Zu dick! Leben ohne Bulimie - Anila Gyan - E-Book

Zu dick! Leben ohne Bulimie E-Book

Anila Gyan

5,0

Beschreibung

Am Beispiel ihrer bewegten Lebensgeschichte zeigt die Autorin, dass es Wege aus dem Magersucht-Bulimie-Kreislauf gibt. "So oft hatte ich versucht, mich mit Disziplin und Willenskraft aus meinem Suchtkreislauf zu befreien. Doch jeder gescheiterte Versucht drückte mich noch tiefer hinein. Erst als ich den Mut aufbrachte, mir selbst zu begegnen, mich mit meinem Alleinsein zu konfrontieren und allem in die Augen zu sehen, was auftauchte: meinen Ängsten und Schmerzen, dem Gefühl des Verlassen seins, Existenzangst, die Furcht davor, in der Unendlichkeit verloren zu gehen oder isoliert zu sein, verschwand die Bulimie allmählich wie von selbst. Mit dem wachsenden Mut, allem ungefiltert in die Augen zu sehen, kamen tiefe Prozesse in Gang. Und irgendwann war da die Gewissheit, allem gewachsen zu sein..."

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Ebook-Auflage 2016Umschlaggestaltung: Silke Bunda Watermeier, www.watermeier.netKorrektorat: Raji AtorfCopyright© Innenwelt Verlag GmbH, KölnAlle Rechte vorbehaltenwww.innenwelt-verlag.deNachdruck und fotomechanische Wiedergabe, auch auszugsweise,nur mit Genehmigung des Verlages

ISBN 978-3-942502-73-3

GYAN ANILA

Zu dick!

LEBENOHNEBULIMIE

Die Suche hinter der Sucht

Inhalt

Eine Geschichte über Leere und Fülle

Wo hat alles angefangen?

Pubertät

Erste Liebe und Beginn der Essstörung

Erste Diät und Beginn der Bulimie

Ende der Schulzeit

Schritte ins eigene Leben

Im Männerberuf

Flucht in die Großstadt

Suchtklinik

Offene Psychiatrie

Zurück im Leben

Bretter, die die Welt bedeuten

Rebirthing und Rohkost

Im Rohkostparadies

Verloren in der Großstadt

Fernweh

Indien

Kulturschock und Viva Espania!

Peepshow

Zurück im Paradies

Sex am Telefon

Neue Kraft und neue Liebe

Straßentheater

Verlorener Zauber

Zäsur

Im Rollstuhl zurück nach Deutschland

Zurück im Leben

Showbusiness

Schicksalhafte Fügung

Abschied und Neuanfang

Workaholic

Dem Schmerz ins Auge sehen

Häutungen

Perlonstrümpfe

Familienaufstellung und Schamanismus

Brasilien

Ein Mann, der Natur und Musik liebt

Costa Rica

Auflösung und Aufarbeitung

Sprung ins Unbekannte

Vertrauen

Nachwort zur Taschenbuchausgabe

Über die Autorin

Am Anfang war die Angst …Vor dem neuen AnfangWar die VerzweiflungÜber das Weglaufen von der Angst …

Eine Geschichte über Leere und Fülle

Es ist vorbei.Die Bulimie hat sich aus meinem Leben verabschiedet. Endlich passierte der Sprung hinein ins Unbekannte. Die Leere, die mich dort empfing und vor der ich immer weggelaufen bin, verlor in dem Moment, da ich mich ihr öffnete ihre Bedrohlichkeit, und wandelt sich nun immer mehr zu einer unerwarteten Fülle, die mir eigentlich das gibt, nach dem ich mich immer gesehnt habe. Das Leben wird zu einem Abenteuer, einer Reise voller interessanter Herausforderungen.

Vierundzwanzig Jahre haben mich Bulimie und Magersucht fast durchgängig begleitet. Und beinahe die ganze Zeit über erbrach ich mich, teilweise bis zu dreißig Mal am Tag. Manchmal war mein Untergewicht grenzwertig und mein Gesundheitszustand Besorgnis erregend. Ich war oft nahe daran aufzugeben und dachte an Selbstmord, aber dazu war ich zu feige. Und gleichzeitig gab es immer dieses Vertrauen in mir, das wusste, dass eine Wandlung passieren würde und das Leben etwas anderes mit mir vorhatte, als mich irgendwann kniend vor einer Toilette beim Kotzen sterben zu lassen . Aber selbst das wäre mir lieber gewesen, als meinen Unmut nicht auszudrücken. Meine Widerstände waren wichtig. Sie haben mich mir selbst nähergebracht. Die Bulimie war mir auf meinem Weg über viele Jahre eine treue Begleiterin.

Mit Dankbarkeit schaue ich auf die vielen Lektionen zurück, die sie mich gelehrt hat. Heute brauche ich das Essen nicht mehr, um mich zu erfahren oder auszudrücken. Ich bin sehr dankbar, nun mit Genuss essen zu können und die Fähigkeit zu haben, dann aufzuhören, wenn ich genug habe. Die quälenden Gedanken ans Essen sind vollständig verschwunden und mich zu erbrechen schiene mir völlig absurd.

Irgendwann begann ich zu verstehen, dass es nicht darum ging gegen die Sucht anzukämpfen, sondern sie als einen abgespaltenen Teil von mir selbst zu sehen, der integriert werden möchte. So oft hatte ich versucht, mich mit Disziplin und Willenskraft aus meinem Suchtkreislauf zu befreien. Doch jeder gescheiterte Versuch drückte mich noch tiefer hinein.

