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Zu früh geboren - was dann? Aus eigener Betroffenheit hat sich Doreen Grabs auf die Suche nach Antworten gemacht und andere Mütter befragt, die ebenfalls mit der Frühgeburtlichkeit ihrer Kinder konfrontiert waren. Wie verliefen Schwangerschaft, Geburt und die erste Zeit mit dem Baby? Welche Komplikationen und Sorgen gab es? Wie war es im Krankenhaus und wie wurde die erste Zeit zu Hause bewältigt? Wie steht es um die Paarbeziehung und um weiteren Kinderwunsch? Wie geht es dem frühgeborenen Kind heute? Und nicht zuletzt: Welche Ratschläge haben die befragten Frauen für andere Frühchen-Mamas? Die Aussagen der Mütter werden von Doreens eigener Geschichte umrahmt. Außerdem gibt die Autorin gut verständliche Kurz-Informationen zu wichtigen medizinischen Fachbegriffen. "Dieses Buch soll Müttern von zu früh geborenen Babys Mut machen. Denn nicht nur das Baby ist zu früh geboren, man ist auch zu früh Eltern geworden. Alles kommt plötzlich ohne Vollbremsung auf einen zu und man muss stark sein - für das eigene Baby und für sich selbst."
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Seitenzahl: 179
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Auf dem Weg nach Hause: Marli (3 Monate) mit ihrer Mama Doreen am Tag der Entlassung.
Vorwort
Marli und wir
So fing bei uns alles an …
Marlis zu frühe Geburt
Eine klitzekleine Kämpferin
„Sie wird sterben ...“
Die Operation am Darm
Kritische Tage
Viel Milch, aber wenig Gewicht
Ich und die Anderen
Sauerstoff-Alarm
Gefahr durch eine Infektion
Zu Weihnachten im Krankenhaus
Die zweite Operation
Alles dreht sich um die Verdauung
Auf der Kinderstation
Die Entlassung
Plötzlich Eltern: Informationen für einen (zu) frühen Start
Grundlegendes zur Frühgeburt
Die Frühgeburt und die Zeit danach
Das richtige Krankenhaus wählen
Die spontane Geburt
Der Kaiserschnitt
Nach dem Kaiserschnitt
Atemunterstützung für das Baby
Muttermilch und Stillen
Krankengymnastik für Frühgeborene
Dein Seelenleben
Folgeschäden
Dein Partner
Freunde und Verwandte
Typische Elternfragen
Ab welcher Schwangerschaftswoche hat mein Baby Überlebenschancen?
Was passiert mit meinem Baby nach der Geburt?
Wann darf ich endlich zu meinem Baby?
Darf ich mein Baby auch anfassen?
Welcher Schlauch/welche Maske ist das auf der Nase meines Babys?
Habe ich trotz Frühchen nur acht Wochen Mutterschutz?
Was bedeutet der APGAR-Wert?
Was ist Känguruhen?
Kann ich meinem Baby selber die Windeln wechseln, es füttern und baden?
Kann ich mein Baby stillen, obwohl es so klein ist?
Ist mein Baby gut aufgehoben, auch wenn ich nicht da bin?
Warum kommt keine Schwester, obwohl der Monitor klingelt?
Wer darf mein Baby besuchen?
Wie lange sollte der Besuch bei meinem Baby bleiben?
Welche speziellen Krankheiten bekommen zu früh geborene Babys eventuell?
Wann darf mein Baby nach Hause?
Wir dürfen mit Monitor nach Hause. Aber wo bekomme ich den her?
Was, wenn der Monitor Alarm schlägt?
Muss ich auf etwas Bestimmtes achten, wenn wir zu Hause sind?
Welcher Kinderarzt ist der richtige?
Bekomme ich die Fahrtkosten zum Krankenhaus erstattet?
Was erwartet mich auf einem Frühchenfest?
Nachsorge
Den Frauenarzt wechseln?
Weitere Schwangerschaft
Liebe Mama, lieber Papa!
