Zum Fenster hinaus - Christine Haidegger - E-Book

Zum Fenster hinaus E-Book

Christine Haidegger

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Beschreibung

Irene, ein elfjähriges Mädchen, wächst in der postfaschistischen Zeit der 40er Jahre auf. Der Vater ist im Krieg verschollen. Die liebevolle, fürsorgliche Mutter wünscht sich, dass ihre Tochter es einmal besser hat, arbeitet hart und schickt das begabte Mädchen durch enormen Einsatz und Selbstverzicht ins Internat einer ELITESCHULE. Die Großmutter lehnt diesen BILDUNGSBLÖDSINN ab, möchte ihre Enkeltochter später lieber als gute Ehefrau und Mutter erzogen wissen. Im Internat werden die Mädchen mit strenger Hand geführt und geformt. Schuluniformen und Nummern statt Namen sollen – so lautet zumindest die offizielle Version der Schule – keine SOZIALEN UNTERSCHIEDE zulassen. Verstöße gegen die Internatsregeln werden, ganz im Sinne des autoritären Geis - tes des noch nachwirkenden Nationalsozialismus, mit harten Disziplinierungs - maßnahmen geahndet. Irene leidet unter sozialer Ausgrenzung und erfährt einen enormen Leistungsdruck. Im Tagebuchschreiben findet sie Zuflucht und skizziert ein komplexes Porträt dieser Nachkriegsgesellschaft und der – für diese Zeit nicht unüblichen – harschen Internatszustände, erzählt aus einer wachen kindlichen Perspektive. Christine Haidegger setzt sich mit ihrem Erstlingsroman Zum Fenster hinaus (Neuauflage) eingehend mit der Lebenswelt und dem vorherrschenden Zeitgeist der Nachkriegsjahre, dem Warten auf Heimkehrer, Wiederaufbau und Verdrän - gung auseinander. Themen, die bis heute ihre Aktualität behalten haben.

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Christine HaideggerZum Fenster hinaus

Christine Haidegger

Zum Fenster hinaus

Eine Nachkriegskindheit

OTTO MÜLLER VERLAG

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1239-2eISBN 978-3-7013-6239-4

Unveränderte Neuauflage der 1. Auflageim Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1979

© 2016 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIENAlle Rechte vorbehaltenSatz: Media Design: Rizner.atDruck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. StefanCoverbild: PrivatUmschlaggestaltung: Media Design: Rizner.at

für Anna-Maria und Christian Kilgus

Inhalt

Zum Fenster hinaus

 

Zuerst die Wörter. Zuerst PAPA.

Das ist wichtig.

Papa ist fort. Man muß ihn beschwören.

Papa ist ein Gesicht auf einem Foto neben Mamas Bett. Papa wird morgens und abends geküßt. Papa ist in RUSSLAND. Noch kann ich Rußland nicht sagen. Kann es nicht denken. Aber ich höre viel davon.

Dann OPA. Opa hat einen Schnurrbart. Opa ist groß, fühlt sich rauh an. Hat warme Hände. Ich bin gerne bei Opa.

OMA ist ein leichteres Wort. Aber Mama besteht erst auf PAPA und OPA. – Sag Papa, Irene. Sag Opa, Irene. –

Singsang in meinen Ohren. Laute. Mama will etwas von mir. Mama ist weich und warm. Ich bin gerne bei Mama.

Oma riecht süß. Sie kitzelt mich. Drückt mich zu sehr. Küßt mich mit schmatzenden Lauten und gespitztem Mund. Wenn ich in ihr Gesicht fasse, schlägt sie mich auf die Hand. Sie lacht dabei. Aber es tut weh.

Mamas Gesicht über mir. Sie hat ein Kopftuch auf, rot, weiß, schwarz kariert. Der Himmel ist blau, wenn ich den Kopf hebe. Links und rechts die Pfeiler der VERBOTENEN Eisenbahnbrücke. Zwischen den Bohlen blitzt der Fluß auf. Ich sitze in meinem Kindersportwagen, halte eine blaue Emailtasse fest. Etwas Malzkaffee schwappt noch darin. Eben saß ich noch auf meinem Stuhl. Will die Tasse nicht hergeben. Mama hat es eilig. Packt mich samt der Tasse. Sie läuft jetzt. Der Wagen schaukelt. Das ist lustig. Der Kaffee hüpft in der Tasse. Ich lache. Wir müssen noch ein Stück den Berg hinauf. Da ist der LUFTSCHUTZKELLER.

Fast jeden Tag bringt der Briefträger Post von Papa. Mama lacht und weint zugleich. Ich muß auch oft an Papa schreiben. Mit einem Tintenstift, der dieselbe Farbe hat wie die Briefmarke mit Hitler in der Ecke. Ich kritzle, während Mama meine Hand führt. Papa freut sich über meine Karte. Papas Foto lacht. Mama weint oft nachts. Dann weine ich auch, damit sie aufhört.

Einmal bringt ein SOLDAT einen Brief. Steht dunkel zwischen den Türen, streckt den Arm herein mit dem Brief. Mama will ihn nicht nehmen. Ich klettere vom Sofa, hole den Brief und bringe ihn ihr.

Sie setzt sich ganz langsam aufs Sofa und macht den Brief gar nicht auf. Sie weint nur plötzlich ganz schrecklich. Der Soldat ist schon lange gegangen, die Tür ist zu, aber Mama weint immer noch. Ich will, daß sie aufhört. Mir ist unheimlich. Ich habe Angst. Ich bringe ihr das saubere Taschentuch von meinem Platz und sage – Warte nur, wenn der Papa erst kommt, wird alles wieder gut – so, wie sie das immer zu mir sagt. Mama nimmt mich in die Arme und weint noch lauter. Der Brief fällt auf den Boden und vor Angst beginne ich auch zu weinen. Aber Mama hört diesmal nicht auf. Sie lächelt nicht unter Tränen, wie sonst. Erst gegen Abend hört sie auf. Ich habe Hunger, aber ich sage nichts. Ich spiele mit Schlumpi, meiner Puppe und Opas Leiterwägelchen.

– Aber er ist doch nur VERMISST! – sagt Oma. Mama weint schon wieder. Opa hält mich ganz fest und sein Schnurrbart zittert. Sein Herz klopft ganz schnell an meiner Wange und er drückt mich so, daß ich am liebsten weinen möchte, aber dann setzt er mich aufs Sofa und umarmt Mama.

Vermißt ist ein neues Wort und ich höre es nun öfter. So wie ich früher ILLEGAL gehört habe, oder FRONT.

Einmal kommen wir zu Oma und ich sehe aus dem Gangfenster. Das kann ich, wenn ich mich auf das Fenstersims stelle, obwohl es VERBOTEN ist. Da ist etwas draußen verändert. Der Konsum steht dort und daneben der kleine Garten, aber dahinter fehlt etwas. Das große graue Kinogebäude ist weg. Nur ein Riesenloch ist im Boden und schief an das Nachbarhaus gelehnt ist das runde Dach. Wie ein Teller auf dem Abtropfbrett sieht es aus. Ich bin ganz aufgeregt.

