Zivilkapitalismus - Wolf Lotter - E-Book

Zivilkapitalismus E-Book

Wolf Lotter

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Beschreibung

Kapitalismus ist Bürgerpflicht

Wolf Lotter positioniert sich sowohl gegen diejenigen, die den homo oeconomicus dämonisieren, als auch gegen die kritiklosen Umarmer des Systems. Wir alle sind Akteure in der Welt von Wirtschaft und Kapital – vor allem aber haben wir die Wahl: Wir können sehr wohl einen Kapitalismus gestalten, der uns gerecht wird und der gerecht ist.

Der Kapitalismus ist ein Kind der Aufklärung und ihr letztes und wichtigstes Versprechen. Nichts hat die Lage der Welt so verbessert und die Menschheit aus dem kurzen und brutalen Leben geholt wie er. Ist er doch die einzige bekannte Methode zum Erzielen von Wachstum und damit Gerechtigkeit und Teilhabe. Er hat sich in nahezu allen Kulturen und Gesellschaften durchgesetzt, auch in denen, die explizit gegen ihn errichtet wurden.
Und dennoch: Der Kapitalismus befindet sich in der Krise. Darum gilt es jetzt – mehr denn je – die Ökonomie als ein Werkzeug der Befreiung zu begreifen, ein Instrument der Autonomie, ein Mittel zur Selbständigkeit und Wahrung der Menschenwürde. »Zivilkapitalismus« bedeutet, dass der verantwortungsvolle Bürger sich die Ökonomie aneignet, als Ganzes, als Gestaltungsmittel, als Instrument zur Weltverbesserung. Von der Ohnmacht zur Marktmacht des Einzelnen – dafür streitet dieses Buch.

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Seitenzahl: 243

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Wolf Lotter

Zivilkapitalismus

Wir können auch anders

Pantheon

Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der VerlagsgruppeRandom House GmbH

Erste AuflageAugust 2013

Copyright © 2013 by Pantheon Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenSatz: Ditta Ahmadi, BerlinISBN 978-3-641-12129-7www.pantheon-verlag.de

Inhalt

Vorbemerkung

TEIL 1

SYSTEMFRAGEN

TEIL 2

DIE KRISE DES KAPITALISMUS IST DIE KRISE DER KAPITALISTEN

TEIL 3

MORAL UND KAPITALISMUS. DIE GUTEN UND DIE BÖSEN

TEIL 4

DIE ENTDECKUNG DES ZIVILKAPITALISMUS

Zivilkapitalismus. Die Essenz

Vorbemerkung

Dieser Text gibt keine fertigen Antworten. Er propagiert keine Methode und verkauft keine Lösungen. Dennoch ist er als Beitrag zur Lebenshilfe verfasst worden. Er fordert auf, die trotzige Haltung gegen den Kapitalismus zur Seite zu legen und stattdessen das Werkzeug der Ökonomie für ein besseres Leben anzuwenden. Sein Ziel ist es, den Kapitalismus in neuer Form zur ersten Bürgerpflicht zu machen.

Dieses Buch beschreibt die Beschaffenheit und den Zustand des Instruments, nicht aber die Ergebnisse, die damit zu erzielen sind.

Es setzt auf die Mündigkeit und den Verstand seiner erwachsenen, selbstbestimmten Leser.

TEIL 1

SYSTEMFRAGEN

When my information changes, I change my mind. What do you do, Sir?

John Maynard Keynes

Der Kapitalismus ist am Ende.

Die Zeichen stehen an jeder Wand.

Nach langer Herrschaft wird nun kurzer Prozess gemacht. Es ist ein Prozess, bei dem »die Richter das Todesurteil bereits in der Tasche haben. Sie werden es fällen, ohne Rücksicht auf vorgebrachte Verteidigung; der einzige Erfolg, den eine siegreiche Verteidigung möglicherweise zeitigen kann, ist eine Änderung der Anklage«.

Der große Ökonom Joseph A. Schumpeter hat das aufgeschrieben, im Jahr, in dem der Zweite Weltkrieg begann, 1939. Die Jahre zuvor waren geprägt von einer Weltwirtschaftskrise, auf die auch heute, im nach wie vor laufenden Prozess gegen den Kapitalismus, immer wieder Bezug genommen wird. Damals wie heute hieß es, dass es habgierige Spekulanten und selbstsüchtige Kapitalisten gewesen wären, die die Welt an den Rand des Abgrunds geführt hätten. Die Anklagepunkte und die hinter ihnen steckende Haltung haben sich nicht geändert. Und das ist das Problem: Denn eine Änderung der Anklage würde den Prozess als das entlarven, was er ist: eine Farce.

Das Ziel der Ankläger ist es, dem Kapitalismus die Ursache für alle menschlichen Fehler zuzurechnen. Gier, Neid, Raub, Betrug, Erpressung, Respektlosigkeit und Gewalt, sie alle scheinen in der Welt der Antikapitalisten einen einzigen Grund zu haben: den Angeklagten. Dass der dazu so hartnäckig schweigt, wird ihm zur Last gelegt. Linke, Rechte, Konservative, Kirchen und Nichtregierungsorganisationen, Parteien und Politiker, sie alle sind sich einig in der Anklage. Allein das sollte aufgeklärten Menschen zu denken geben. Welchem Zweck dient die lautstarke Anklage des Kapitalismus? Wem nützt sie?

