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Wolf Lotter

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Beschreibung

Nichts bedroht unseren Wohlstand so sehr wie die Fälschung Wir entfernen uns immer weiter von dem Wert und Wesen des Echten, des Originals, des Unverwechselbaren – sowohl in der Kultur als auch in Gesellschaft und Wirtschaft. Das Echte ist bereits so exklusiv geworden, dass es als Luxus gilt. Wie konnte es dazu kommen, dass das Einzigartige, Echte, Unverfälschte, das jahrtausendelang als Ideal galt, zu einer Nebensache wurde und die Rip-off-Kultur in allen Bereichen des Lebens fröhliche Urständ feiert? Wo Ideen, Produkte und Methoden geklaut werden und dafür auch kein Unrechtsbewusstsein besteht, wird dieser zentrale Wert der Wissensgesellschaft sabotiert - oft von den gleichen Leuten, die deren Verlust beklagen. Aber gerade für uns gilt: Das Original ist unsere Chance. Das Echte ist unser Kapital. Der Kampf um das Echte keineswegs sinnlos ist, er muss nur immer wieder neu geführt werden müssen. Wolf Lotter zeigt, wo wir ansetzen müssen und warum wir alle vom Wert des Echten profitieren.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Echt

WOLF LOTTER, Jahrgang 1962, gelernter Buchhändler, studierte Kulturmanagement, Geschichte und Kommunikationswissenschaften, wurde aber dann doch lieber Wirtschaftsjournalist. Er schreibt u.a. Kommentare für die Wirtschafswoche, Profil sowie Der Standard (beide Wien) und ist Kolumnist für die taz FUTURZWEI. Er ist auch Mitbegründer des PEN Berlin, gefragter Keynoter und häufig zu Gast in Podcasts und Radiosendungen. Seit 2022 ist er zudem Mitglied im Publikumsrat des ORF.

Wir sind umgeben von Fälschungen: Überall kursieren Fake-News, die KI schafft unechte Abbilder, sogar O-Töne und Videos werden manipuliert. Medienhäuser und Institutionen suchen fieberhaft Spezialisten dafür, Fälschungen zu erkennen, demokratische Institutionen kämpfen einen verzweifelten Kampf um mehr Bewusstsein gegen Fakes und Plagiate. Nichts bedroht unsere Wissensgesellschaft, unseren Wohlstand und die wirtschaftliche Entwicklung so sehr wie die Fälschung und die billige Kopie. Die Copycats sind überall, nicht nur in China, wo seit Jahrzehnten Marken, Produkte, Ideen und Urheberrechte systematisch gestohlen und nachgeahmt werden. Auch bei uns wird Kunst gefälscht, Prädikatssiegel werden erfunden, Gefälligkeitsgutachten erstellt, Musik kopiert und billige Plagiate in Massen gekauft. Die größte Gefahr geht von uns selbst aus: Wir ruinieren unser Land, weil wir selbst zu tief mit den Kopierern unter einer Decke stecken – und damit unser Erfolgsmodell, echte Innovationen und höchste Qualität, verraten. Aber der Kampf um das Echte ist keineswegs sinnlos, er muss nur immer wieder neu geführt werden müssen. Gerade jetzt.

Wolf Lotter

Echt

Der Wert der Einzigartigkeit in einer Welt der Kopien

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Econ ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH

ISBN: 978-3-8437-3166-9

© der deutschsprachigen Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Redaktion: Michael Schickerling, schickerling.cc, MünchenWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: total italic, Thierry WijnbergAutorenfoto: © Katharina LotterE-Book powered by pepyrus

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Echt jetzt!

1 – Das Wahre, Echte

2 – Die Welt, ein falscher Fuffziger

3 – Täuschungen, Enttäuschungen

4 – Globaler Selbstbetrug

5 – Echte Werke, echte Menschen

Anmerkungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Echt jetzt!

Echt jetzt!

Guck mal in deinen Spiegel, da steht das Original.Du bist nicht kopiert, nein, du bist gemalt.Alles, alles echt, nix gefakt oder falsch.Keine zweite Wahl, nein du bist das Original.

