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Ein Buch, das Ängste nimmt und den Blick nach vorn schärft FLORENCE GAUB hilft, die Zukunft zu denken, zu planen und persönlich zu gestalten. Denn diese ist das Resultat unseres individuellen Handelns. »Der Mensch ist das Wesen, das die Fähigkeit hat, sich die Zukunft so detailliert vorzustellen, dass er sie erschaffen kann«, sagt Florence Gaub, und das ist eine Nachricht voll Hoffnung. Denn selten war die Zukunft mit so vielen und großen Unsicherheiten behaftet wie heute: Krieg, Klima, Inflation... Florence Gaub zeigt mit Beispielen aus Neurowissenschaften, Psychologie, Philosophie und der Geschichte, wie der Mensch die »Zukunft« imaginiert, konstruiert und real erschafft. Denn das drohen wir momentan zu verlieren: Den Glauben daran, unser zukünftiges Leben selbst gestalten zu können. - Ein Big Idea Book auf Basis von Neurowissenschaften, Psychologie und Philosophie »Florence Gaub ist eine der fundiertesten Stimmen im Wissenschaftsbetrieb der Bundesrepublik.« Stefan Aust
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Seitenzahl: 342
Veröffentlichungsjahr: 2023
»Der Mensch ist das Wesen, das die Fähigkeit hat, sich die Zukunft so detailliert vorzustellen, dass es sie erschaffen kann«, schreibt Florence Gaub, und das ist in diesen Monaten eine Nachricht voll Hoffnung. Denn selten war die Zukunft mit so vielen und großen Unsicherheiten behaftet wie heute: Krieg, Klima, Inflation …
Florence Gaub zeigt mit Forschungsergebnissen aus Neurowissenschaften, Psychologie und Philosophie, wie der Mensch die »Zukunft« imaginiert, konstruiert und real erschafft. Denn das drohen wir momentan zu verlieren: Den Glauben an die eigene Kraft, daran, unser zukünftiges Leben selbst gestalten zu können. Mit Florence Gaub blicken wir durch und verstehen, wie wir unseren Handlungsspielraum nutzen können.
Florence Gaub
Eine Bedienungsanleitung
Widmung
Inhalt
EINLEITUNG
Vor der Erstbenutzung
Die schlafende Superkraft
Zukunftshorizonte
Die Entdeckung der Zukunft
Die Zukunft in der Krise
Andere Zukünfte im Angebot
Was bedeutet das?
Die angewandte Zukunft
KAPITEL I
Technische Daten: Was ist die Zukunft?
1. HAUPTMERKMALE
2. VERWENDUNGSZWECK: WOFÜR IST DIE ZUKUNFT DA?
3. TYPOLOGIEN: VIER ARTEN VON ZUKUNFT
4. URSPRUNG: DIE GESCHICHTE DER ZUKUNFT
KAPITEL II
Bedienelemente und Geräteteile: Woraus besteht die Zukunft?
1. DER EINSCHALTKNOPF
2. DIE GEGENWART
3. DIE VERGANGENHEIT
4. DAS NEUE
KAPITEL III
Inbetriebnahme: So funktioniert Zukunft
1. MIT ZIEMLICHER SICHERHEIT: WAS WIR WISSEN
2. MIT DER GEFAHR LEBEN
3. SICH DAS BESTE VORSTELLEN
4. ÜBERRASCHUNG!
KAPITEL IV
Sicherheits- und Warnhinweise
1. KATASTROPHENDENKEN
2. WUNSCHDENKEN
3. DIE ILLUSION DER GEWISSHEIT
4. DIE GEFÄLSCHTE ZUKUNFT
KAPITEL V
Störungsbehebung
1. ABGELAUFENES GÜLTIGKEITSDATUM
2. DIE UNSICHTBARE ZUKUNFT
3. DIE SCHLECHTE ZUKUNFT
4. DIE UNINSPIRIERTE ZUKUNFT
SCHLUSS
Garantie auf Zukunft
Namens- und Sachregister
Für meinen Vater, der als kleiner Junge
auf die Frage nach seiner Zukunft erwiderte:
»Ich will Kinder haben. Oder Astronaut werden.«
»Es geht um die Zukunft, Frau Kanzlerin.
Manche Leute denken, die Zukunft bedeutet das Ende der Geschichte. Nun, die Geschichte ist noch nicht ganz vorbei. Ihr Vater nannte die Zukunft – ›das unentdeckte Land‹.«
Captain James T. Kirk, Star Trek VI (1991)
Für die meisten von uns ist die Zukunft etwas, das sie passiv konsumieren, wie Lutscher oder Fernsehserien. Politiker, Tech-Unternehmer, Science-Fiction-Filme und sogar Wahrsager produzieren Zukunft von der Stange, die wir ihnen deshalb »abkaufen«, weil sie zumindest eine Vorahnung davon vermittelt, was das Morgen so bringen könnte. So gesehen ist die Zukunft etwas, das weit weg ist, noch nicht da, von uns getrennt, unwirklich, etwas, das von ganz allein passiert – ein bisschen wie ein Asteroid, der auf die Erde zurast.
Doch diese Sichtweise ist falsch.
Denn die Zukunft ist keine ferne Zeit, sondern etwas, das alle Menschen ständig erzeugen. Der Einzelne tut dies ebenso, wie es Staaten tun, Unternehmen und Fußballvereine. Und für alle ist die Zukunft in 3D – inklusive Bildern, Geräuschen und sogar Geschmack.
Obwohl wir das Wort Zukunft in der Einzahl benutzen, ist sie eigentlich immer eine Vielzahl: Das Mögliche, das Wahrscheinliche, das Plausible und sogar das Unmögliche sind alles Versionen der Zukunft. Die Zukunft (bleiben wir aus Gewohnheit beim Singular) ist also alles, was wir uns über sie vorstellen können.
Diese Fähigkeit, gedanklich in eine Zeit zu reisen, die noch nicht da ist, ist eine menschliche Eigenschaft, der im Tierreich so nichts entspricht – ein wenig wie eine Superkraft oder, um noch weiterzugehen, vielleicht eines der wichtigsten Merkmale des Menschseins überhaupt. Denn so ziemlich alles, was den Menschen zum Menschen macht – nachdenken über Optionen, Entscheidungen treffen, träumen, Ziele setzen, sich sorgen –, ist jeweils eine Form von Zukunft.