Möglicherweise, ja sehr wahrscheinlich sogar, stellen sich einige der Anklagepunkte bei genauer Betrachtung als richtig heraus. Vielleicht sind sogar die meisten der Vorbehalte, die gegen den Kapitalismus geäußert werden, in ihrer Tendenz richtig. Doch selbst dann kann man nicht übersehen, dass mit diesen Feststellungen noch nichts getan ist. Haben wir verstanden, was Kapitalismus ist – und was der Antikapitalismus will? Denn nur, wer beide Seiten kennt, kann zu einem dritten Weg aufbrechen, also das Klagen überwinden und die Sache selbst in die Hand nehmen.

Die Ankläger von heute eignen sich kaum dafür, diesen dritten Weg zu beschreiten. Man soll, so heißt es, die neue Welt nicht jenen überlassen, die schon die alte an die Wand gefahren haben. Für praktisch alle heute präsenten Parteien, Lobbies und Organisationen gilt diese Einsicht. Sie sind es, die den Mythos des Kapitalismus entwickelt haben. Sie bestimmen unsere Sicht auf die Dinge. Deshalb wird sich dieses Buch seinem Gegenstand über dessen Gegensatz nähern, also die Welt des Antikapitalismus beschreiben.

Mythen sind gefährlich: »Der größte Feind der Wahrheit ist sehr häufig nicht die Lüge – wohl bedacht, erfunden und unehrlich –, sondern der Mythos – hartnäckig, überzeugend und unrealistisch.« Diese kluge Feststellung stammt von John F. Kennedy. Mythen dienen dem Machterhalt. Sie bestehen aus Geschichten, die wir glauben sollen, damit alles so bleiben kann, wie es ist. Der Mythos schafft sich seine eigene Vergangenheit, er tut so, als ob er »Geschichte« hätte – das ist die Legendenbildung, die untrennbar zum Mythos gehört. Dieser Text wendet sich also zunächst gegen den Mythos und die Ohnmacht, die er nährt.

Der Kapitalismus ist ein Instrument, ein Werkzeug. Um für seine Feinde maximalen Nutzen zu stiften, muss er aber zu einem Mythos werden, zu einem lebendigen Wesen, einem Monster – oder eben dem, was man allgemein das »System« nennt, von dem alles Unglück ausgeht.

Ein Mythos ist überirdisch. Er gerät seinen menschlichen Schöpfern außer Kontrolle. Das ist so beabsichtigt. Denn nun können mehr Regeln und mehr Mittel zur Kontrolle des selbstgeschaffenen Undings verlangt werden. Das hieß zu allen Zeiten: mehr Macht.

Ein Instrument tut, was es kann. Ein Mythos hingegen schlüpft einem durch die Finger. Ein Werkzeug verlangt, dass wir seine Handhabung verstehen. Ein »System« aber kann man nicht begreifen, dazu ist es zu komplex, seine Eigenschaften zu unüberschaubar, zu unberechenbar. Ein »System« ist ein Zauberlehrling, ein Golem, der zu Leben erweckt wurde und jetzt nicht mehr zu stoppen ist.

Und wir fühlen uns dabei wie unsere Vorfahren. Der Kapitalismus entfesselt heute eine alttestamentarische Weltsicht: Wir fühlen uns bestenfalls als »Davids« im Kampf gegen »Goliaths«, doch eher schon als von »Heuschrecken« und anderen biblischen Plagen heimgesuchte Kapitalismusopfer. Die ganze Geisterbahn der Kulturgeschichte wird seit Beginn der Finanzkrise heraufbeschworen.

Diese schwülstige Beschwörung erfüllt einen pragmatischen Zweck: Der Kapitalismus ist an allem schuld. Wer das bezweifelt, kann bestenfalls dumm sein, gefährlich naiv – im Regelfall aber handelt es sich um eine Falschaussage und einen Meineid. Der Antikapitalismus ist zwar unvernünftig, aber er verfügt wie alle totalitären Theorien über eine innere Ordnung in Form einer Endlosschleife, bei der alle Ursachen des Bösen auf einen Nenner, einen Sündenbock gebracht werden. Das »System« ist die große Projektionsfläche für Enttäuschungen aller Art, persönlich wie politisch. Ob das Essen nicht schmeckt, der Chef nicht grüßt, die Kinder plärren oder die Frau Migräne hat, der Mann seine Gattin betrügt oder der Prüfungsstoff zu schwer ist: Immer steckt das »System« dahinter, die Chiffre für die allgegenwärtige Ausrede, die Dinge nicht in den Griff zu kriegen. Alles bleibt im Konjunktiv, und man kann sein Leben im Schongang hinter sich bringen.