Erst als ich den Mut aufbrachte mir selbst zu begegnen, mich mit meinem Alleinsein zu konfrontieren und allem in die Augen zu sehen, was auftauchte: meinen Ängsten und Schmerzen, dem Gefühl des Verlassenseins, der Existenzangst, der Furcht davor, in der Unendlichkeit verloren zu gehen oder isoliert zu sein – so verschwand die Bulimie allmählich wie von selbst. Mit dem wachsenden Mut, allem ungefiltert in die Augen zu sehen, kamen tiefe Prozesse in Gang: Tränen flossen, alles schien zusammenzubrechen, Desorientierung kam auf. Aber dann war da die Gewissheit, allem gewachsen zu sein. Meine Fähigkeit, mich dem Jetzt mit vollem Vertrauen hinzugeben, wuchs und ich entdeckte diesen Platz in mir, an dem mich nichts von all dem berühren kann, was im Außen geschieht. Hier ist immer Frieden, Stille, Kraft, Verbundenheit, Vertrauen, Gewissheit. Hier ist meine wirkliche Freiheit, meine Unabhängigkeit von allem, wo das dringende Verlangen, von außen genährt zu werden, verschwindet.

Ich genieße die Schönheiten des Lebens mehr als je zuvor und liebe es aus dem Vollen zu schöpfen, aber wenn die Dürrezeit kommt, wird auch sie begrüßt. Alles zu seiner Zeit, und zu allem ist ein gewisser Abstand gewachsen. Es gibt noch immer Schmerz in meinem Leben, aber er kann mich nicht mehr erschrecken. In mir existieren nach wie vor Negativität und Destruktivität, aber die Identifikation damit ist weniger geworden und es gelingt mir immer öfter, meine Muster zu erkennen, aus ihnen auszusteigen und in mein Zentrum zurückzukehren, in dem immer Frieden ist.

Im Grunde genommen ist die Vergangenheit nicht mehr wichtig. Dennoch möchte ich euch meine Geschichte erzählen, weil ich glaube, dass es eine meiner Aufgaben in diesem Leben ist, Erkenntnisse und Erfahrungen zu teilen. Es gibt so viele Menschen, die unter Essstörungen und Süchten leiden, und so viel Hilflosigkeit im Umgang damit. Die Wege, die ich beschritten habe, sind zum Teil etwas ungewöhnlich und auch nicht zur Nachahmung gedacht, aber was ich dabei gelernt habe, habe ich wirklich aus mir heraus begriffen. Jeder muss seine eigenen Erfahrungen machen und niemand kann einem dabei den Schmerz abnehmen. Man muss durch die Dunkelheit allein gehen, aber kommt dann immer wieder an Punkte, wo die Erkenntnisse anderer eine hilfreiche Unterstützung sind: Man versteht plötzlich, was der andere gemeint hat und dass man auf der richtigen Fährte ist.

Ich bin dankbar für die vielen Therapeuten, die meinen Weg kreuzten, ihre Hilfe war sehr wichtig. Die endgültige Befreiung von der Bulimie wurde durch die Begegnung mit zwei erwachten Meistern möglich, Osho und Tyohar. Sie brachten mich in Kontakt mit dem Platz in mir, an dem ich eins bin mit der Existenz und – wo der Hunger aufhört.

Wo hat alles angefangen?

Eigentlich gibt es keinen wirklichen Ursprung. Es begann nicht mit mir, sondern war ein Erbe meiner Eltern, die wiederum alles von ihren Eltern übernommen hatten. Aber so weit will ich nicht zurückgehen. Ich beginne mit meinem Anfang als Mensch auf der Erde, als die Eizelle meiner Mutter bereits vom Samen meines Vaters befruchtet war.

Meine Mutter war mit ihrer vierten Schwangerschaft an einem Punkt angelangt, wo ihr die Bürde, die sie trug, über den Kopf wuchs. Sie hatte alles nicht so gewollt wie es nun war, aber das Leben schien ihr keine Möglichkeit zu bieten, einen anderen Kurs einzuschlagen. Ihr Mann war brutal, unberechenbar und er betrog sie. Aber er gab ihr die materielle Sicherheit, nach der sie sich so sehr sehnte.

Als Kind musste sie während des Krieges mit ihrer Mutter und zehn Geschwistern aus Schlesien flüchten. Sie hatten ihr Zuhause und alles, was sie besaßen, verloren, wurden Zeuge brutalster Grausamkeiten und mussten in einer Notunterbringung im fremden Oberfranken ums Nötigste betteln. Aus dieser Erfahrung heraus wuchs ein so starkes Bedürfnis nach einem Zuhause und Sicherheit, dass sie bereit war, vieles dafür in Kauf zu nehmen. So nahm sie diesen Mann in Kauf, der sie schlug, vergewaltigte und sie als sein Eigentum betrachtete. Und mit jedem Kind, das sie gebar, wurden die Fesseln, die sie an ihn ketteten, stärker.