Zu früh geboren: Mütter berichten
Der Aufruf
Die Fragebögen
Nachwort
Das kannst du selbst tun: Infektionsschutz
Harnwegsinfekte und Scheideninfektionen
B-Streptokokken
Vaginale Untersuchungen
Karies
Intimhygiene
Öffentliche Schwimmbäder
Jedes Jahr bekommt etwa jede zehnte schwangere Frau ein frühgeborenes Baby. Eigentlich ist es erschreckend, wie wenig man darüber weiß. In welchem Geburtsvorbereitungskurs wird über so etwas geredet? Ich kenne keinen. Jede denkt sich doch: So etwas passiert mir nicht, das geschieht nur den anderen!
Ich möchte mit meinem Buch darauf aufmerksam machen, dass eine Frühgeburt nicht nur die anderen trifft. Ich möchte dazu beitragen, dass vielleicht mehr darüber geredet wird. Ich wünsche mir, dass betroffene Frauen über ihre Erfahrungen erzählen, so dass deutlicher wird, was für Konsequenzen die (zu) frühe Geburt haben kann. Es ist nicht selbstverständlich, dass man ein gesundes Baby spontan zwischen der 37. und 42. Schwangerschaftswoche zur Welt bringt.
Wieso wird man mit einem Frühchen so überrumpelt? Bei mir war alles in Ordnung. Nie hat jemand zu mir gesagt, dass ich mich darauf einstellen muss, ein Frühchen zu bekommen. Vielleicht wäre ich dann mit der ganzen Sache anders umgegangen?!
Was, wenn ich einen anderen Frauenarzt gehabt hätte, wäre das dann auch alles so verlaufen? Hätte man vielleicht schon eher eingreifen können? Was, wenn ich nicht zum 3D-Ultraschall ins Krankenhaus gegangen wäre? Dann wäre mein Baby vielleicht sogar verstorben, in meinem Bauch quasi verhungert.
Wie klein ist eigentlich klein? Die Frage stellte ich mir häufiger. Denn als meine Familie auf dem Weihnachtsmarkt war, hat sie eine Bekannte getroffen, die meinte, dass unser Baby mit seinen 31 Zentimetern Körperlänge „doch gar nicht so klein“ gewesen wäre. Wissen solche Menschen denn nicht, dass ausgetragene Babys etwa 50 Zentimeter lang sind?
Ich war in der damaligen Situation jedenfalls sehr besorgt, weil ich jeden Tag sah, wie klein und schutzbedürftig mein Kind in seinem Brutkasten war.
Die meisten Leute ahnen wahrscheinlich gar nicht, wie es auf einer Frühgeborenenstation zugeht. Die tägliche Angst, die man um das eigene Baby hat, ist unendlich groß. Jeder Tag muss aufs Neue gemeistert werden. Man steht vor der großen Stationstür und fragt sich, ob es dem kleinen Würmchen gut geht oder ob etwas Neues dazu gekommen ist, wogegen das Kleine ankämpfen muss.
Als Mutter (und wohl auch als Vater) fühlt man sich selbst immer verletzlicher. Und dann tun unpassende Kommentare weh.
Dies soll kein Ratgeber dafür sein, wie man bestimmten Ursachen der Frühgeburtlichkeit vorbeugen kann. Denn trotz guter, ausgewogener Ernährung beispielsweise kann es passieren, dass man eine Frühgeburt erleidet und den Grund dafür nicht erfährt.
Dieses Buch soll Müttern von zu früh geborenen Babys Mut machen und ihnen bestimmte Zusammenhänge verständlich erklären. Denn wie oft versteht man das Fachchinesisch der Ärzte nicht und steht weiter ahnungslos da?
Im ersten Teil erzähle ich meine eigene Geschichte. Im zweiten erläutere ich die wesentlichen fachlichen Hintergründe aus der Sicht und auf dem Wissensstand von Eltern. Im letzten Teil kommen Mütter zu Wort, die auch ein Frühchen bekommen haben. Sie erzählen ihre Geschichten. Von der Geburt. Von den Krankheiten des Babys. Und wie sie den ganzen Stress gemeistert haben.
