem Schlaf der Apathie, eine Zeit lang sah es so aus, als könne dies gelingen, nicht nur den Zigeunern, sondern allen Bewohnern in dem rumänischen Dorf Vulcan, dem Siebenbürgischen Weiler Wolkendorf. Aber es gelang nicht. Leider, leider, so muss berichtet werden.