(PRINZ PI UND MARK FORSTER, »DAS ORIGINAL«)

1

Dieser Essay ist dem Wert und dem Wesen des Echten, des Originals und des Unverwechselbaren, des Einzigartigen gewidmet. Wir wollen sehen, wie sehr wir uns in Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft davon entfernt haben. Das Echte ist so exklusiv geworden, dass es schon als Luxus gilt. Dieser Luxus sichert aber alles, was wichtig ist, um durch die Jahre zu kommen: Wohlstand, Wissen, Innovationsfähigkeit, die Freude an Einmaligem, Erlebtem. Das Echte ist es wert, gewogen und geprüft zu werden.

Doch was ist das Echte eigentlich? Die kürzestmögliche Antwort lautet: Das, was ist. Und das hat viele Namen: Realität, Wahrheit, Original, Beweisbares und Faktisches, Vertrauenswürdiges und Nachhaltiges. Sein Gegenteil, das Falsche, behauptet das freilich auch, um uns zu täuschen. Wir sollen dem Konstruierten, der Manipulation, der Fälschung und Täuschung auf den Leim gehen. Es wirkt in Zeiten, in denen alle Aufmerksamkeit suchen, wie ein starker Magnet.

Das Echte zieht das Falsche an. Aber das ist nur auf den ersten Blick so. Um die Echtheit von Gold zu prüfen, kann man einen starken Magneten in seine Nähe bringen. Das echte Gold wird davon abgestoßen.

Unser Goldstandard ist ein kritischer Verstand, aufgeklärtes Fragen und konstruktives Zweifeln. In den Medien, nicht nur im Web, kursieren Fake News und Kopien. Im Journalismus, dessen wichtigste Aufgabe es war und ist, Falsches von Richtigem zu unterscheiden und so den Menschen Informationen für Lebensentscheidungen aller Art zu liefern, braucht es mittlerweile korrigierende Einrichtungen, Korrektive, um die Auswirkungen von Manipulation und Fälschung von Nachrichten zu lindern. Lebenspraktisch hat sich der angesehene deutsche Theodor-Heuss-Preis im Jahr 2023 das Thema der Zeit gesetzt: »Zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden – Chance der Demokratie«. Der russische Dissident und Fake-News-Experte Leonid Wolkow wurde zum Preisträger gewählt, weil er, so befand es die Jury, deutlich macht, »wie gefährlich in einer Demokratie permanente ›Lügenkampagnen‹ von Teilen der Bevölkerung und auch von Parteien sind. Das ist uns auch für Deutschland eine Mahnung.«2 In Zeiten des Krieges gehören List und Fälschung, Propaganda und Fake News von jeher zur Normalität, die wir gerade deshalb immer wieder hinterfragen müssen.

Plagiate, die Aneignung fremden geistigen Eigentums, erschüttern seit Jahren die Welt der Universitäten und der Politik. Zumindest Ersgenannte galten lange Zeit als Verteidiger des Echten, des originären Gedankens. Dass Plagiatsfälle stark zunehmen, ist nicht nur eine Frage besserer Methodik und Technik bei deren Aufklärung. Die Aneignung fremder Ideen ist so üblich geworden, dass kaum noch jemand darüber nachdenkt, weshalb das eigentlich geschieht. Für Gesellschaften, in denen Wissen längst die wichtigste Ressource ist und damit die Innovationsfähigkeit und langfristige Sicherung wirtschaftlicher und politischer Interessen, ist das ein katastrophaler Befund: Sie wissen nicht, was sie tun – was aber keine Entschuldigung sein darf. Denn nie war der Respekt vor dem Original und seinen Urhebern so gering wie heute.

