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Zwei Experten schlagen Alarm: Übergewicht, Mediensucht und Schuleschwänzen werden zunehmend zu einem gesellschaftlichen Problem. Jedes vierte Kind in Deutschland ist zu dick, eine halbe Millionen zählen als Risikogamer, im Schnitt verbringen Kinder und Jugendlicher acht Stunden täglich online, und eine große Anzahl schwänzt die Schule. Treten diese drei Phänomene zusammen auf, spricht man inzwischen vom ISO-Syndrom: I steht für Internetsucht, S für Schuleschwänzen und O für Obesitas - krankhaftes Übergewicht. Wie man seine ersten Anzeichen erkennt, welche Ursachen dahinterstecken, wie sie sich gegenseitig bedingen und was Eltern, Therapeuten und Pädagogen tun können, steht in diesem Buch.
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Seitenzahl: 337
Veröffentlichungsjahr: 2019
Dr. med. Wolfgang Siegfried • Tim Wanders
Das ISO-Syndrom – die neue Gefahr für unsere Kinder
Zwei Experten schlagen Alarm: Übergewicht, Mediensucht und Schuleschwänzen werden zunehmend zu einem gesellschaftlichen Problem. Jedes vierte Kind in Deutschland ist zu dick, eine halbe Millionen zählen als Risikogamer, im Schnitt verbringen Kinder und Jugendliche acht Stunden täglich online, und eine große Anzahl schwänzt die Schule. Treten diese drei Phänomene zusammen auf, spricht man inzwischen vom ISO-Syndrom: I steht für Internetsucht, S für Schuleschwänzen und O für Obesitas – krankhaftes Übergewicht. Wie man seine ersten Anzeichen erkennt, welche Ursachen dahinterstecken, wie sie sich gegenseitig bedingen und was Eltern, Therapeuten und Pädagogen tun können, steht in diesem Buch.
Dr. med. Wolfgang Siegfried ist Facharzt für Innere Medizin und Lungenheilkunde; außerdem Sportmediziner, ernährungsbeauftragter Arzt und Hypnotherapeut. Er hat in Italien, Deutschland, Irland und den USA studiert, geforscht und gearbeitet. Seit 24 Jahren ist er ärztlicher Leiter des Adipositas-Rehazentrums Insula mit Wohngruppen in Bischofswiesen. Hier behandelt er hochgradig übergewichtige Jugendliche und junge Erwachsene in Langzeittherapie.
Tim Wanders ist Erzieher und Sozialarbeiter sowie Anti-Aggressivitäts- und Coolness-Trainer®. Nach mehrjährigem Einsatz in einem Familienzentrum sowie im Schulbereich arbeitet er heute im Adipositas-Zentrum Insula in Bischofswiesen. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehört u.a. der Aufbau von Sozial- und Medienkompetenz der Patienten.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2019
Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Unter Mitarbeit von Judith Schneiberg
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München
ISBN 978-3-644-00254-8
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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www.rowohlt.de
Vorwort
Was ist das ISO-Syndrom?
I steht für Internetabhängigkeit
Was versteht man unter Internetabhängigkeit?
Wann spricht man von Computerspielabhängigkeit (Internet Gaming Disorder)?
Wann spricht man von einer Abhängigkeit von sozialen Netzwerken (Social Media Disorder)?
Was macht Videospiele so reizvoll?
Welche Faktoren können zu Computerspielabhängigkeit führen?
Spielen ohne Ende: Free-to-play-Games
Glücksgefühle – Belohnungen mit System
Jetzt ein paar Drachenmünzen, später hohe Schulden: In-Game-Währungen
Verlockende Schätze für Spielhelden – Lootboxen
Ferngesteuert vom Smartphone – Pushnachrichten
11 Millionen Menschen beim Konzert – Events und Quests
Statt realer Treffen – Gemeinschaft in Videospielen
Angst vor dem Rausschmiss – Soziale Zwänge in Online-Spielen
Niemand ist gerne ein Verlierer – Rankings in Konkurrenzspielen
Endlich ein anderer sein – Der Avatar in einer risikofreien Welt
8 bis 12 Stunden online am Tag – Vermeidung von Langeweile
Verzerrte Realitätsvorstellungen – Der Einfluss von Werbung und Streamern
Fazit
Worin liegt der Reiz sozialer Netzwerke?
Jeder hat es – WhatsApp als Austauschmedium Nummer eins
Schnell und unkompliziert – Vermeidung von realen Begegnungen
Über alle Grenzen hinweg – Chancen und Risiken von Online-Freundschaften
Scheinbare Nähe – Besonderheiten der Online-Fanwelt
Online statt offline – Soziale Netzwerke als wichtigster Informationskanal
Die perfekte Illusion – Veränderte Wahrnehmung von Realität
WhatsApp, Facebook, Instagram – Risiken bei der Datenfreigabe
Userfreundlichkeit? – Individualisierte Werbung in sozialen Netzwerken
Freundschaftsvergleich – Sozialer Druck als Zeitmaximierer
FOMO – Die Angst, nicht alles mitzukriegen
Fazit
Was macht Streaming so reizvoll?
Streamen immer und überall – Video-on-Demand
Kein Ende in Sicht – Unbegrenzte Auswahl als Anreiz
Alle immer mobil – 24 Stunden auch offline verfügbar
Immer up to date – Informationen für alle Lebenslagen
StreamOn – Konsumieren ohne Datenlimit
Binge Watching – Auswirkungen und Suchtpotenzial
Komplex, vielschichtig und mit Identifikationspotenzial – Erzählweisen moderner Serien
Purge Watching – der Drang zu gucken
Fazit
Wie kann man Internetabhängigkeit vorbeugen?