– Wo ist das Kino, Oma? – frage ich in der Küche.

– Das war eine BOMBE, – sagt Opa.

Das also ist eine Bombe. Erst ein Kino, dann ein Loch im Boden und nur das übriggebliebene Dach. Bomben kommen von den AMIS. Jedenfalls aus Flugzeugen. Und Flugzeuge kommen nach dem FLIEGERALARM. Manchmal aber auch nicht. – Sie haben abgedreht, – sagt Opa dann. – Gott sei Dank. –

Opa raucht gerne. Oma auch. Zigaretten gibt es auf Marken. Mama raucht nicht. Sie sammelt die Marken für Opa und Oma. Opa hat im Garten Mais gepflanzt. Der wird sehr hoch. Dahinter hat er ein paar Tabakpflanzen, damit niemand sie sieht. In der Omaküche wird eine Schnur gespannt, darauf werden die Blätter getrocknet. Sie sehen hübsch aus. Aber dann werden sie braun und welk. Später ist die Schnur weg und die Blätter liegen oben auf dem Ofen. Zum Trocknen. Ich darf Opa dann helfen, Tabak zu machen. Die Rippen müssen weg. Ich bin sehr fleißig und eine große Hilfe. Für Oma stopfe ich Zigaretten mit der kleinen Maschine. Das kann ich gut, wenn ich auch auf drei Kissen sitzen muß, um auf die Tischplatte zu sehen. – Geschickte Hände hat sie, – sagt Opa zu Mama.

– Wie du. – Und Mama lächelt ein wenig.

Radiohören ist jetzt eine Hauptbeschäftigung der Erwachsenen. Wir haben keines mehr, Mama hat es verkauft. Aber bei Opa stecken sie den ganzen Tag die Köpfe zusammen, und ich muß an der Tür stehen, falls jemand kommt. Sie hören BIBISSI, und das ist verboten. Opa hat eine Zusatzantenne gemacht, damit sie Bibissi besser hören, aber das darf niemand wissen. Opa ist sehr geschickt mit seinen Händen. Er macht immer irgendein Spielzeug für mich, und ich helfe ihm oft im Wald Wurzeln suchen und Baumrinde, für seine Krippenschnitzerei. Er macht gerade ein Haus. Das will er mir schenken, wenn ich brav bin. Es soll das Gasthaus für die Herbergssuche sein. Er macht, daß es genauso wie der Gasthof am See aussieht, sogar die Weinfässer sind da gestapelt und genauso viele Fenster und Türen, als ob es wirklich echt wäre. Aber es ist noch lange nicht fertig und wir haben viel zu tun damit.

Mama will jetzt doch das Haus kaufen, das Papa so gut gefallen hat. Sie geht zum Rechtsanwalt und auf die Bank. Dann auf die Sparkasse. Ich muß im Vorzimmer warten. Mama sieht sehr blaß aus, als sie wiederkommt. Wir gehen nochmals zum Rechtsanwalt. Diesmal darf ich mit. Mama hält mich ganz fest. Sie gibt dem Mann einige Papiere und er seufzt und sagt, ja, das habe schon alles seine Richtigkeit, sie hätte das Geld eben auf IHREN Namen behalten sollen.

– Aber er ist doch mein Mann – sagt Mama immer wieder. – Was mir gehört, gehört doch auch ihm. Darum habe ich doch auch das Konto auf seinen Namen gemacht, weil er doch das Familienoberhaupt ist. Und er hatte solche Freude an dem Geld. Er hat doch nie in seinem Leben Geld gehabt, hat nicht einmal gewußt, wie man einen Scheck ausfüllt, er hatte eine so kindliche Freude daran …

– sie weint wieder, und der Rechtsanwalt schüttelt den Kopf.

– Ja, liebe Frau, das ist nun nicht mehr zu ändern. Das Geld ist nun eben Sperrkonto, und der Staat hat seine Hand drauf. Ich kann Ihnen nur raten, jeden Tag wenigstens die paar Mark abzuheben, die man Ihnen zugesteht. Kaufen Sie irgend etwas WERTBESTÄNDIGES dafür –.

Mama weint nicht. Sie hat ein ganz hartes Gesicht und zieht mich mit sich auf dem Heimweg, obwohl ich nicht so schnell laufen kann. Wir fahren gleich zu Opa und Oma.

Oma hat nicht gewußt, daß Mama so viel Geld hatte. Sie heult und schreit, warum Mama nichts gesagt hat, was hätte man mit dem Geld alles tun können! Aber Opa sagt, das geht sie nichts an, nur Mama und Papa, und sie solle sich schämen. Aber Oma sagt immer nur: – Das schöne Haus, das schöne Haus! – und ist ganz unglücklich.

Mama sagt ganz leise: – Wenn ich daran denke, wie lange ich dafür gearbeitet habe, was ich alles getan habe, in all den Jahren, und nun … – sie kann gar nicht weiterreden und ich merke, es ist etwas Schreckliches geschehen, wenn sie nicht einmal weint. Ich klettere auf ihren Schoß und sie umarmt mich, aber sie sieht mich nicht an dabei. – Was wird bloß Heinz dazu sagen! – weint Oma.

Mama erstarrt einen Augenblick. – Wenn er nur zurückkommt, gesund oder verkrüppelt, wenn er nur zurückkommt, dann ist alles andere egal. Geld ist nicht das Wichtigste. Nur zurückkommen soll er. Dann wollen wir schon arbeiten und uns etwas Neues aufbauen, da brauchst du keine Sorge haben. –

Aber Papa kommt nicht. Manchmal kommen Briefe von ihm und Mama hat Hoffnung, aber wenn sie dann das Datum sieht, sind sie alle alt und stammen aus der Zeit vor jenem Brief, in dem steht, daß Papa während eines wochenlang tobenden Schneesturms von einer Patrouille nicht mehr zurückgekehrt ist.

– Dein Vater wollte nicht in diesen Krieg, er konnte kaum mit dem Gewehr umgehen. Wahrscheinlich hat er die Hände hochgehoben, als er den ersten Russen sah, denn er wollte nicht sterben, das mußt du verstehen. Er wollte hier bei uns sein und leben, mehr wollte er gar nicht. Aber man hat es ihm nicht erlaubt. Er mußte mit, wie alle anderen. Aber er war kein HELD. Und wenn er tot ist, so ist er nicht für FÜHRER VOLK UND VATERLAND gestorben, Irene. Merk dir das gut. –

Da Papa VERMISST ist, bekommt Mama eine RENTE. Sie muß sie einmal im Monat in G. abholen, wo Papas Heimatbahnhof war. Manchmal gibt es Züge, aber oft auch nicht. Dann packt mich Mama in den Sportwagen, obwohl ich schon zu groß bin, aber 17 km kann ich noch nicht laufen.