Es wird gesampelt, recycelt und geklaut, was das Zeug hält. Mit gerechter Teilhabe, wie oft behauptet wird, hat das nichts zu tun. Es zeigt nur, wie kurzsichtig diejenigen sind, die das behaupten. Viele von ihnen wollen die Konsumgesellschaft und deren schieren Materialismus in die Schranken weisen. Wie soll das aber funktionieren, wenn die einzige Alternative dazu – innovatives Denken, geistige Arbeit, Ideen und Originalität – nicht geschätzt wird? Hinter so mancher Konsumkritik steckt kaum mehr als oberflächlich getarnter Konsumismus. Das Internet ist so, wie es sich heute auf Plattformen und Social Media präsentiert, vor allen Dingen ein Vehikel eines rücksichtslosen Marketingkapitalismus, der keine Originale braucht, sondern von der Kopie lebt.

Das aktuell schlimmste Beispiel dafür ist Tiktok, eine chinesische Propagandaschleuder, in der die vorwiegend jugendlichen Nutzer dazu erzogen werden, sich die Kreativität anderer anzueignen. Wo scheinbar niemandem mehr etwas gehört, haben die Zentrale, die Partei, der Staat, der Konzern Oberwasser. Das ist die politische Botschaft der vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten. Es ist eine Diktatur, die sich als Vielfaltswelt ausgibt. Ein falscher Fuffziger, der die Demokratie bedroht – und vorher den kritischen Verstand unserer Kinder beseitigt.

Innovationen sind in diesem System Störfaktoren. Was wir gerade erleben, ist das letzte Gefecht der Kopiergesellschaft, die sich aus der industriellen Revolution entwickelt hat.

Die Wissensgesellschaft lebt vom Echten, vom Einzigartigen. Wer das übersieht, verliert alles. Wer das erkennt, baut heute schon an einer Welt, die sich kein X für ein U vormachen lässt. Dafür wird heute jede und jeder gebraucht.

1 – Das Wahre, Echte

Echtheit bezieht sich normalerweise darauf, ob etwas authentisch oder original ist. In Bezug auf Informationen oder Daten kann »echt« bedeuten, dass sie korrekt und verifiziert sind. In Bezug auf Gegenstände kann »echt« bedeuten, dass sie nicht gefälscht oder nachgemacht sind. Es ist wichtig zu beachten, dass Echtheit manchmal schwer zu bestimmen sein kann und von verschiedenen Faktoren abhängt.

(CHATGPT AUF DIE FRAGE: »WAS IST ECHT?«)

3

Alles echt

Die Sehnsucht nach Echtheit und Einzigartigkeit in einer Welt, die immer lauter zum Mitmachen auffordert, ist unübersehbar groß. Die Menschen haben die Konserven satt. Sie wollen Frischware.

Dabei genügt es ihnen nicht mehr, in die Provinz zu ziehen, abseits der großen Städte zu leben. Das Echte finden sie nur noch in der extremen Peripherie, wo es keinen Wasseranschluss mehr gibt, keinen Kanal, keinen Strom und nur mit sehr viel Glück Handyempfang. Es gibt auf Youtube Millionen Abonnenten solcher Videokanäle, die dieses Off-Grid- und Remote-Erlebnis verkaufen, mit jungen Leuten, die sich ihre Hütte im Wald bauen, in Alaska, Kanada oder Nordschweden.

Der niederländische Grafikdesigner, Fotograf und Filmemacher Martijn Doolaard ist einer der erfolgreichsten unter den regelmäßigen Chronisten dieser Suche nach dem Echten. Rund 600 000 Abonnenten schauen jede Woche eine Stunde lang dabei zu,4 wie Doolaard, der zwei alte Steinschuppen in den Piemonteser Alpen erwarb, das Dach mit Schiefertafeln deckt, Wände verfugt und einen Hühnerstall baut – um nur ein paar der unzähligen handwerklichen Arbeiten des Mannes anzuführen. Es sind in der Regel nicht mehr die alten Zurück-zur-Natur-Geister, die es noch vor einigen Jahren gab. Immer dabei ist heute die Kamera, denn jede Renovierung, jedes Abenteuer ist auch ein Filmset, und das Geld für Material und Lebensunterhalt kommt vorwiegend aus den Youtube-Einnahmen. Doolaard ist Vollprofi mit MacBook und Hightech-Drohne, der seine Fähigkeiten als Bauherr an der Youtube-Universität erworben hat.

