Zu Mensch - Arezu Weitholz - E-Book
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Zu Mensch E-Book

Arezu Weitholz

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Beschreibung

Woher kommen Melodien? Womit fängt alles an? »Alles beginnt mit dem Klang der Stimme von Freunden«, sagt Herbert Grönemeyer. 2000 nimmt er in London die Arbeit an seinem Album »Mensch« auf, das gleich nach Erscheinen auf Platz 1 landen und sich 96 Wochen in den Charts halten wird. Es ist bis heute das erfolgreichste deutsche Album. Arezu Weitholz hat den Entstehungsprozess dieses Albums als Textdramaturgin aus nächster Nähe verfolgt und begibt sich mit diesem Buch auf Spurensuche. Erinnerungen und Anekdoten, Zufälle und sonderbare Irrtümer, fröhliche Umstände und nachdenkliche Momente aus zahlreichen Interviews mit Herbert Grönemeyer, mit Weggefährten, Musikern und Freunden fügen sich zu einem hinreißenden Reigen. Welche Songtexte wurden verworfen? Wie war das im Studio und später bei den Konzerten? Und was hat es mit dem gigantischen Eisbären auf sich? Ein Buch, das Einblick gewährt in den kreativen Prozess, das von einem besonderen Künstler in einer besonderen Lebenssituation erzählt und vom London der Nullerjahre, einer Stadt, in der es drummt und basst und groovt und mosht. Ein Buch, ein Lebensgefühl. Mit wunderschönen Illustrationen.

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Seitenzahl: 230

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DIE AUTORIN

Arezu Weitholz ist seit den Neunzigerjahren eine enge Freundin der Familie Grönemeyer. Sie lernte Herbert durch Interviews kennen und wurde gebeten, bei der Platte Bleibt alles anders erstmals mit ihm zusammenzuarbeiten. Seit dem Album Mensch fungiert sie bei seinen Texten als Dramaturgin, verbale Anspielstation und wortfeile Gegenüberin und Ergänzerin. Arezu Weitholz selber ist eine renommierte Journalistin und Autorin mehrerer Gedichtbände und Romane; ihr Buch Beinahe Alaska wurde 2022 mit dem Hans-Fallada-Preis ausgezeichnet.

AREZU WEITHOLZ

ZU MENSCH

Herb, sagt Alex. Immer nur Herb.

Mit Illustrationen von Katrin Funckeund Skizzen von Arezu Weitholz

Verlag Antje Kunstmann

Die Menschen von Zu Mensch

Prolog

Das Lied Mensch – ein Intro

Erinnern wir uns – und wie es zu diesem Buch kam

Warum London?

Neuronenknoten – über London im Jahr 2000

Wie alles beginnt – über Anfänge

Hier will ich einen Kakao trinken – über Räume

Der Krautrock-Kompensator – über Grönland und NEU!

Der Klang der Stadt – übers Ausgehen und die Größe der Welt

Das begehbare Moodboard – eine Tapete aus Ideen und das Sandkorn-Prinzip

Essen und Mensch – übers Kochen und ein Rezept

Der Durchbruch – Lichteinfälle

Die Mayfair Machine – über das Grundgefühl und den Weg eines Liedes

Über Schlüssel-Songs – und wie sich Herbert und Alex kennenlernten

Das Mayfair Studio

Das machen wir hier so – über Pedals und das Kratzen im Getriebe

Was ein Theater – über Ideen

Die Musik bewohnen – über das gemeinsame Drauflosspielen

Haste Töne

Zum Meer I – Die Zäsur

Eine Frage der Form – über Harmonien

Die Rede – über Heimat und über Sprache

Was ist richtig?

Das Mensch-Video I

Zum Meer II – der Fanfarenmoment

Ich wäre gern ein Dabbeldab – über Bananentexte

Das mit dem Momentan – der erste Text

Zum Meer III – Birdy bekommt einen Text

Alles kommt zusammen – über das Mixen und den Mut des Behauptens

Wenn ich das singe, reimt sich das

Der allerletzte Tag und das Artwork

Abschiede, und woraus ein Mensch besteht

Reklame

Mensch ist in der Welt, und was Reihenfolgen sagen

Hier in Primrose Hill und dort im Stadion

Proben

Das erste Konzert – und wie sich das alles anfühlt

Die Open-Air-Vorbereitung und die kleine Bärenkunde

Die Unterwelt und die Open-Air-Tour

Es gibt Essen

Spielfreude

Die Wärme

Epilog – das Mensch-Video II

Schlagwortlexikon

Index

DIE MENSCHEN VON ZU MENSCH

IN DER UNGEFÄHREN REIHENFOLGE IHRES AUFTRETENS IN DIESEM BUCH

DIE KINDER Herberts Kinder

ALLI MCINNES ist eine Freundin und Musikerin mit eigener Band

ANTON CORBIJN ist Fotograf, Filmemacher und ein guter Freund, der ganz in der Nähe lebt