Der gegenwärtige Prozess gegen den Kapitalismus ist nur einer in einer Reihe von Verfahren, die in der Geschichte der Menschheit gegen die Vernunft, die Aufklärung und den Individualismus geführt wurden. Zu allen Zeiten gab es genug Manipulanten, die sich zum Erhalt ihrer Macht zu Richtern aufgeschwungen haben. Und es gab reichlich nützliche Idioten, die ihr privates Unbehagen gerne zur öffentlichen Sache gemacht haben – nach dem Motto: »Wenn es mir nicht gut geht, dann ist auch der Rest der Welt nicht in Ordnung.« So denken Menschen, die nicht selbstkritisch genug sind, bei der Suche nach den Ursachen ihrer Leiden sich selbst miteinzubeziehen. Es ist wahr: Nichts verändert sich von selbst. Aber wenn man sich selbst nicht verändern will, dann erst recht nicht.

Eine lapidare Antwort auf dieses Problem lautet: Menschen sind so.

Ist die Verteidigung des Kapitalismus also aussichtslos, wie Schumpeter meinte, weil es sinnlos wäre, gegen die ungeheure Menge an »unter- und überrationalen Impulsen« anzukämpfen, aus denen der Kapitalismus in den Augen seiner ökonomisch ungeschulten Beobachter besteht?

Nein, das ist es nicht.

Erstens nicht, weil man dann ebenso gut die Begründung für Demokratie, Aufklärung und Emanzipation auf die Seite legen könnte. Geschichtslosigkeit ist zwar auch heute eine weitverbreitete Krankheit. Aber eine Zivilgesellschaft, die sich nicht erinnert, ist kaum ungefährlicher als ihre Vorläufersysteme, in denen sich das »Volk« von seinem »Führer« oder einer anderen Regierungsform zu allem Möglichen anstiften ließ, an das es sich danach nur ungern oder gar nicht erinnern konnte. Die Gedächtnislücken der Generation des Zweiten Weltkriegs liegen letztlich ja weniger in einem kompletten Erinnerungsverlust begründet als in der – genau betrachtet gar nicht so irrationalen – Einsicht, dass sie nur Befehlen gehorcht habe. Und da habe man »als Einzelner« nichts ausrichten können.

Dieser geistige Befehlsnotstand wird auch im allgemeinen Antikapitalismus gepredigt: Leute, die für Bürgerinitiativen sind, für regionale und lokale Teilnahme an politischen Entscheidungen, für mehr Volksabstimmungen und aktives Bürgertum, die außerhalb der eingefahrenen Strukturen und Bürokratien für mehr Mitbestimmung kämpfen – diese Leute verweigern sich einer Annäherung an die persönliche und zivile Ökonomie, indem sie den »Kapitalismus« und die »Wirtschaft« und das »Kapital« und sein »System« samt der allgemein verorteten »Gier« zu einem Feind erklären. Kann die Zivilgesellschaft, der große Schritt in der Emanzipation der Bürger von ihren Regierungen, gelingen, wenn ihre Akteure materiell hilflos, abhängig und handlungsunfähig bleiben?

Oder gibt es möglicherweise irgendwo einen geheimen Masterplan, nach dem alle Teilnehmer der Zivilgesellschaft ihre sämtlichen ökonomischen Bedürfnisse und Fähigkeiten vergessen können, weil alles, was man gerne hätte – und das ist nicht gerade wenig – einem nach Art des Schlaraffenlandes in den Mund fliegt?

Diese gefährlichen Illusionen gefährden das Projekt der Zivilgesellschaft in ihrem Fundament. Ohne Zivilkapitalismus gibt es keine Zivilgesellschaft. Wer nicht lernt, mit der Ökonomie umzugehen, tut nur so, als ob er mehr Demokratie wagen möchte. Wollen wir nur spielen? Oder zeigen wir endlich mal, was wir können?

Der Schauprozess gegen den Kapitalismus gleicht dem Ausschlag eines Pendels einer gewaltigen Uhr. Nach dem Zweiten Weltkrieg verzahnten sich im Uhrwerk die großen Räder des Sozialstaates mit dem Konsumkapitalismus. Das eine braucht das andere. Beides aber führt dazu, dass die Person selbst zu einer sozialen, politischen und ökonomischen Marionette degradiert wird: Der Bürger ist nicht selbstständig und souverän, sondern der Verbraucher eines auf Hochtouren produzierenden Konsumkapitalismus. Also ein Subjekt, das nichts anderes zu tun hat, als die industriell gefertigten Fließbandprodukte stets aufs Neue zu verbrauchen und zu erwerben. Als Teil des Sozialstaates sind wir ebenfalls Konsumenten, die man nicht fragt, was sie wollen, die nicht selbst ihre Gesellschaft gestalten, sondern sich in einem immer höheren Maße bevormunden und organisieren lassen. Die Politikerklasse hat die Krisen, die sie ganz wesentlich zu verantworten hat, nicht nur unbeschadet überstanden, sondern schwingt sich nun auch noch zum Richter auf: Das Primat der Politik wird gefordert. Dazu gehört die Gleichung: Kapitalismus ist Egoismus, Politik ist Gemeinsinn. Nichts ist falscher als das. Der Kapitalismus stärkt vielmehr die Unabhängigkeit der Person, die gelernt hat, die Ökonomie als Werkzeug zur Emanzipation zu nutzen.