Aufbau von Medienkompetenz
Ein Profil sagt heute mehr als eine Vita – Risiken bei der Veröffentlichung persönlicher Informationen
Die Macht der Täter minimieren – Umgang mit Cybermobbing
Online gilt: Fremden misstrauen – Vom Facebook-Flirt zum Cybergrooming
Mediennutzung – Was ist angemessen?
WLAN, Handyverträge & Co.
Medienzeiten
Hilfreiche Informationsquellen im Netz
Welche Faktoren tragen zur problematischen Mediennutzung bei – und wie können sie abgebaut werden?
Problem: «Vorteile» durch übermäßigen Medienkonsum
Problem: Autonome Entscheidung über den Medienkonsum
Problem: Aufmerksamkeit durch schwieriges Medienverhalten
Problem: Extremer Medienkonsum im Umfeld
Problem: Digitaler Medienkonsum als Kontaktfunktion
Problem: Mangelnde Unterstützung beim Aufbau gesunder Verhaltensmuster
Therapie von Medienabhängigkeit im Adipositas-Zentrum Insula
Eingehende Erfassung der Krankengeschichte und Diagnostik – Grundlage und Einstieg in die Langzeittherapie
Module der Therapie
Zeig uns deine Welt – Ein zentrales Therapie-Modul
Unser Umgang mit Medien
Ergänzende Wege
Internetabhängigkeit – ein Fazit
S steht für schulvermeidendes Verhalten
Was ist eigentlich schulvermeidendes Verhalten?
Erscheinungsformen
Warum schwänzen Kinder die Schule?
Wie hängen Schulvermeidung, Mobbing und Medienabhängigkeit zusammen?
Was kann man zur Vorbeugung tun?
Welche Möglichkeiten gibt es einzugreifen?
Therapie von schulvermeidendem Verhalten im Adipositas-Zentrum Insula
Die Insula-Schule
Schulvermeidendes Verhalten – ein Fazit
O steht für Obesitas
Welche Ursachen gibt es für krankhaftes Übergewicht?
Welche Erkrankungen können mit Adipositas einhergehen?
Wie kann man Übergewicht verhindern?
Welche Möglichkeiten gibt es einzugreifen?
Welche medizinischen Behandlungsoptionen gibt es?
Magenverkleinerung
Endobarrier
Bariatrische Embolisation
Therapie von krankhaftem Übergewicht im Adipositas-Zentrum Insula
Ernährungstherapie
Sporttherapie
Psychotherapie bei Adipositas und Medienabhängigkeit
Obesitas – ein Fazit
Nachwort: Lust auf eine Rückkehr ins analoge Leben
Anhang
Patienteninterviews – so unterschiedlich verläuft das ISO-Syndrom
Interview mit Klaus (geführt von Dr. Wolfgang Siegfried)
Interview mit Maria (geführt von Dr. Wolfgang Siegfried)
Dank
Die Insula-Klinik im Berchtesgadener Land ist ein Rehazentrum für adipöse Kinder und Jugendliche. Seit 27 Jahren kommen krankhaft übergewichtige junge Menschen hierher, um in einer Langzeittherapie abzunehmen. Doch in all den Jahren hat sich das Krankheitsbild unserer Patienten drastisch gewandelt: Seit der Jahrtausendwende sind wir so gehäuft mit einem bestimmten Phänomen konfrontiert, dass es unser Ärzte-, Pädagogen- und Therapeuten-Team dazu veranlasst hat, ihm einen Namen zu geben und mit diesem Buch damit an die Öffentlichkeit zu treten. Adipöse Kinder und Jugendliche haben, so stellten wir fest, in vielen Fällen nicht mehr «nur» eine Esssucht, sondern leiden zusätzlich noch an einer Medienabhängigkeit und stehen oft vor einer vorzeitig beendeten Schulkarriere. Wir haben dieses fatale Zusammentreffen der Phänome das ISO-Syndrom genannt (Internetabhängigkeit, schulvermeidendes Verhalten, Obesitas – das medizinische Fachwort für Adipositas). Über viele Jahre hat unser multiprofessionelles Team die einzelnen Erscheinungsformen und ihr Zusammentreffen genau beobachtet und ist überzeugt, es mit einem eigenen Krankheitsbild zu tun zu haben.
Mittlerweile ist unser Klinikalltag darauf eingestellt, unsere jungen adipösen Patienten nicht nur bei der Gewichtsabnahme zu begleiten, sondern ihnen dabei zu helfen, ihren Medienkonsum auf ein normales Maß zu reduzieren und in der Insula-Schule Schritt für Schritt wieder in den Schulalltag zurückzufinden. Unseres Erachtens ist es die einzige Möglichkeit, den Betroffenen wirklich zu helfen und die Chance auf einen Langzeittherapieerfolg zu erhöhen.
Unser Anliegen ist es, in diesem Buch einen möglichst genauen Einblick in die Thematik zu geben, Eltern dabei zu unterstützen, die digitale Lebenswelt ihrer Kinder besser zu verstehen, und praktische Anhaltspunkte für den Umgang mit Suchttendenzen zu geben. Das Wissen und der Erfahrungshorizont unseres gesamten Ärzte-, Therapeuten- und Pädagogen-Teams, das tagtäglich daran mitarbeitet, dem ISO-Phänomen in jeder einzelnen Leidensgeschichte Herr zu werden, sind dabei eingeflossen.
Mit diesem Buch wollen wir vor allem den betroffenen Familien, aber auch Hausärzten, Psychotherapeuten und Lehrern von den Risiken, Therapiemöglichkeiten und frühen Präventionschancen berichten, ohne den Anspruch zu stellen, dass dies ein wissenschaftliches Lehrbuch über Medienabhängigkeit, Adipositas oder Schulvermeidung ist.