Die meisten Menschen schöpfen diese Fähigkeit jedoch nur selten voll aus. Der Mensch verbringt zwar die Hälfte seiner wachen Stunden damit, über die Zukunft nachzudenken, aber den größten Teil verschwendet er für eher banale Zukünfte. 80 Prozent unseres Zukunftsdenkens gelten der alltäglichen Zukunft – was wir essen, wann wir zur Arbeit gehen und wann die Prüfungen der Kinder anstehen. Erst an weit abgeschlagener zweiter Stelle folgt mit 14 Prozent die Zukunft des kommenden Jahres: Ferien, Projekte, Arztbesuche. Lediglich sechs Prozent unserer Zukunft betreffen die nächsten zehn bis 15 Jahre, wie Heiraten, ein Hausbau oder Karriereziele.[1]
Die größere und weiter entfernte Zukunft wird nur selten mental besucht, und wenn, dann fürchten wir uns schnell vor ihr und überlassen sie anderen, fast so, als gehörte sie uns nicht oder läge nicht im Bereich unserer persönlichen Verantwortung. Dies liegt zum Teil an dem verbreiteten Irrglauben, dass diese größere, kollektive Zukunft sich grundlegend von der kleinen, persönlichen Zukunft unterscheidet. Erstere gehört vermeintlich in die Hände von Regierungen und Unternehmen und wird mit strategischen Vorausschauberichten und Big-Data-Modellen gemanagt, Letztere mit Tagebüchern und Vision Boards – so wird jedenfalls oft gedacht. Bücher für die große Zukunft finden sich in der Wissenschaftsecke, die für die kleine in der Selbsthilfeabteilung.
Aber diese Unterscheidung ist falsch. Alle Zukünfte sind miteinander verbunden, ja stecken ineinander wie Legosteine. Die tägliche Zukunft ist eingebettet in die persönliche Zukunft, die wiederum Teil der Zukunft dieser Epoche ist, die wiederum Teil der Zukunft des Planeten ist. Diese Zukünfte hängen nicht nur voneinander ab, sondern entstehen in den Köpfen der Menschen auf ziemlich dieselbe Weise: Es werden Elemente der Vergangenheit, Informationen der Gegenwart und Vorstellungskraft zusammengemischt, um daraus etwas ganz Neues zu machen. Jeder Mensch ist daher zu allen vier – großen und kleinen – Zukünften fähig, aber die meisten vernachlässigen zwei, oft sogar drei davon. Sie sind damit nicht die willentlichen Zukunftsproduzenten, die sie sein könnten, sondern Konsumenten der Zukünfte anderer.
Und nicht nur wir Einzelne vernachlässigen die Zukunft, wir tun es als Gesellschaft, und zwar schon seit Jahrhunderten. Wir lernen in der Schule nicht, wie man mit ihr umgeht, die großen Philosophen haben wenig zu ihr zu sagen, und auch die Wissenschaft beschäftigt sich erst seit Kurzem mit der Zukunft als Forschungsobjekt. Vielleicht steckt die Zukunft gerade darum aktuell in der Krise.
Und genau deshalb brauchen wir eine Bedienungsanleitung.
Alle Menschen werden mit der geistigen Fähigkeit geboren, in mehrere und sogar weit entfernte Zukünfte zu reisen. Doch man muss es zunächst lernen, wirklich weit zu reisen und viele und nützliche Zukünfte zu entwickeln. Das passiert schon deshalb nicht automatisch, weil wir im Jetzt des Alltags verwurzelt sind, denn dort spielt sich das Leben ab. Auch darum ist die kleine Zukunft diejenige, in der wir uns am meisten aufhalten, denn sie hat den größten Nutzwert für die unmittelbare Gegenwart. Weiter zu reisen – sei es in die persönliche Zukunft oder in die Zukunft der Gesellschaft und sogar des Planeten – geschieht schon deshalb seltener, weil es anstrengender ist, gewisses Handwerkszeug und gewisse Fähigkeiten erfordert und nicht zuletzt einer Gesellschaft bedarf, die beides fördert und lehrt.
Aber bisher sind die meisten westlichen Gesellschaften eher vergangenheits- als zukunftsorientiert, das allein macht es schon schwer. Nicht Zukunftsvorausschau ist Pflichtfach in der Schule, sondern Geschichte, und Latein wird mehr unterrichtet als Weltraumforschung. Auch an den Universitäten sieht es nicht besser aus. Es wird grundsätzlich mehr Können gelehrt als Denken, und das Denken, das gelehrt wird, ist konvergent (wo mit Logik nach nur einer richtigen Antwort gesucht wird) und nicht divergent (wo mit Vorstellungskraft nach so vielen Lösungen wie möglich gesucht wird). Fächer wie Kunst, Literatur, Philosophie oder Nichtstun (von Schülern häufig praktiziert, ist aber kein Unterrichtsfach) würden die für die Zukunftsfähigkeit wichtige Vorstellungskraft fördern, werden aber meist als zweitklassig, da nutzlos auf dem Arbeitsmarkt angesehen.
Auch sonst ist die Vorliebe für die Vergangenheit weit verbreitet. In der Psychologie dominiert immer noch der Ansatz, die Ursache von Problemen in der Vergangenheit des Patienten zu suchen, anstatt in der Zukunft eine Lösung zu finden. Die meisten unserer Religionen sind rückwärtsgewandt, predigen eine Rückkehr in ein verlorenes Paradies, nicht eine bessere Zukunft. Und natürlich fördert das 21. Jahrhundert mit seiner Sucht nach dem Unmittelbaren – Tweets, Quartalsberichte, Wahlzyklen – die Kurzfristigkeit und neigt dazu, der Zukunft die Probleme der Gegenwart aufzuhalsen. (Manche nennen das Zukunftskolonialismus, sprich die gewalttätige Aneignung von etwas, das einem nicht gehört.) Nicht zuletzt haben wir auch einen kulturellen Nachteil, wenn es um die Zukunft geht: Westliche Kulturen neigen dazu, sich kollektiv weniger für die Zukunft zu interessieren als asiatische.[2]
Insgesamt ist unsere Gesellschaft also wenig zukunftsorientiert und trägt dementsprechend nicht dazu bei, dass wir als Einzelpersonen es sind. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum wir die Zukunft vernachlässigen.