Das Projekt der »Cabins in the Italian Alps« ist dabei nur ein besonders sehenswertes Beispiel für den Drang nach Selbstverwirklichung, die mit echt harter Arbeit verbunden ist. Nicht mehr der Geiz ist geil, sondern Können, Know-how und persönliche Fertigkeiten – jene einzigartige Mischung, die man, lange vor der Industrialisierung, den Meistern zugeschrieben hat. Handarbeit und Selbstbewusstsein verbinden sich mit digitaler Wissensarbeit zu einem neuen Bewusstsein: Ich kann mir helfen. Ich bin kein Verbraucher, sondern Gestalter echter, einzigartiger Dinge.

Für die Meisterschaft, die das Original und das Einzigartige verlangt, muss man aber nicht in die Pampa ziehen. Es geht auch anders. Laut. Live.

Im August 2023 berichtete der Wirtschaftsdienst Bloomberg über einen bemerkenswerten Wachstumsimpuls in der Wirtschaft der Vereinigten Staaten: Das Bruttoinlandsprodukt der USA werde im dritten Quartal um geschätzte 8,5 Milliarden Dollar oder rund 0,7 Prozent wachsen. Dafür konnte das Silicon Valley nichts und auch keine andere Branche, die zu den üblichen Verdächtigen in Sachen Konjunktur und Wachstum zählt. Der Zuwachs baut einzig und allein auf den künstlerischen Aktivitäten der Damen Beyoncé und Taylor Swift, deren 50 Konzerte ihrer Tourneen zusammen einen Wert von 5,4 Milliarden Dollar repräsentieren. Den Rest auf die 8,5 Milliarden steuerten die Blockbuster Barbie und Oppenheimer bei.5 Beyoncé und Swift sind zwar die Topstars ihrer Branche, aber eben nur die Spitze eines Trends, die neue Regel, keine Ausnahme. Deshalb wurde Taylor Swift, die Galionsfigur dieser Entwicklung, auch 2023 zur »Person des Jahres« im Time Magazine gewählt, die erste Künstlerin überhaupt, der diese Ehre widerfährt.

Liveacts, bei denen Originale, die Musikerinnen und die Künstler, mit echten Menschen an einem Ort zusammenkommen, verdienen seit Jahren – und schon vor der Corona-Krise – das große Geld in der Unterhaltungsbranche. Künstler erzielen, so hat der Musikproduzent Thomas Stein es in einem RTL-Interview vorgerechnet, zwischen 80 und 90 Prozent ihrer Umsätze durch Konzerte und Shows.

Wir nehmen das irgendwie zur Kenntnis, aber fragen uns selten, was das bedeuten könnte. Das Geschäft mit der Konserve, der Kopie – alias der Schallplatte, der CD und letztlich auch der immer knapperen Tantiemen, die Streamingdienste wie Spotify für die eigentlichen Schöpfer des Originals bereit sind abzugeben – reicht nicht mehr aus, um das aufrechtzuerhalten, was wir einmal Musikindustrie nannten.

Umgekehrt nimmt die Kritikfähigkeit ständig ab und der Faktenanalphabetismus ständig zu. Schon 2016 zeigte eine Stanford-Studie, dass immer weniger junge Menschen zwischen Werbung, Marketingaussagen und News unterscheiden können.6 Ob jemand sich die Nachrichtensendung gekauft hat oder ob das, was dort verkündet wird, noch objektiv ist, scheint immer weniger Menschen zu interessieren – Hauptsache, sie hören, was sie hören wollen. Das ist zugleich der Preis der Virtualisierung: Wer nicht mehr zwischen Monitor und Realität unterscheiden lernt, der hält alles, was ihm vorgesetzt wird, immer für bare Münze.