Es gibt heute kaum ein heikleres Thema in Familien als die Diskussion um Medien- und Handynutzung. Für Eltern ist es angesichts der ungezählten Meinungen und Ratschläge, die dazu kursieren, eine große Herausforderung, einen eigenen Weg zu finden. Nicht selten reißt der Streit um die Medienzeiten eine Kluft zwischen Eltern und Kinder. Und beide Seiten fühlen sich machtlos. Viel fataler ist dies aber für das Kind: Ihm fehlt der Halt, das Verstandensein, letztlich ein wichtiger Schutzraum und Rahmen. Umso mehr besteht die Gefahr, all dies an anderer Stelle zu suchen.
So schwierig es für die so anders geprägte «Generation Internet» ist: Aus unserer Erfahrung ist es für Eltern unumgänglich, die Welt des Kindes – und das heißt heute auch die digitale – besser kennen- und verstehen zu lernen. Denn dies bildet die Grundlage für eine produktive Kommunikation und kann helfen, das Verhalten des Kindes und die dahinterliegenden Gründe wirklich zu begreifen und an der Stelle anzusetzen, wo es nötig ist.
Kaum eine andere technische Errungenschaft der Menschheit hat sich in so kurzer Zeit so rasant weiterentwickelt wie die der neuen Medien im Zusammenhang mit dem Internet. Stellt man sich die Entwicklung bildlich vor, preschen die multimedialen Entwickler in einem getunten Rennschlitten vor, gefolgt von den Jugendlichen, den «Digital Natives», in einem schnittigen Sportwagen, während die Eltern und Pädagogen in der Familienkutsche kaum hinterherkommen und gar nicht so schnell die Richtung wechseln können. Kurz gesagt, es ist kaum möglich, mit dieser rapiden Entwicklung Schritt zu halten, wenn man nicht täglich mit den Jugendlichen im Austausch ist und sich mitnehmen lässt.
Für den folgenden Teil haben wir daher mit zahlreichen Patienten unserer Klinik gesprochen. Es war uns wichtig, sich dem Thema gemeinsam mit ihnen authentisch anzunähern; sie haben die sie betreffenden Passagen gelesen und uns dazu Rückmeldungen gegeben. Aus Datenschutzgründen wurden Namen und persönliche Daten verändert.
Um es gleich vorweg so deutlich zu sagen: Mediennutzung ist nicht per se gefährlich. Und es gibt aus unserer Sicht keinen Anlass, sie zu verteufeln. Im Gegenteil, das wäre weltfremd und destruktiv. Mit unserer Arbeit versuchen wir vielmehr auf bestimmte Zusammenhänge hinzuweisen, suchtfördernde Mechanismen zu erkennen und mögliche Wege aufzuzeigen, wie vom Internet Gebrauch gemacht werden kann, sodass es der Entwicklung junger Menschen nutzt und nicht schadet.
Das zunehmend flächendeckende Internetangebot in Verbindung mit dem mobilen Zugang über das Handy prägt die Mediennutzung junger Menschen. Heute ist es für Kinder und Jugendliche extrem wichtig, von allen denkbaren Geräten Zugriff aufs Netz zu haben und immer mit allen Teilnehmern eines Spiels oder einer Social-Media-Gruppe vernetzt zu sein. Es gehört für sie zum Standard. Für nicht wenige von ihnen bedeutet das 24/7-Verfügbarkeit: rund um die Uhr.
Unter bestimmten Bedingungen kann aus der Internetnutzung eine Internetabhängigkeit entstehen. Eine vom Bundesministerium für Gesundheit 2013 in Auftrag gegebene Studie[1] bestätigt das: Laut dieser Studie, in der Personen in der Altersspanne von 14 bis 64 Jahren befragt wurden, sind hochgerechnet ca. 800000 Menschen in Deutschland internetabhängig. Differenziert man die Altersgruppen, wird deutlich, dass die Zahl der Internetabhängigen bei Jugendlichen sowie jungen Erwachsenen weiter ansteigt. 2,4 % der 14- bis 24-Jährigen erfüllten die Kriterien einer Internetabhängigkeit. In der Altersgruppe der 14- bis 16-Jährigen waren es sogar 4 %.
Aus diesen Zahlen ist sicher auch der mediale Hype um das Thema Internetabhängigkeit zu erklären. Dabei polarisiert er. Die einen sagen, es betreffe doch nur eine kleine Gruppe aller Deutschen, andere Probleme seien viel dringlicher. Die Gegenseite sieht es als eine bedrohliche Entwicklung, dass gerade die jungen Menschen in Deutschland, also die Zukunft unseres Landes, vermehrt mit den Folgen eines erhöhten Medienkonsums zu kämpfen haben.
In der aktuellen wissenschaftlichen Literatur wird derzeit eher defensiv von «Internetnutzungs-Störung» oder «Internet-Spielstörung» gesprochen, da nicht immer «echte» Suchtkriterien vorliegen. Was macht also eine Abhängigkeit bzw. Sucht aus?
In der Medizin bzw. Psychologie unterscheidet man zwischen substanzgebundenen und substanzungebundenen Abhängigkeiten. Bei einer substanzgebundenen Abhängigkeit handelt es sich um eine körperliche und psychische Abhängigkeit von einem Stoff, z.B. Alkohol oder Drogen. Bei einer substanzungebundenen Abhängigkeit spricht man von einer Verhaltensabhängigkeit. Das starke Verlangen, ein Verhalten immer wieder zu wiederholen und die zeitliche Intensität immer weiter zu steigern, kann z.B. eine Sport- oder Arbeitssucht sein. Auch die Internetabhängigkeit ist demnach eine Verhaltensabhängigkeit. Vergleichbar mit einem Sportabhängigen, der exzessiv Sport treibt und seinen Körper immer weiter zu Höchstleistungen treibt, erweitert auch der Computerspielabhängige die Spielzeit der Videospiele ständig und vernachlässigt seinen Alltag. Obwohl der körperliche und psychische Leidensdruck irgendwann enorm hoch ist, wird das Verhalten aufrechterhalten. Diese zwei Faktoren müssen gegeben sein, um von einer Abhängigkeit zu sprechen: Obwohl der Betroffene Schaden nimmt, kann er mit dem schädlichen Verhalten nicht aufhören.[2] Eine Verhaltensabhängigkeit entwickelt sich häufig schleichend, ohne zunächst von den Betroffenen wahrgenommen zu werden.