Sie hatte bereits drei Jungs das Leben geschenkt, als sie wieder schwanger wurde. Gerade hatten meine Eltern Oberfranken verlassen, da mein Vater in einem kleinen schwäbischen Dorf eine Anstellung als Meister in einem Kleinbetrieb gefunden hatte. Und sie hatten begonnen, sich einen Traum zu verwirklichen, den vom Eigenheim. Sie sparten eisern, arbeiteten Tag und Nacht. Es war ein Novembertag im Jahr 1964, es war kalt und neblig, nehme ich an, denn das Frieren und der Nebel wichen fortan nie von meiner Seite. Als ich in einem sterilen Krankenhaus das Neonlicht der Welt erblickte, waren meine Eltern nicht wenig erstaunt, denn wider Erwarten war ich ein Mädchen geworden. Eigentlich sollte ich Tommy heißen, doch nun mussten sie umdenken und noch schnell einen passenden Namen für mich finden. Meine Mutter war verunsichert über mein Auftauchen und den Verlust ihrer weiblichen Monopolstellung in der Familie. Aber eines wusste sie trotz ihren ambivalenten Gefühlen: Dieses kleine Mädchen, das sie neun Monate in sich getragen hatte und das ihr nun anvertraut war, würde nicht so schwach sein wie sie selbst. Die Kleine würde für ihre Freiheit und Würde kämpfen. Also nannte sie mich mit erstem Namen Birgit, „die Erhabene“, und mit zweitem Andrea, „die Kämpferische“. Ihr Mann war verzückt von der Kleinen, was sie als Ehefrau wiederum mit einer Mischung aus Eifersucht und Erleich terung aufnahm. Sie hatte weibliche Konkurrenz bekommen, aber gleichzeitig auch jemanden, der ihr die Last abnahm, Objekt der Besitzgier ihres Mannes zu sein. Es hatte sich für sie ein kleine r Freiraum aufgetan. Mein Vater, der sich nichts sehnlicher als eine kleine Tochter gewünscht hatte, war glücklich über meine Ankunft, zog mich fest an sich und verkündete, dass ich sein Liebling sei. Durch meine Sonderstellung zog ich den Neid der anderen auf mich, gleichzeitig waren alle fasziniert und neugierig auf das kleine Mädchen.

In mir entstanden Verwirrung und Schuldgefühle meiner Mutter und den Brüdern gegenüber und ich nahm unter ihnen eine Stellung ein, die man als Sündenbock bezeichnen könnte. Gleichzeitig fühlte ich mich aber auch als etwas Besonderes.

Papa hatte genaue Vorstellungen davon, wie sein Liebling zu sein hatte, und ich wäre so gerne das süße, zarte und harmlose kleine Mädchen gewesen, das sich mein Vater wünschte. Aber ich war voller Kraft, robust, eigensinnig und willensstark und auf eine unschuldige Art sehr sinnlich. Ich schämte mich dafür und glaubte, dass etwas an mir falsch sei, kam mir zu massiv vor, fand mich und meinen Körper klobig und abstoßend und hatte schon als kleines Kind das Gefühl zu dick zu sein, obwohl ich ein dünnes Mädchen war. Gleichzeitig war ich wütend darüber, nicht so geliebt zu werden, wie ich war. Ich war voller Aggressionen, aber da es zum Verhalten eines braven Mädchen nicht passte, entwickelte ich viele Ticks und Überempfindlichkeiten, die mich zickig erscheinen ließen.

Trotz allem vergötterte ich meinen Papa. Er war humorvoll, spendabel, gut aussehend und intelligent. In seiner Firm a und der Nachbarschaft war er sehr beliebt, vor allem seiner Hilfsbereitschaft wegen. Aber wenn er nach Hause kam, war er oft schlecht gelaunt und konnte sich in einen aufbrausenden Choleriker verwandeln. Wir Kinder wussten, dass wir dann keine Fehler machen durften, um ihn nicht noch zusätzlich zu reizen. Trotz unserer Vorsicht kam das Fass häufig zum Überlaufen und er verwandelte sich in ein brutales Monster. Er machte mir Angst und seine Unberechenbarkeit verwirrte mich; aber ich brauchte ihn.

Meine Mutter war emotional abwesend, ich spürte ihre Kälte mir gegenüber und eine starke Ablehnung. Für meine Brüder war ich das verwöhnte kleine Huhn, so nannten sie mich, das vom Papa alles bekam, was ihnen selbst vorenthalten wurde. Zwar spielten die beiden jüngeren auch mit mir und wir hatten uns dann richtig gern, aber wenn der älteste dabei war, der Boss unter den Kindern und wahrscheinlich derjenige, der den größten Mangel an väterlicher Liebe hatte, dann wurden sie zu seinen Anhängern. Und wenn sich dann eine Möglichkeit bot, ließen sie ihrer Wut auf mich freien Lauf, quälten und schlugen mich. Ich hatte Angst vor ihnen, besonders vor dem ältesten, und der Einzige, der mich vor ihnen schützte, war mein Vater.

Er wurde sehr böse, wenn mir jemand etwas antat, und bestrafte meine Brüder gnadenlos. Wenn er brutal wurde, schlug er hemmungslos auf sein Opfer ein. Alle hatten Angst davor. Wenn seine Wut ganz schlimm wurde, dann benutzte er einen Lederriemen, den man sich selbst holen musste. Damit schlug er auf den Hintern, oft sogar auf den nackten. Die Zeremonie war grausam und die Angst davor, selbst an die Reihe zu kommen, lähmte mich. Bis heute bekomme ich beklemmende Gefühle, wenn ich einen Gürtel sehe. Es war mir nicht wohl in der Rolle, sein Liebling zu sein, doch gleichzeitig klammerte ich mich an den einzigen Schutz, den ich hatte, und nach wie vor liebte ich ihn und fühlte mich eindeutig ihm zugehörig.