Öffentliche Zukunft
Persönliche Zukunft
Antworten in Quiz Shows
Aktienmärkte
Öffentliche Versteigerungen
Tweets
Sekunden
Texting
1-Klick-Kauf
Atemzug
Ampeln
Öffentliche Verkehrsmittel
TV-Nachrichten
Notruf
Minuten
Duschen
Kaffeepause
Essen
Öffnungszeit
Parkuhr
Meeting
Stunden
Arbeitsschicht
Akkulaufzeit
Tageszeitung
Schlussverkauf
Musikfestival
Tage
Wocheneinkauf
Sportunterricht
Quartalsreport
Modenschau
Software-Aktualisierung
Monate
Schuljahr
Schwangerschaft
Diät
Handelsabkommen
Olympische Spiele
Wahlzyklen
Jahre
Hochschulabschluss
Karrierepläne
Kindererziehung
Raumfahrtprogramm
Energieübergang
Chinesische Planung
Jahrzehnte
Hypothek
Pensionssparen
Testament machen
Kathedralenbau
Generationendenken
Saatgutbank
Jahrhunderte
Pflanzung einer Eiche
Zeitkapsel
Glaube an das Leben nach dem Tod
Unsere Neigung zu Gegenwart und Vergangenheit kommt auch daher, dass die Zukunft bis vor Kurzem kaum wissenschaftlich untersucht wurde. Für unsere Vorfahren war die Zukunft nicht etwas, das in ihren Köpfen entstand und von ihren Entscheidungen, Träumen und Ängsten geprägt war. Stattdessen war die Zukunft für sie etwas, das von jemand anderem geschaffen wurde, etwas, dem sie bei der Entfaltung nur zusehen konnten. Das kam daher, dass die meisten keinen richtigen Einfluss auf die Zukunft hatten, auch auf die eigene nur sehr begrenzt. Die meisten Menschen lebten von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod im selben Dorf, blieben in der gleichen sozialen Schicht und gingen den gleichen Tätigkeiten nach wie Vater und Mutter. Ereignissen wie Krankheiten, Hungersnöten und Kriegen waren sie schutzlos ausgeliefert. Und da Ursache und Wirkung oft nicht verstanden wurden, wurde fast alles auf oft unergründliche göttliche Fügung geschoben. Schwangerschaften, Stürme oder Liebe passierten einfach aus dem Nichts und waren absolut nicht vorhersehbar. Über die Zukunft nachzudenken, war daher für die meisten unserer Vorfahren sinnlos – zumal die Gegenwart überquoll von existenziellen Problemen.
Dies begann sich ab dem 16. Jahrhundert zu ändern. Die Entdeckung Amerikas, die Reformation, die Französische Revolution, die Aufklärung und natürlich der wissenschaftliche Fortschritt leuchteten die Zukunft als einen offenen Raum aus, der für Innovation, Fantasie und Ideen zugänglich war. Es ist daher auch kein Zufall, dass genau zu dieser Zeit Science-Fiction und politische Utopien geboren wurden, die sich diesen Raum zunutze machten. Im 19. Jahrhundert wurden dann dank wissenschaftlichen Fortschritts und der Sammlung von Daten gleich mehrere Werkzeuge entwickelt, um die Zukunft zu managen: Das Konzept der Lebenserwartung, die Wettervorhersage und Versicherungen sind noch heute beliebte Mittel.
Gleichzeitig begann die Philosophie sich langsam für die Zukunft zu interessieren, und die Physik machte Fortschritte, das Phänomen Zeit zu entschlüsseln. Auch in anderen Bereichen tauchte die Zukunft auf: Regierungen stützen sich ab dem frühen 20. Jahrhundert auf Wirtschaftsprognosen, und die Entdeckung der Gene führte zu manchmal wilden Ideen darüber, wie viel man über persönliche Schicksale vorhersagen kann.
Aber erst die 1980er Jahre brachten den Durchbruch in Sachen Zukunft. Dank der Entwicklung der Gehirnscans gab es nun endlich ein Werkzeug, um zu verstehen, was die Zukunft für den menschlichen Geist bedeutet. Denn sie ist dort fast so real wie Vergangenheit und Gegenwart. Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass die Zukunft keine ferne Zeit ist, sondern das, was die Menschen heute über sie denken, fühlen und tun. Studien belegen, wie viel der Mensch über die Zukunft nachdenkt (viel), wie weit er in die Zukunft reist (nicht sehr weit) und dass dies sein Wohlbefinden steigert. Es gibt sogar Studien, die zeigen, dass eine Zukunft umso wahrscheinlicher wird, je mehr man sie sich vorstellt. Das ist nicht (nur) Pop-Psychologie: Sobald das Gehirn auf ein Ziel fixiert ist, filtert es alles andere auf dem Weg dorthin heraus. Aber am wichtigsten ist vielleicht, dass das Gehirn keinen Unterschied zwischen der täglichen Zukunft und der des Planeten macht: Menschen sind zu beidem fähig, wenn sie ihre Aufmerksamkeit darauf richten. Nur sind sich die meisten dessen nicht bewusst.
Der letzte Grund, warum sich viele nur selten in die ferne Zukunft wagen, ist ein aktueller: Die Zukunft ist heute keine besonders gute. Allen voran westliche Gesellschaften haben dieses Problem aus zwei Gründen: Erstens gibt es gleich mehrere negative Zukünfte, und zweitens ist die positive Zukunft von früher nicht mehr erstrebenswert, quasi abgelaufen. Das ist deshalb ein Problem, weil negative und positive Zukünfte sich im Idealfall die Waage halten sollten, aber wenn die eine überwältigend dominiert und die andere auffallend abwesend ist, führt dies zu einer negativen Gesamtsumme.
Die negativen Zukünfte kennen wir alle: Klimawandel, mögliche Auswirkungen von künstlicher Intelligenz und Robotik, sich rapide verändernde Normen und Werte der Gesellschaft, drohender Atomkrieg, schrumpfende Gesellschaft, Artenverlust, Pandemien – um nur einige zu nennen. Diese Zukunftsszenarien sind nicht nur negativ, sondern auch existenziell, was heißt, sie drohen die Art und Weise, wie wir leben und arbeiten, unwiderruflich zu verändern, gefährden gar unsere Existenz, und sie betreffen eine große Zahl von Menschen.