Einmal kommen wir an einer Kolonne KAZETTLER vorbei, die die Straße ausbauen. Sie sehen lustig aus in ihren gestreiften Anzügen. Ein paar ältere Männer sitzen am Straßenrand und haben Gewehre neben sich stehen. Die Kazettler heben die Köpfe und sehen Mama und mich an. Einer flüstert leise: – Zigaretten? – aber Mama tut so, als habe sie nichts gehört. Es wird viel geredet über diese Kazettler. Und weil diese Arbeiter gestreifte Anzüge haben, weiß ich also, daß es welche sind. Mama sagt immer, es sind arme Menschen, man müßte versuchen, ihnen zu helfen, und Opa sagt, ja, aber hier im Lager im Steinbruch geht es ihnen nicht schlecht. Im REICH soll es schlimmer zugehen. Hier müssen sie wirklich nur arbeiten, man bringt sie nicht um. Sie werden auch wenig geschlagen, und zu essen bekommen sie auch noch halbwegs gut, eben damit sie arbeiten können. Vielleicht sei es ihnen sogar lieber, als an der Front zu sein. Aber er will Mama nur beruhigen. Niemand darf in die Nähe des Kazetts kommen, niemand weiß, wie es dort wirklich ist, sagt Mama immer.

Als wir das nächste Mal um die Rente gehen, hat Mama Zigaretten dabei. Sie gibt sie mir in die Hand, als wir die Kolonne wieder sehen, und ich soll sie auf die Erde werfen, so, lose aus der Hand, damit die Männer mit den Gewehren nichts sehen.

Diesmal geht Mama näher an die Arbeiter heran und schiebt meinen Wagen knapp an ihnen vorbei. Die Männer riechen schlecht und sehen anders aus als andere Leute. Sie haben die Haare geschoren und einer ist barfuß, obwohl erst Frühjahr ist. Ich habe noch meinen Kaninchenfellmantel an. Einer der Gewehrmänner steht auf und Mama sagt: – Schnell! – und ich lasse die Zigaretten fallen. Einer der Männer läßt seine Schaufel fallen und bückt sich. Dabei rafft er die Zigaretten an sich. Eine hat er übersehen und ein anderer bückt sich darum. Es gibt ein Gedränge, und der Mann mit dem Gewehr kommt heran und stößt es den Männern in die Seite. Nicht sehr fest, aber sie schwanken doch. Er zwinkert Mama zu und schiebt mit dem Fuß die Zigarette, die übersehen worden ist, einem der Männer vor die Füße. Dann dreht er sich um und bewundert die Landschaft, als hätte er sie nie gesehen. Mama preßt die Lippen zusammen, und auch ich sehe wieder nach vorne auf die Straße. Es ist ein sonniger Tag.

Einmal haben wir das Glück, uns den Rückweg ersparen zu können. Zwei Soldaten haben einen Lastwagen, der leer zurückfährt, und sie bieten auf dem Platz den Leuten, die in unsere Richtung wollen, gegen Marken oder Zigaretten eine Fahrt an. Mama tun die Füße weh und sie verhandelt mit dem Jüngeren der beiden. Ungefähr 20 Leute sollen sich in zwei Stunden also hier zur Heimfahrt treffen. Die Soldaten verschwinden im Gasthof.

Mama fährt mich zum Seeufer und wir essen unsere Brote. Die Schwäne kommen ganz nahe heran, aber wir haben selbst zuviel Hunger, wir geben nichts ab. Später hilft ein Mann Mama, mich samt dem Sportwagen auf den Laster zu heben. Die Leute drängen sich auf den zwei Holzbänken und Mama nimmt mich endlich auf den Schoß und klappt den Wagen zu, so haben auf dem Boden noch ein paar Leute Platz. Die Soldaten sind sehr vergnügt und fahren ziemlich wild um die Ecken. Ich fürchte mich ein wenig, aber Mama ist ja da.

Die Straße führt am See und dann am Fluß entlang. Es gibt kein Geländer, weil die Leute es gestohlen und verheizt haben, denn es waren Holzbohlen. Die Straße ist schmal. Links der Fluß und rechts die Berghänge. Die Soldaten im Führerhaus singen und passen dabei nicht auf. Das Auto schlingert wild und die Leute bekommen Angst. Sie schreien und hämmern und hämmern an das Fenster zur Fahrerkabine, aber der Fahrer dreht sich nur lachend um und fährt beinahe über die Böschung. Alle drücken sich an die Bergseite. Die Frauen schreien am lautesten.

– Besoffen –, höre ich, – uns alle umbringen … – Mama legt mir ihr Kopftuch aufs Gesicht, warme Seide mit ihrem Geruch, damit ich nichts sehen kann und aufhöre, mich zu fürchten und zu schreien wie alle anderen. Sie betet. Der Mann neben ihr schreit ihr ins Ohr: – Wenn er bei der nächsten Steigung langsamer wird, geben Sie mir das Kind, ich springe ab. Sie kommen nach! Lieber ein paar Schrammen, als tot! Die sind stockbesoffen, die bringen uns um! – Mama zittert und sagt: – Passen Sie mir auf das Kind auf, passen Sie mir auf das Kind auf, es ist alles, was ich habe. Mein Mann ist vermißt. Bitte, passen Sie mir auf das Kind auf! – und der Mann wickelt mich in seinen Rock und Mamas Jacke, damit mir nichts passiert, wenn er aus dem fahrenden Laster springt.

Aber die Soldaten denken nicht daran, langsamer zu fahren. Mit röhrendem Motor jagen sie die Steigung hoch, viel zu schnell, um abzuspringen ohne sich den Hals zu brechen, viel zu schnell. Mama drückt ihr Gesicht an meins, jemand stößt mich, wir rutschen über den Boden, einmal nach links, einmal nach rechts. Die Leute schreien immer lauter, jemand schlägt sich den Kopf an und blutet, das Tuch ist mir vom Gesicht gerutscht, der Himmel schwankt über mir, die Leute klammern sich aneinander, die Strecke ist voller Kurven und wir fallen herum wie Erbsen. Mama erdrückt mich fast, sie fällt über mich, ich bekomme keine Luft mehr, kann nicht atmen, kann nicht schreien.

Der Wagen wird langsamer. Mit rutschenden Reifen hält er in der Innenstadt, hat ein Haus gerammt, aber nicht schlimm. Der Mann, der mit mir abspringen wollte, springt über die Bordwand, reißt das Fahrerhaus auf und zieht einen der Soldaten heraus, der ihn blöde anstarrt. Es ist ganz still, und dann schlägt der Mann den Soldaten zu Boden, greift nach dem zweiten, zieht ihn wie eine Schnecke aus dem Haus und ohrfeigt ihn links und rechts. Der Fahrer wehrt sich nicht, sein Gesicht ist rot, der Mann hält ihn und ohrfeigt ihn eine lange Weile, die anderen Leute steigen mit zitternden Beinen vom Lastwagen, stehen um die drei herum und sagen nichts. Der am Boden regt sich und ein Mann gibt ihm einen Tritt. – Ich habe zwei Söhne verloren – sagt der Mann drohend, und der Soldat bleibt liegen und sieht zu uns auf mit glasigen Augen. – Nun ist es aber genug, – sagt Mama. – Sie werden ihn erschlagen. – Sollte man auch, – sagt eine Frau. Die anderen nicken zustimmend. – Es ist genug, – sagt Mama nochmals. – Wir sind noch am Leben. – Der Ohrfeigenmann läßt den Soldaten los, der zu Boden sinkt und sich den Kopf hält. Plötzlich erbricht er sich. Mich ekelt hinzusehen, und ich grabe meinen Kopf in Mamas Schulter, während es mich würgt. Mama setzt mich in meinen Kinderwagen und wir gehen fort. Nach Hause.