Anfangs schlug er mich nicht so brutal wie meine Brüder. Aber wenn er es tat, fühlte ich mich verraten und verlassen und jedes Mal nahm ich mir vor, ihm nie mehr zu verzeihen. Aber die Wolken meiner Wut zogen wieder vorüber, außerdem brauchte ich ihn und er mich.

Heute glaube ich, dass er mich teilweise auch deshalb schlug, um sich von seinen starken Gefühlen mir gegenüber zu distanzieren. Ich war ihm wahrscheinlich nähergekommen als sonst irgendein Mensch, mit Ausnahme seiner Mutter . Er wollte mich auf der einen Seite ganz für sich und forderte Bekenntnisse, dass ich niemanden anderen als ihn liebe. Doch gleichzeitig hatte er wahrscheinlich Angst vor unserer Intimität und vor seinen Gefühlen für mich, ich nehme an, auch vor seinen sexuellen, die unterschwellig stark präsent waren. Er hielt sie so gut er konnte in Schach, und obwohl er ein Meister der Selbstkontrolle war, spürte ich doch, dass da etwas unter der Oberfläche brodelte. Was ich da wahrnahm, widerte mich an, es fehlte darin jegliche Unschuld und hatte etwas Perverses. Je älter ich wurde, desto weiter distanzierte er sich von mir und ich mich von ihm. Als ich schließlich körperlich zur Frau wurde und meinen ersten Freund hatte, schlug er mich ein letztes Mal so sehr, dass ich glaubte, er würde mich umbringen. Dann brach er den Kontakt ganz ab und ich war frei von seinem äußerlichen Einfluss auf mein Leben.

Bei mir entwickelte sich schon sehr früh Verwirrung über meine Sexualität und Schuldgefühle über meine Anziehung auf Männer. Ich erkannte meine sexuelle Macht, aber auch die Gefahren, die damit einhergingen.

Meine Mutter war trotz ihrer Anwesenheit nie richtig greifbar. Sie umgab eine Aura von Selbstmitleid und ich dachte, dass es meine Schuld war, da mich mein Vater ihr vorzog. Ihr Schmerz tat mir weh und ich versuchte sie zu retten und glücklich zu machen in der Hoffnung, dass sie mich dann endlich lieben würde. Aber meine Versuche sie aufzuheitern schienen von einem unendlichen schwarzen Loch aufgesogen zu werden und sie gab mir zu verstehen, dass sie mich für eine kleine verwöhnte Prinzessin hielt, die einen Pakt mit dem Bösen, meinem Vater geschlossen hatte. Ich verstand nicht, warum sie sich all die Demütigungen von ihm antun ließ. Erst sehr viel später wurde mir klar, dass sie auf eine Art gerne litt. Ich glaube, ihr verschaffte es am Ende Genugtuung, das Opfer zu sein und in ihm einen Täter gefunden zu haben. So hatte sie jemanden, der schuld an ihrem Elend war, konnte der Verantwortung aus dem Weg gehen, in sich selbst nach der Ursache zu suchen.

Immer wieder erzählte sie, dass sie wegen uns Kindern bei meinem Vater bleiben musste und bei jeder Schwangerschaft versucht hatte, uns mit heißen Bädern, Herumhüpfen und vaginalen Einläufen abzutreiben. Da nach mir die Anti-Baby-Pille auf dem Markt war, wartete ich vergebens auf ein kleines Schwesterchen. Meiner Mutter fehlte jegliche mütterliche Wärme und Fürsorge. Alles, was sie tat, schien sie aus einem Pflichtgefühl heraus zu machen, ohne innere Beteiligung. Die Schulbrote, die sie mir schmierte, waren ein Symbol dafür. Zwischen zwei Brocken Brot stopfte sie ein paar Stücke harte Butter und wickelte sie in altes Papier. Ich schämte mich dafür, solche unförmigen Dinger aus diesem alten Papier auszupacken, denn die anderen Kinder hatten wundervolle Schulbrote. Oft hatte ich auch gar kein Schulbrot, und wenn ich Glück hatte, bekam ich von einer Schulkameradin eines dieser liebevoll mit Leberwurst oder Salami belegten, in Butterbrotpapier eingewickelten Brote. Dann fühlte ich mich wie eine Bettlerin, was sehr schmerzhaft war.

Auf der anderen Seite liebte es meine Mutter zu kochen, und Kochbücher waren die einzigen Bücher, die ich sie jemals lesen sah. Sie war eine gute und leidenschaftliche Köchin, verdarb sich ihren Brei aber dadurch, dass sie Reste ins frisch Gekochte mischte. Der Mangel in ihrer Kindheit hatte sie geprägt und sie brachte es einfach nicht übers Herz, etwas wegzuwerfen. Dennoch mochte ich ihr Essen als Kind gerne und ich lobte sie dafür in der Hoffnung, sie glücklich zu machen.

Das gemeinsame Essen am Familientisch war mir ein Graus. Es herrschte große Anspannung, jeder hatte Angst davor etwas falsch zu machen und damit einen Wutausbruch meines Vaters auszulösen. Als ich später schon zur Schule ging, war ich froh, wenn ich erst später heimkam und alleine essen konnte. Das war entspannter aber auch einsam. Dann wünschte ich mir insgeheim, meine Mutter würde sich zu mir setzen und mich fragen, wie denn mein Schultag gewesen sei. Stattdessen machte sie schlecht gelaunt den Abwasch und blieb unerreichbar. Meine Wut auf sie wuchs und ich begann auch ihr Essen zu hassen.