Die Politik ist zu allen Zeiten voller egomaner Verrückter gewesen, deren Geschäftsmodell darin besteht, anderen Leuten ihr Leben vorzuschreiben und sich deren Lebensergebnisse anzueignen. Nero, Caligula, Robespierre, Hitler, Stalin und Mao waren keine Kapitalisten. Sie waren Politiker, Machthaber. Haben sie möglicherweise den Gemeinsinn erfunden?

Das politische Pendel schlägt also nicht in Richtung Gemeinsinn, sondern in Richtung Gemeinheit aus, und man kann es fast überall in der Gesellschaft erkennen. Diskurse sind nicht gewünscht.

Das Entstehen eines gehaltvollen Streites zum Kapitalismus, seiner Zukunft, seiner Funktion ist das wichtigste Ziel dieses Buches, und diese Absicht wird an vielen Stellen hervortreten. Denn von platten Ablehnungen und Vorurteilen abgesehen gibt es keinen wirklichen Streit um den Kapitalismus. Damit wird er zu etwas gemacht, was er nicht ist: zum Schicksal. Das steckt auch hinter der resignativen Feststellung, dass 1989, im Jahr der Wende, der Kapitalismus seine Auseinandersetzung mit dem Kommunismus nicht gewonnen habe, sondern eben nur übrig geblieben sei. Und nun, liebe Intellektuelle, verehrte Geisteseliten, Bürger einer vermeintlich selbstbewussten Zivilgesellschaft, was nun? Liegt er jetzt rum, der Kapitalismus?

Und was macht ihr eigentlich so, damit die Zukunft der Zivilgesellschaft nicht sich selbst überlassen ist? Wollt ihr nicht aus eurem Unbehagen, das die Folge eurer beharrlichen Verweigerung zur praktischen Ökonomie ist, wenigstens eine Unruhe machen, die zum Nachdenken führen könnte?

Wenn sich die Zivilisation entwickeln will, muss sie sich zuerst einmal erinnern. Das ist in Zeiten der Veränderung, in denen wir stehen, vielleicht die wichtigste Übung. Das hat auch den Vorteil, dass wir nicht spekulieren müssen – nur verstehen.

Das ist nicht einfach.

Scheinbar leichter ist es, die historischen Erfolge des Kapitalismus aufzuzählen. Nüchtern betrachtet profitiert die große Mehrheit der Menschheit heute von diesem Werkzeug. Auch wenn man das im reichen Westen nur gelegentlich und vermittelt bemerkt: Der Kapitalismus sorgt heute in der Globalisierung, die zu einem seiner Synonyme geworden ist, für die größte Gerechtigkeitskampagne in der Menschheitsgeschichte.

Und die großen Krisen des Kapitalismus? Die Weltwirtschaftskrise von 1929 etwa, das Ereignis also, in dessen hartem Echo Schumpeter seine Gerichtsprotokolle notierte?

Sie waren, das schreibt der ehemalige Links-Sponti und spätere Bundesaußenminister Joschka Fischer, nicht etwa die Folge eines zügellosen Kapitalismus, sondern dessen Gegenteil, einer engstirnigen staatlichen »Abschottung«, die zu einer »globalen Finanz- und Wirtschaftskrise, zum Aufstieg der europäischen Totalitarismen und zu einem erneuten Weltkrieg« führten. Die Globalisierung selbst ist bei Fischer der Prozess, der die »jahrhundertealte globale Vorherrschaft des Westens in Frage stellt«.

Die verwöhnten Bürger der westlichen Wohlstandsstaaten reden gerne über Chancengleichheit für alle – aber wenn sie wirklich eintritt, hebt das Gezeter – die Globalisierungs- und Kapitalismuskritik – an. Das trifft besonders die Eliten hart, die sich im Wohlstand gemütlich eingerichtet haben, und es sind natürlich auch die geistigen und intellektuellen Eliten, die aus ihrer ökonomischen Unbildung immer wieder eine Tugend zu machen versuchen. Wer auf einer Party den rechenschwachen Antikapitalisten gibt, hat die Sympathien auf seiner Seite. Dabei vergessen viele, dass ein kritischer Blick ohne Sachverstand nichts weiter ist als eine Behauptung, eine Überheblichkeit. Ohne Ahnung von Ökonomie ist der kritische Blick vieler westlicher Intellektueller nichts weiter als eine Attitüde. Aber haben sie nicht trotzdem recht, liegen sie nicht sozusagen instinktiv mit ihrer Ablehnung des Kapitalismus richtig? Nehmen wir mal die Finanzkrise: Waren es nicht die Banken, die erst spekulierten, um dann dem Staat und Steuerzahler auf der Tasche zu liegen? Waren es nicht diese Erzkapitalisten, die den Konkurs des Systems am deutlichsten machten? Das gilt mittlerweile als wahr. Dabei wird aber übersehen, dass die Finanzkrise vor allem das Produkt einer über Jahrzehnte währenden engen Verflechtung von Staaten, Politik und Finanzindustrie ist – also keineswegs das Ergebnis einer kapitalistischen Überhitzung. Die leitenden Angestellten in Banken haben ihre Manöver stets mit der Politik verzahnt und geplant. Es ist das Geld anderer Leute, mit dem sie spielen – die Banker wie die Politiker. Das unternehmerische Risiko ist gleich null. Vor einigen Jahren nannten sich die Finanzmanager noch stolz und standesbewusst Bankbeamte. Und wer einmal erlebt hat, wie ausgezeichnet sich Banker und Verwaltungsbürokraten verstehen, dem ist die Krise kein Rätsel mehr.