Was diese negativen Zukünfte aber vor allem gemeinsam haben, ist, dass sie oft so wahrgenommen werden, als wären sie außerhalb unserer Reichweite und würden von anderen, unkontrollierbaren Kräften gesteuert. Sobald wir das Gefühl haben, dass eine Zukunft außerhalb unseres Einflussbereiches liegt, ist sie nicht mehr der Möglichkeitsraum, den wir gestalten, sondern etwas, dem wir hilflos ausgeliefert sind – und damit ähnelt sie der antiken Vorstellung von der Zukunft als etwas, das willkürliche Götter entscheiden. Vielleicht ist es auch deshalb passend, dass es als Kassandra-Komplex bezeichnet wird, wenn wir angesichts zu viel negativer Zukunft einfach den Kopf in den Sand stecken.[3] Dieser Komplex ist nach der griechischen Sagengestalt Kassandra benannt, die die Zukunft sehen konnte, aber weil sie den Trojanern schlechte Nachrichten überbrachte, wurde sie von ihnen einfach ignoriert. Das Phänomen gibt es heute auch zuhauf: Sobald wir zu viele schlechte Prognosen hören, fallen wir in eine Art Starre. Anstatt zu handeln, Entscheidungen zu treffen, uns etwas vorzustellen und die Zukunft zu beeinflussen, tun wir nichts. Wir geben die Zukunft quasi auf.
Das ist an sich schon schlimm genug, aber das ist noch nicht alles. Negative Zukünfte können nämlich mit positiven ausbalanciert werden, ja meistens ist die Zukunft als solche eine Mischung von beidem, aber da, wo früher eine erstrebenswerte Zukunft lag, gähnt nun eine Leere. Früher bestand für die meisten Westeuropäer die gute Zukunft aus Wohlstand und Freiheit, und sie ging einher mit dem Wunsch, diese Zukunft in den Rest der Welt zu exportieren. Der Kern dieser Zukunft war die Fortschrittsphilosophie, im Wesentlichen die Überzeugung, dass es dem Menschen mit jeder Generation besser gehen wird. Die meisten von uns hatten ihre persönliche Zukunft fest in dieser Zukunftsidee verankert, strebten danach, ihre wirtschaftlichen Bedingungen und die ihrer Kinder und Enkel zu verbessern. In Umfragen wurde die Zukunftszufriedenheit im Wesentlichen mit der Frage gemessen: »Glauben Sie, dass es Ihren Kindern finanziell besser gehen wird als Ihnen?«, und lange wurde diese Frage mit Ja beantwortet.
Das Alternativmodell war das sozialistische, welches zwar ebenfalls eine bessere Zukunft versprach, aber in ihr gab es weniger Gestaltungsfreiheit. In dieser Zukunft war klar, dass alle Länder der Welt irgendwann von Arbeitern regiert werden würden. Der Kalte Krieg ging also nicht nur um Macht, sondern auch um Zukunft: Wo der Westen nur versprach, dass man sein Glück in Kapitalismus und Freiheit versuchen dürfe, versprach der Osten, genau zu wissen, wohin die Reise ging. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion war diese Zukunft aus dem Rennen, und die westliche schien gewonnen zu haben. Genau das ist es, was der amerikanische Soziologe Francis Fukuyama als »Ende der Geschichte« bezeichnet hat, die Endstation des Fortschrittsgedankens als Zusammenspiel aus Demokratie und Kapitalismus. In den Jahren danach wurde die Demokratie zum weitestverbreiteten politischen System auf der Welt, und sehr viele Staaten hatten ein kapitalistisch geprägtes Wirtschaftssystem.[4]
Doch diese Zukunft ist in der Krise. Nach dem Siegeszug bis in die frühen 2000er hörte die Demokratie auf, sich als Modell in der Welt auszubreiten, sie ist bei etwa der Hälfte der Staaten stehen geblieben. Und nicht nur das, Menschen, die in Demokratien leben, sind höchst unzufrieden damit: 57,5 Prozent weltweit, 50 Prozent in Deutschland und 46 Prozent in Österreich.[5] (Die Ausnahme ist die Schweiz, hier sind über 80 Prozent der Bevölkerung sehr zufrieden mit der Demokratie.) Der Demokratie wird unter anderem Zukunftsunfähigkeit vorgeworfen, aufgrund ihrer Wahlzyklen könne sie nicht über fünf Jahre hinausdenken, so heißt es.
Auch das kapitalistische Wachstumsversprechen, das andere Hauptmerkmal unserer alten Zukunft, steht in der Kritik. In weltweiten Umfragen stimmen 52 Prozent der Menschen der Aussage zu, dass »der Kapitalismus mehr schadet als nützt«[6], unter anderem, weil er als Hauptverursacher des Klimawandels angesehen wird und das Versprechen von Wohlstand für alle nicht ganz eingelöst hat. Diese Unzufriedenheit sowohl mit der Demokratie als auch mit dem Kapitalismus mag ein bisschen ungerecht sein, denn beide haben vieles erreicht und das Leben unendlich viel besser gemacht als das unserer Vorfahren. Aber nicht die Vergangenheit ist das Problem, sondern die Zukunft. Welche Versprechen können beide Systeme geben, die Menschen für erstrebenswert halten?
Angesichts der doppelten Herausforderung einer negativen Zukunft und der Leere in einer positiven Gegenzukunft ist es vielleicht nicht überraschend, dass viele Menschen darüber zutiefst unglücklich sind, vor allem junge.[7]86 Prozent der jungen Deutschen sorgen sich um die Zukunft, nicht so sehr um ihre eigene, sondern um die der Welt.[8] Damit sind sie nicht allein: In verschiedenen Umfragen sind Europäer, vor allem Franzosen und Italiener, aber auch Japaner im Allgemeinen pessimistisch, was ihre persönliche Zukunft, die Zukunft ihres Landes oder die des Planeten angeht.[9] Wenn Wissenschaftler wie der Astronom Martin Rees und der Soziologe Ulrich Beck unwissenschaftlich unken, die Menschheit habe für die nächsten 100 Jahre eine Überlebensrate von lediglich 50 Prozent, gießt das nur noch mehr Öl ins Feuer.[10] Das Endergebnis ist, dass der Kassandra-Komplex voll zuschlägt und sich ganze Teile der Gesellschaft von der Zukunft entfremden.
Haben also alle Angst vor der Zukunft? Nicht ganz. Sie scheint vor allem ein westliches Problem zu sein. In weiten Teilen der Welt sind die Menschen grundsätzlich optimistisch, dass es ihren Kindern besser gehen wird als ihnen und dass sich ihr Land in die richtige Richtung entwickelt. Besonders hoch sind diese Zahlen bei jüngeren Frauen und Männern.