RENE RENNER ist im Jahr 2000 Geschäftsführer von Herberts Plattenfirma Grönland Records

NORBY heißt eigentlich

NORBERT HAMM und spielt Bass in Herberts Band

JAKOB HANSONIS spielt Gitarre in Herberts Band

ALEX SILVA ist der Co-Produzent des Albums, er und Herbert lernen sich in diesen Jahren erst richtig groß kennen

JOHN HUDSON führt mit seiner Frau Kate das Mayfair Studio und ist ein begehrter Mixer

SYLVIA KOLLEK ist die Chefin von Herberts Plattenfirma, Capitol Records, die zur EMI gehört

STEPHAN ZOBELEY spielt Gitarre in Herberts Band

BIRGIT MENGE ist eine Freundin der Familie und kümmert sich auch um die Kinder

MICHAEL ROTHER ist Musiker und die eine Hälfte der deutschen Gruppe NEU!

DOMINIC BOUFFARD, Freund von ALLI MCINNES, ebenfalls Musiker mit eigener Band

ULI heißt eigentlich ULRICH STEIN, ist Filmemacher und der älteste Freund aus Herberts Tagen beim Theater

JUTTA LANDKOTSCH übernimmt mit ihrem Partner Oliver Bürkel für die Tournee das Catering

GÜNTER JÄCKLE ist Lichtdesigner und entwickelt gemeinsam mit Fritze Krauch die Bühne

FRITZE heißt eigentlich FRIEDERIKE KRAUCH und designt die Bühnen der Mensch-Tour

ALFRED KRITZER spielt die Keyboards, singt live zweite Stimme und arrangiert auch die Streicher

DODO NKISHI ist Schlagzeuger und spielte damals bei der Gruppe Mouse on Mars

FLORIS VAN HEST ist der Chef der Streicher, die live mit auf Tour gehen

NICK INGMAN, Streicher-Arrangeur, arbeitet seit Bleibt alles anders mit Herbert zusammen

ANDI ZABEL ist Herberts Backliner und hat mit Herbert auf der Bühne den heißen Draht

ARMIN RÜHL spielt Schlagzeug in Herberts Band

WALTER SCHÖNAUER ist Art-Direktor und entwirft das Artwork, das vieles beeinflussen wird

CLAUDIA KALOFF ist Herberts langjährige Vertreterin

FRANK BENDER ist damals in der Promotionabteilung der EMI zuständig für die Abteilung Print

ANDY REITZ ist Head of Radiopromotion bei der EMI, also Radiochef

KERSTIN LEIPOLD setzt die textilen Vorstellungen von Lichtdesignern um

AXEL KOCH, Bärendompteur, setzt Deko und Bühnenaufbauten um

DIRK BECKER ist Tourneeplaner und Freund. Er arbeitet seit vielen Jahren mit Herbert zusammen

HARALD BULLERJAHN unterstützt Herbert seit den frühen Achtzigerjahren als Tourmanager und Vertrauensmann

UWE FREYER ist der Tourmanager für die Band

INGO MERTENS passt auf Herbert auf

STEPHAN JAUCH ist bei der Mensch-Tour unter anderem auch fürs Fahren zuständig

AREZU WEITHOLZ lebt im Jahr 2000 in London und schreibt als freie Korrespondentin für deutsche Printmedien

PROLOG

WALCHEREN, 1961

Ein Junge sitzt in den Dünen und schaut aufs Meer. Er ist fünf und wie jedes Jahr mit seinen Eltern und seinen zwei älteren Brüdern zur Sommerfrische auf Walcheren, einer Landzunge am äußersten Ende von Holland.

Jedes Mal, wenn die Familie in den Urlaub fährt, wird im Auto gesungen. Er liebt das. Er schrubbt bereits tierisch gut auf seiner Ukulele und singt alles, was sich singen lässt. Lieder aus der Mundorgel und was so im Radio läuft. Er hat noch keinen Klavierunterricht wie seine Brüder. Von einer Gitarre träumt er nur. Doch in diesem Moment denkt er nicht an Musik. Er sitzt da und schaut. Da hinten liegt Großbritannien. Am Horizont sieht er Containerschiffe. Er weiß, sie sind unterwegs von Rotterdam nach Southampton. Viele fahren sogar noch weiter. Nach Amerika. Nach Kanada. Nach Südamerika. Es macht ihn froh, sie zu sehen. Er weiß auch nicht, warum.