In gewisser Hinsicht sind wir die Opfer einer Fata Morgana, jener trügerischen Luftspiegelung, die nach der mystischen Fee Morgana benannt ist und die in Wüsten eine grüne Oase vortäuscht, an der Küste eine nicht existente Insel oder etwas anderes Handfestes, wo eigentlich nichts ist als heiße Luft. Schlimm ist nicht so sehr, dass wir die Fata Morgana überhaupt sehen – das ist nicht zu vermeiden, unser Auge und unser Gehirn lassen sich auf gar nichts anderes ein. Das eigentliche Problem besteht darin, dass die Fata Morgana uns von den Ausblicken ablenkt, die sich wirklich lohnen, weil sie eine reale Landschaft zeigen, reale Dinge, reale Menschen.

Das ist, gleich hier zu Beginn dieses Buchs, ein Hinweis darauf, worum es geht: In der Aufmerksamkeitsgesellschaft wollen alle dabei sein, in der Konsumgesellschaft, die sie hervorgebracht hat und weiterhin trägt, verspricht die Individualisierung uns Einzigartigkeit und Sinn, etwas Echtes eben. Aber was wir meistens bekommen, ist Konfektionsware, ein falscher Fuffziger von der Stange. Deshalb drängt es Leute raus ins Off-Grid und rein ins Handwerk, ins Gegenständliche, wo die Kopie schlechte Karten hat, weil sie eben nicht trägt.

Das Echte braucht echte Aufmerksamkeit im Sinne von Zuwendung und Ernsthaftigkeit. Es lässt sich nicht einfach konsumieren, weil in allem Echten auch ein Stück von uns ist – nichts Geliehenes, Geborgtes oder Geklautes. Es ist das, wofür es sich anzustrengen lohnt. Und das muss man auch, denn das Echte wirft sich uns nicht einfach zu Füßen.

Nach wie vor leben wir aber in und für das Massenhafte, die Menge, die Quantität. Dabei ist, als Gesellschaft wie im globalen Konkurrenzkampf betrachtet, ein schnelles, gründliches Umschwenken auf Qualität, Originalität und Innovationsfähigkeit nötig.

Das sollte uns nicht fremd sein, dafür standen wir mal. Doch das ist lange her. Jetzt wird der Westen zu seinem eigenen Abziehbild. Diese zunächst frustrierende Einsicht ist aber nur das Ende vom Anfang einer Einsicht, die sich seit Jahrzehnten immer stärker Bahn bricht. Das Echte wollen, das heißt: Wir müssen herausfinden, wer wir wirklich sind, was wir wirklich können, was wir wirklich brauchen.

Und all diese Dinge hängen zusammen. Die Suche nach dem Echten ist keine billige Sinnsuche, bei der uns ein paar Gurus etwas verhökern wollen. Da geht es, wie wir sehen werden, um ganz handfeste materielle Interessen, um Geld, Einfluss, Macht, Zugriff, Teilhabe. Ums Ganze.

Die Sehnsucht nach Echtheit ist in uns, auch wenn sie häufig nur mit einer Fata Morgana beantwortet wird. Immer mehr Menschen verstehen, dass es nicht reicht, einfach immer mehr vom Gleichen zu haben. Sie wollen, was für sie passt. Das ist die große Transformation. Sie führt vom Mitlaufen zum eigenen Leben. Unser Leben ist kein Fake. »Du bist«, wie die Künstler es eingangs so schön sagten, »keine zweite Wahl. Du bist das Original.«

Womit wir wieder bei Beyoncé und Co. wären, bei Livekonzerten, für die man gut und gerne 400, 500, 600 Euro ausgeben kann, wenn es überhaupt noch Karten gibt, denn die Nachfrage überschreitet das Angebot deutlich: Liveshows sind echt!