Später, in meinen Essanfällen, spielte ich oft die Situation am Mittagstisch in veränderter Version nach. Dann kochte ich mir etwas, setzte mich an den Tisch, stellte mir vor, eine zufriedene und beleibte mütterliche Frau würde mir das Essen auftischen, sich zu mir setzen und mir zuhören, während ich aß. Dann erbrach ich mich, füllte den Teller erneut und spielte dasselbe weiter. So ging das oft über Stunden , wobei mich die Vorstellung von mütterlicher Zuwendung wärmte und mir das Gefühl von Schutz und Geborgenheit gab. Zu Hause trug meine Mutter immer eine hässliche Schürze und sah damit wie ein Aschenputtel aus. Sie schämte sich für ihren Körper und fühlte sich zu dick, vor allem wegen ihres Bauches. Sie aß wenig, zumindest am Tisch, zählte dabei immer die Kalorien und nahm trotzdem nicht ab. Sie begründete das mit ihrem Alter und den vielen Geburten. Ich kam erst viel später dahinter, dass sie heimlich aß und auch gerne ein Schlückchen trank. Mein Vater bestätigte ihr die Abscheu gegen sich selbst und befahl ihr, die Badezimmertür abzuschließen, wenn sie sich wusch, damit niemand diesen abstoßenden Körper sehen musste. Es war seine Taktik, meine Mutter an sich zu binden, indem er ihr suggerierte, dass sie mit ihrem Aussehen nie einen anderen Mann finden würde. Er kompensierte sein eigenes Minderwertigkeitsgefühl und seine Angst davor, verlassen zu werden.

Natürlich durchschaute ich vieles nicht, was sich zwischen meinen Eltern abspielte. Und so fasste ich einige unbewusste Entschlüsse, die meiner damaligen Logik entsprachen: Ich würde nie dick werden und mich niemals von einem Mann dominieren lassen oder finanziell von ihm abhängig sein. Außerdem war mir schon früh klar, dass ich nicht heiraten und auf keinen Fall Kinder kriegen würde.

Je tiefer ich später in meine Geschichte eintauchte, desto klarer wurde mir, dass ich trotz allem die Muster meiner Mutter übernommen hatte und dass ich, indem ich das Gegenteil mache, noch lange nicht frei davon bin. Erst als ich begann zu akzeptieren, wie ähnlich ich ihr bin, konnte Heilung passieren.

Was ich an meiner Mutter immer sehr schätzte, war ihre unvoreingenommene Art Unkonventionellem gegenüber. Sie hatte keine vorgefertigte Meinung und akzeptierte jeden. Außerdem steckte in ihr eine temperamentvolle Frau, die gerne tanzte, feierte und dabei ganze Tische unterhielt. Wie es zur guten schlesischen Tradition gehörte, wurde sie dabei recht hemmungslos. Sie liebte es auszugehen. Dann verschwand sie für Stunden im Badezimmer und zauberte aus dem Aschenputtel eine Prinzessin, die auf hohen Absätzen daherstöckelte und nach Parfüm roch.

Eine Begegnung der dritten Art

Sie blickte auf die Gestalt, die schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite lief. Gedemütigt ging diese aufgeblähte Schwabbelmasse ihren alltäglichen Gang, um die Besorgungen für den Haushalt zu machen. Fest entschlossen, ihr niemals ähnlich zu werden, fasste sie sich an den Brustkorb und stellte beruhigt fest, dass ihre Rippen deutlich zu spüren waren, ebenso die Hüftknochen. Das war der Beweis, dass sie ihr nicht glich – diesem Wesen , das sie so verabscheute.

Der Tag ging vorüber, geprägt durch die Bemühungen um einen dünnen Körper. Sie musste ihn in Schach halten. Ruhelos im Kampf gegen die Kalorien, arbeitete sie hart und trieb maßlos Sport. Es war ein gnadenloser Kampf, der ihr keinen Spaß bereitete, aber sie durfte nicht ruhen. Und sie musste möglichst wenig essen. Denn Essen war Gift. Es würde sie fett und aufgedunsen machen. Sie war bereit, für immer zu verzichten! Nur ihre Gedanken ließen ihr keine Ruhe, sosehr sie sich auch bemühte. Gedanken an dieses verdammte Essen beherrschten ihre Tage und selbst ihre Träume wurden davon überschattet. Schließlich besiegte der Hunger dann doch immer wieder den Willen, ewig zu verzichten. Dann stopfte sie Unmengen von Essen in sich hinein, holte all die Entsagungen nach, bis sie zum Platzen voll war. Unter Schmerzen schleppte sie sich zur Toilette und übergab sich unter schwerster Anstrengung, bis nichts mehr von der Speise in ihr übrig blieb. Dann war sie wieder leer und angstfrei.

Dieser Tag war ganz normal verlaufen, wie viele Tage, Wochen, Monate und Jahre zuvor. Am Abend ging sie ins Theater, setzte sich wie gewohnt in die erste Reihe, damit sie näher am Geschehen war. Die Vorstellung begann. Diese bekannte Traurigkeit stieg in ihr hoch, als sie wieder brennende Sehnsucht verspürte, sich auch allen zu zeigen. Am liebsten hätte sie sich augenblicklich zu den Schauspielern auf die Bühne gesellt.

In solchen Momenten wurde ihr die Schmerzlichkeit ihres Schattendaseins bewusst.