Viele Patienten, mit denen wir arbeiten, haben bis zu ihrer Aufnahme in der Adipositas-Klinik nicht bemerkt, dass sie unter einer Abhängigkeit oder einem problematischen Nutzungsverhalten leiden. Das klingt vielleicht überraschend, ist aber u.a. der Tatsache geschuldet, dass das Hineinrutschen in die Abhängigkeit ein Prozess ist, oft über einen längeren Zeitraum hinweg, sodass sich die Betroffenen schlichtweg daran gewöhnen.
Im Adipositas-Zentrum Insula wurden in den letzten drei Jahrzehnten über 3000 Patienten behandelt. Die Geschlechterverteilung ist ungefähr ausgeglichen. Bei den Befragungen zum Mediennutzungsverhalten, die wir seit drei Jahren bei den Neuaufnahmen durchführen, konnte ein zum Teil massiver Konsum von Videospielen festgestellt werden. Besonders auffallend erscheint, dass von den männlichen Patienten ungefähr jeder dritte nicht nur einen hohen Konsum zeigt, sondern auch die Kriterien für eine Computerspielabhängigkeit erfüllt. Außerdem stellten wir bei unseren Befragungen fest, dass das Streamen von Videos neben den Online- und Offline-Spielen immer wichtiger für die männlichen Jugendlichen wird.
Weibliche Patienten zeigen einen anderen Schwerpunkt: Bei den Mädchen und jungen Frauen geht es – neben dem Videostreaming – vorwiegend um Aktivitäten in sozialen Netzwerken. Videospiele nehmen einen beachtlichen, aber deutlich geringeren Stellenwert ein. Ca. jede 15. Befragte erfüllt die Kriterien einer Computerspielabhängigkeit.
Es gibt neben diesen drei Bereichen (Videospiele, soziale Netzwerke, Streamen von Videos) noch weitere, die – bei einem entsprechenden Nutzungsverhalten – der Internetabhängigkeit zugeordnet werden können: Beispielsweise, wenn es um Internetpornographie, Online-Glücksspiel sowie zeitintensives Surfen und Downloaden im Internet geht. Sie kommen jedoch in unserer täglichen Arbeit mit den Patienten viel seltener vor, weswegen wir im Folgenden den Schwerpunkt auf die drei am häufigsten mit Medienabhängigkeit verbundenen Bereiche (Videospiele, soziale Netzwerke, Streamen von Videos) legen wollen. Zahlreiche Fallgeschichten sollen einen Einblick in die verschiedenen Vorlieben der Jugendlichen und deren Hintergründe geben und dabei auch zeigen, wie und warum eine Sucht entsteht.
«Manchmal schaffte ich es nicht mehr rechtzeitig zur Toilette.»
Stefan ist bei seiner Ankunft in der Insula-Klinik 18 Jahre alt. Im psychologischen und ärztlichen Aufnahmegespräch wird deutlich, dass er seit 5 Jahren sehr viel Zeit vor dem Computer verbringt, in den letzten 6 Monaten täglich bis zu 15 Stunden. Er beschreibt einen mit der Zeit wachsenden inneren Druck, den er tagtäglich erlebt habe, der ihn zum Computerspielen animierte und von der realen Welt fernhielt: «Ich muss weiterspielen». Seine Gedanken kreisten nur noch um die Spielinhalte; wenn er nicht spielte, wurde er unruhig. Durch das exzessive Spielen isolierte er sich zunehmend und verbrachte seinen Tag in seinem Kinderzimmer, sein Schlaf-wach-Rhythmus kam völlig durcheinander. Für die Körperhygiene: «Keine Zeit.» Manchmal schaffte er es nicht einmal, rechtzeitig zur Toilette zu gehen, weil ihn das Spiel so fesselte. Das alles belastete ihn, es entstand ein zunehmender Leidensdruck, der aber nicht zu einer Verhaltensänderung führte: «Was soll ich machen?» Die gutgemeinten Argumente seiner Eltern: in seinen Augen «Bullshit». Schulabschluss, Ausbildung: Fehlanzeige: «Geht halt nicht.» Essen tat er nur noch unregelmäßig, nebenbei beim Spielen: «Fast Food passt.» Lieblingsgetränke: «Energydrinks.» Damit könne er wach und reaktionsschnell bleiben. Seine Bewegung reduzierte sich auf das Klicken der Maus: «Keine Zeit für Sport.» Eine rasante Gewichtszunahme auf 245 kg war die Folge.
Laut einer Studie der DAK-Gesundheit und dem Deutschen Zentrum für Suchtfragen (2019)[3] sind 465000 Jugendliche zumindest Risiko-Gamer. 92 Prozent der Jungen und 62 Prozent der Mädchen spielen digitale Games am Computer, Tablet, an der Spielkonsole oder am Smartphone. Die Hälfte der befragten Kinder und Jugendlichen männlichen Geschlechts zocken an mindestens fünf Tagen pro Woche – bei den weiblichen Teilnehmerinnen spielt nur jede fünfte ähnlich oft. Diese Zahlen empfinden wir als äußerst bedenklich.
Natürlich bedeutet das nicht, dass alle Risiko-Gamer süchtig sind – aber, wie das Wort schon sagt, laufen sie Gefahr, es zu werden. Dabei steht die Diagnose «Computerspielabhängigkeit» immer wieder in der Diskussion; verschiedene Parteien versuchen dabei, ihre Interessen durchzusetzen: Die Gamingbranche befürchtet z.B., dass alle Spieler mit einem ausgeprägten Spielverhalten als süchtig abgestempelt werden und Computerspiele in Verruf geraten – und das wäre schädigend fürs Geschäft.