Die Krise ist nicht allein das Produkt gieriger Spekulanten, sondern wenigstens genauso das Ergebnis der Arbeit unzähliger Bürokraten in Behörden und Konzernen, von Managern aller Art also. Es liegt in der Tat ein Systemversagen vor – nur hat dieses System nichts mit dem Kapitalismus zu tun, sondern mit dem alten Machtfilz aus Bürokratie, Berufsbeamtentum und Politik, der die Krise verursacht hat.

Ist es also wirklich eine so großartige Idee, das »Primat der Politik« zu fordern – was ja auch einmal die Frage aufwerfen müsste, wer denn eigentlich all die letzten Jahrzehnte regiert und organisiert hat. Waren das alles hilflose Idioten, denen nicht aufgefallen ist, dass die »Macht« längst abgewandert ist? Oder war es, anders als diese Verschwörungstheorie uns weismachen will, doch eher so, dass sich alle Seiten prachtvoll verstanden: Politiker forderten, Banken lieferten, und Bürger nahmen, was sie kriegen konnten. In dieser Welt leben wir, ob es uns gefällt oder nicht.

Eine geänderte Anklage im Prozess gegen den Kapitalismus müsste aber auch neue Zeugen in den Stand rufen, auch jene, die sich als Zeugen der Verteidigung ausgeben, es aber nicht sind. In der Zivilgesellschaft brauchen wir Unternehmer, Menschen, die auf eigene Verantwortung handeln. Menschen mit Zivilcourage. Sie lösen den Untertanen des Industriekapitalismus ab, den Bürokraten und Manager, der nie von etwas wusste, der nichts dafür kann, nur Befehle ausführt und auch sonst nichts mit diesem Kapitalismus zu tun hat. Wie wenig, werden wir noch sehen. Im Prozess um den Kapitalismus würden sich diese vermeintlichen Zeugen der Verteidigung bald als meineidige Wendehälse entpuppen, so wie Verbandspolitiker, Lobbyisten und andere Funktionäre, die davon leben, Menschen zu beherrschen und zu verwalten – und deren Geschäftsmodell sicher nicht darin liegt, diese Vormundschaft zu beenden.

Objektiv betrachtet hat der Kapitalismus eine Stufe erreicht, in der nun dieser Schritt der Emanzipation erledigt werden kann. Wir sind wohlhabend und frei genug, um uns das letzte, fehlende Glied der Aufklärung anzueignen: das Wissen um Ökonomie.

Wer von Wirtschaft nichts versteht, bleibt immer unmündig – und ganz gleich, ob er als Intellektueller oder Minijobber durchs Leben geht, er bleibt abhängig von anderen, und er wird frustriert die Anklageschriften derer unterstützen müssen, die für ihren Machterhalt von einem »Primat der Politik« reden. Zivilkapitalismus ist der Kapitalismus der Person. Sie steht an erster Stelle. Der Mensch ist das Primat, das zählt.

Aber zurück zu den Notwendigkeiten: Die Änderung der Anklage ist die Änderung des Standpunkts, des Blickwinkels.

Eine Reihe von Politikern weiß, dass ihr Beruf nur Zukunft hat, wenn die Bürger anfangen, den Staat nicht mehr als ständig wachsende Versorgungsanstalt zu begreifen. Es gibt also durchaus Verbündete in der Politik, mehr als man glaubt. So wie es auch in Konzernen und bürokratischen industriekapitalistischen Organisationen eine wachsende Anzahl an Menschen gibt, die das alte Herrschafts- und Wirtschaftssystem ruhig, aber konsequent von innen heraus verändern. Es sind Partisanen in eigener Sache, denen es nicht mehr genügt, dass sie eine schöne Karriere bis zur Rente machen können.

Für den Zivilkapitalismus und die Zivilgesellschaft braucht man einen Treibstoff. Es ist der gleiche, der auch den alten, unsinnigen Anklagen im Prozess gegen den Kapitalismus widersprechen lässt: Mut, Courage, Zivilcourage, Selbstverantwortung.

Richten wir den Blick auf uns selbst. Der Kapitalismus ist ein Instrument, ein Werkzeug, kein Mythos. Wir können mit ihm machen, was wir wollen. Wenn uns beim Versuch, ein Bild aufzuhängen, der Hammer auf die Füße fällt, war das die Schuld des Hammers? Was kann das Werkzeug dafür, dass wir zwei linke Hände haben? Im Umgang mit dem Kapitalismus aber sind Medienleute, Eliten, Politiker und Bürger sich schnell einig: Wütend pfeffern sie den Hammer in die Ecke und verfluchen ihn. Ein Werkzeug zum Sündenbock zu machen, ist die unausbleibliche Folge aller Ahnungslosigkeit: Irgendjemand muss ja schuld sein. Und ich selbst kann das auf keinen Fall gewesen sein. So schlagen wir tapfer daneben, treffen alles Mögliche, nur nicht den Nagel auf den Kopf.