Eine wunderschöne Schauspielerin betrat die Bühne und verbreitete etwas unglaublich Faszinierendes, dass es der Zuschauerin schien, als wäre durch diese Frau ein Licht auf die Bühne gekommen. Sie konnte ihren Blick nicht mehr abwenden, starrte wie gebannt auf dieses Wesen, das da vor ihr stand, einem Baum gleich, der tief in der Erde mit seinen Wurzeln verankert ist und in voller Blüte steht. Es schien fast so, als würde auch ein lieblicher Duft verströmt.

Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie fasziniert von einer Frau, ihrer Weiblichkeit, der Würde und Kraft, die sie ausstrahlte. Noch nie hatte der Anblick eines Menschen sie dermaßen gefesselt. Der Körper der Schauspielerin wirkte voller Kraft und dennoch weich und geschmeidig, mit weiblichen Rundungen, die die Betrachterin zu ihrem eigenen Erstaunen wunderschön fand. Das Gesicht, das von langen Haaren umgeben war, sah klar und entspannt aus. Aus den Augen blickte Entschlossenheit. Die Stimme war kräftig, aber nicht hart, hatte etwas Warmes und Freundliches. Und es schien für diese Frau nichts Selbstverständlicheres zu geben, als genau so zu sein, wie sie war. Der gebannten Zuschauerin kam der Ausdruck Göttin in den Sinn.

Die Begegnung wirkte in ihr wie eine Spritze Heroin, die durch das Blut in ihren Körper schoss. Es erwachte in ihr die Hoffnung, dass es zwischen dem, was sie nicht sein wollte, und dem, was sie war, noch etwas anderes gab. Es war eine erste Ahnung von der Existenz eines Lebens, das sie bejahen konnte, und die Hoffnung darauf, nicht mehr fliehen zu müssen – vor sich selbst und vor allem davor, eine Frau zu sein.

Als sie nach Hause kam, zog sie ihre Kleider aus und betrachtete sich nackt im Spiegel. Wie jämmerlich sie doch aussah, halb verhungert, wie ein kleines Mädchen, das um Hilfe flehte. War sie denn anders geschaffen als die Frau, die sie im Theater gesehen hatte, oder trug sie die gleiche weibliche Kraft in sich?

Einen Schimmer Weiblichkeit besaß ihr Spiegelbild schon, die Brüste hatten etwas davon und die Körperform war trotz der fehlenden Fülle eindeutig weiblich. Doch von Kraft war hier nichts zu sehen, sie sah schwächlich aus. Aber sie wusste, wie stark sie eigentlich war. Leider benutzte sie ihre Stärke ausschließlich für den Kampf, dünn zu bleiben, klein und kraftlos. Ihre ganze Energie hatte sie bisher gegen niemanden anderen als gegen sich selbst gerichtet.

Voller Schmerz erkannte sie, dass sie kein Rebell war, der sich gegen die Unterdrückung der Frau wehrte. Nein! Mit ihrem kindlichen Unschuldsleib verkörperte sie diese Frauenfeindlichkeit geradezu. Sie hatte diese Werte verinnerlicht, die sagen: Der weibliche Körper gehört dem Mann, dem Pascha, der sich an der Frau befriedigen und in ihr austoben darf. Die Frau hat kein Recht auf Eigenständigkeit und Genuss am eigenen Leben. Nur weil sie an diese Werte glaubte, musste sie sich im Kampf um ihre Freiheit gegen sie wehren, indem sie sich ihrer Körperlichkeit als Frau entzog.

Eigenartig erschienen ihr plötzlich die selbst auferlegten Quälereien, der ganze Sport, den sie ohne jegliche Freude machte. Das Zählen von Kalorien und all die Entsagungen kamen ihrplötzlich entsetzlich dumm vor. Der einzige Moment, in dem sie die Kontrolle fallen ließ und sich lebendig fühlte, war in ihren heimlichen Essanfällen. Wie dumm war doch ihre Überheblichkeit der Mutter und anderen Frauen gegenüber.

Am nächsten Morgen zog sie nicht mehr die engen Hosen an, mit denen sie voller Stolz ihren abgemagerten Körper zur Schau stellte und die sie ständig mahnten, noch dünner werden zu müssen. Sie kleidete sich mit einem weiten Rock, denn sie war fest entschlossen, sich Platz zu nehmen und sich selbst wachsen zu lassen. Auch das beschämende Gefühl in der Frauenkleidung war gewichen. Ihr war aufgegangen, dass es einen Weg zu einem erfüllten, würdevollen Leben gab, anders als das ihrer Mutter. Sie brauchte etwas, dass sie bejahen konnte und das für sie erreichbar war. Durch die Begegnung im Theater hatte sie eine Ahnung bekommen, wonach sie suchte, und in den Momenten vor dem Spiegel begriffen, dass sie sich bedingungslos annehmen musste, um in Verbindung mit dieser Kraft zu kommen, die sie bei der Schauspielerin so fasziniert hatte.

Mit viel Mut, Liebe, Geduld und Demut gelang es ihr Schritt für Schritt, sich ihrem eigenen Wesen zu nähern. Und indem sie sich selbst zu lieben lernte, fand sie auch die Liebe und Achtung für ihre Mutter; so wurde sie die Fesseln los, die sie an deren Schicksal ketteten.