Es gibt mehr Frühchen, als man denkt. Aber auch die Eltern spielen eine wichtige Rolle, denn nicht nur das Baby ist zu früh geboren, man ist auch zu früh Eltern geworden. Vielleicht war für das Baby noch nichts vorbereitet oder noch nicht der richtige Name gefunden.
All so etwas kommt plötzlich ohne Vorwarnung auf einen zu und man muss stark sein – für das eigene Baby und für sich selbst.
2012 sollte unser Jahr werden. Am 6. Dezember 2011 machte mir mein Mann einen Heiratsantrag. Ich war überwältigt und total überrascht. Klar wollte ich ihn heiraten. Alles war so perfekt. Unsere Hochzeit war für Juli geplant. Die Vorbereitungen liefen super.
Im April blieben meine Tage aus. Ich dachte mir nichts dabei, kann ja passieren, dann kommen sie halt ein bisschen später. Nach einer Woche war immer noch keine Menstruation in Sicht. Ich kaufte mir einen Schwangerschaftstest und legte ihn in den Schrank. Ich glaubte immer noch fest daran, dass meine Tage heute oder morgen kommen würden.
Einige Tage später machte ich den Test dann doch. Was hatte ich schon zu verlieren? Ich brauchte nicht warten. Er war sofort positiv. Ich freute mich, aber so recht glauben konnte ich es nicht. Ich wartete noch ein bisschen, bevor ich es meinem Mann erzählte. In der Zeit machte ich noch zwei weitere Schwangerschaftstests. Alle waren sofort positiv. Die Tests konnten sich nicht irren: Ich war wirklich schwanger!
Mein Mann freute sich riesig, als ich es ihm dann endlich sagte. Sofort machte ich einen Termin bei der Frauenärztin. Dann kam der lang ersehnte Tag der Untersuchung. Endlich würde ich mein Baby sehen. Ich kam dran, musste ein paar Tests machen und dann kam der Ultraschall. „Herzlichen Glückwunsch“, sagte die Ärztin, „Sie können sich wieder anziehen.“ Ich war etwas überrascht. Es war alles so schnell gegangen, ich hatte mein Baby noch nicht einmal richtig betrachten können.
Naja, dann bei nächsten Mal, versuchte ich mich zu trösten. Ich würde ja schließlich gleich ein Bild von meinem Baby bekommen. Ich zog mich schnell an, war total aufgeregt und dann – dann durfte ich gehen. Ich bekam kein Bild, keine Information. Bis auf die, dass ich in der achten Woche schwanger wäre.
Ich hatte mir das alles anders vorgestellt. Aber es war ja meine erste Schwangerschaft und ich wusste nicht, wie so etwas vonstattengeht. Ich war enttäuscht. Meine Familie war auch ganz verwundert, dass ich kein Bild bekommen hatte.
Ein paar Tage später bekam ich Blutungen. Es war altes Blut. Ich machte mir trotzdem totale Sorgen. Ich rief meine Frauenärztin an und durfte sofort kommen. Es wurde ein Ultraschall gemacht. Dann wurde mir gesagt, dass es dem Baby gut ginge, ich aber ein Hämatom an der Fruchtblase hätte. Ich wurde für ein paar Tage krankgeschrieben und sollte mich ausruhen.
Wieder bekam ich kein Bild und auch keine weiteren Informationen über dieses Hämatom. Auf meine Frage, weshalb ich schon wieder kein Bild von meinem Kind bekäme, wurde mir gesagt, dass Ultraschallbilder zu viel Geld kosten und sie deshalb generell keine Fotos herausgeben würden.
Jede Schwangerschaft, besonders die erste, ist etwas völlig Neues und Schönes, worauf sich viele Frauen jahrelang freuen. Auch wenn es für die behandelnde Ärztin Routine war, blieb es für mich unverständlich, dass sie mich so abfertigte.