Ein Hammer ist ein Hammer. Aber den Kapitalismus verstehen – ist das denn möglich? Ist das nicht viel zu kompliziert? Sollen wir alle Experten werden, Banker, Aktien-Gurus, Spezialisten? Nein, wir müssen das so wenig werden wie wir Piloten, Chirurgen oder Busfahrer werden müssen, um von komplexen Systemen zu profitieren. Niemand muss einen Pilotenschein machen, wenn er nach London fliegen möchte. Aber was den Kapitalismus angeht, haben viele Flugangst aus Prinzip. Man könnte auch sagen: Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht. Die Kapitalismus-Allergie der westlichen Intellektuellen hat eine ähnliche Ursache wie die antikapitalistischen Beschwörungen der Politik. Beide fürchten, Macht und Deutungshoheit in einer Welt zu verlieren, in der die Menschen selbstständig auf ihren Beinen stehen.

Aber wir sollten aufhören, dem Kapitalismus magische, übersinnliche Kräfte zuzuschreiben. Ärzte sind keine Wunderheiler, und wir sollten froh darüber sein, dass ihr Können nachvollziehbar ist. Wir können fordern, dass die Prozesse der Ökonomie verständlicher und verstehbarer werden. Eine Zivilgesellschaft lebt von einem hohen Maß an Zugriff auf Wissen, natürlich auch auf Expertenwissen. Wenn Bürger selbst mehr entscheiden wollen und sollen, dann brauchen sie auch zugänglichere Informationen.

Wir verlassen seit Jahren den historischen Korridor der Industriegesellschaft und wenden uns der Ökonomie des Wissens zu. Die wissensbasierte Dienstleistungsgesellschaft hat in allen Bereichen die Industrie als treibende Kraft der Wirtschaft abgelöst. In der Wissensgesellschaft wird die Spezialisierung weiter zunehmen. Damit aber nimmt die Notwendigkeit zu, komplexe Bereiche verständlich und nachvollziehbar zu machen. Die wichtigste Eigenschaft im 21. Jahrhundert besteht darin, detailliertes Wissen und Know-how verständlich anzubieten. Zugänge und Zugriffe sind die Schlüsselbegriffe dieser Zeit.

Vor diesem seit Jahren sich klar abzeichnenden Hintergrund agieren die meisten Betriebswirte und Nationalökonomen in einem einzigartigen Autismus. Je gespannter die Lage rund um das Wirtschaftsverständnis der Bürger wird, desto wurbeliger und merkwürdiger wird die Antwort der ökonomischen Experten darauf. Man lebt in unterschiedlichen Welten. Und das ist ein wesentliches Defizit auf dem Weg in eine emanzipierte Zukunft, in eine Zivilgesellschaft der materiell Mündigen. Ökonomen und Betriebswirte haben kein Grundrecht auf blindes Vertrauen. Vielleicht liegt es am Wettbewerb, dem sich die akademische Elite der Ökonomie im kontinentaleuropäischen Bereich kaum zu stellen hat. Dass viele Wirtschaftswissenschaftler mit dem Gegenstand ihrer Forschung so wenig zu tun haben wollen wie viele Konzernmanager, lässt sich kaum leugnen.

Aber das ist eben nur eine Seite. Selbst keineswegs systemkritische Intellektuelle drehen zügig ab, wenn man ihnen ein Grundverständnis kaufmännischer Angelegenheiten abverlangt.

Die einen halten Kapitalismus für eine Bedrohung, die anderen für zu kompliziert und langweilig, andere wiederum haben keine Lust, ihr Geheimwissen mit dem Volk zu teilen.

Die Ohnmacht und das Vertrauen

Niemand fordert blindes Vertrauen, im Gegenteil. Ökonomie muss nachvollziehbar sein. Sie muss zur Teilnahme auffordern, und nicht nur zur Teilhabe, wie dies in der Idee der Konsumgesellschaft der Fall ist, bei der die Rolle der Bürger die der passiven Verbraucher ist – ein Wort, das mehr über die dem heutigen Bürger zugeschriebene Unmündigkeit sagt als tausend Studien.

Niemand verlangt, dass der Kapitalismus dem dient, was wir nicht möchten. Wir können auch anders – das ist eine Verpflichtung, Ökonomie zu gestalten, so wie wir das für richtig halten. Es gibt deshalb keine zivilkapitalistische Doktrin außer dieser, dass möglichst freie Menschen ihre Welt gestalten. Der zivile Kapitalismus liefert, wie die Demokratie, die in der Zivilgesellschaft verfeinert wird, Lösungen für immer individuellere Bedürfnisse. Wir müssen lernen, zu entscheiden, was wir wollen. Wo wir uns nur von einem Kapitalismus von oben bedienen lassen, geschieht genau das gleiche wie in der Politik und anderswo: Wir werden versorgt, zu unmündigen, ohnmächtigen Empfängern. Diese Gefühle der Ohnmacht und der Wut, die dem Kapitalismus heute entgegentreten, sind sehr ähnlich den Gefühlen, die wir der Politik gegenüber haben, der Macht im Allgemeinen. Unser Unbehagen hat einen Grund, aber es ist nicht der, den man uns im Prozess weiszumachen versucht. Wir ärgern uns selbst über unsere eigene Unmündigkeit. Nie war Immanuel Kants Wort richtiger als heute: Aufklärung bedeutet den Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen.