Zu Hause fühlte ich mich nie richtig wohl. Da meine Mutter sich kaum um mich kümmerte und mein Vater den ganzen Tag arbeiten war, fand ich oft Gelegenheit, meiner Familie zu entschlüpfen. Ich hatte eine enge Beziehung zur Natur und liebte es, hier zu spielen. Ich verbrachte viel Zeit in den weiten Wiesen, Feldern und Wäldern, die gleich hinter unserem Haus begannen, und kannte jede Pflanze mit ihrem Namen, wusste immer, wo gerade die besten Äpfel oder Mirabellen reif waren, und liebte den Geruch von frisch gemähtem Gras. Wir hatten einen wundervollen Garten, aus dem ich fast das ganze Jahr über die tollsten Gemüse und Früchte direkt in den Mund pflücken konnte. Dadurch entwickelte ich einen engen Bezug zu frischer Nahrung, wofür ich heute sehr dankbar bin.

In der Neubausiedlung, in der ich aufwuchs, gab es viele Kinder zum Spielen und es gab Petra, meine beste Freundin, mit der ich alles besprach und viele Phasen gemeinsam durchlebte. Dummerweise war ihre Mutter eine enge Freundin meines Vaters, er besuchte sie regelmäßig auf ein Schwätzchen. Meine Mutter behauptete, dass die beiden eine Affäre hätten, und war eifersüchtig auf „die Frau mit dem großen Busen“. Die Mutter meiner Freundin wiederum zog über meine Mutter her, und ich fühlte mich als Spielball der beiden.

Petra war die Einzige, bei der ich mein Herz über die Brutalitäten meines Vaters ausschütten konnte. Aber wenn sie davon ihrer Mutter erzählte, wurde ich als Lügnerin bezeichnet, da sie ja nur die Sonnenseite meines Vaters kannte, mit der er sich gerne in der Öffentlichkeit zeigte. In ihren Augen war ich eh als Tochter meiner Mutter zur Lügnerin prädestiniert. Am Ende glaubte ich mir selbst nicht mehr, schämte mich und wurde noch verwirrter als ich eh schon war.

Mit meinen Freunden spielte ich Puppen, Verstecken, Fangen und lernte auf Bäume zu klettern. Ich hatte viel Freiheit, das war der angenehme Nebeneffekt davon, ein unbehütetes Kind zu sein. So konnte ich mich in vielerlei Hinsicht frei entwickeln. Zwar sehnte ich mich auch danach, Grenzen gesetzt zu bekommen, einfach um zu spüren, dass ich jemandem wichtig war. Aber ich liebte die Grenzenlosigkeit, die ich hatte, und sie machte mich auf eine Art selbstbewusst, weil ich viel ausprobieren konnte und mir keine übervorsichtige Mutter Angst einjagte. Bestimmt habe ich mich dadurch auch oft in Gefahr gebracht und zum Glück hatte ich immer einen Schutzengel dabei. Dennoch bin ich dankbar, dass ich dadurch den Mut zu eigenständigem Handeln entwickeln konnte und das Vertrauen, meiner inneren Stimme zu folgen.

Von der Vergangenheit meines Vaters erfuhr ich nicht viel. Irgendwie schien da ein Tabu zu existieren und er hielt kaum Kontakt zu seiner Familie. Meine Großeltern väterlicherseits waren früh verstorben, ich hatte sie nie kennengelernt. Meine Mutter sagte, sie seien beide sehr nett gewesen. Aber was sie meinem Großvater sehr übel nahm war, dass er seine Frau wegen einer Jüngeren verlassen hatte, als sie mit Krebs erkrankt im Sterbebett lag. Außerdem wusste ich, dass mein Großvater in der Hitlerzeit durch Straßen- und Brückenbau reich geworden und bekennender Nazi war. Auch meine Großmutter schien Hitler wohlgesinnt gewesen zu sein.

Über meine mütterliche Linie wusste ich mehr: Voller Stolz erzählte meine Mutter von ihrem geliebten Papa und wie sie es liebte, seine schönen vollen Haare zu kämmen, wenn er gelegentlich Kriegsurlaub hatte und wie er jedesmal, wenn er heimkam, auf Hitlers Bild spuckte mit den Worten: „Da hängt die Sau!“ Ich selbst fand meinen Opa eher langweilig und meine Oma sehr hart, und ihre Kälte machte mir Angst. Aber ich liebte die ganze große Schar von Onkeln und Tanten mütterlicherseits, die unzählige Anekdoten aus der Vergangenheit auf Lager hatten und ich wusste, dass da ein großer Schmerz war über die Flucht aus Schlesien, wo die ganze Familie ihre Heimat verloren hatte.

Neben vielen Cousins und Cousinen gab es noch eine wundervolle, mütterliche Patentante, die sich sehr um mich kümmerte. Leider lebten wir weit entfernt, sodass sich die Besuche auf die Ferien beschränkten. Aber wenn ich dort war, fühlte ich mich sehr glücklich. Dann übernachtete ich bei meiner Tante, der jüngsten Schwester meiner Mutter, die nur ein paar Jahre älter war als ich. Wir spielten den ganzen Tag und nachts erzählten wir uns Gruselgeschichten. Das Leben dort war so aufregend und schön, dass ich am liebsten für immer dort geblieben wäre. Aber dann musste ich wieder nach Hause, wo die Engstirnigkeit des Schwäbischen Dorfes und die Gewalt in meiner Familie mir Angst machten.