Jemand erzählt Mama, daß man die Kazettler freigelassen hat. Sie kämen auf der Straße daher und Mama solle sich einsperren. Man wüßte ja nicht, was denen einfiele. Bestien wären das, jawohl, Bestien! Und jahrelang keine Frauen! Schlimmer als die Russen! Und die Nachbarinnen verstecken sich im Keller, wie bei einem überraschenden Alarm. Nur hören wir diesmal keine Sirene.

Ich mag den Keller nicht. Er ist dumpfig, und man stiehlt uns immer die Kohlen und die Karotten, weil mein Papa nicht da ist, um uns zu helfen.

Mama sagt, sie habe keine Angst vor den Kazettlern, das seien arme Menschen, denen man Unrecht getan habe. Pssst! sagt die Nachbarin und schüttelt den Kopf. Aber Mama geht nicht in den Keller. Sie macht sogar die Wohnungstür auf, damit die Kazettler sehen, daß da keine Soldaten sind, die sie wieder einfangen, und sie macht die Kredenztüren auf, damit sie sehen, es ist kein Brot da oder sonst etwas. Sie legt die Bibel auf den Tisch und liest halblaut darin, weil sie Angst hat, ob sie das Richtige tut. Wir warten lange und es wird dunkel draußen, man sieht nicht, ob jemand vor der Türe steht.

Aber dann hören wir es. Viele leise Schritte auf der Treppe. Jemand probiert die Klinke an der Wohnung gegenüber. Aber dort ist abgeschlossen, alle sind im Keller, und ganz leise, obwohl Herr Lenglachner eine PISTOLE mithat, damit er jeden erschießen kann, der in den Keller will.

So kommen die Schritte an unsere Tür. Plötzlich ist die Küche voll mit Menschen und Mama zittert, das fühle ich. Aber sie steht auf und stellt sich vor den Tisch. Die Männer sind erstaunt, uns zu sehen, einer geht zum Schlafzimmer, reißt die Tür auf, andere folgen. Und immer noch kommen welche die Treppe herauf. Sie reden miteinander in einer seltsamen Sprache, die wir nicht verstehen. – Brot – sagen sie immer wieder. – Brot. – Aber Mama zeigt ihnen den leeren Kasten, sie geht und zieht alle Schubladen heraus, es ist nirgends etwas zu essen. Die Männer stinken schrecklich, es sind so viele, und sie stehen so dicht bei uns.

Einer deutet auf die Wasserleitung und den Herd. – Wasser, bitte. Wasser. – Mama sieht auf die vielen Männer und läßt einen Eimer voll Wasser laufen, drängt sich durch diese schmutzigen, stinkenden Kazettler und stellt Wasser auf den Herd. Wir haben fast keine Kohlen mehr, aber für diese Männer heizt sie den Herd an, sogar die Petroleumlampe macht sie an, und die Männer reden schnell und unverständlich untereinander, drängen sich auf das Sofa, einer rührt mich an, zeigt auf seine Brust, zeigt auf mich, zeigt, eine Hand über den Boden haltend, daß auch er ein kleines Mädchen zu Hause hat. – Marie, – sagt er. – Marie. –

Das Wasser ist heiß, und Mama gibt es dem Nächststehenden, zeigt auf Seife und Handtücher, denkt, sie wollen sich waschen. Aber der Mann winkt ab. Gierig drängen sich alle heran und wollen das leere warme Wasser – trinken.

Mama nimmt es ihnen fast mit Gewalt wieder ab, stellt es zurück auf den Herd, deutet auf den Ofen, wo wir unsere Blätter und Früchte für den Tee trocknen, und sie verstehen, nicken und warten. Und Mama kocht Tee von Hagebutten, Kamille und Minze, die sie so mühsam gesammelt hat. Dann holt sie alle Becher und Tassen, die wir haben, sogar die große Geschirrkiste im Schlafzimmer macht sie auf, sie will nicht erlauben, daß diese Männer aus den Schüsseln und Eimern trinken, wie Vieh. – Bitte, – sagt Mama, während sie jedem eine Tasse oder einen Becher reicht. – Bitte. – Und die Männer sagen alle höflich – danke – als ob sie bei sich zu Hause wären und Leute wie alle anderen und keine Kazettler.

– Hoffentlich kommen die Amis, – sagt Oma immer wieder, – und nicht die Russen. Ich habe in Wien schon Russen gekannt, im ersten Weltkrieg und danach, du bist ja auch ein halber Russ’ – sagt sie zu Opa –, aber es sind und bleiben doch UNTERMENSCHEN, bis auf die paar Gebildeten. Man weiß ja, was die mit Frauen alles anstellen! Ich vergift mich, eh ich sowas durchmach. Ich bring mich um! – Aber sie lächelt ein wenig dabei, als sei es ihr gar nicht ernst.

– Ich habe immer auf den Kommunismus gehofft, – sagt Opa. – Aber so nicht. Nein, so nicht. –

Du warst immer ein Träumer – sagt Oma verächtlich. – Ich hoffe jedenfalls, daß die Amis kommen. Dieser Krieg muß doch auch einmal ein Ende haben. –

Ich freue mich schon auf die Zeit, wo der Krieg zu Ende ist. Dann kommt mein Papa wieder, dann bekommen wir eine schöne Wohnung und viel zu essen. Aber dazu müssen erst einmal die Amis oder die Russen kommen.

Opa ist nun im Krankenhaus. Nicht im LAZARETT, wo die Soldaten liegen, die von der Front kommen, die Mama immer besucht, und nach Papa fragt, sondern im Spital. Er sieht ganz schlecht aus und redet ganz leise. Ich muß auf den kleinen Balkon gehen, wenn die Schwester kommt und ihm eine Spritze gibt. Er weint aber nicht. Er hat ganz magere Beine, ich habe ihn noch nie ausgezogen gesehen. Ich fürchte mich fast ein bißchen, weil er so verändert ist. Mama sagt, er ist ein HELD, weil er das mit der Fabrik gemacht hat, und die Leute verdanken ihm viel. Darum bekommt er auch viel Besuch und Medikamente.