Aufbruch

Etwas bricht auf. Jemand macht sich auf eine Reise, gerät in Bewegung. Ein Los. Ein Auf. Ein Neubeginn. Dinge, die einen am Aufbruch hindern: Zweifel. Mutlosigkeit. Falsches Schuhwerk.

DAS LIED MENSCH – EIN INTRO

Das Schöne bei einem Lied ist, dass man es nicht sehen kann. Es umgibt einen, aber man hört es nur. Hat es ein Gesicht? Einen Eingang, so wie ein Haus eine Tür? Woher stammt es? Wie ist es in die Welt gekommen? Das Lied, um das es hier geht, hat viele Anfänge. Es ist zusammengeflogen, aus Ideen und Eindrücken, aus Zufällen und Pausen, aus Gefühlen und Ahnungen, aus Erinnerung und Energie.

Da wäre zum Beispiel eine Melodie. Finger spielen auf einem Klavier. Etwas Verhaltenes, Ahnungsvolles. In e-Moll. Augen schauen auf die Finger. Plötzlich wechselt die Stimmung, es klingt leichter, hoffnungsfroher, die Tonart hat sich verändert. Es ist D-Dur.

Da wäre eine Bassgitarre. Alex spielt Bass, um seine Finger aufzuwärmen. Halt, ruft eine Stimme aus der anderen Ecke des winzigen Studios. Spiel das noch mal. Aber spiel mal: duba duba diba duba.

Da wäre der Groove. Eine Band in einem Tonstudio.

Wir hören Reggae. Köpfe nicken.

Da wäre der Hintergrund. Eine Möwe schreit.

Wo sind wir?

Da wäre der Gesang. Walkin down on a reason, we can getin right. Walkin down on a reason, babe, see the water rise.

Da wäre eine Seemannsorgel. Wie kommt die denn hierher? Ist da ein Vergnügungspark am Meer? Hören wir die Specials*?

Da wären Textzeilen. Über und über beschriebene Seiten Papier liegen auf einem Schreibtisch in einer leeren Wohnung. Draußen rauschen Bäume und der Londoner Stadtverkehr.

Da wäre die Erinnerung. Ein Junge sitzt am Strand in Walcheren.

Da wäre der Aufbruch. Ein Kopf hebt sich.

Das Lied Mensch erscheint am 5. August 2002 als CD in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Noch bevor die Single in den Läden steht, läuft sie bereits seit Wochen überall im Radio. Mitte August kennt fast jeder in Deutschland das Lied oder Zeilen daraus. Lautet die berühmteste »Nach der Ebbe kommt die Flut«? Aber welche Flut? Oder ist es die Zeile »Es ist okay«. Aber was wäre okay? Nein, die berühmteste Zeile lautet: »Du fehlst.« Aber wer fehlt?

Das Lied, das sich bereits Wochen vorher selbst auf die Reise gemacht hat, wird von vielen auch im Zusammenhang mit einer Sache erinnert: dem Wetter Anfang August. Im Sommer 2002 sorgen Regenfälle in Deutschland, Tschechien und Polen für noch nie da gewesene Pegelstände der Flüsse und Binnengewässer. Es hört einfach nicht auf zu regnen. Es schüttet. Dämme brechen. Es kommt zur Katastrophe, zur Jahrhundertflut. Allein im Erzgebirge fallen an einem Tag örtlich 300 Liter Regen pro Quadratmeter. Dutzende Dörfer in Ostdeutschland werden überflutet, die Elbe verwandelt sich in einen reißenden Strom, auch die Dresdner Semperoper steht unter Wasser. Hilfe kommt in den Osten – aus dem Westen. Es gibt Spendenaufrufe. Menschen fahren spontan in die Dörfer, um zu helfen. Man sieht Bilder von Menschenketten. Von Sandsäcken auf Dämmen. Und im Radio und im Fernsehen läuft zu diesen Bildern immer wieder ein Lied: Mensch.

Aber warum? Trifft die Melodie einen Nerv, oder ist es der Text? Liegt es vielleicht an der Zeile »Weil er mitfühlt, weil er kämpft«? Oder an »Weil er lacht, weil er lebt«? Sicher ist nur: Dieses Lied, das von überallher zusammengeflogen ist, breitet sich nun, im August 2002, wieder aus. Dieses Buch erzählt die Geschichte dieses Liedes und des gleichnamigen Albums.