Ich entfloh der Realität, indem ich tagträumte und mir mit reger Fantasie meine eigene Welt schuf, zu der keiner Zugang hatte und die mir keiner nehmen konnte. So setzte ich mich vor meinen Spiegel und träumte davon, dass ich dort hineingehen und in einer anderen Welt herauskommen würde . Es wuchs in mir ein starkes Bedürfnis nach einer heilen Umgebung, in der Menschen liebevoll und respektvoll miteinander umgehen, sich nicht streiten oder anschreien und wo Harmonie, Zartheit, Schönheit und Frieden vorherrschen.

Stattdessen glich meine Realität einem Kriegsschauplatz, Brutalität und Aggression gaben den Ton an. Jeder kämpfte gegen jeden und keiner wusste eigentlich, worum es ging. Auf alle Fälle musste man immer auf der Hut sein, damit man sich rechtzeitig in Deckung bringen konnte, besonders wenn man zu den Schwächeren gehörte.

Auch den Kindergarten hasste ich, dort fühlte ich mich eingesperrt. Ich fand es schrecklich, unter Aufsicht autoritärer Erzieherinnen zu spielen, und hatte Angst vor den Brutalitäten der anderen Kinder. Ich war sehr schüchtern und voller Minderwertigkeitskomplexe, fand mich hässlich, hatte das Gefühl, immer falsch angezogen zu sein und mich permanent daneben zu benehmen. Die engstirnige schwäbische Mentalität verstärkte das noch. Die Leute waren kleinkariert und spießig und darauf bedacht, nach außen hin einen guten Schein zu wahren. Für viele Eltern passte ich nicht ins Bild der perfekten Spielkameradin für ihre Kinder. Meine Familie war nicht vorzeigbar und außerdem waren wir „Reingeschmeckte“, also keine Schwaben. Es traf mich tief, wenn ich mit einer Freundin nicht mehr spielen durfte, weil die Eltern es verboten. Dennoch gehörte ich nicht zur untersten Stufe in der Rangordnung „anständiger Menschen“, Kinder von Ausländern und Sozialhilfeempfängern waren noch weiter unten angesiedelt und galten als asozial. Die Geschichten, die man sich über sie erzählte, beängstigten mich so sehr, dass auch ich das Spiel mit der Rangordnung mitmachte und mich von ihnen fern hielt.

Die Schule, auf die ich mich anfangs freute, wurde schnell zur Qual. Auch hier hatte ich Angst, von den Mitschülern abgelehnt zu werden und vor den Bestrafungen der Lehrer, die zu der Zeit gelegentlich noch handgreiflich wurden. Ich versuchte brav zu sein und nicht aufzufallen. Aber schon in der Grundschule sträubte sich alles in mir gegen den Ernst, der in der Schule herrschte, und ich hasste es, Hausaufgaben zu machen. Ich schlich mich von einem Schuljahr zum nächsten und schaffte schließlich sogar mit wenig Aufwand den Absprung aufs Gymnasium in der nächsten Kleinstadt.

Zwischen grauen Betonwänden saßen wir dort aufgereiht in unseren Bänken und füllten den reichlichen Unterrichtsstoff in unser Gehirn. Von Jahr zu Jahr wurde es mehr und ich hatte ständig das Gefühl, hinterherzuhinken, wusste oftmals gar nicht mehr, um was es gerade ging. Zudem interessierten mich viele Fächer einfach nicht. Was ich liebte, war der Deutschunterricht. Hier spielten wir oft kleine Theaterstücke, um den besprochenen Unterrichtsstoff zu verarbeiten. Das waren die Momente, in denen ich voll da war, Spaß hatte und aus den anderen herausstach. Schon als kleines Kind liebte ich die Bühne, trug Sketche und kleine Szenen vor, wann immer es eine Gelegenheit gab. Außerdem mochte ich meinen Deutschlehrer. Er war einer der wenigen fortschrittlichen Lehrkräfte an diesem konservativen Gymnasium.

Pubertät

Es geschahen eigenartige Dinge mit mir. Mit Heftigkeit erblühte im Alter von zwölf Jahren meine Sexualität und damit auch das Bedürfnis, als eigenständige Persönlichkeit wahrgenommen zu werden. Mein Wunsch nach Dazugehörigkeit und Anerkennung verwandelten sich in Wut und Rebellion. Ich wurde aufsässig gegen meinen Vater, rebellierte gegen meine Mutter und die Lehrer. Die Enge der schwäbischen Dorfmentalität erdrückte mich. Petra und ich suchten dem zu entfliehen und gierten nach Abenteuern.

Wir verbrachten immer mehr Zeit in der Kleinstadt, wo wir auch zur Schule gingen. Unser neuestes Hobby war Kaufhausdiebstahl. Wir klauten alles, was in unsere Taschen passte, einfach um etwas Aufregendes zu erleben. Zu Hause rechneten wir dann zusammen, welchen Wert unsere Beute hatte, und freuten uns. Dann rauchten wir heimlich unsere ersten Zigaretten und kamen uns dabei cool vor. Eigentlich war das nur eine Vorübung aufs Kiffen. Susi, eine etwas ältere Mitschülerin, die in meiner Klasse das Schuljahr wiederholte, hatte mich neugierig darauf gemacht. Und wie das Leben so spielte, entdeckte Petra zufällig zur gleichen Zeit, dass im Zimmer ihres Bruders mehrere große Stücke Haschisch rumlagen. Sie nahm sich eines davon, von dem wir dann lange zehrten. Susi erklärte uns, wie man das Zeug raucht.