Nichtsdestotrotz hat die WHO am 21. Mai 2019 nun Fakten geschaffen und die «Gaming Disorder» offiziell als eigenständige Krankheit anerkannt und in den weltweiten Katalog der Gesundheitsstörungen (ICD 11) aufgenommen.[4] Ähnlich wie bei den später im Buch beschriebenen Kriterien der «Internet Gaming Disorder» nach dem diagnostischen und statistischen Leitfaden psychischer Störungen der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (DSM-5)[5], wird auch hier das Spielverhalten über einen längeren Zeitraum mit Hilfe festgelegter Kriterien analysiert. Die Problematik beginnt, wenn der Betroffene länger als 12 Monate wichtige Aspekte des Lebens dem Computerspielen unterordnet. Dazu gehören z.B. die Vernachlässigung der Familie, Leistungsabnahme in Schule und Ausbildung sowie Auswirkungen auf das Ess- und Schlafverhalten.
Die offizielle Anerkennung der «Gaming Disorder» im ICD 11 müsste Gesundheitsminister Jens Spahn zufolge bedeuten, dass entsprechende Therapien durch die gesetzlichen Krankenkassen finanziert würden.[6] Wir hoffen zumindest, dass die Anerkennung als eigenständige Krankheit in den nächsten Jahren zu einem deutlichen Anstieg der Hilfsangebote in Form von ambulanten und stationären Therapien führt und Forschung und Präventionsangebote weiter ausgebaut werden.
Die Problematik ist also inzwischen nicht mehr wegzudiskutieren und gewinnt an Aufmerksamkeit, was wir sehr begrüßen. Wichtig ist und bleibt natürlich, dass vonseiten des Fachpersonals keine vorschnellen Diagnosen verteilt, sondern die festgelegten Kriterien zur Beurteilung herangezogen werden.
Bei der Diagnose «Internet Gaming Disorder» wurden von der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft 9 Kriterien formuliert, die bei einer Beurteilung zugrunde gelegt werden. Dabei wird das Spielverhalten der vergangenen zwölf Monate bewertet.[7] Folgende von uns formulierte Fragen zu den 9 Kriterien dienen der Veranschaulichung und ermöglichen eine erste Einschätzung in Bezug auf eine mögliche Computerspielabhängigkeit.
Kriterium
Frage: Hast du im letzten Jahr …
Gedankliche Vereinnahmung
… regelmäßig das Gefühl gehabt, dass du an nichts anderes denken kannst als an den Moment, wenn du wieder Videospiele spielen kannst?
Entzugserscheinungen
… dich häufig schlecht gefühlt, wenn du keine Videospiele spielen konntest?
Toleranzentwicklung
… dich regelmäßig unzufrieden gefühlt, weil du mehr Zeit mit dem Spielen verbringen wolltest, als es dir möglich war?
Kontrollverlust
… erfolglos versucht, weniger Zeit mit dem Spielen zu verbringen?
Verhaltensbezogene Vereinnahmung
… regelmäßig Freizeitaktivitäten vernachlässigt, weil du lieber Videospiele spielen wolltest?
Fortsetzung trotz psychosozialer Probleme
… regelmäßig Diskussionen mit anderen geführt, weil du Videospiele spielst?
Lügen/Verheimlichen
… regelmäßig deine Freunde oder Eltern in Bezug auf deine Spieldauer belogen?
Dysfunktionale Gefühlsregulation
… öfter Videospiele genutzt, um negative Gefühle zu verdrängen?
Gefährdungen/Verluste
… ernsthafte Konflikte mit deinen Eltern oder Geschwistern aufgrund deines Videospielverhaltens gehabt?
Treffen 2 bis 4 Kriterien zu, kann man von einem riskanten Spielverhalten mit einer möglichen Gefährdung sprechen. Treffen 5 bis 9 Kriterien zu, kann das Spielverhalten pathologisch, also krankhaft, genannt werden. Es kann eine «Internet Gaming Disorder» vorliegen. (Wichtig ist, an dieser Stelle festzuhalten, dass die Diagnostik viel Zeit und Raum benötigt und nur von entsprechend geschultem Fachpersonal durchgeführt werden kann. Die aufgeführten Fragen bieten nur eine erste Orientierung.)
Die große Problematik besteht darin, dass die verschiedenen Faktoren einander verstärken. Bei Stefan, den wir am Anfang des Kapitels kennengelernt haben, zeigte sich eine ganz deutliche Negativspirale: Er erlebte Misserfolge. Seinen Schulabschluss schaffte er nicht. Es fehlte ihm die Zeit für Hausaufgaben, morgens war er übermüdet und konnte nicht aufstehen und zur Schule gehen (Gefährdungen, Verluste). Seine Konzentration ließ nach, seine Gedanken kreisten immer wieder um die Spielinhalte (gedankliche Vereinnahmung).Aufgrund seines Übergewichts war er zunehmend Zielscheibe von Mobbing auf dem Schulhof und in der Freizeit. Seine Eltern teilten ihm immer wieder ihre Enttäuschung über seinen Misserfolg mit. Also machte Stefan das, was er gut konnte: spielen. Am Anfang noch gelegentlich, dann immer mehr (Toleranzentwicklung). Denn hier war er ein starker Charakter, mit gutem Aussehen gesegnet, athletisch und respekteinflößend (dysfunktionale Gefühlsregulation). Niemand traute sich, ihn anzugreifen. Er hatte ein starkes Team hinter sich: Leute, mit denen er regelmäßig über sein Headset kommunizierte, denen er als Anführer Befehle gab, bei denen er angesehen war. Er wurde täglich gebraucht, er war wichtig! Freunde, mit denen er sich privat treffen konnte, gab es bald schon nicht mehr (Fortsetzung trotz psychosozialer Probleme). Unter Verabredungen verstand er Onlinetreffen, er kam kaum noch aus seinem Kinderzimmer (verhaltensbezogene Einengung). Wenn er nicht spielen konnte, fühlte er sich schlecht (Entzugserscheinungen).