Man könnte nun sagen, dass dieser Optimismus das Ergebnis des offenen Möglichkeitsraums ist: Gerade dort, wo es den Menschen wirtschaftlich weniger gut geht, gibt es noch Luft nach oben, daher sind sie optimistisch. In westlichen Ländern gibt es nicht mehr viel zu verbessern, was soll also noch erstrebt werden? Das verkennt freilich, wovon Menschen träumen, denn nicht alle geraten nur von wachsenden Wirtschaftsraten in Zukunftsekstase: Nehmen wir China und Saudi-Arabien, die in Umfragen regelmäßig Optimismusraten von 80 Prozent bzw. 75 Prozent aufweisen und deren Einkommensniveau mit dem Europas vergleichbar ist.[11] Dieser Optimismus ist nicht das Ergebnis der Hoffnung auf noch mehr Wohlstand, sondern weil beide Regierungen die ferne Zukunft zu positiven Eckpfeilern ihrer Politik gemacht haben. Chinas Präsident Xi Jinping hat angekündigt, das Land bis zum Jahr 2049 »zu einem der größten Länder der Welt« zu machen, und Saudi-Arabiens Vision 2030 verspricht nicht nur blühende Städte in der Wüste, sondern auch eine gesündere und glücklichere Bevölkerung. Und die Menschen glauben offenbar der politischen Führung – kaufen ihr diese Zukunft ab.
Im Gegensatz dazu bietet Europa keine echt positiven Zukunftsprognosen. Stattdessen hofft man, eine negative Zukunft zu vermeiden: eine, in der unsere Jobs weggenommen werden, in der die Temperaturen steigen, in der die Werte sich verändern. Egal wie man inhaltlich dazu steht, die europäische Zukunft wird bestenfalls als Status quo oder als gebremste Rückkehr zur Vergangenheit beschrieben, ebenso wie die amerikanische, die verspricht, alles »great again« zu machen. Und natürlich würden die meisten demokratischen Regierungen nicht im Traum daran denken, irgendwelche Ansagen für 2030 zu machen, geschweige denn für 2050, wenn sie schon längst nicht mehr an der Macht sind. (Bei der Europäischen Union ist das ein bisschen anders, denn sie hat siebenjährige Haushaltszyklen und damit automatisch weiter gesteckte Ziele. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, warum 66 Prozent der Menschen optimistisch sind, was die Zukunft der EU betrifft.[12])
Das Problem bei einer solchen Nichtzukunft ist, dass es keine richtige ist. Zukunft ist per Definition immer anders als die Gegenwart, sie muss es sein, um zu begeistern. Science-Fiction-Filme sind gerade deshalb so fesselnd, weil sie uns etwas zeigen, das anders – im Idealfall besser – ist als das Jetzt. Ein futuristischer Film, der zeigt, wie eine Gesellschaft es geschafft hat, sich gar nicht zu verändern, wäre immer ein Flop.
Die Art und Weise, wie eine Zukunft erzählt wird, ist daher genauso wichtig wie ihr Inhalt, wenn nicht sogar noch wichtiger. Eine Geschichte des Niedergangs, des Rückgangs oder auch des Gleichbleibens wird immer weniger stimulierend sein als eine Geschichte des Wachstums, der Innovation, der Möglichkeiten und des Novums. (Und wenn dystopische, also negative Science-Fiction-Filme florieren so wie aktuell, ist das vor allem ein Indiz, dass sich eine gute Zukunft nicht mal mehr vorgestellt werden kann.)
Dies erklärt auch, warum der Optimismus in Russland seit dem Einmarsch in die Ukraine von 40 Prozent auf 52 Prozent gestiegen ist und der Anteil von traurig-depressiven Menschen von 41 Prozent auf 27 Prozent gesunken.[13] Was der Krieg in dieser Hinsicht bewirkt hat, ist die Wiedereröffnung eines Möglichkeitsraums, der nach Ansicht vieler Russen durch den Erfolg der westlichen Zukunft verschlossen worden war. In einem Bericht einer russischen Denkfabrik hieß es 2021: »Die Zukunft ist irrelevant geworden … Wenn die Phase des ›Endes der Geschichte‹ vorbei ist und die immer noch unvorhersehbare Zukunft eintrifft … gibt es wieder eine Zukunft. Sie ist nicht vorherbestimmt, und jeder von uns kann sie mitgestalten.«[14] Während der Krieg die Zukunft für viele Russen objektiv schwieriger planbar gemacht hat, hat er ihnen doch das Gefühl gegeben, dass sie wieder durch ihr eigenes Handeln gestaltet wird.
Drei Dinge lassen sich daraus ableiten. Erstens: Pessimismus oder Optimismus in Bezug auf die Zukunft haben weniger damit zu tun, welches Maß an Katastrophen oder an Reichtum wir in ihr erwarten, als damit, wie viel Einfluss wir auf diese Zukunft zu haben meinen. Je mehr Einfluss wir glauben zu haben, desto optimistischer sind wir. Einfluss wiederum ist keine objektive Tatsache: Es ist eine Wahrnehmung, die sich direkt daraus ergibt, wie viele Optionen wir uns für die Zukunft ausdenken können. Je mehr Optionen, desto größer der Handlungsspielraum, desto mehr Optimismus.
Das Zweite, das sich daraus ableiten lässt, ist, dass Schaffen von Optionen zwar Aufgabe aller ist, von Bürgern und Regierungen, aber Regierungen haben mehr Einfluss und dementsprechend mehr Verantwortung. Sie müssen daher den Rahmen vorgeben, mehr strategische Vorausschau betreiben und der fernen Zukunft mehr Platz in ihren Programmen und Gesetzen einräumen. Aber das allein reicht nicht. Sie müssen auch eine gute Geschichte darüber erzählen können, eine, die nicht nur verspricht, den Status quo zu erhalten. Die Bürger werden es ihnen danken: Umfragen zufolge wünschen sich die Menschen überall auf der Welt, dass ihre Regierungen langfristiger denken.[15] Eine Bewegung in diese Richtung gibt es bereits: Es gibt Ideen für Zukunftsminister (Schweden, Vereinigte Arabische Emirate), Zukunftskommissare (Europäische Union, Wales) und Zukunftsausschüsse (Finnland, Vereinte Nationen), die die Interessen zukünftiger Generationen vertreten.
Aber, drittens, Regierungen machen die Zukunft nicht allein. Es sind die Ideen und Vorschläge von Unternehmen und Einzelpersonen, die ganz genauso wichtig sind. Ohne eine zukunftsorientierte Bewegung sind Gesellschaften nicht innovativ, sei es in der Technologie, der Bildung oder Science-Fiction, sie stellen die Gegenwart nicht infrage und entwickeln keine Optionen, wie die Zukunft aussehen könnte.