Nehmen wir das ruhig mal persönlich.

Für Leute, die sich gerne von anderen sagen lassen, was sie eigentlich wollen, ist das eine Zumutung – aber für aufgeklärte Menschen sind diese Leute eine Zumutung. Eine offene und freie Gesellschaft kann sich nicht an denen orientieren, die sich alles vorkauen lassen wollen, um bloß nicht selbst zu denken. Der alte Industriekapitalismus hat diesen Menschenschlag genauso gezüchtet wie die Religionen und Machtsysteme zuvor. Die nützlichen Idioten von gestern sind aber in einer Zivilgesellschaft kein Erfolgsmodell mehr. Es wird nicht reichen, dass man eine Anzahl leicht zu manipulierender Verbraucher, Wähler, Mitarbeiter »organisiert«. Diese Zeiten sind vorbei.

Das 21. Jahrhundert braucht selbstbewusste, autonome Menschen, die in der Lage sind, ihre eigenen Dinge zu regeln, und zwar ohne Vormund. Das setzt materielle Autonomie auf allen Ebenen voraus. Wer finanziell abhängig ist oder in Abhängigkeit gehalten wird, ist nicht Bürger der Zivilgesellschaft. Zivilkapitalismus ist nicht die Fortsetzung des alten Kapitalismus. Zivilkapitalismus ist ein Systemwechsel im eigentlichen Sinn: Er ist basisökonomisch und basisdemokratisch. Ein wirtschaftliches System, das im Gegensatz zur Demokratie steht, ist nicht zivilkapitalistisch.

Das Zeitalter des Neokollektivismus

Vor einem halben Jahrhundert noch waren mehr als die Hälfte der Bewohner dieser Erde Bürger von Staaten, die den Kapitalismus offensiv und ausdrücklich bekämpften. Der Kapitalismus war sogar die formale Ursache, dass es diese rote Hälfte der Welt überhaupt gab, denn der Kommunismus verstand sich immer in erster Linie als Reaktion auf die herrschende Wirtschaftsordnung. Das erklärt auch das eigentümliche Entweder-Oder-Denken, das seit jeher jede Diskussion über den Kapitalismus und seine Alternativen beherrscht.

Deshalb erscheinen uns Realitäten als Widerspruch. Ist nicht die Volksrepublik China die größte kapitalistische Weltmacht? Wird dort nicht die Demokratie unterdrückt? Beweist das nicht, dass der Kapitalismus keine Demokratie braucht? Sachte. Einem chinesischen Durchschnittsbürger geht es heute, unter den seit Ende der 1970er Jahre durch Deng Xiaoping eingeführten kapitalistischen Methoden, bei weitem besser als seinen Vorfahren im planwirtschaftlichen China. Das Pekinger KP-Regime, das auch heute noch laufend die Menschenrechte verletzt und für staatliche Repression und politische Willkür steht, ist aber auch nicht das China Maos und seines Terrors, vom »Großen Sprung nach vorn« bis zur »Kulturrevolution«. Was diese Zeit angeht, streiten die Experten noch, ob Mao bis zu 76 Millionen Menschen auf dem Gewissen hat, oder »nur« 60 Millionen. Zwischen 1959 und 1963 starben allein 10,7 Millionen Chinesen in Arbeitslagern. Wer diese Entwicklung nicht sehen will, verharmlost den Massenmord aus ideologischen Gründen.

Die Wohlstandsbasis, die der Kapitalismus in China wie auch in anderen ehemaligen Schwellen- und Entwicklungsländern bildet, macht kein Paradies auf Erden. Aber sie verbessert die Lage der meisten Menschen entscheidend.

Früher, als gar nichts besser war – vor dem Kapitalismus also –, war dies einmal das Hauptmotiv zum Handeln für die Anhänger des Trierer Philosophen Karl Marx, der für den größten aller Antikapitalisten gehalten wird. Doch der Kommunismus ist keineswegs der einzige Feind des Kapitalismus. Linke und rechte Ideologen haben ihre Weltbilder immer auf der uneingeschränkten, totalitären Machtausübung gebaut. Doch eine offene Gesellschaft und eine freie Ökonomie gehören zusammen.

Zivilgesellschaft und Zivilkapitalismus sind untrennbar miteinander verbunden, und sie haben einflussreiche Feinde, die sich auf eine alte Tradition von Macht und Angst berufen können. Das Ich, das Selbst, das Ego sei totalitär, sagen sie, die linken und rechten Konservativen unserer Tage. Das System mache sich auf, den Menschen selbst zu ersetzen. Ergibt das Sinn? Warum sollte der Kapitalismus seine Kunden aus dem Verkehr ziehen? Der Kapitalismus ist berechenbar. Er will seine Interessen wahren. Und seine Interessen bestehen recht eindeutig darin, etwas zu verkaufen. Tote Kunden kaufen nicht.