Und noch ein weiteres wichtiges Anzeichen für eine Abhängigkeit zeigte sich bei Stefan: eine zunehmende Aggression gegen andere oder sich selbst, wenn nicht gespielt werden kann oder darf.
Stefan berichtet, dass er bei Misserfolg im Spiel oder den anfänglichen Versuchen der Eltern, die Spielzeit zu begrenzen, wütend wurde, schrie und seine Eltern unter Druck setzte. Er könne seine Spielzeit selbst einschätzen, dafür brauche er sie nicht, teilte er seinen Eltern mit. Auf die kritische Rückfrage unsererseits, ob er seine Spielzeit während des Spielens wirklich realistisch einschätzen könne, erzählt Stefan rückblickend, dass er zum einen seine Eltern angelogen habe (Lügen, Verheimlichen), ihm eine Stunde intensives Spielen aber auch tatsächlich nur wie ca. 10 Minuten vorgekommen sei (Kontrollverlust). Außerdem beschreibt er Situationen, in denen er sich selbst verletzte. Einmal sei er am Computer vor Erschöpfung eingeschlafen. Als er aufwachte, bemerkte er, dass sein Avatar (sein Spielcharakter) Schaden genommen hatte. Aus Frust schlug er mit der Hand mehrfach gegen die Wand, sodass er wochenlang Schmerzen hatte. Andere Male drückte er sich brennende Zigaretten auf dem Arm aus: Das Adrenalin, das durch den Schmerz ausgeschüttet wurde, machte ihn wieder wach.
Stefan erfüllt 9 von 9 Kriterien des Fragebogens. Die Diagnose «Internet Gaming Disorder» kann also nach den genannten Kriterien angenommen werden.
«Papa, du weißt gar nicht, wie schlimm das ist ohne Handy!»
Sylvia ist bei der Anreise zur Adipositas-Langzeittherapie 15 Jahre alt. Im Erstgespräch, das wir gemeinsam mit ihren Eltern führen, zeigt sich, dass sie viel Zeit mit Medien verbringt. Auf die Frage, welche Inhalte sie nutzt, antwortet sie: «Computer und Handyspiele interessieren mich nicht. Instagram und Snapchat sind so meins. YouTube und Netflix eigentlich auch.» Ihr Vater erzählt: «Sylvia gibt es nur zusammen mit ihrem Handy. Als wären sie siamesische Zwillinge. Egal, worum es geht, das Handy muss mit (gedankliche Vereinnahmung). Wenn wir z.B. gemeinsam essen, liegt das Handy neben ihr auf dem Tisch. Wir haben es mal zwei Tage probiert, das Handy vom Esstisch zu verbannen. Dafür musste Sylvia es in ihrem Zimmer lassen. Sie hatte keine Ruhe, verließ mehrfach den Tisch und kam dann kurz später wieder (Entzugserscheinungen). So war das auch keine Lösung. Dann lieber Handy auf dem Tisch und Ruhe beim Essen.» Sylvia verteidigt sich: «Papa, du weißt gar nicht, wie schlimm das ist ohne Handy. Es ist so sinnlos, das beim Essen im Zimmer zu lassen» (Toleranzentwicklung).
An den Erklärungen und Alltagsbeschreibungen von Eltern und Jugendlichen ist oft deutlich eine psychische Abhängigkeit abzulesen. Wie im Beispiel von Sylvia kreisen die Gedanken ständig um das Handy und die Nutzung von sozialen Netzwerken. Sie hat Angst, etwas zu verpassen, und verspürt innerlich einen großen Druck, durchgängig online zu sein.
Auch beim Thema Schule häufen sich die Probleme. Die Mutter berichtet: «Im letzten halben Jahr sind Sylvias Leistungen stark gesunken. In vielen Fächern hat sie sich verschlechtert. Vor einem Monat war Elternsprechtag. Ihre Klassenlehrerin meinte, Sylvia wirke lustlos und müde. In der letzten Woche rief sie dann an, was denn mit Sylvia los sei, sie würde schon seit drei Tagen unentschuldigt fehlen» (Gefährdungen, Verluste). Der Vater ergänzt: «Vom Schuleschwänzen haben wir gar nichts mitbekommen. Wir glauben, dass das Handy und die sozialen Netzwerke an allem schuld sind, aber davon will Sylvia nichts wissen. Die Diskussion brauchen wir gar nicht erst anfangen, dann gibt es sofort ein Riesentheater» (Fortsetzung trotz psychosozialer Probleme). Sylvia hatte drei Tage nicht die Schule besucht. Stattdessen hatte sie sich mit einer Freundin getroffen, um die neue Staffel von «Game of Thrones» im Internet zu schauen. Im Gespräch wird deutlich, dass das stunden- und eventuell sogar tagelange Schauen von Serien neben der Nutzung von Snapchat und Instagram zu Sylvias Alltag gehört. Irgendwann bricht Sylvia plötzlich in Tränen aus: «Mir wird das alles zu viel. Ich will doch alles einfach nur gut machen. Ich möchte einfach nur dünn sein, gut aussehen, möchte gut in der Schule sein und nicht mit euch streiten» (dysfunktionale Gefühlsregulation).
Entsprechend der Definition von Internetabhängigkeit hält Sylvia ihr Verhalten trotz der negativen Konsequenzen aufrecht: Sie wird immer schlechter in der Schule, die Konflikte mit ihren Eltern nehmen zu, und sie leidet vermehrt darunter.