*Erklärungen ab Seite 192

ERINNERN WIR UNS

Im Mai 2021 kommt die Idee auf, ob man nicht ein Buch über die Entstehung des Albums Mensch machen sollte. »Wieso nicht eine Graphic Novel?«, findet Alex. »Sprich doch mal mit den anderen und schau, ob da genug interessantes Material zusammenkommt«, sagt Herbert. »Du warst ja dabei. Du bist quasi Zeitzeugin.«

Ich beginne zu telefonieren. Eins ist schnell klar: Es gibt so gut wie keine Fotos. Die Jahre um 2000 waren die letzten einer seltsam unsichtbaren Epoche. Wir hatten Handys, aber keine Smartphones. Es gab Internet, aber keine Clouds, kein Social Media. Herbert schickte Faxe. Wir schrieben auf Papier. Wir lasen Zeitung. Wir benutzten Stadtpläne, fragten nach dem Weg, und wenn eine spannende Serie (wie etwa 24) ins Fernsehen kam, warteten wir eine Woche auf die nächste Folge. Die Welt war langsamer, geheimnisvoller, kompakter – und man selbst war es vielleicht auch.

Dazu kommt: Die Erinnerung spielt Streiche. Eine Person sagt, wir saßen im Pub, eine andere sagt, wir waren in der Küche. Einer meint, er hat das allein gemacht, jemand anders weiß, der war gar nicht dabei. Einer sagt gar nichts. Und eine sechste Person will unbedingt auch was sagen, vertut sich aber mit den Jahren.

Sie hatten zwei Meerschweinchen.

— BIRGIT

Sie hatten Fische.

— ALLI

Sie hatten einen Hasen.

— ALEX

Die Engländer waren alle sehr nett.

— ANTON

Teilweise waren sie echt respektlos.

— RENE

Bei Herbert mussten wir immer im Presswerk anrufen. Er war mit allem zu spät.

— SYLVIA

Na ja, zu spät…

— HERBERT

Wer sagt, dass es manchmal sehr eng wurde?

— WALTER

Ich erinnere mich an nicht mehr viel.

— STEPHAN

Wie hieß noch mal die Band, die wir immer gehört haben?

— ALEX

Er hat eigentlich nur TripHop gehört.

— RENE

The Strokes!

— ALEX

Wir sind jeden Morgen über den Abbey-Road-Zebrastreifen gegangen, weil wir dachten, das bringt vielleicht Glück.

— NORBY

Waren wir nicht bei so einer ausgestorbenen Kirmes am Meer?

— JAKOB

Das war in Rockfield, 1998. Da hat es nur geregnet.

— NORBY

Wir haben die ganze Nacht durchgemixt.

— ALEX

Sie sind auf den Sofas eingeschlafen.

— JOHN

Herbert konnte extrem gut kochen.

— ALLE

Und dann gibt es noch die, die sich genauer erinnern. An zahlreiche handbeschriebene Seiten von Herbert. Hurra. Die in den Papierkorb gewandert sind. Nein! An das Archiv, das leider beim Umzug vernichtet wurde. In der Firma geblieben ist. In Kisten steckt, an die man jetzt aber leider nicht rankommt.

Wieder telefonieren wir, inzwischen ist es Anfang Juni. Die anderen erinnern sich, sage ich. Spitze, erwidert Herbert. Ja, aber jeder erinnert sich an etwas anderes. Aha, sagt er. Und du, frage ich. Woran erinnerst du dich eigentlich? Das ist ja das Problem, sagt er. So spontan erst mal an NICHTS!

2001 lebte ich als Journalistin in London und recherchierte für einen Artikel zum Thema »Erinnern und Vergessen«. Ich fand heraus, warum zwei, die das Gleiche erleben, hinterher unterschiedliche Geschichten erzählen: Erinnerungen sind eine Art sich langsam entwickelnder Skulptur. Jeder Mensch ist Bildhauer seiner eigenen, einzigartigen Vergangenheit. Es war ein Rätsel, was genau im Gehirn vor sich geht, wenn wir wahrnehmen, wenn wir erinnern, wenn wir vergessen. Man wusste nur, Stress und Depressionen machen vergesslich.

Erinnert er sich deswegen an nichts? Oder liegt es daran, dass er sich so gern und vollständig in der Gegenwart aufhält? Oder war am Ende der Erfolg zu groß?

A — War das vielleicht alles zu viel?