Andernorts ist dies bereits in vollem Gange: Die Long Now Foundation in Kalifornien fördert die Idee, uns als Wesen zu begreifen, das nicht nur die nächsten 100, sondern 10000 Jahre beeinflusst. In Japan hat die Future-Design-Bewegung eine innovative Form der Bürgerversammlung ins Leben gerufen, bei der einige Teilnehmer Einwohner aus der Zukunft repräsentieren mussten; der japanische Tech-Gigant Soft Bank hat einen 100-Milliarden-Dollar-Visionsfonds eingerichtet, der dem Unternehmen einen 300-jährigen Zeithorizont für die Planung ermöglicht. All das ist nicht nur moralisch wichtig, sondern auch wirtschaftlich. Studien zeigen: Je länger ein Unternehmen denkt, desto höher werden Einnahmen und Gewinne mittelfristig.[16] Und was für Unternehmen gilt, gilt auch für Einzelpersonen: Menschen mit einem weiteren Zeithorizont blicken längerfristig auf die Entwicklung des Aktienmarktes und treffen bessere finanzielle Entscheidungen.[17]
Diese Beispiele zeigen auch, dass weder Kapitalismus noch Demokratie zur Kurzsichtigkeit verdammt sind. Eine Studie zeigt, dass langfristig denkende Demokratien das am besten geeignete politische System für die Zukunft sind, nicht – wie manchmal gern behauptet wird – Autokratien. In dieser Studie rangierte die Schweiz auf Platz 4, Österreich auf Platz 12 – und Deutschland weit abgeschlagen auf Platz 28.[18]
Zusammen mit den weltweiten Optimismusraten zeigt dies, dass die Fortschrittsphilosophie, die Idee einer besseren Zukunft, durchaus nach wie vor ihre Anhänger hat – nur nicht so sehr dort, wo sie ihren Ursprung hat – und als solche daher nach wie vor gültig ist. Aber es gilt, die Auswirkungen des Kassandra-Komplexes rückgängig zu machen, um den Möglichkeitsraum der Zukunft wieder aufzumachen. Dafür ist dieses Buch da.
Das praktische Format einer Bedienungsanleitung mag für ein so abstraktes und philosophisches Konzept wie die Zukunft seltsam erscheinen. Aber die Zukunft ist kein elitäres Phänomen, sondern das Menschlichste, was es gibt. Jeder einzelne Mensch hat die Fähigkeit, sich die Zukunft vorzustellen, sich vor ihr zu fürchten und auf sie zu hoffen. Das ist auch der Grund, warum dies kein rein philosophisches, psychologisches, physisches, neurologisches, mathematisches oder historisches Buch ist, sondern all das und mehr. Gerade weil die Zukunft etwas ist, das alles Menschliche durchdringt, kann sie nicht durch eine oder zwei Disziplinen allein erklärt werden. Und weil die Zukunft ultimativ auf der persönlichen wie auf der kollektiven Ebene gleich »gemacht« wird, gibt es strukturell keinen Unterschied zwischen den Zukünften, die man sich in sein Tagebuch schreibt, oder denen, die in Regierungen erdacht werden.
Man kann dieses Buch als Einzelperson lesen, die versucht, das Menschsein an sich besser zu verstehen, oder auch als Unternehmen oder Regierung, die langfristiger denken wollen.
In beiden Fällen ist die Struktur dieses Buches darauf ausgerichtet, die Zukunft so zugänglich und überschaubar wie möglich zu machen. Ähnlich wie eine Bedienungsanleitung für einen Staubsauger enthält es in Kapitel 1 technische Daten, die sich mit allgemeinen Aspekten befassen, mit der Frage, welchen Zweck die Zukunft hat, welche Arten es gibt und wo und wann sie begonnen hat. In Kapitel 2 werden die verschiedenen Bestandteile der Zukunft vorgestellt, darunter der Einschaltknopf, die Gegenwart und die Vergangenheit sowie die Kreativität. Anweisungen finden sich in Kapitel 3, wo die verschiedenen Schritte zur Handhabung der Zukunft erklärt werden. In Kapitel 4 werden die Sicherheitshinweise erläutert, einschließlich der Risiken wie Katastrophendenken, Fatalismus, der gefälschten Zukunft und des Wunschdenkens. Für den Fall, dass die Zukunft nicht funktioniert, finden sich in Kapitel 5 alle Hinweise zur Fehlerbehebung, was etwa zu tun ist, wenn die Zukunft nicht sichtbar ist oder negativ scheint, wie man mit dem Unerwarteten oder einer uninspirierten Zukunft umgeht. Wie jede Bedienungsanleitung endet auch dieses Buch mit einer Garantie: kein Versprechen, dass die Zukunft rosig, sondern dass sie immer ein Möglichkeitsraum sein wird.
Fakt ist nämlich, dass wir eben nicht in einer so noch nie dagewesenen beängstigenden und unvorhersehbaren Welt leben, auch wenn man das überall hört. Wir leben in einer sehr privilegierten Zeit, in der man mit der Garantie auf ein hohes Alter zur Welt kommt und sehr große Gestaltungsfreiheit hat, sein Leben so zu leben, wie man es will. Die Menschheit hat sich innerhalb der letzten 300 Jahre von einer Zukunft außerhalb ihres Einflussbereichs emanzipiert hin zu einer, die sie vorhersehen, gestalten und erträumen kann. Nur, vielleicht dank jahrzehntelanger Planungssicherheit, dank Anspruchsdenken und Zukunftsfaulheit, gibt es jetzt ein Gefühl der Ohnmacht, dass die Zukunft nicht zu gestalten ist, nicht vorhersehbar, und wenig Wissen darüber, wie man den Möglichkeitsraum, den die Zukunft darstellt, befüllen kann.