Anscheinend mögen nämlich die Amis die Kazetts überhaupt nicht, weil man dort böse zu den Leuten war und sie VERGAST hat, und jeder Ort, in dem ein Kazett war, den sprengen sie in die Luft und bringen dort alle Leute um. Und weil es nun in E. ein Kazett gegeben hat, haben die Leute alle furchtbare Angst bekommen, sie würden in die Luft gesprengt von den Amis. Dabei ist in dem Kazett gar niemand vergast worden, es sind zwar Leute gestorben, denn es gibt noch den Friedhof an der Straße, das weiß ich, aber vergast sind sie nicht worden.

Aber es ist wegen der Fabrik. Die Fabrik hat drei hohe Schornsteine und weil da gearbeitet wird, kommt eben Rauch aus den Schornsteinen. Und da könnten die Amis denken, hier würden die Kazettler doch vergast, obwohl das Kazett ganz am Waldrand beim Steinbruch ist, aber vielleicht wissen die Amis das nicht. Die wissen nur: Kazett und sehen Rauch, und schon werden wir in die Luft gesprengt.

Nun kann man die Schornsteine aber nur abstellen, wenn der PROZESS fertig ist. Und das dauert drei Tage. Vorher kann man da nichts tun, weil die Dämpfe innen in den Kammern furchtbar giftig sind. Und nun kommen aber die Amis schon früher, und die Kamine rauchen noch. Also hat der Fabrikdirektor Freiwillige verlangt, die da mit Gasmasken hineinsollten, den Prozeß abstellen, damit kein Rauch mehr aufsteigt. Aber es hat sich niemand gemeldet, weil alle Angst hatten, in den giftigen Dämpfen zu sterben. Und dann hat der Direktor Geld angeboten und andere Dinge, aber immer noch wollte keiner hinein. Endlich sind zwei hineingegangen, aber sie sind gar nicht bis zur Kammer gekommen, weil sie schon halbtot waren vorher und sind wieder herausgetorkelt und es war ihnen schlecht und der Arzt sagte – sofort ins Spital, das ist ja mörderisch! –

Der Opa hatte Freischicht, er war zu Hause, da haben es ihm die Nachbarn erzählt, und er ist gleich zur Fabrik und hat niemandem etwas gesagt, auch der Oma nicht, und ist ganz alleine hinein, weil er sich doch gut auskennt, und er ist lange dringeblieben und hat den Prozeß unterbrochen, und die Kamine haben bald nicht mehr geraucht. Das hat der Direktor gemerkt, weil er gerade eine weiße Fahne aus seinem Fenster im Büro gehängt hat, und er wußte nicht, was da passiert war, aber er war sehr froh. Und er ist hinübergegangen und hat gefragt, wer da drin ist, aber niemand hat es gewußt. Und endlich haben sie den Opa gefunden, da hatte er schon BLUT GESPUCKT und nun ist seine Lunge in FETZEN. Aber von außen sieht man nichts. Ich gehe ihn jeden Tag mit der Mama besuchen, weil die Oma nicht so oft kommen kann, und wenn, dann heult sie immer und regt ihn auf, sagt die Schwester.

Wir gehören jetzt zur AMERIKANISCHEN ZONE, die Russen sind nur bis zur Donau gekommen, wo die Idatante wohnt. Den Bürgermeister haben sie aufgehängt, weil er ESSESS war, und dann haben sie ihn zerschnitten und an den vier Ecken der Stadt aufgehängt, sagt Lore. Aber es gibt immer noch zuwenig zu essen. Mama hat schon alles mögliche an den Juden in der Herrengasse verkauft, und sie hat sehr geweint, als Oma ihre Kiste mit den Büchern verheizt hat, ohne sie zu fragen. Aber Oma hat gesagt, Wärme ist wichtiger als Bücher.

Opa ist wieder zu Hause, aber er liegt meistens auf dem Sofa, er geht nicht arbeiten und hustet viel. Manchmal weint er auch und stöhnt. Oma schimpft dann mit ihm, weil er sich so gehen läßt. Wenn Mama Eier bringt, macht Oma gleich Eierspeise, aber dem Opa gibt sie sie nur, wenn Mama dabei ist. Sonst bringt sie sie dem Herrn Schön im ersten Stock, mit dem sie immer Karten spielt. Manchmal kommt der Herr Schön auch herauf, und sie gehen zusammen ins Schlafzimmer Karten spielen, wenn sie denken, Opa schläft. Aber er schläft gar nicht, das sehe ich. – Deine Großmutter ist immer noch eine schöne Frau – sagt er oft ganz leise.

Nur wenn Mama da ist, kommt Herr Schön nie. Oma geht auch nicht hinunter, aber sie ist dann immer ziemlich gereizt und läuft gleich hinunter, wenn Mama weg ist.

Mama ist oft unterwegs zu den Bauern. Es gibt manchmal Züge und dann bleibe ich bei Opa und sie packt einen Rucksack voller Kleider und so und fährt HAMSTERN. Meistens bleibt sie einige Tage weg. Wenn sie dann kommt, sind wir immer froh über die Kartoffeln und die Butter, manchmal bringt sie auch Fleisch oder Speck. Aber Oma jammert immer, daß es zuwenig ist. – Du läßt dich immer übertölpeln, du bist viel zu gutmütig. – Mama erzählt manchmal, wie weit sie gelaufen ist, ob sie ein Lastwagen mitgenommen hat, wie unfreundlich die Bauern sind und wie müde sie immer ist. Sie schämt sich dieser Bettlerei, obwohl ALLE es tun, die nur irgendwie können. Aber wir haben niemanden, der für uns sorgt, wenn sie es nicht tut. Oma kann nicht arbeiten, Opa ist krank und hat wenig Rente, wenn er auch ein Held ist, und für Geld kann man immer noch nichts kaufen, sagt Oma.

Jeden Tag werde ich hübsch angezogen und bekomme den Einkaufskorb mit der Liste und stelle mich mit den Frauen vor dem Konsum an. Es ist lustig, sie alle reden mit mir, sie kennen mich und lassen mich oft vor, weil ich noch so klein bin. Aber meistens gibt es fast nichts zu holen. Ein bißchen Milch, Kartoffeln, Brot, alles ist zuwenig, und wenn nicht jetzt im Sommer so viele Kräuter und Beeren wären, die ich mit Mama zusammen suchen kann, hätten wir wohl mehr Hunger.

Oma kocht fast immer nur Kartoffelgulasch. Es steht in einem blauen Emailtopf herum. Entweder auf dem Herd, zum Aufwärmen, oder auf dem Tisch zum Essen. Sie deckt nie Teller auf. Wir essen aus der Schüssel, wenn Mama nicht da ist. Wenn es wieder Kartoffeln gibt, schneidet Oma wieder neue hinein. Es ist ein EWIGES Gulasch.