Ich ging nach Hause, rief meine Schwester an und jammerte mich bei ihr aus. Sie empfahl mir ihren Frauenarzt. Ich machte gleich einen Termin und durfte am nächsten Tag kommen. Ich erklärte dem Frauenarzt meinen Kummer, woraufhin er einen Ultraschall machte. Nebenbei erklärte er mir, was zu sehen war. Er nahm sich Zeit für mich, sagte mir dann auch, wie das Hämatom zustande gekommen sein könnte, und beruhigte mich. Noch auf dem Behandlungsstuhl bekam ich mein erstes Foto.
Die Schwangerschaft verlief gut; ich hatte keine Probleme, ernährte mich gesund, der Bauch wuchs. Was sollte noch schiefgehen? Ich freute mich immer riesig auf den Ultraschall, um zu sehen, wie mein Baby aussieht und ob es gewachsen war. Der Frauenarzt sagte immer: „Alles super, ist ein bisschen klein, aber das macht doch nichts. Dann tut es nicht so weh, wenn sie raus möchte.“
Wir würden ein Mädchen bekommen. Und wir freuten uns sehr darüber.
Im Juli war dann unsere Hochzeit. Es war ein wunderschöner Tag, der nicht besser hätte verlaufen können. Einen Monat später fing mein Mann bei einer neuen, besseren Arbeitsstelle an. Alles war so perfekt. Vielleicht auch ein bisschen zu perfekt. Wir hatten im Krankenhaus einen Termin zum 3D-Ultraschall. Der Arzt sagte mir, dass unser Baby zwar sehr klein wäre, aber das sei nicht weiter schlimm. Er würde es jedoch beobachten wollen. In vier Wochen sollte ich zur Kontrolle wiederkommen. Weil mein Mädchen so klein war, bekamen wir leider kein 3D-Bild von unserer Maus mit.
Schon bald zogen wir in eine größere Wohnung mit einem extra Zimmer für unser Baby um. Der Umzug war schnell vorbei. Klar standen überall noch Kisten herum, aber wir waren angekommen.
Am nächsten Tag hatte ich dann den Kontrolltermin im Krankenhaus. Der Arzt machte den Ultraschall, sagte aber komischerweise nichts. Als ich mich angezogen hatte, wurde ich ins Sprechzimmer gebeten. Da wartete ich dann. Es war irgendwie merkwürdig. So still. Irgendetwas stimmte nicht. Dann kam der Arzt endlich und sagte mir, dass ich nicht mehr nach Hause dürfte und gleich in den Kreißsaal müsste. Da würde dann ein CTG gemacht, um zu schauen, ob ich Wehen hätte, die Herztöne des Babys kontrolliert etc.
Mein Baby war nicht mehr gewachsen seit der letzten Untersuchung! Ich lag im Kreißsaal im hintersten Raum und bekam gleich eine Lungenreifespritze. Die Hebammen sagten, dass ich jetzt etwa eine Stunde hier liegen müsste, dann dürfte ich wieder auf mein Zimmer.
Nach drei Stunden klingelte ich schließlich. Hatten die mich etwa vergessen? Eine Hebamme kam, die mir erklärte, dass ich im Kreißsaal bleiben müsste, denn die Herztöne meines Babys wären schlecht, und sie müssten überwacht werden, um im Notfall einzugreifen.
Abends kam mein Mann mit Blumen und Süßigkeiten. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen; ständig kam jemand herein und rüttelte an meinem Bauch. Ich machte kein Auge zu.
Am nächsten Morgen kam eine ganze Mannschaft an Schwestern, Hebammen und Ärzten zu mir. Ich war sofort beunruhigt. Sie wollten mein Baby um 14 Uhr – noch am selben Tag – holen. Ich bekam Panik und rief meinen Mann an, dass er so schnell wie möglich herkommen sollte. Er traf dann auch wenig später mit meiner Mama ein.