All diese Gefühle sind letztlich der Grund, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Während meiner Arbeit in der strategischen Zukunftsvorausschau für die Europäische Union bin ich immer wieder zwei Phänomenen begegnet: Erstens wollten die Menschen wissen, wie man »am besten« über die Zukunft nachdenkt, immer auf der Suche nach einer Methodik, die ihnen den Schlüssel zum Königreich der Zukunft liefert. Oft waren sie enttäuscht zu entdecken, dass der beste Weg, über die Zukunft nachzudenken, nicht so kompliziert ist wie eine Methode oder so teuer wie ein Datensatz, sondern viel einfacher: Man muss nur seinen Verstand schärfen. Die Fähigkeit, die eigenen Überzeugungen und Gewissheiten zu hinterfragen, nach Informationen zu suchen, die unseren Annahmen widersprechen, seine Emotionen zu kontrollieren, auf Neues zu achten und sich intellektuell aus einer Vielzahl von Quellen zu nähren, all das sind einfache Dinge, und doch haben viele von uns keine Lust darauf. Es würde bedeuten, kritisch zu denken, sich selbst zu hinterfragen, mit Konzepten und Ideen zu spielen, anstatt sie für immer zu heiraten und dann bis aufs Blut zu verteidigen. Kritisches, analytisches Denken oder intellektuelle Hygiene werden nicht in der Schule gelehrt. Sowohl Menschen als auch Regierungen sind an der Zukunft interessiert, aber beide sind ein wenig faul, wenn es darum geht, sich dafür selbst an die Arbeit zu machen. Sie beauftragen lieber jemanden, der das für sie erledigt – mit ein Grund, weshalb sie oft auf Leute hereinfallen, die falsche Zukunftsprognosen verkaufen.
Das zweite Phänomen ist, dass viele von uns im Allgemeinen chronisch pessimistisch sind, und zwar ständig, in Bezug auf so ziemlich alles, fast so, als wäre Pessimismus eine intellektuelle Leistung. Selbst wenn man ihnen Gegenbeweise vorlegt, sind sie nicht in der Lage, ihre Meinung zu ändern. Das mag in erster Linie heißen, dass sie nie besonders zukunftsfähig sein werden, aber in zweiter heißt es, dass sie sich selbst damit nicht helfen, denn Pessimismus führt nur zu einem Gefühl der Hilflosigkeit. (Übermäßiger Optimismus hilft übrigens auch nicht, dazu gibt es ein eigenes Kapitel in diesem Buch.) Der Trick besteht darin, die goldene Mitte zu finden, wo Kreativität, Wissen, Weisheit, Vorstellungskraft und Fakten zusammenkommen, um den Möglichkeitsraum der Zukunft zu umreißen, sich das Beste vorzustellen, sich auf das Schlimmste vorzubereiten und mit Überraschungen zu leben.
»›Noch menschlicher als der Mensch‹
ist unser Motto.«
Rachael, Blade Runner (1982)
Auf den ersten Blick erscheint die Antwort auf diese Frage einfach: Die Zukunft ist etwas, was noch nicht da ist, was jeder Einzelne von uns hat, und wenn man dem Mainstream Glauben schenkt, ist sie heutzutage völlig unvorhersehbar.
Doch bei genauerem Hinsehen ist die Zukunft alles andere als einfach: Wir alle können sie uns zwar vorstellen, aber manche können es besser als andere. Für manche liegt sie räumlich vor uns, für andere dagegen hinter uns, weil man sie nicht sehen kann.[19] Die meisten Tiere scheinen keinen ausgeprägten Zukunftssinn zu haben, der Eichelhäher hingegen schon.[20] Für die einen ist sie der Stoff, aus dem Filme und Serien sind, für die anderen ist sie die Zeit, an die sie nie denken wollen.
Was also ist die Zukunft? In diesem Kapitel befassen wir uns mit ihren Hauptmerkmalen, damit, wo sie ihren Anfang nahm, mit ihrem Zweck und den verschiedenen Arten (denn ja, es gibt mehr als eine).
Zunächst das Offensichtliche: Die Zukunft ist eine Zeit, in der es um Dinge geht, die kommen werden. Sie hat zwei Zeitgeschwister: die Gegenwart, in der es um das Jetzt geht, und die Vergangenheit, die hinter uns liegt. So weit, so einfach.
Aber was ist Zeit überhaupt? Zunächst einmal ist Zeit relativ, was heißt, dass sie von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich wahrgenommen werden kann. Dieser Gedanke ist vergleichsweise neu: Lange Zeit dachte man, dass Zeit absolut sei, ein Phänomen, das unabhängig vom Menschen existiert, ähnlich wie Blumen oder wie die Sonne. Natürlich fiel es auch unseren Vorfahren schon auf, dass die Zeitwahrnehmung oft von der Zeitmessung abwich, aber niemand hatte eine rechte Erklärung dafür. Und so spielte Zeit, und mit ihr die Zukunft, so gut wie keine Rolle in der antiken und mittelalterlichen Philosophie und deren Überlegungen zur menschlichen Existenz.[21] Das änderte sich mit der Aufklärung, als Philosophen wie Immanuel Kant über die Frage nachzudenken begannen, ob Zeit überhaupt real sei. Sein englischer Kollege J.M.E. McTaggart war davon so überzeugt, dass er sogar vorschlug, alle Zeitformen in der Sprache abzuschaffen. (Diese Idee hat sich nie durchgesetzt, aber die Tatsache, dass nicht alle Sprachen die gleichen Zeitformen haben wie europäische – einige haben überhaupt keine Zeitformen, andere haben sogar zwei Zeitformen für die Zukunft –, stützt die Idee, dass Zeit tatsächlich eine Sache der Wahrnehmung ist.[22])
Dank Albert Einstein wissen wir heute, dass Zeit etwas ist, das alle Menschen teilen, was sich aber je nach Kontext und Person ausdehnen und zusammenziehen kann.[23] Und Zeit wird nicht nur individuell unterschiedlich wahrgenommen, sondern Physiker sind heute auch davon überzeugt, dass ihre Richtungsabfolge nur eine (sehr starke) menschliche Illusion ist. In Wirklichkeit gibt es in der Zeit keine klare Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – sie existieren alle gleichzeitig.[24] (Was bedeutet, dass theoretisch Hypothesen von Zeitreisen und Paralleluniversen nicht nur Science-Fiction-Fantasien sind.) Innerhalb dieser Illusion von Zeit gibt es zwei Dinge, die unbestritten sind: Zeit wird als Pfeil wahrgenommen, der in eine Richtung fliegt (von der Vergangenheit in die Zukunft), und sie ist ein Kontinuum – sie setzt nicht aus und fängt dann wieder an.
Das bedeutet, dass »die Zukunft« als objektiv beobachtbares Phänomen nicht wirklich existiert: Sie ist eine individuelle, einzigartige Wahrnehmung, die sich vollständig in jedem einzelnen Kopf abspielt, genau wie die Gegenwart und die Vergangenheit. Es bedeutet auch, dass sie genauso real ist wie die beiden anderen Zeiten.