Aber den Kaninchen bringt sie Butterbrot, wenn Mama nicht hinsieht. Manchmal denke ich, sie hat die Kaninchen lieber als mich. Sie will sie nicht schlachten, sooft Opa auch darum bittet. Als er mir im Jahr vorher zu Weihnachten den Fellmantel gemacht hat, mußte er sie heimlich töten und das Fell alles auf dem Dachboden abziehen und heimlich trocknen und gerben. Sie war so wütend – wenn sie die Felle gefunden hätte, hätte sie sie vielleicht zerschnitten, sagt er zwinkernd. Nun hat sie nur noch vier Kaninchen und manchmal gehe ich hinunter, wenn ich weiß, sie hat sie gefüttert und angle mir eine halbe Karotte heraus oder ein paar Apfelschalen. Mama macht Tee aus Apfelschalen, wenn sie getrocknet sind.

Der Tee ist GESUND. Karotten sind auch gesund. Man bekommt gute Augen davon. Deshalb sind sie besser als Türkisohrringe, wie Berta sie hat. Ich möchte aber trotzdem gern welche. Das STECHEN würde mir nichts ausmachen. Aber Mama will nicht. Das ist BARBARISCH, sagt sie. Ein HEIDNISCHER Brauch. Ich glaube, von Mama lerne ich die meisten Wörter. Die Omawörter kenne ich fast alle. Mama wird böse, wenn Oma immer BLUMI und HAUSI sagt. Mama redet immer mit allen Leuten gleich. Sie sagt nie BUZI zu mir, wie Oma. – Irene ist dem Opa sein BINKI – sagt Oma zu den Leuten. – Irene ist mein Buzi. –

Am Waschhaus, gegenüber, hat Herr Dunkel seine TOMATEN. Sie sehen schön aus. Mama hält mich oft auf dem Arm beim Gangfenster, und wir sehen direkt in den dicken grünen Kastanienbaum hinaus. Der Baum ist höher als das Haus und der Gang ist dunkel. Aber wir mögen den Kastanienbaum. Manchmal sind da Vögel. Einmal sehen wir ein schwarzes Eichhörnchen. Mama zeigt mir viele Dinge. Die Wand vom Waschhaus ist gelb, und die Tomatenstauden sind schön grün. Wenn man davorsteht, riechen sie sehr seltsam. Mama reibt mir ein Blatt unter der Nase. Da riecht es ganz stark.

Die Tomaten sind erst grün, dann gelb und rot. Man kann sie essen. Ich habe aber noch keine gegessen, weil sie nicht uns GEHÖREN. Man darf nur das essen, was einem gehört. Wenn ein Zaun um eine Wiese ist, darf man nur die Sauerampfer pflücken, die außerhalb am Weg stehen, weil die Wiese innen einem nicht gehört.

Kühe dürfen dort schon alles essen. Aber den Kühen hat es der Bauer erlaubt. Mama fragt manchmal die Leute, ob sie innerhalb des Zaunes Pflanzen suchen darf, nur so am inneren Rand. Wir werden die Wiese nicht zertrampeln. Manchmal erlaubt man es ihr. Dann gibt es abends Gemüsesuppe. Manchmal drohen sie aber auch mit der Faust oder einer Heugabel und hetzen den Hund auf uns. Dann nimmt Mama mich schnell auf den Arm und steht ganz ruhig und redet den Hund an, der angesaust kommt. Und der Hund tut uns nichts, nicht einmal die ganz großen. – Sie merken, daß du sie magst – sagt Mama. – Mit Liebe und Verständnis kommt man immer durch im Leben. – Aber ich fürchte mich trotzdem ein wenig vor den Hunden, die viel größer sind als ich.

Gestern hat Herr Dunkel sehr geschimpft, weil dauernd jemand seine Tomaten STIEHLT. Stehlen ist etwas sehr Schlechtes. Der liebe Gott ist sehr böse darüber. Stehlen ist schlimmer als keinen Knicks machen oder die falsche Hand geben. Mama war sehr traurig, daß jemand bei uns im Haus stiehlt. Herr Hufschmied hat gleich herumgeschrien, ich hätte die Tomaten gestohlen, weil ich immer an den Stauden rieche und mir die verschiedenen Tomatenfarben anschaue. Aber ich habe nie eine weggenommen, wirklich nicht. Nur mit dem Finger einmal angestupst. Mama glaubt mir auch. Aber Herr Hufschmied ist wieder BETRUNKEN und er schreit da unten, wir hören es durchs offene Fenster, und er gibt Mama Schimpfnamen und sagt schon wieder DEUTSCHE SAU mit ihrem BANKERT.

Mama macht das Fenster zu, weil sie es auch gehört hat und nimmt mich in die Arme. Sie zittert ein bißchen. Dann muß ich aufs Klo. Das Klo ist im Gang, gleich neben der SPEIS. Alles da drin ist braun. Ich bin gern im Klo, zumindest im Sommer. Da summen die Fliegen herum, aber sie können nicht herein, weil Mama immer FLIEGENTOD aufhängt, damit sie dran klebenbleiben und sterben, sie übertragen sonst nämlich BAZILLEN. Die kann man nicht sehen, aber sie machen krank. In allen Wohnungen im Haus gibt es Fliegen, aber bei uns nicht. Mama ist immer hinter ihnen her. Sie mag gar nicht, daß die Speisekammer neben dem Klo ist, aber meistens haben wir nichts drin aufzuheben und wenn, dann stellt sie Teller übereinander, damit die Fliegen nicht dran können.

Auf dem Klo liegen schön zerschnittene Zeitungen. Die Überschrift kann ich schon zusammensetzen, weil es immer die gleiche ist. Ein paar Buchstaben kenne ich schon, das ist lustig. Immer, wenn ich draußen bin, spiele ich mit den Buchstaben auf den Zeitungsseiten, suche mir die heraus, die ich schon kenne. Mama liest gerne. Ich spiele auch LESEN. Manchmal schreibe ich auch die Buchstaben aufs Fenster, das geht gut, wenn man es vorher anhaucht.

Ich hauche das Gangfenster an und schreibe etwas. Das, was immer auf der Klozeitung von Herrn Lenglachner steht, VÖLKISCHER BEOBACHTER. Ich muß ziemlich oft hinhauchen, weil es ein langes Wort ist. Der Anfang ist immer schon weg, bis ich fertig bin.

Da sehe ich unten beim Waschhaus Martha. Sie guckt sich nach allen Seiten um und ich winke ihr, aber sie schaut nicht herauf. Das Fenster kann ich nicht aufmachen, weil der Riegel zu hoch ist.

Martha ist die Tochter von Herrn Hufschmied und geht heuer schon in die SCHULE. Sie hat schöne lange Zöpfe und wir spielen oft zusammen. Sie hat auch Sommersprossen. Ihre Schwester Gretl hat keine Sommersprossen und ist auch schon größer. Sie hat nicht viel Zeit zum Spielen. Meistens schält sie Kartoffeln oder holt Schnaps für den Herrn Hufschmied.

Martha geht ganz nah an die Tomaten heran und pflückt welche ab. Sie steckt sie in die Schürze und läuft mit der hochgehobenen Schürze hinters Haus. Martha hat die Tomaten GESTOHLEN.

Ich laufe hinein und sage es Mama. Mama will es nicht glauben, schaut aus dem Fenster und da unten sitzt Martha und beißt in eine Tomate. Von unten kann man sie wahrscheinlich nicht sehen, aber wir von oben sehen sie gut.