H — Jetzt mach aber kein Buch, in dem wir uns abfeiern.

A — Nein, mach ich nicht.

H — Du sollst nicht die Welt erklären.

A — Nein, tu ich nicht.

Aber wir, die 2002, 2003, 2004 auf den Konzerten waren, erinnern uns an die Begeisterung, den nicht enden wollenden Applaus. An die vielen, vielen Menschen – und an noch etwas.

Ohne einen »sense of loss« kannst du diese Zeit nicht beschreiben. — ANTON

Man kann nicht über das Album Mensch erzählen, ohne die Vorgeschichte zu erinnern. Ohne Fragen zu stellen. Warum befürchtete Herbert 1998, nie wieder Musik schreiben zu können? Warum dauerte es vier Jahre, bis das Album fertig war? Warum denken heute noch so viele, Mensch sei traurig, wenn es doch eine heitere Platte ist?

»Bleibt alles anders war das wirklich traurige Album«, sagt er, darauf angesprochen. »Mensch war der Versuch, Neuland zu gewinnen. Bei Mensch fing der Schleier an, sich zu lüften.« Welcher Schleier? »Der über allem lag.«

London, 1998. Wir treffen uns in einem Hotel in London, dem Langham oder dem Landmark, ich verwechsle das immer. Ich erinnere ein helles Foyer mit hohen Decken, eine Freitreppe führt nach oben in eine Art Lounge mit einem braun-schwarz gemusterten Achzigerjahre-Teppich. Ich weiß noch, dass ich dachte, schick hier.

Er spielt mir seine neue Platte vor. Sie heißt Bleibt alles anders. Ich bin die erste Journalistin, die die Lieder hört, weil ich ein Interview mit ihm führe, das später an Radiosender und Printmedien verschickt werden soll. Wir hören Schmetterlinge im Eis, wir hören Stand der Dinge, wir hören Bleibt alles anders. Später sprechen wir über Musik und Fußball und Drum’n’Bass, und noch viel später über Liebeskummer, Horoskope und warum Klavierspielen tröstet. Was ich nicht weiß, was kaum jemand in Deutschland weiß, ist, wie viel Wahrheit in der Platte steckt. Im selben Jahr stirbt seine Frau, nur wenige Tage nach seinem Bruder. Erst kurz vorher war die Familie nach London umgezogen.

Man kann es niemandem erzählen, weil die Worte nicht gut sind.

WARUM LONDON?

»Im Nachhinein wundere ich mich darüber, dass wir geblieben sind«, sagt Herbert. »Der normale Impuls nach so einer Sache wäre gewesen, wieder nach Hause zu gehen. Zurück nach Deutschland.« Tut er aber nicht. Die Familie bleibt in London. Warum?

1998 ist er dreiundvierzig, alleinerziehender Vater. Die Kinder sind neun und elf Jahre alt. Sie sind gerade auf eine neue Schule gekommen und leben nun in einer Stadt, in der sie keine Verwandten haben, kein soziales Netz, ihre Muttersprache umgibt sie nicht. Der neue Alltag muss ihnen fremd, im besten Falle seltsam vorkommen. Doch auf der anderen Seite ist es überhaupt nicht verwunderlich, dass sie bleiben. Es ist verständlich.

Der Umzug nach London war ein Lebenstraum. »Wir hatten immer davon geträumt, dort zu leben. Wir liebten das Tempo, das Punkige, das Unsortierte, den Gesamtgroove. Die wilde Vegetation, die Gärten, die Parks.«

Dazu kommt eine Anonymität, die die Familie in Deutschland seit Herberts Erfolg in den Achtzigerjahren kaum mehr kennt. Keiner weiß, wer sie sind. Dennoch hatte er Bedenken gehabt: »Ich bin mit großen Sorgen dorthin. Ob die Gesundheitsversorgung ausreicht. Aber während ich mich um ihre Gesundheit sorgte, hat sie – still wie sie war – über ganz andere Dinge nachgedacht.«

Warum also bleiben sie? »Ich kann es nicht erklären«, sagt er. »Mein erster Gedanke war: In Berlin bin ich sicherer. Mein zweiter war: Warum wollten wir unbedingt hier wohnen? Das will ich erst mal rausfinden.«

NEURONENKNOTEN

Zeitgeist

Was einst in der Luft lag. Eine Mischung aus Themen, Instinkten, Klängen, Mode, Politik, Musik und Sehnsüchten. Eine Art Lebensgefühl.