Das mag zunächst seltsam klingen: Für die meisten von uns ist die Zukunft die am wenigsten »reale« der drei Zeiten, die wir haben. Schließlich können wir die Gegenwart mit unseren Sinnen erfahren, und wir haben jede Menge Beweise für die Vergangenheit: unser eigenes Gedächtnis natürlich, mündlich überlieferte Geschichten, materielle Dinge wie Akten und andere Schriftquellen, auch Gebäude, Kunst und Menschen, die sie erlebt haben. Aus diesem Grund akzeptieren wir die allgemein gelehrte Retrodiktion, also die endgültige Geschichte der Vergangenheit, als historische Realität. Im Gegensatz zu Vergangenheit oder Gegenwart scheinen wir keine real existierenden Anhaltspunkte für die Zukunft zu haben. Man kann sie nicht anfassen, nicht riechen und keine Menschen, die dort leben, dazu befragen, wie sie sein wird. Daher ist eine häufige, aber falsche Vorstellung von der Zukunft, dass es sich um eine Zeit handelt, die nicht real ist und erst noch kommen wird. Und was nicht real ist, kann nicht gemessen, konzeptualisiert oder geteilt werden.
Aber das ist falsch.
Alle Zeitwahrnehmungen, auch die der Zukunft, werden in gleich mehreren Bereichen des Gehirns erzeugt. Dadurch unterscheidet sich die Zeit von anderen Sinneswahrnehmungen wie dem Hören oder dem Fühlen, die an nur einem Ort im Gehirn verarbeitet werden. (Diese Wahrnehmung von Zeit ist übrigens nicht mit der Körperuhr zu verwechseln, auch zirkadianer Rhythmus genannt. Diese reguliert unsere Hormone und unser Energielevel ziemlich punktgenau in einem Zyklus von 24 Stunden und ist von der gefühlten Zeit fast völlig abgetrennt.) Wir haben also nicht nur eine Uhr, sondern mehrere in unserem Gehirn versteckt, die die Zeit messen und in die Vergangenheit und Zukunft projizieren.
Diese Uhren gehen nach der sogenannten subjektiven Zeit, und die kann sehr stark von der tatsächlichen Zeit abweichen. Egal, ob es sich um einen fantastischen Urlaub handelt, der viel schneller vergeht als eine durchschnittliche Arbeitswoche, oder ob man ungeduldig auf einen Zug wartet – Zeitwahrnehmung ist so elastisch wie ein Gummi. Das ist nicht dramatisch, es zeigt nur, wie individuell die Zeit tatsächlich ist. Wie sie wahrgenommen wird, hängt stark davon ab, was wir tun, wo wir sind und mit wem, aber auch davon, wie wir uns körperlich fühlen: Wenn uns kalt ist, nehmen wir die Zeit als schneller vergehend wahr, während sie langsamer vergeht, wenn uns heiß ist (oder, tatsächlich, wenn wir gerade einen Cheeseburger gegessen haben).[25] Auch Emotionen wirken sich auf die Zeitwahrnehmung aus: Bei Angst zum Beispiel läuft die Zeit viel langsamer, fast so, als hätte das Gehirn die Fähigkeit, die Zeit zu verlängern, um eine Lösung für die Situation zu finden.[26] Das subjektive Zeitempfinden gibt nicht nur an, wie schnell oder langsam die Zeit vergeht, sondern vermittelt auch ein Gefühl für die Distanz, wie weit in der Zukunft oder wie weit in der Vergangenheit die Dinge im Verhältnis zu uns liegen.[27] Diese geistigen Uhren dienen als zeitliches GPS, das uns spüren lässt, wo wir uns in der Zeit befinden und wie weit wir von Dingen entfernt sind, die geschehen sind oder geschehen werden.
Vor allem drei Bereiche des Gehirns sind für die Herstellung der Zukunft zuständig, der Frontallappen, der Scheitellappen und der mediale Temporallappen. Das Interessante an diesen drei Lappen ist, dass sie nicht nur dafür zuständig sind, gemeinsam die Zukunft zu erschaffen, sondern auch andere Aufgaben haben: Der Frontallappen zum Beispiel ist für das Arbeitsgedächtnis, die Entscheidungsfindung und das Lösen von Problemen zuständig und sorgt dafür, dass Erinnerungen nicht mit der Gegenwart verwechselt werden. Daraus kann man schließen, dass die Zukunft sich immer auch auf das Erinnerungsvermögen als Datenbasis stützt und dass sie dazu dient, Entscheidungen zu treffen – vermutlich die bestmöglichen. Der Scheitellappen ist für die Verarbeitung von Sinnessignalen aus dem Körper, für die räumliche Orientierung, für die Umwandlung von Buchstaben in Wörter und von Wörtern in Gedanken zuständig und hat eine Navigationsfunktion. Dies deutet darauf hin, dass Zeit mit der dreidimensionalen Wahrnehmung zusammenhängt, was sich schon daran erkennen lässt, dass wir räumliche Wörter verwenden, um die Zeit zu beschreiben wie etwa »lang«, »kurz«, »fern«, oder »nah«. Es ist aber auch ein Indiz dafür, dass die Zukunft stark mit dem Geschichtenerzählen verbunden ist – warum, sehen wir später. Der mediale Temporallappen schließlich beinhaltet den Hippocampus, der das Gedächtnis, das Lernen, die Emotionen und die Sprache steuert – alles Dinge, die für das menschliche Denken entscheidend sind.[28]
Vergleicht man Gehirnscans von Menschen, die über die Zukunft oder die Vergangenheit nachdenken, so ist zu erkennen, dass die Vergangenheit zwar klarere mentale Bilder evoziert, die Zukunft jedoch mit mehr Emotionen einhergeht. Und je weiter man in die Zukunft reist, desto aktiver wird der Hippocampus (der Bereich, der für Gefühle, Gedächtnis und Lernen zuständig ist). Das bedeutet, dass man sich nicht nur an den Geschmack oder den Geruch einer Madeleine erinnern kann – woraus Marcel Proust den siebenbändigen Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit machte –, man kann sich auch genau vorstellen, wie der erste Cocktail im Urlaub schmecken wird – sogar wenn man noch nie einen Cocktail getrunken hat.[29] Im Gehirn ist die Zukunft tatsächlich annähernd so real wie Vergangenheit und Gegenwart.[30]