Verkaufen, das wollen aber auch Antikapitalisten. Sie verkaufen Angst und Unsicherheit. Je unwohler sich die Bürger in ihrer Haut fühlen, desto mehr »Schutz« kann man ihnen verkaufen. Das ist das Geschäftsmodell des Primats der Politik. Diese Form von Schutzgelderpressung ist längst zum Big Business geworden, das umso mehr blüht, je kleiner, je bedrohter sich der Mensch fühlt. Wir sollen uns ausgesetzt, der Komplexität nicht gewachsen fühlen. Nur dann sind wir im Sinne der Politik ein guter Wirt. Fühl dich klein, denn das macht uns groß.

Als Reaktion auf die Zumutungen der Freiheit, auf das Komplizierte einer vielfältigen Welt, ist eine machtvolle Schutzindustrie entstanden, die scheinbar Moral, Ordnung und Sicherheit bietet. Die neuverpackte, uralte Botschaft lautet: Du selbst bist nichts. Das Kollektiv ist alles.

Es ist zum geflügelten Wort wahrer Antikapitalisten geworden, dass das Ego, das Selbst, eine Gefahr sei. Man wolle nicht in einer Welt leben, in der der Einzelne auf sich selbst zurückgeworfen würde. Das sagen viele. Aber was heißt das eigentlich? Dass man sich selbst so unerträglich und fremd ist, dass man sich selbst auf gar keinen Fall begegnen möchte? Steckt hinter der neokollektivistischen Ideologie nicht auch der alte Selbsthass, den Leute pflegen, denen die eigene Gesellschaft unerträglich ist? Und sind das nicht auch genau die Leute, die Gemeinschaft immer nur abstrakt denken können – das »Wir« immer nur als ideologische Konstruktion verstehen? Sind das nicht die, die wir doch eigentlich gut kennen müssten, Menschen, die sich selbst nicht mögen – und die bei nächster Gelegenheit dann erklären, dass man eben auch in einer Gemeinschaft »Opfer« bringen müsse? Menschen, die den Kollektivismus aus Prinzip vor das Eigeninteresse stellen, haben etwas zu verbergen.

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst? Angesichts der Persönlichkeitsbilder von Verschwörungstheoretikern, die meinen, der Kapitalismus wolle uns alle versklaven, ist das keine sehr heitere Perspektive.

Es ist eine neue Art der »Selbstlosen«, die hier antreten. Ihre Selbstvergessenheit ist keine Tugend, sondern eine Bedrohung.

Schuldgefühle in der Morgenröte der Zivilgesellschaft

Die wechselhafte Geschichte des Kapitalismus war immer eine Auseinandersetzung zwischen alter Macht und den neuen Möglichkeiten des Individuums. Zum Kapitalismus gehört die Aufklärung, die Moderne, die Idee der Selbstbestimmung und des Individuums – das, was man lange Jahre unter Fortschritt verstand. Die Emanzipation der Aufklärung forderte immer auch persönliche Autonomie. Das »Wir« war keine erstrebenswerte Zukunft. Das hat nichts mit Egozentrik und mangelnder Empathie zu tun, wie immer behauptet wird. Selbst die Angehörigen der Eliten mussten sich bis zur Selbstverleugnung unterordnen, ihrem Amt, der Dynastie, dem Vorgesetzten, der Etikette. Was wir sehr umfänglich unter dem modischen Begriff des »Glücks« verstehen, ist nichts weiter als das Streben nach persönlicher Freiheit.

Dieser Bruch in der Menschheitsgeschichte – der zwischen der Unterwerfung in der Gruppe und der Selbstverwirklichung – ist sozusagen die große Szene, vor deren Hintergrund die Diskussionen über Kapitalismus, Politik, Zukunft und Ängste aller Art stattfinden. Man muss sich das, im Sinne Karl Kraus’, als »Marstheater« vorstellen, in dem ein gewaltiges Stück Transformationsgeschichte aufgeführt wird. Für die einen sind es tatsächlich die »letzten Tage der Menschheit«, die da auf dem Programm stehen, für die anderen, die noch die Minderheit ausmachen, ist es der Anfang dessen, was man Unabhängigkeit nennt.

Es ist ein Kampf der Kulturen, der diesen Namen auch verdient. Jeder führt ihn auch gegen sich selbst. Wir sind zerrissen zwischen alten Werten und neuen Einsichten und Begehrlichkeiten. Die alte Moral warnt unermüdlich. Im Westen, der sich vom Materialismus des globalen Kapitalismus bedroht sieht und gleichsam auch seine Privilegien verliert, hat sich das Blatt in den letzten Jahrzehnten gewendet. War der Westen im 19. und 20. Jahrhundert noch fortschrittsorientiert, ist er heute pessimistisch geworden. Schuld ist angeblich der Egoismus, der neben der Gier und der Komplexität als drittes Rad am Teufelswagen des Kapitalismus gilt.

Man kann mit einem einfachen Gedankenexperiment für Klarheit sorgen. Stellen wir uns einen Moment vor, wie wir einst von unseren Enkeln und Urenkeln gesehen werden. Das kann gar nicht gut gehen. Das Urteil der Nachwelt über uns ist praktisch schon gefällt: Wir sind böse, denn wir hängen einem rücksichtslosen System an.