14 Uhr: Mein Mann wollte mit in den OP-Saal. Ich wurde schon hineingeschoben, doch mein Mann durfte mich nicht begleiten. Wieso, ist mir bis heute noch unklar. So lag ich ganz alleine, nackt und am Boden zerstört im OP-Saal. Als meine Tochter geboren wurde, war es 14.15 Uhr. Ich weinte nicht, denn ich hörte, wie sie schrie. Das war doch ein gutes Zeichen, oder? Jetzt würde ich sie bestimmt gleich sehen! Dem war aber nicht so. Sie wurde gleich weggebracht. Ich habe sie nicht gesehen.
Ich hingegen wurde fertig operiert und auf mein Zimmer geschoben. Und dann begann unser Albtraum.
„Es war einmal eine Prinzessin …“ – so fangen viele Märchen an. Aber dies war kein Märchen, es passierte wirklich.
Ich saß vor Marlis Brutkasten. „Inkubator“ hieß das Gerät, hatten sie gesagt. Sie war so klein, so süß, mein ... BABY ... mein Ein und Alles. Gerade einmal 670 Gramm wog sie – viel zu wenig für die 29. Schwangerschaftswoche. Deshalb hatten die Ärzte entschieden, sie zu holen. Sie hatte auf ihrem kleinen Gesicht eine Atemmaske. Zur Unterstützung, hatte man mir erklärt – falls die Atmung aussetzen würde.
Überall piepste es. Da waren Monitore ... Ich hatte selber Schmerzen. Die Kaiserschnittnarbe schmerzte, aber das durfte ich mir nicht anmerken lassen, sonst müsste ich wieder auf mein Zimmer.
Ich musste stark sein für mein geliebtes Baby. Die körperlichen Schmerzen waren auch gar nicht das Schlimmste. Meine Seele litt. Litt mit dem kleinen Wesen, das sie mir unter dem Herzen weggeschnitten hatten, mir entrissen hatten, um es zu retten.
Mein Mutterkuchen hatte viel zu früh die Schwangerschaft beenden wollen, war einfach zu schnell gealtert. Warum passierte das ausgerechnet mir? Ich rauchte und trank nicht und hatte auch sonst gesund gelebt. Ich konnte es mir einfach nicht erklären.
Drei Tage war sie jetzt schon alt. Die Ärzte sagten, es ginge ihr gut! Ich wollte unbedingt zu ihr. Aber was war das? In dem kleinen Zimmer, in dem sie lag, war alles voller Ärzte und Schwestern. Wieso durfte ich nicht zu ihr, was war passiert?
Nach ewigem Warten durfte ich rein und mir wurde erklärt, dass ihr Darm gerissen und ihr kleiner Bauch deswegen so gebläht sei, weil überall in ihrem Bauch Kot war. Es riss mir den Boden unter den Füßen weg.
„Sie wird sterben, sie wird es nicht schaffen ...“ – Mit dieser Aussage und meinen Gefühlen zu diesem immer wiederkehrenden Gedanken ließ mich die Schwester alleine. Ich saß vor ihrem Inkubator und hätte sie am liebsten rausgenommen und ihr gesagt: „Du darfst nicht sterben, ich brauche dich!“
Natürlich ging das nicht. So lag sie alleine in ihrem Inkubator, und ich hockte verzweifelt davor. Ich konnte ihr einfach nicht helfen. Der Gedanke daran, dass sie Schmerzen hatte, war unerträglich.
Ich musste zur Psychologin. Was sie mir alles erzählt hat, weiß ich gar nicht mehr so genau, denn ich hatte nur einen Gedanken: „Mein Baby.“ Mein Kopf war voller Gedanken und mein Herz voller Sehnsucht und Schmerz.