Zur Diagnose einer Abhängigkeit von sozialen Netzwerken wird eine Skala benutzt, die sich an den Kriterien der «Internet Gaming Disorder» orientiert – ganz eigenständige Kriterien gibt es noch nicht. Die sogenannte Social Media Disorder Scale[8] bewertet auch hier wieder das Verhalten der letzten 12 Monate anhand folgender Fragen:
Kriterium
Frage: Hast du im letzten Jahr …
Gedankliche Vereinnahmung
… regelmäßig das Gefühl gehabt, dass du an nichts anderes denken kannst als an den Moment, wenn du wieder soziale Medien nutzen kannst?
Entzugserscheinungen
… dich häufig schlecht gefühlt, wenn du keine sozialen Medien nutzen konntest?
Toleranzentwicklung
… dich regelmäßig unzufrieden gefühlt, weil du mehr Zeit in den sozialen Netzwerken verbringen wolltest, als es dir möglich war?
Kontrollverlust
… erfolglos versucht, weniger Zeit in sozialen Netzwerken zu verbringen?
Verhaltensbezogene Vereinnahmung
… regelmäßig Freizeitaktivitäten vernachlässigt, weil du lieber soziale Netzwerke nutzen wolltest?
Fortsetzung trotz psychosozialer Probleme
… regelmäßig Diskussionen mit anderen geführt, weil du soziale Medien genutzt hast?
Lügen/Verheimlichen
… regelmäßig deine Freunde oder Eltern in Bezug auf deine Nutzungsdauer von sozialen Netzwerken belogen?
Dysfunktionale Gefühlsregulation
… öfter soziale Medien genutzt, um negative Gefühle zu verdrängen?
Gefährdungen/Verluste
… ernsthafte Konflikte mit deinen Eltern oder Geschwistern aufgrund deiner sozialen Mediennutzung gehabt?
Sind 2 bis 4 Kriterien erfüllt, kann man von einem riskanten Nutzungsverhalten mit einer möglichen Gefährdung sprechen. Wer mindestens 5 der 9 Fragen mit «Ja» beantwortet, bei dem kann eine «Social Media Disorder» (problematisches Nutzungsverhalten der sozialen Medien) angenommen werden. (Wichtig ist, an dieser Stelle festzuhalten, dass die Diagnostik viel Zeit und Raum benötigt und nur von entsprechend geschultem Fachpersonal durchgeführt werden kann. Die aufgeführten Fragen bieten lediglich eine erste Orientierung). Silvia erfüllt 6 der 9 Kriterien für eine «Social Media Disorder».
Was können wir angesichts dieser Fallbeispiele zusammenfassend festhalten? Viele Jugendliche und junge Erwachsene fühlen sich dem Druck des Arbeitslebens oder der Schule heute nicht gewachsen. Sie erleben sich in den sozialen Netzwerken und der Spielewelt erfolgreicher als in der realen Welt. Sie sind außerdem Mitglied einer Gruppe: Eine Erfahrung, die ihnen in ihrem Alltag oft fehlt. Sie erleben im Netz endlich das Gefühl von Stärke und erhalten Anerkennung. So wird die subjektive Empfindung erhöht, gebraucht zu werden. Diese Ursachen zeigen sich deutlich in unserem Alltag in der Arbeit mit Patienten, werden aber auch durch zahlreiche größer angelegte Studien gestützt, wie den Bericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur Entwicklung von Computerspielsucht, der ähnliche Beobachtungen festhält.[9]
Was Stefan und Sylvia berichten, ist heute leider nicht mehr außergewöhnlich. Viele Jugendliche und junge Erwachsene zeigen die beschriebenen Tendenzen bzw. erfüllen Kriterien der Internetabhängigkeit. Jungen zeigen dabei tendenziell mehr Interesse an Computerspielen, während Mädchen soziale Netzwerke übermäßig nutzen.
Es wird viel um dieses Phänomen diskutiert, geforscht und beobachtet. Dabei wird eines in jedem Fall deutlich: Die «neuen Medien», wie sie so oft genannt werden, sind gar nicht mehr «neu». Sie sind schon jetzt fest in unseren Alltag integriert. Die heutigen Kinder und Jugendlichen sind mit ihnen aufgewachsen. Es gibt also kein «Zurück» mehr.
Aus unseren täglichen Erfahrungen mit den Patienten geht hervor, wie wichtig es ist, einen gesunden Umgang zu erlernen, sich aktiv und kritisch mit den Medien auseinanderzusetzen und ganz besonders die reale Welt nicht aus den Augen zu verlieren.
Dazu wollen wir mit diesem Buch beitragen.
«Bis ich 11 Jahre alt war, habe ich Fußball gespielt. Bis 13 dann Wasserball. Und dann bekam ich meinen Computer.»
Laut der bereits erwähnten DAK Studie «Geld für Games» (2019)[1], bei der 1000 Kinder und Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren in Deutschland befragt wurden, ist der am häufigsten genannte Grund für den Konsum von Videospielen, der Spaß am Spiel. Daneben geben 75 % der Befragten an, beim Spielen gut abschalten zu können. Knapp 30 % der Befragten nannten als Grund, währenddessen nicht an «unangenehme Dinge» denken zu müssen.
Diese Ergebnisse decken sich ebenfalls mit unseren Beobachtungen: Zunächst steht der Spaß für die Spieler im Vordergrund. Doch gleichzeitig ergibt die Auswertung unserer Fragebögen, dass das am häufigsten erfüllte Kriterium die dysfunktionale Gefühlsregulation ist, also das Vergessen oder Verdrängen von Problemen sowie negativen Gefühlen. Viele Jugendliche ersetzen mit dem Spielen andere Freizeitaktivitäten. An die Stelle von Sport treten Videospiele. Während Sport allerdings meist tatsächlich bei der Stressbewältigung hilft, hat das Spielen eine überwiegend eskapistische Wirkung. «Ich spiele eigentlich immer, um meine Probleme zu vergessen», berichtet Jennie. «Im Spiel kann ich dann gut abschalten und alles um mich herum vergessen.» Bei Frust im realen Leben, durch Übergewicht oder Misserfolg in der Schule, bieten Computerspiele eine ideale Fluchtmöglichkeit.