Wer im Jahr 2000 nach London kommt, landet in Gatwick, Luton, Stanstead, City Airport oder Heathrow. Aus Hamburg legt die DFDS-Englandfähre in Harwich an, mit dem Auto fährt man die A12 bis zur M25, der Ringroad, die dauernd verstopft ist. Bereits in den äußersten Außenbezirken gibt es Häuser aus dem 19. Jahrhundert, und man kann sich gut vorstellen, wie riesenhaft die Fläche Londons schon immer war. Aus der Luft sieht es nachts aus, als würde ein gigantischer Nervenknoten auf dem südwestlichen Teil der Insel wachsen.

London ist für mich die Straße, in der wir leben. Jeder kennt jeden. Es ist wie auf dem Dorf. Da ist die Blumenfrau, die meine Tochter so gernhat, der Friseur mit seinem Riesenschlüsselbund für die Apartments, die er vermietet. Der Newsagent mit seinem Zeitungsladen, der mir die Zeitung besorgt. Die Jungs vom marokkanischen Cornershop. Die beiden Brüder aus Zypern, denen wenigstens vier Läden an der Straße gehören. Das Café gegenüber, wo ich jeden Morgen meinen Kaffee hole. Der Friseur hat uns mal mit zu einem Fußballspiel vom FC Chelsea genommen. Die Blumenfrau hat ein Auge auf die Kinder. Jeder in der Straße zeigt Mitgefühl. Dabei kennen sie uns gar nicht. – HERBERT

Jahrhunderte, Nationen, Religionen und Geschäftigkeit mischen sich in London zu einem vielstimmigen dauernden Brummen und Summen. Im Stadtgebiet und den Außenbezirken leben an die 12 Millionen Menschen. Leise ist es nirgends, und selten sieht man in der hell erleuchteten Metropole nachts einen Stern am Himmel. In Bussen und der U-Bahn vollzieht sich ein stilles Ballett der Millionen. Die Menschen schieben sich hinein, sie schieben sich hinaus. Dauernd entschuldigen sie sich, selbst wenn es dafür keinen Grund gibt – anders geht es nicht.

Die Ansprüche der Kinder vitalisieren mich. Sie gehen mit einer anderen Dynamik in den Tag. Sie haben ihre Art der Bewältigung, und sie erleben viel Neues. Das hilft. Ich hatte zuvor in britischen Tonstudios gearbeitet, aber merke jeden Tag, dass ich vom Alltag in England keine Ahnung hatte. Die Stadt zwingt mich dazu, ständig etwas zu entdecken. – HERBERT

Nachdem zu Beginn des Millenniums die Welt nicht zum Stillstand kam – man befürchtete damals, dass im Moment des Datumwechsels von 1999 auf 2000 der Y2K Bug weltweit Netzwerke lahmlegen würde –, weiß keiner so genau, was dieses neue Jahrtausend sein soll. Noch nicht mal, wie die Epoche heißen wird – doch schon bald entscheidet sich, wir leben nicht mehr in den Neunzigern, sondern in den Nullern.

London ist wie ein Schmetterlingskäfig. Die ganze Zeit flattern Sachen um dich herum. Alles geschieht schnell, von der Sprache, vom Kopf her, vom Reagieren, und es ist unglaublich multikulturell. Ich lerne eine Menge netter Leute kennen, es ist eine flirrende Gesellschaft. Ich kann gar nicht anders, als zu reagieren. – HERBERT

Herbert trainiert drei Mal die Woche im Park Primrose Hill. Er läuft mit Eddie, einem Sportlehrer aus Jamaika. Seine Kinder gehen in London zur Schule, morgens weckt er sie mit Musik, macht Frühstück (Porridge mit Kakao) und fährt sie dorthin.

Ich bin sofort in die englische Sprache eingestiegen, in die Kultur. Mein Englisch war schon gut, aber nicht besonders entwickelt. Ich will im Spiel bleiben. Ich muss. – HERBERT

Der Stadtplan A—Z, ohne den niemand auf die Straße geht, ist ein Ringbuch mit Seiten über Seiten winziger verkreuzter und verknoteter bunter Linien und Straßennamen. Um 23 Uhr machen die Pubs zu, Sperrstunde. 3,30 DM sind 1 Pfund. Noch umweht der Geist von New Labour die Regierung von Tony Blair, der noch keine Truppen in den Irak entsandt hat, um an der Seite von George Bush nach nicht vorhandenen Massenvernichtungswaffen zu suchen. Der parteilose Bürgermeister Ken Livingstone ist ebenfalls noch beliebt, denn er hat noch keine CCTV-Kameras installieren lassen.