So verging der Tag. Ich durfte nicht mehr zu ihr, saß auf meinem Bett, und alles kam mir wie ein schlechter Traum vor, aus dem ich einfach nicht aufwachen konnte. Abends wurden wir in einen separaten Raum gebeten. Dort wurden normalerweise Neugeborene versorgt. Er war leer. Und so fühlte ich mich ohne mein Baby. Meine Leere hätte tausend Räume füllen können.
Dann kam eine Schwester, die uns erklärte, dass mein Baby operiert werden müsste, noch heute Abend. Es sei dringend. Als sei das alles nicht schlimm genug, sagte sie, dass mein Baby dafür in ein anderes Krankenhaus verlegt werden müsste, und ich dürfte nicht mit. Schließlich meinte sie noch, dass ich jetzt noch nicht auf mein Zimmer könnte, es wäre gerade eine Horde Schwangere hierher unterwegs zur Besichtigung des Krankenhauses und die sollten ja schließlich nicht sehen, dass es mir und meinem Baby schlecht ginge.
Stunden später kam dann endlich der Transporter. Sie wurde abgeholt. Wir standen im Flur mit ihrem Kuscheltier im Arm. Sie wurde an uns vorbeigeschoben. Wir durften nur noch winken! Was für ein Trost?
Wie krank mir das alles vorkam. Das konnte doch nicht wirklich gerade passieren. Ich war am Ende meiner Kräfte, war voller Schmerz. Verzweiflung kam in mir hoch. Ich stand am Fenster mit Tränen in den Augen und musste zusehen, wie mein kleiner Schatz mit Blaulicht davonfuhr, weg von mir. Zurück blieb eine unendlich große Leere.
Ich sollte mich ablenken, sagten sie. Das konnte ich natürlich nicht. Bei dem Gedanken, dass es ihr furchtbar schlecht ging und ich nicht bei ihr sein konnte, brach ich fast zusammen.
Mich selber zu entlassen schien mir das einzig Richtige in diesem Moment. Eine Freundin meiner Mutter holte mich ab. Es ging mir alles nicht schnell genug. Ich wollte zu meiner Tochter, einfach nur bei ihr sein.
Ich bekam zwei Schmerztabletten mit. Eine für die Nacht und eine für morgens. So schnell mich meine wackeligen Beine tragen konnten, verließ ich das Krankenhaus. Was mir vielleicht passieren konnte, blendete ich aus. Es war egal, denn ich fuhr zu ihr, und das fühlte sich richtig an. Es war das Einzige, was ich für sie tun konnte: bei ihr sein. Wie im Flug fuhren wir über die Autobahn. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.
Als wir ankamen, war sie schon lange im OP. Nach ewigem Warten und unzähligen Tränen kam endlich der Chirurg zu mir. Er sah gar nicht aus wie einer, der gerade meiner Tochter das Leben gerettet hatte. Der sympathische Eindruck verschwand so schnell, wie er gekommen war. Nach vielen Worten, von denen ich nichts behalten habe, sagte er: „Also ich habe mein Bestes gegeben, aber wenn der liebe Gott das nicht möchte, wird sie es nicht schaffen ...!“
Das Thema musste wahrscheinlich angesprochen werden. Das verstand ich sogar, aber mir kam es in diesem Moment nur einfach taktlos vor. Er sagte es sechs Mal. Meine Hoffnung, sie würde es schaffen, wurde praktisch zunichte gemacht. Er ging.
„Sie wird es nicht schaffen.“ Immer wieder schoss mir dieser Satz durch den Kopf. Ein paar Stunden später durften wir dann zu ihr. Sie lag wieder in ihrem Inkubator, ganz friedlich, sie sah gut aus, als ob sie keine Schmerzen hätte.
Zum ersten Mal konnte ich auch ihr wunderschönes Gesicht sehen. Das war ein unbeschreibliches Gefühl. Sie hatte pechschwarze Haare. Da blendete ich sogar die vielen Schläuche und die riesige Narbe auf ihrem kleinen Bauch aus. Unter der Narbe waren links und rechts zwei kleine Löcher gemacht worden. Sie hatte einen künstlichen Darmausgang bekommen.