Mama nimmt mich an der Hand und läuft nach unten. Sie klopft bei Herrn Hufschmied, der schon wieder BETRUNKEN ist und er kommt aus der dunklen Wohnung schwankend auf Mama zu. Mama geht zurück bis an die Wand und ich fürchte mich plötzlich vor dem Herrn Hufschmied. Er schreit gleich, was wir wollen und Mama sagt, ich habe gesehen, wie Martha die Tomaten weggenommen hat und sie ißt sie gerade hinter dem Holzschuppen.

Herr Hufschmied wird sehr zornig und schreit nach seiner Frau und wir rennen alle ums Haus und in den Hof und da sitzt Martha und hat den Mund voll Tomaten und eine liegt noch in der Schürze.

Herr Hufschmied wird ganz rot im Gesicht und zerrt Martha auf die Beine und gibt ihr eine Ohrfeige und seine Frau hängt sich an ihn, aber er schüttelt sie weg und schnallt seinen Gürtel mit der großen Schnalle ab und er fängt an, Martha zu PRÜGELN mit dem schweren Riemen aus Leder und Martha steht da und hebt den Arm vors Gesicht und er schlägt und schlägt und schlägt auf sie ein und flucht auf polnisch und Martha fällt auf den Boden und er schlägt sie und tritt sie mit den Füßen, obwohl seine Frau und Mama sich an ihn hängen und sagen AUFHÖREN, aufhören, nicht, NICHT, du schlägst sie ja tot, du bringst sie ja um, HERR HUFSCHMIED! SIE IST DOCH NOCH EIN KIND! HÖREN SIE AUF! HÖREN SIE AUF!

Ich stehe an der Mauer und fürchte mich schrecklich, möchte ihn beißen und treten, er soll AUFHÖREN, aber ich bewege mich nicht, etwas hält mich zurück, ich kann nichts sagen, kann nicht weggehen, kann die Augen nicht zumachen und Martha schreit und wimmert ganz hoch, daß es mir in den Ohren wehtut, aber ich kann mir die Ohren nicht zuhalten, nur Martha sehe ich und den Arm von Herrn Hufschmied, mit den Muskeln und Adern, der Tätowierung am Gelenk, dem Lederriemen in der Hand, auf und ab, auf und ab.

Herr Dunkel kommt mit seiner Frau und dem Sohn und endlich hört Herr Hufschmied auf. Seine Frau nimmt Martha mit in die Küche. Herr Dunkel ist verlegen, will nicht, daß Martha wegen SEINER Tomaten so geprügelt worden ist, will aber auch nicht, daß man seine Tomaten wegnimmt, weiß nicht, was er sagen soll, geht wieder in seine Wohnung.

Herr Hufschmied steht da, mit dem Riemen in der Hand, und atmet schwer. Mama sagt, daß Martha nicht gewußt hat, was sie tut, daß sie HUNGER gehabt hat, daß sie noch klein ist, daß man Kinder nicht SCHLAGEN soll, – da hebt Herr Hufschmied den Arm und will Mama schlagen. Ich schreie und ziehe Mama weg, aber er kommt hinterher, packt sie am Hals, stößt mit dem Fuß den MÜLLGRUBENDECKEL auf, es kommt Rauch heraus von der Asche, dort unten ist es wie in der HÖLLE, wie im FEGEFEUER, es brennt da unten, es ist tief und er stößt mich mit dem Fuß, daß ich hinfalle und Mama kann nicht schreien, er hat sie so fest am Hals gepackt, sie ist ganz rot im Gesicht, er schreit ununterbrochen ICH BRING DICH UM, DU DEUTSCHE SAU! ICH BRING DICH UM UND DEIN BANKERT und er zerrt Mama an den Rand der Müllgrube und ich renne weg und schreie und SCHREIE.

Der Soldat, der bei Frau Lenglachner ZWANGSEINQUARTIERT IST, kommt um die Ecke gelaufen, läuft auf Herrn Hufschmied zu und schlägt ihn zu Boden. Herr Hufschmied verdreht die Augen und fällt einfach um, zieht Mama mit sich, läßt ihren Hals nicht los, beide liegen halb über der rauchenden Müllgrube, bis der Soldat die Hufschmiedhände von Mamas Hals reißt und Mama auf den Rasen legt. Sie hat die Augen weit offen, aber sie sieht mich nicht und ich traue mich nicht, sie anzufassen, muß nur schrecklich weinen, denke, sie ist TOT.

Der Soldat nimmt Mama auf die Arme und trägt sie ins Haus. Die Hufschmieds haben die Türe versperrt, die Dunkels gucken aus der Tür, machen sie aber schnell wieder zu. Oben steht der Herr Lenglachner und fragt, was los ist. Aber der Soldat sagt nur, er soll ihm die Tür aufmachen zu unserer Wohnung, und er trägt Mama hinein und legt sie aufs Sofa. Und der Herr Lenglachner soll sofort den Doktor holen, und mich zu seiner Frau bringen.

Der Soldat heißt Herr PIRKNER. Er war WAFFENESSESS und wohnt eigentlich in Wien. Aber da sind die Russen. Deshalb kann er nicht nach Hause. Seine Frau ist eine HURE, weil sie immer andere Männer hatte, während er im FELD war. Er will gar nicht zu ihr zurück, nicht einmal, wenn die Russen weg wären. Die Russen haßt er sehr. Sie haben nämlich seine Kinder erschossen, das hat er erst nach langer Zeit erfahren, weil seine Frau ihm nie geschrieben hat. Das Mädchen hieß Susi und der Bub Peter. Er hat seine Kinder sehr gern gehabt. Aber seine Frau hat nicht auf sie aufgepaßt und während sie bei einem Bauern Milch geholt hat, sind die Kinder in der Wiese herumgehüpft. Da kamen ein paar Russen vorbei und haben so aus Spaß, auf die Kinder geschossen. Die Kinder sind gelaufen, weil sie Angst hatten und die Mutter hat sich nicht aus dem Haus getraut, hat nur sehr geschrien, aber es hat den Russen nichts ausgemacht.

Erst haben sie immer an den Kindern vorbeigeschossen, weil sie Kinder anscheinend gerne mögen, aber dann, wie die Mutter so geschrien hat, sind sie vielleicht wütend geworden oder sie waren einfach betrunken, jedenfalls hat einer mit dem EMGE geschossen und da waren die Kinder dann tot. Das verzeiht Herr Pirkner seiner Frau nie, obwohl Mama immer sagt, wer weiß, ob es genauso war, vielleicht haben Ihnen Ihre Bekannten etwas Falsches erzählt, hassen Sie doch Ihre Frau nicht so, denken Sie, wie es einer Mutter zumute sein muß, wenn die Kinder vor ihren Augen… –

Aber er gibt nicht nach in seinem Haß. Sooft er von seiner Frau redet, wird er ganz verändert und kalt. Da fürchte ich mich mehr vor ihm als vor dem Herrn Hufschmied.