Im Moment spreche ich nur mit den Kindern und mit Birgit Deutsch. Deutsch ist meine innere Heimat, mein Rückzugsort. Mein Zuhause. Mir fehlen die Gespräche mit meiner Frau. Wir waren Weltmeister im Unterhalten. – HERBERT

Die Steuerbehörde akzeptiert seltsam ausgefüllte Formulare. Da es keine Meldepflicht gibt, kann man ein Konto mit der Strom- oder der Wasserrechnung eröffnen. Autofahren macht Spaß, vor allem auf den Schleichwegen der Nebenstraßen mit den zahllosen »schlafenden Polizisten« (Fahrbahnschwellen). Radfahren ist etwas für Leute mit Todessehnsucht.

Die englische Sprache hilft mir. Ich muss mich nicht auf meine Kultur beziehen. Ich bin auf null gestellt. Nur wenn ich will, hole ich mein Deutschsein hervor. Ich kann entdecken. Erforschen. Verrückt sein. Ich nehme täglich auf, was mir die Stadt bietet: Liebenswürdigkeit. Unperfektes. Freundschaft. Licht. Ich treffe ungewöhnliche, sehr reizende, herzliche Menschen.

– HERBERT

Lärm, Dreck und Gestank sind so allgegenwärtig wie der Luxus hinter den Türen der Residenzen am Eaton Square. U-Bahnfahren strengt an. Immer hat man abends schmutzige Hände. Die Themse teilt die Stadt. Die aus dem Norden treffen sich selten mit denen aus dem Süden. Die Postleitzahlen, eine Kombination aus Buchstaben und Zahlen, verraten mehr über den Status einer Person als seine Kleidung.

Für mich ist alles neu, und das stützt mich: die entspannte Leichtigkeit, mit der die Leute hier herzlich sind. Die Menschen hier sind einfach nur da und sagen: »Hello.« – HERBERT

Es gibt drei relevante Tageszeitungen, den Independent, den Guardian, die Times. Die Wochenendausgaben der drei sind zusammen kiloschwer. In der U-Bahn liegen umsonst die Metro aus und ab 16 Uhr nachmittags der Evening Standard. Sushi ist unerschwinglich, dafür gibt es fabelhafte indische Currys, Pizzaläden und die sogenannten Greasy Spoons (Zum fettigen Löffel), wo die Leute aus dem Viertel und Bauarbeiter frühmorgens ihr Full English Breakfast verspeisen.

In vielen Apartments hat man im Bad noch die Wahl zwischen Erfrieren und Verbrühen. Post kommt irgendwo an. In manchen Gebäuden muss der Strom mit einem Ladestäbchen am nächsten Kiosk gekauft werden. Leute, die genauso gute Jobs haben wie die Kollegen in Deutschland, leben aus Kostengründen in WGs, man trifft sich im Park zum Picknick, zu Hause zum Kochen, und obwohl es so viele andere gibt, die schöner, reicher, erfolgreicher sind als man selbst, ist man irgendwie zufrieden.

Neulich bin ich zurück nach Deutschland geflogen. Ich stand am Flughafen und dachte: Was gucken mich die Leute so an? Und dann fiel mir ein: »Ach, ja. Klar. Ich bin’s.« – HERBERT

Musikalisch entspringen aus dem Schmelztiegel der Stadt zahllose Stile. Die Independent-Radiosender spielen hauptsächlich Reggae, Dub, Drum’n’Bass und Garage. Warp Records eröffnet 2000 den ersten Online-Shop für elektronische Frickelmusik, Craig Davids Album macht den Begriff Two-Step bekannt, und der Mainstream-Erfolg von David Gray führt zu einem Boom handgemachter und im eigenen Zuhause produzierter Neo-Folk-Popmusik. Pure Shores von All Saints und Overload von den Sugababes dominieren die Radioprogramme von XFM und Radio 1. Musikfans feiern das Album Kid A von Radiohead*, das Nigel Godrich in den Mayfair Studios produziert, genau ein Stockwerk unter dem Raum, in dem zwei Jahre später Mensch entsteht.

Wenn ich morgens am Flügel sitze und die Kinder wecke, spiele ich irgendwelche Melodien oder lege eine CD ein. Ein Kind sagt: Schreib mal was Lustiges. Aber wenn ich schreibe, ist das ruhig, balladesk, zaghaft. – HERBERT

Anderthalb Jahre nichts. Es geht einfach nicht. Ein paar Minuten am Klavier. Es geht nicht.

Das Wort Trauer entstammt dem mittelhochdeutschen »trüren« und bedeutet »fallen«, »den Kopf sinken lassen«, »die Augen niederschlagen«.