Sie sind Originale. Sie können nicht beliebig wiederholt werden. Wer in Woodstock nicht dabei war, kann sich eine Konserve kaufen, eine Eventkopie. Wer Taylor Swifts Tour versäumte, kann natürlich auch auf Spotify ihre Hits hören – vorausgesetzt, die sich ihrer Originalität und Urheberrolle bewusste Swift lässt es zu, dass der Musikdienst den allergrößten Teil des Geldes für sich kassiert – und die Künstler, die das Einzigartige geschaffen haben, sich mit Krümeln zufriedengeben müssen.7 Schon vor Jahren war Swift, zusammen mit anderen Größen wie Herbert Grönemeyer, offensiv gegen die Streamingdienste aufgetreten. Original ist Markenmacht ist Marktmacht.

Im Jahr 1968, als sich die politische Landschaft änderte, hieß es: Das Private ist politisch. Für unsere Zeiten gilt: Das Persönliche macht die Politik.

Das, was uns lange als Normalität erschien, trägt nicht mehr und verblasst allmählich. An seine Stelle tritt etwas Neues, das uns, wenn wir ihm begegnen, gleichsam fremd und vertraut erscheint. Wir kennen uns, das Echte, das Wirkliche, das Reale, nur mehr flüchtig. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen. Wir haben uns verändert. Mit dieser Begegnung haben viele schon gar nicht mehr gerechnet.

Was ist Einzigartigkeit?

Einzigartigkeit bedeutet, dass jemand oder etwas einmalig ist. Bei Produkten und Ideen sprechen wir vom Original, bei Menschen von unverwechselbarer Persönlichkeit, jener wirklichen Individualität, die uns voneinander unterscheidbar macht. Einzigartigkeit gewinnt dort, wo viel nachgeahmt und kopiert wird und wo die Komplexität sehr hoch ist, eine zentrale Rolle spielt. Komplexität ist ja nur dann kompliziert und chaotisch, solange sie nicht klar erschlossen und damit unterscheidbar ist. Das haben Originale immer geschafft: Sie heben sich kenntlich ab von der Masse, dem Vielen. Sie schaffen Orientierung durch Kenntlichkeit.

Mit der Digitalisierung wurde vorschnell der Einzigartigkeit abgesagt. Es gibt keinen technischen Qualitätsverlust mehr, alles ist ein Zitat, alles kopierbar, wiederverwertbar. Das Recycling des Vorhandenen ist aber nichts anderes als das Verfrühstücken der Substanz. Fast alle Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte wenden sich gegen Künstler, gegen die Schöpfer der Originale. Es mag sein, dass die Summen, die Beyoncé und Taylor Swift umsetzen, die ganz großen Konzernbosse, die ihre Urheber und Kreativen ausquetschen, nicht beeindrucken. Sie sind auch noch nicht das Ende dieser ungerechten Herrschaft der Verwalter und Manager über die Schöpfer der Originale und Innovationen, in Kunst wie Technik, Wirtschaft, Gesellschaft und anderswo.

Sie sind aber »the end of the beginning«, wie Churchill sagte. Künstler und Innovatoren werden selbstbewusst. Kunden anspruchsvoller. Konserven reichen nicht mehr. Es muss frisch, live, echt gekocht werden. Was sich da zusammenbraut, verheißt nichts Gutes für das, was sich selbst »Industrie« nennt – eine wirtschaftliche Form, die nichts anderes kann, als immer billiger und immer mehr zu kopieren. Menschen im Wohlstand wollen gesehen, beachtet und als Persönlichkeit wahrgenommen werden. Sie nehmen auch ihre Produkte und die damit verbundenen Dienstleistungen persönlich. Das ändert das Spiel so grundlegend, dass viele sich gar nicht erst darauf einlassen, die damit verbundenen neuen Regeln verstehen zu lernen. Das ist keine ganz leichte Übung, und es ist keineswegs auszuschließen, dass wir auf der Suche nach dem Echten gelegentlich auf Irrwege geraten, falsche Abzweigungen nehmen und uns täuschen lassen. Das aber müssen wir wohl in Kauf nehmen. Fangen wir an.