Erst haben sie uns das dritte Zimmer weggenommen, weil der Papa nicht zurückkommt, und nun hat die Lenglachner Heli geheiratet, so daß der Herr Pirkner nicht mehr bei ihnen wohnen kann. Deshalb muß er jetzt bei uns wohnen, weil wir nur zu zweit sind und zwei Zimmer haben. Er schläft auf dem Sofa in der Küche und ich bei Mama im Doppelbett. Vorher habe ich in meinem Kinderbett geschlafen, aber nun MUSS ich bei Mama schlafen. Nur Schlumpi schläft in meinem Bett.

Herr Pirkner hat jetzt ARBEIT. Er ist eigentlich Architekt. Aber jetzt arbeitet er in der Schuhfabrik. Mama sucht auch immer Arbeit. Sie näht viel auf der kleinen Nähmaschine, die man auf den Tisch stellen kann. Ich sehe ihr gerne zu dabei. Sie dreht mit der rechten Hand die Kurbel und links läuft der Stoff über den Tisch wie ein Wasserfall. Das gefällt mir. Oft, wenn ich schon lange im Bett bin, höre ich noch die Nähmaschine. Da werde ich ganz glücklich müde. Mama ist da.

Oft gehen wir auch mit der Nähmaschine zu anderen Leuten und Mama näht dort für die Frauen. – Sie ÄNDERN aber schön – sagen sie oft zu Mama –, man SIEHT überhaupt nicht, daß es nicht NEU ist. –

Mama erzählt mir viele Geschichten, während sie näht und ich darf mit den Stoffresten spielen. Sie hat immer noch viele bunte Kleider und zerschneidet sie dann, um die Stoffstücke auf etwas anderes zu nähen. Dann erzählt sie mir, wo oder wann sie das Kleid angehabt hat, und welche der Papa ganz besonders gern an ihr gesehen hat. Manchmal erzählt sie mir auch Märchen und manche davon kann ich schon auswendig, weil sie sie immer genau gleich erzählen muß. Wenn wir dann im Zug zur Oma fahren, nehme ich das Gesangbuch und tue, als läse ich darin. Die Leute lachen zuerst immer, weil ich erst dreieinhalb bin, aber wenn sie dann sagen, ich soll etwas vorlesen, dann fahre ich mit dem Finger über die Zeilen und erzähle ein Märchen dabei, da denken sie, ich kann wirklich schon lesen und schauen die Mama ganz komisch an.

Einmal hat mir jemand im Zug ein Stück SCHOKOLADE angeboten. Mama hat mir erlaubt, sie anzunehmen. Es sah komisch aus und ich hatte gleich braune Finger davon. Mama sagte, das wäre süß und zum Essen. Sie hat dabei ganz komisch ausgeschaut, als ob sie traurig wäre. Aber ich mochte die Schokolade nicht und habe sie ausgespuckt, weil ich sowas nicht kannte. Mama war sehr traurig, weil der Mann es GUT GEMEINT hatte und weil Schokolade KOSTBAR ist, aber ich mochte sie trotzdem nicht.

Mama hat inzwischen wieder eine neue Arbeit dazubekommen. Wir kleben Farbknöpfe auf Karton. Mama kann jetzt nämlich über die Schweiz wieder an den Onkel Christian, ihren Bruder, in Amerika schreiben und sie hat ihm geschrieben, daß es uns nicht sehr gut geht und daß wir fast nie genug zu essen haben, weil ihr Geld eingezogen worden ist, so wie der Papa, und daß er versuchen soll, durch seine Freunde, ob sie nicht Arbeit bekommen kann. Er hat geschrieben, daß es dort auch sehr schwer ist, er hat auch zuwenig Arbeit und fast kein Geld, aber er wird versuchen, etwas zu tun.

Und Mama hat dem Herrn Schatz vorgeschlagen, sie macht KUNSTGEWERBE für ihn, wenn er ihr das Material gibt und durch den Onkel Christian kann der Herr Schatz das vielleicht an die Amerikaner verkaufen. Und so machen wir alles mögliche für den Herrn Schatz. Herr Pirkner sagt, Mama läßt sich ausnützen, weil sie so gut wie keinen PROFIT hat, aber Mama ist froh, daß sie arbeiten kann. Ich helfe ihr den Leim rühren, der sehr stinkt und ich kann auch schon recht gut die Farben vorsortieren, damit sie es leichter hat. Aber Mama will immer, daß ich viel draußen an der frischen Luft bin, weil ich sehr leicht krank werde.

Einmal habe ich Masern. Da bringt Frau Lenglachner heiße Zwiebelschalen, ganz schwarz schon, vom Herd, und legt sie mir auf, gegen das Fieber. Aber ich habe nur Blasen auf der Brust bekommen davon, weil sie so heiß waren und sehr geheult. Da hat Mama mir wieder lieber Wickel gemacht, obwohl ich die auch nicht mag.

Seit ein paar Tagen kann ich nun RICHTIG lesen. Mama hat gesehen, wie ich immer Buchstaben male und sie mir alle erklärt. Lesen ist wirklich lustig. Wie die Buchstaben alle zu Wörtern zusammenpurzeln, wenn man es erst einmal weiß! Das hat mir richtig Freude gemacht. Oma war ganz verwundert und wollte es nicht glauben. Opa hat den Kopf geschüttelt und Mama hat auch gesagt, es ist viel zu früh, aber ich hätte selbst damit angefangen.

– Demnächst wird sie noch SCHREIBEN! – sagt Oma und ist wütend. Ich weiß nicht warum. Opa freut sich, wenn ich ihm etwas vorlese. Leider habe ich nur das Gesangbuch und die Bibel. Da gibt es so viele Wörter, die ich nicht verstehe. Manches kenne ich vom Gottesdienst her, aber verstehen tue ich es trotzdem nicht. Mama hat jetzt weniger Zeit, weil sie soviel arbeitet und den Herrn Pirkner kann man nicht fragen. Er haßt GOTT und Mama betet viel für ihn. Überhaupt, wenn er NERVÖS ist.

Einmal habe ich mit dem Löffel am Tellerrand geklirrt, da ist er zusammengefahren und ich habe müssen mit dem Dessertlöffel essen, damit ich keinen Lärm mache. Aber er hat mich immer angesehen dabei und ich habe mich gefürchtet und bin wieder an den Tellerrand gestoßen, weil ich so gezittert habe, aus Angst, er schreit mich an, was Mama NIE tut und da hat er fürchterlich getobt und Mama hat ihn beruhigen wollen, aber er ist weggelaufen, weil er mich nicht mehr SEHEN will.

Ein anderes Mal habe ich die äußere Küchentüre zu laut zugemacht, da hat er mich die Tür zwanzigmal auf- und zumachen lassen, obwohl er weiß, wie schwer es mir fällt, weil die Klinke so hoch oben ist und ist dabeigestanden mit ganz bösem Gesicht, damit ich lerne die Tür LAUTLOS auf- und zuzumachen.