Alles beginnt mit einem Klang. Alles beginnt mit dem Klang der Stimme von Freunden.

WIE ALLES BEGINNT

»Du darfst nicht aufhören zu singen«, sagt ihm seine Tochter 1998. Was sie damit meint: Er soll leben. Sie wünscht sich Normalität, und dass es trotzdem weiter so ist wie früher. Aber wie? Wie soll jemand Musik machen, wenn er trauert?

Es habe eben nicht geklungen in ihm, sagt Herbert. Er habe sich damals natürlich gefragt, warum. War es die Trauer, oder hatte er die Musik auch noch verloren?

»Musik schreiben ist für mich die Gelegenheit, aus der Melancholie herauszukommen, selbst wenn ich ein ganz trauriges Lied spiele. Es ist die Kraft, die mich motiviert zu leben. Dafür ist Musik für mich da. Die löst was. Die setzt bei mir was frei, eine Lebenslust, eine Lebensfreude. Nur, wenn die nicht vorhanden ist, kann sie auch nicht freigesetzt werden«, sagt Herbert.

Damit also die Musik wieder zu ihm findet, oder er zur Musik, muss zuerst die Lebensfreude zurückkehren. Aber wie? Womit fängt alles an? Mit einem Gedanken? Einer Erinnerung? Einem Gefühl?

Er war auf der Suche nach allem, was positiv war im Leben. Musik, Bücher, Kunst, Artikel, Ideen. Menschen.

— ALEX

Jeden Morgen kam er vorbei und wir haben ein bisschen geplaudert. Ich habe ihm immer die Süddeutsche Zeitung besorgt.

— NEWSAGENT

Er hat sich große Mühe mit den Kindern gegeben. Er fragte sich: Wie werden sie groß? Was werden sie für ein Bild vom Leben haben?

— ANTON

Wir hatten keine Ahnung, wer er war. Für uns war er London-Herbert. Wir konnten in Hampstead Heath abhängen. Es gab einen guten, warmen Kreis um ihn.

— ALLI

Da war auf einmal diese kleine Familie, und alle Menschen in der Straße waren ihr unglaublich zugetan.

— ALEX

Das Mädchen wollte unbedingt ein Hausschwein. Sie ist von Laden zu Laden und hat uns allen erzählt, dass ihr Vater ihr keins kaufen will. Irgendwann haben wir ihr ein riesengroßes Stoffschwein besorgt.

— BLUMENFRAU

Ich bin ja großer Chelsea-Fan und der Junge war es auch. Einmal nahm ich sie mit zum Spiel, was ihnen, glaube ich, sehr gefallen hat.

— FRISEUR

Gianfranco Zola hat das 1:0 geschossen.

— SOHN

Der Alltag und wie die Menschen miteinander umgehen, ist britisch uneitel. Was bedeutet das? Während in der abgeschotteten Welt der sogenannten Upper Class Dinge wie Standesunterschiede, Wortschatz und Tonfälle zählen, umgibt Herbert das unbekannte und zugleich weltoffene London. Alex beschreibt gemeinsame Essen und Zusammentreffen als »bubbly«, also blubbernd, übersprudelnd, lebendig – was es trifft. Es wird geredet, gelacht, debattiert. Keiner ist besser als der andere. Niemand prahlt. Vielleicht ist die Stadt zu groß für Getue. Man schwimmt in einem Strudel mit so vielen anderen Individuen, ständig ist man einer von Unzähligen. Nie kann man wissen, welche Geschichten der andere zu bieten hat. Die Höflichkeit, der verspielte Rhythmus der englischen Sprache und der britische Humor tun ihr Übriges. Ich treffe Herbert im Jahr 2000 und mein Eindruck ist der eines entspannten Menschen, der viel nachdenkt, aber nicht grübelt. Wie man sich täuschen kann. In einem Interview sagt er später über diese Zeit: »Das schlechte Gewissen ist ein ständiger Kampf: Was darf ich? Was darf ich nicht? Darf ich lachen? Darf ich nicht lachen? Darf ich überhaupt Musik machen? Darf ich das, als alleinerziehender Vater eine Platte machen? Zurück in das extreme Ego hinein?«

Ich habe ihn nie gefragt, wo die Musik herkommt, die er schreibt. Ob er eine Methode hat, die er immer anwendet, so wie Amerikaner oft von einem »process« reden. So nach dem Motto: »Schreiben kann ich nur nachts. Mit Krach. Mit links. Im Winter.«