Wir mussten gehen. Als wir zu Hause ankamen, konnte ich kaum schlafen. Irgendwann nickte ich weinend ein und nach ein paar Stunden wachte ich auch so wieder auf. Ich musste wissen, wie es ihr ging, wie ihre Nacht gewesen war. Hatte es Komplikationen gegeben? Ich hatte Schmerzen. Das erinnerte mich an die letzte Schmerztablette, die ich hatte. Ich nahm sie, doch der Schmerz blieb.
Wir fuhren schnellstmöglich zu ihr. Ich hatte Angst, ich wollte das alles nicht, aber ich musste da durch. Ich klingelte an der Frühchenstation. Lächelnd machte mir eine Schwester die Tür auf und sagte mir gleich, dass sie die Nacht gut überstanden hätte.
Mir fielen zentnerweise Steine vom Herzen: Sie lebte und es ging ihr gut. Sie konnte ihre Beine wegen einer Rückenmarksbetäubung noch nicht bewegen, aber ihre Arme waren fleißig in Bewegung.
Ich stand den ganzen Tag an ihrem Inkubator, aber ich konnte mich nicht hinsetzen, sonst sah ich sie nicht. Ich wollte sie sehen, war so erleichtert und glücklich, da vergisst man seine eigenen Schmerzen.
Fünf kritische Tage gäbe es. Wenn sie die gut überstehen würde, könnte sie den Rest auch meistern.
Jedes Mal, wenn ich nach Hause fahren musste, war es wie ein Stich ins Herz. Immer rief ich noch einmal an, obwohl ich gerade von ihr kam und ihr Zustand sich kaum verändert haben konnte. Aber ich konnte dann besser einschlafen.
Gerade zu Hause, war Post von der Arbeitsstelle meines Mannes im Briefkasten: Es war seine Kündigung, weil er sich hatte krankschreiben lassen, um für uns da zu sein. Für sein kleines Baby, das viel zu früh zur Welt gekommen und viel zu leicht war. Das war total herzlos von seiner Chefin. Sie hat selber Kinder und sogar Enkelkinder. Es war für uns unverständlich, dass sie so auf diese Entscheidung reagierte. Als sei das alles nicht schlimm genug, wurde uns auch noch der finanzielle Halt genommen. Ich war fassungslos. Wie sollte es nur mit uns weitergehen?
Falls es unserem Baby schlecht gehen sollte, versprachen die Schwestern uns anzurufen. Natürlich hoffte ich, dass es nicht passierte.
Plötzlich, am dritten Tag nach der OP, klingelte mein Handy. Panik kam in mir hoch. Gleichzeitig wurde mir heiß und kalt. Das konnte doch nicht wirklich sein, dass es ihr schlecht ging, wünschte ich mir inbrünstig. Mit zitternder Stimme meldete ich mich. „Hallo! Frühchenstation, keine Panik, es ist nix passiert!“
Ich war sofort erleichtert. Es ging zum Glück nur darum, dass mein Hotelzimmer gebucht worden war. Das bekamen Eltern, wenn sie weiter entfernt wohnten, um immer in der Nähe ihres Kindes sein zu können. Die Schwester sagte auch noch, dass mein kleines Mädchen heute ein paar Mal ihre schwarzen Äuglein aufgemacht hätte.
Die fünf Tage verliefen insgesamt ganz gut. Am Abend merkte ich dann immer erst, wie anstrengend das Stehen war. Meine Narbe schmerzte noch sehr. Ich hatte mich ja auch nicht wirklich geschont die letzten Tage.
Am sechsten Tag nach der OP wurde sie wieder zurück in unser altes Krankenhaus verlegt. Wir waren schon lange vor ihr da, ich war total aufgeregt. Dann kam sie endlich. Wieder dauerte die Aufnahme Stunden. Also warteten wir. Später durften wir ihr noch gute Nacht sagen. Dann mussten wir auch gleich wieder fahren.