Weil die Gefühlsregulation beim Spielen so gut funktioniert, assoziieren Kinder und Jugendliche diese Aktivität dann logischerweise mit einer positiven Wirkung. Die gedankliche Vereinnahmung spielt daher ebenfalls eine große Rolle. Selbst wenn nicht gespielt wird, denken die Betroffenen daran. Der Wunsch, das Spiel zu spielen, steigt, die Konzentration, z.B. in der Schule, lässt nach, da die Gedanken um das Spiel kreisen. «Natürlich muss ich an das Spiel denken», sagt Omar. «Ich muss ja schon planen, wie ich später weitermache.» Matheunterricht wird so zu einer weit weniger attraktiven Nebensache, und für Freunde bleibt immer weniger Zeit.
Eine weitere Studie namens «Game Over»[2] aus dem Jahr 2016 hat Zahlen zur Computerspielabhängigkeit erhoben. Laut dieser Studie, bei der 1531 Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 12 und 25 Jahren in Deutschland befragt wurden, gab mehr als jeder vierte männliche Befragte (26 %) an, sich unglücklich zu fühlen, wenn er nicht spielen konnte. Insgesamt erfüllte jeder zwölfte befragte Junge oder junge Mann in Deutschland (8,4 %) die Kriterien für eine Computerspielabhängigkeit nach der «Internet Gaming Disorder Scale».[3]
Unter den (schwer) adipösen Bewohnern des Adipositas-Zentrums zeigt sich im Verhältnis eine Computerspielabhängigkeit prozentual noch viel öfter: Vor allem die männlichen Befragten verbringen am Wochenende ihre Freizeit mit Videospielen. Die männlichen Patienten, die die Kriterien einer Computerspielabhängigkeit erfüllen, gaben ihre Spielzeit am Wochenende mit durchschnittlich 8 Stunden und 40 Minuten täglich an. Im Vergleich dazu spielten die männlichen Befragten, die keine oder nicht alle Kriterien der «Internet Gaming Disorder» erfüllten, «nur» ca. 5 Stunden am Wochenende. Diese Werte liegen insgesamt sehr hoch und lassen erahnen, dass bei vielen männlichen Patienten, egal ob nach den Kriterien computerspielabhängig oder nicht, Videospiele die einzige Freizeitbeschäftigung am Wochenende sind. Die Spielzeit des 15-jährigen Enrico, der früher Fußball und Wasserball spielte, beträgt nach seinen Angaben heute an Wochentagen 6 Stunden. Am Wochenende schätzt er sie auf 11 Stunden pro Tag.
Das Bedürfnis, aus dem belastenden Alltag zu fliehen, scheint einer der stärksten Anreize für das intensive Spielen im Netz zu sein. Aber wie kommt es dazu, dass Videospiele so immens viel Raum im Leben der (vor allem männlichen) Jugendlichen und jungen Erwachsenen einnehmen?
Neben der sogenannten Coping-Funktion, in diesem Fall dem Spielen als Verdrängungsmechanismus für Probleme, wird der große Spielreiz durch aufrechterhaltende Faktoren erzeugt: spielinterne und spielexterne Faktoren. Dazu zählen zum Beispiel diverse Belohnungssysteme, die völlig gesunde psychische Grundbedürfnisse des Spielers, z.B. die nach Anerkennung und Beschäftigung, ausnutzen. Solche Faktoren werden von der Spieleindustrie bewusst geschaffen, um den Spieler dazu zu animieren, sehr schnell viel Zeit und früher oder später auch Geld in das Spiel zu investieren. Sowohl bei «Pay-to-play Games», also Spielen, die gekauft werden müssen, als auch bei «Free-to-play Games», die kostenfrei gespielt werden können, werden Mechanismen angewandt, um eine Abhängigkeit zu erzeugen. Und diese führt zu weiteren Investitionen.
Das folgende Kapitel setzt sich mit solchen spielinternen und spielexternen Faktoren auseinander, um bestehende Zusammenhänge besser verstehen zu können. Damit wollen wir möglichst detailliert über die Vielfältigkeit dieser Mechanismen aufklären – und wie perfide die Spielindustrie sie für ihre Zwecke nutzt.
«Mein 5-jähriger Bruder kümmert sich mit Mamas Handy um seine Welpen.»
Johannes erzählt uns, dass er sich gar nicht mehr erinnern kann, dass sein kleiner Bruder irgendwann nicht mit dem Handy gespielt habe. Eine seiner Beschäftigungen sei es, sich am Smartphone um Hundewelpen zu kümmern. Die Welpen müssen täglich mehrfach gefüttert, gepflegt und bespielt werden, und seine Mutter stellt dem kleinen Bruder dafür ihr Handy zur Verfügung.
Durch die Art und Weise, wie die Großzahl der Online-Spiele aufgebaut ist, werden bereits junge Kinder systematisch an den Mediengebrauch gewöhnt. Kinder in diesem Alter finden es schön, sich um etwas zu kümmern. Und die Bilder und Geräusche im Handy wirken für sie sehr real. Wenn, wie im Beispiel von Johannes, Tiere oft versorgt und bespielt werden, geht es ihnen gut, ist das nicht der Fall, folgen negative Konsequenzen. Regelmäßiges Handyspielen wird durch dieses Belohnungssystem gefördert, trainiert und positiv verstärkt. Zusätzlich werden die Kinder animiert, durch «In-App-Käufe» Geld auszugeben. Denn noch besser geht es den Welpen, wenn schmackhaftes Hundefutter oder eine besondere Bürste gekauft werden.