Echter Charakter

Vor einigen Jahren veröffentlichte die Autorin und Hochschuldozentin Alexandra Hildebrandt einen Kommentar zum Thema »Charakter am Arbeitsplatz: Warum wir uns nach dem Echten sehnen«.8 Dieses kluge Stück stellt einen wichtigen Zusammenhang her zwischen Echtheit und Charakter. Das aus der Mode gekommene Wort »Charakter« bedeutet im Altgriechischen so viel wie »Prägung« oder »Prägestempel«, beim Menschen also jene »persönlichen Kompetenzen, die die Voraussetzung für ein moralisches Verhalten bilden«.9 Vielleicht ist das ein wenig zu großzügig, die Sache mit dem moralischen Verhalten. Fest steht, dass der Charakter das ist, was einen Menschen auszeichnet, unverwechselbar macht.

Der Managementforscher Warren Bennis meinte sogar, dass Leadership, die Fähigkeit, mehr zu sein als ein Manager, nämlich ein Anführer, vor allem eine Charakterfrage sei. »Die Kernkompetenz zur Führung ist Charakter«10, so Bennis. In seiner in der Organisationstheorie populären Gegenüberstellung der Eigenschaften eines Managers zu denen eines Anführers stellt Bennis fest: Manager verwalten, erhalten und sind eine Kopie. Anführer hingegen erneuern, entwickeln und sind Originale. Der Charakter einer Sache wie eines Menschen ist gleichbedeutend mit seiner Unverwechselbarkeit. Der Charakter – das Echte, das Einzigartige –gibt uns Orientierung, erhellt Zusammenhänge, setzt Handlungen und Verhalten in einen Kontext zu unserem eigenen Leben. Das Echte ist ein Kompass, eine Leitlinie. Dabei geht es nicht darum, dass wir uns alle immer mit dem Charakter, der Originalität einer Sache anfreunden müssen. Moralisches Verhalten kann ja gut oder schlecht sein. Wichtig für uns ist aber, dass dieses Verhalten einschätzbar wird, weil es kenntlich ist. Auch der schlechte Charakter einer Führungskraft ist ein Original – eines, das uns davor warnt, mit ihr zusammenzuarbeiten.

Hildebrandt vermisst die guten und schlechten Charaktere gleichermaßen, sie schreibt: »Einen Charakter zu haben, hieß für Philosophen wie Immanuel Kant, nach festen Grundsätzen zu handeln und ›nicht wie in einem Mückenschwarm bald hierhin, bald dahin abspringen‹. Menschen mit Eigenschaften sterben im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung immer mehr aus, während gleichzeitig profillose Aufsteiger nachwachsen.«11 Der Gesellschaft und dem Management fehlten »Menschen mit Charakter, die unerschrocken für ihre Themen einstehen, mutig und berechenbar sind, die zu ihren Fehlern stehen und auch mal anecken, deren Konturen klar und nicht verwaschen sind. Das macht sie zuweilen auch angreifbar. Aber das ist der Preis, der für Echtes bezahlt werden muss. Wer erkennbar sein will und auch andere bewegt, ein authentisches und engagiertes Leben zu führen, nimmt das gern in Kauf.«

Das ist eine vertraute Klage, und sie ist mehr als berechtigt. Auch unter denen, die behaupten, dass sie sich für die radikale Transformation einsetzen, finden sich immer mehr Zitiermaschinen, die, egal ob m, w oder d, die immer gleichen Phrasen gut geschminkt und ausgeleuchtet wiederholen. Netzwerke wie LinkedIn sind voll mit glatten, charakterlosen Absichtserklärungen, die in der Regel voneinander abgeschrieben sind. Es geht nicht mehr darum, was man sagt, sondern wie man dabei rüberkommt. Das ist eine Fälschung der besonderen Art, auf die wir noch oft eingehen werden, denn sie legt nicht nur andere rein und entwertet den meist wichtigen Hintergrund des Gesagten, sondern auch sich selbst. Und Selbstbetrug ist die schlimmste Fälschung von allen.

Aber das ist kein Wunder in einer Welt, in der schon Schulkinder darauf getrimmt werden, dass ihre Präsenta­tion »professionell rüberkommt«. Es geht um die Inszenierung, um das Theater. Der neue Konformismus ist perfider als der alte: Er steckt die kleinen Mitläufer nicht in graue Kittel in düstere Arbeitslager, ans Fließband und in feuchte Hinterhöfe – er lässt seinen Betrug gut aussehen. Der Verblendungszusammenhang der Kulturindustrie, die Theodor Adorno und Max Horkheimer im Jahr 1944 in ihrer Dialektik der Aufklärung erkannten,12 ist zum wichtigsten Produktionsmittel der späten Konsumgesellschaft geworden, in der allen Persönlichkeit versprochen wird und die zugleich häufig völlig charakterlos daherkommt. Was Adorno und Horkheimer vor dem Hintergrund des Faschismus erkannten, wiederholt sich, weil niemand sich die Mühe gemacht hat, den Menschen beizubringen, ihr eigenes Leben mit nüchternen Augen anzusehen.

Statt auf ihre Einzigartigkeit stolz zu sein und etwas daraus zu machen, lernen sie, dass sie sich gefälligst einzuordnen haben. Sie sind Mückenschwarm statt gelebtem Original.

Change-Washing, Greenwashing

Mit Begriffen wie »echt«, »authentisch«, »einzigartig«, »einmalig« und »original« wurde und wird viel Schindluder getrieben. Deshalb wird es hier darum gehen, zum Teil sehr verstellte Begriffe in ihrer realen, echten Bedeutung erkennbar zu machen.

Es gibt Greenwashing, das so heißt, weil Unternehmen, Politiker und Lobbyisten, die gar nichts Ökologisches im Sinn haben, sich als überzeugte Weltretter geben – was eine Zeit lang klappt, aber die Glaubwürdigkeit der Institutionen auf lange Sicht völlig zerstört. Wer kennt schon die Hintergründe der unzähligen Biozertifikate, Herkunftsgarantien, der ganzen »Naturrein«-Beteuerungen, die auf immer mehr Lebensmitteln prangen? Dabei ist der Anteil der Biolebensmittel tatsächlich viel kleiner, als Marketing und Werbung behaupten. Im Jahr 2011 waren 4,1 Prozent des Gesamtumsatzes an Lebensmitteln in Deutschland echtes Bio, aus nachweislich biologischer Landwirtschaft, 2022 ganze 7 Prozent.13 Ähnliche Effekte sehen wir auch in jenem Change-Washing, bei dem alle im Unternehmen für Veränderung, Diversity, offene Gesellschaft und neues Arbeiten sind, solange die Leute das nicht im Homeoffice, also ohne Kontrolle und ohne Meetings tun.

Dann gibt es noch die Manipulation des Echten und Einzigartigen an sich, des Persönlichen. Wir erleben das im Internet täglich, in den sozialen Medien, in der Werbung, auf Instagram. Es ist diese Selfie-Kultur, die nichts mit Individualität zu tun hat, aber vortäuscht, etwas Einmaliges, Einzigartiges zu zeigen. Das erinnert an das Bonmot, dass wir alle unterschiedlich sind, so wie alle anderen auch. In den sozialen Medien hat man sich überwiegend dazu entschlossen, sein Original nach den Vorlieben und Vorgaben anderer zu gestalten. Selfie-Menschen wollen geliebt werden. Sie tun, was man von ihnen erwartet. Ist das echt? Oder kann das weg?

Nun gehört, machen wir uns nichts vor, das Falsche zum Echten, seit jeher. Und das Aufspüren des »echten« Echts ist keineswegs banal. Es kostet Kraft, braucht viel Vernunft und Energie. Das Echte ist von jeher schwer zu bestimmen. Wir lernen gerade auf die harte Tour, mit den neuen Fälschungen umzugehen, die uns als Fake News und Manipulationen aller Art überrollen. In diesem globalen Konflikt geht es durchaus um zwei Begriffe, die in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder aufgeweicht wurden: um Richtig und Falsch.