Zur kritischen Theorie - Gunnar Hindrichs - E-Book

Zur kritischen Theorie E-Book

Gunnar Hindrichs

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Beschreibung

Kritische Theorie ist ein scharfsinniger Unsinn. Kritik – das bedeutet Prüfen, Unterscheiden, Urteilen. Theorie – das bedeutet eine Erkenntnisstruktur. Laut Kant bildet die Kritik darum eine »Propädeutik« zur Theorie. Wer beides zusammenschließt, verwickelt sich in einen Widerspruch. Von diesem scharfsinnigen Unsinn der kritischen Theorie handeln Gunnar Hindrichs’ Studien, die sich gegen die Meinung richten, kritische Theorie bilde ein sinnvolles Element im Gefüge der Wissenschaften. Ihr Geschäft, so Hindrichs, besteht vielmehr darin, die Krise des Sinns durchzuführen. In der vielfältigen Krise unserer Gegenwart aber wird ein Denken, das die Form der Krise in sich aufgenommen hat, auf neue Weise bedeutsam.

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3Gunnar Hindrichs

Zur kritischen Theorie

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Vorwort

Kritik – Theorie – Krise

Die Idee einer kritischen Theorie und die Erfahrung totalitärer Gesellschaften

Unendliche Vorgeschichte

Die Modernitätsbestimmung der

Dialektik der Aufklärung

Kulturindustrie

Scheitern als Rettung

Ästhetische Erfahrung nach Adorno

Auferstehung des Fleisches

Adornos kritischer Materialismus

Habermas und die neuzeitliche Subjektivität

Kommunikative Macht

Nachweise

Namenregister

Fußnoten

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

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7Vorwort

Kritische Theorie ist ein scharfsinniger Unsinn. Kritik – das bedeutet: Prüfen, Unterscheiden, Urteilen. Theorie – das bedeutet: eine Erkenntnisstruktur. Mit Theorie darf Kritik darum nicht verwechselt werden. Sie bildet, wie Kant sagt, eine »Propädeutik« zu ihr. Wer beides zusammenschließt, formuliert ein Oxymoron.

Vom scharfsinnigen Unsinn der kritischen Theorie sprechen die folgenden Studien. Das stellt sie in einen Gegensatz zur ihrer Lage. Seit langem ist die kritische Theorie in die Organisation der Wissenschaften integriert. Es gibt Einführungskurse in sie; sich auf sie zu spezialisieren eröffnet Karriereoptionen; sie kann zum Markenkern einer Universität gehören; sie bildet eine internationale Währung. Hier ist nichts unsinnig, sondern alles sinnvoll. Aber mit ihrem Namen bekennt sich die kritische Theorie als Oxymoron. Als solches sperrt sie sich gegen ihre Integration in die Wissenschaftsorganisation. Entsprechend muß eine kritische Theorie, die sich integriert, die Verknüpfung der unvereinbaren Bestimmungen aufgeben, die ihr Name eigentlich beansprucht. Sie darf kein hölzernes Eisen sein. Deshalb zerfällt sie in ihre beiden Momente. Sie wird entweder als Kritik betrieben oder als Theorie: als Theorie des kommunikativen Handelns und der Anerkennung einerseits, als Kritik der Macht und der Lebensform anderseits. An die Stelle des scharfsinnigen Unsinns der kritischen Theorie tritt der Sinn neuer Formen der traditionellen Theorie und der traditionellen Kritik.

Für diese Lage der kritischen Theorie sind nicht ihre Vertreterinnen und Vertreter verantwortlich. Vielmehr ist sie sachlich begründet. Denn der scharfsinnige Unsinn droht die kritische Theorie zu einem Selbstwiderspruch zu machen. Erfolgreich bewältigt werden kann er nur dann, wenn der Geltungsanspruch einer der beiden Seiten abgemildert oder zumindest umgedeutet wird. Eben das vollzieht die integrierte kritische Theorie durch die Trennung ihrer Momente. Doch mit der Auflösung des scharfsinnigen Unsinns geht das Entscheidende der kritischen Theorie verloren. Aus der Rhetorik wissen wir vom Oxymoron, daß es Unsagbares zum Ausdruck bringt, indem es dieses in ein Gegensatzpaar zwingt. Weiter wissen wir, daß das Gegenteil zum Oxymoron der Pleonasmus, 8die Verdoppelung des Sinnes ist. Beides betrifft die Bestimmtheit kritischer Theorie. Sie will »gegen Wittgenstein sagen, was nicht sich sagen läßt« (Adorno), also Unsagbares zum Ausdruck bringen. Und sie deutet die traditionelle Theorie als Verdoppelung dessen, was der Fall ist, also als Pleonasmus der Tatsachen. Indem die kritische Theorie einen scharfsinnigen Unsinn darstellt, bekennt sie sich daher mit ihrem Namen dazu, sowohl den Pleonasmus des Bestehenden zu sprengen als auch das Unsagbare auszusagen, das das Bestehende übersteigen könnte. Wer sie in ihre Momente zerlegt, verzichtet darauf.

Das ist nicht nur eine Angelegenheit der Form des Denkens. Es betrifft auch das Verhältnis der Philosophie zu ihrer Zeit. Denn indem der scharfsinnige Unsinn der kritischen Theorie die Verdoppelung des Bestehenden nicht mitmacht und auf das zu sagende Unsagbare ausgerichtet bleibt, widerspricht er den unterschiedlichen Formen dessen, was der Fall ist, und bezieht sich auf das, was anders gegenüber diesem wäre. Entsprechend fällt er über den geschichtlich-gesellschaftlichen Stand ein Urteil, entwirft Alternativen zu dessen traditioneller Erkenntnis, sucht nach Möglichkeiten neuer Erfahrung – stets unter dem Gesichtspunkt des extremen Gegenteils zur pleonastischen Sagbarkeit.

In ihrer heutigen Lage hingegen trennt sich die kritische Theorie von dem radikalen Widerspruch gegen das, was der Fall ist. Statt des Unsagbaren sagen ihre neuen traditionellen Theorien, wie die Dinge in der Gesellschaft liegen. Und ihre neuen traditionellen Kritiken verurteilen das Bestehende auf der Grundlage einer Tatsache: der Tatsache diversifizierter Lebensformen. Darum vollziehen sie einen neuen Pleonasmus der Tatsachen. Sie verdoppeln das Faktum der Diversität, deren Anerkennungsverhältnisse und Lebensformen, zur Norm. Hier kann Adornos Satz »Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint«, in dem der scharfsinnige Unsinn der kritischen Theorie zuletzt gründet, weil er gegen die Immanenz des Tatsächlichen das Unsagbare am radikalsten ausdrückt, weder eine theoretische noch eine kritische Bedeutung erlangen. Er erlangt keine theoretische Bedeutung, da die Theorien des kommunikativen Handelns oder der Anerkennung ihre Themen nicht als erlösungsbedürftig betrachten. Und er erlangt keine kritische Bedeutung, da die Kritiken der Macht oder der Lebensform Änderungen nur als Störungen, Konkurrenzen 9und Neugestaltungen innerhalb des Immanenzzusammenhanges begreifen können. Die kritische Theorie ist positiv geworden.

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Dem scharfsinnigen Unsinn der kritischen Theorie gehen die hier vorgelegten Studien nach. Sie bedenken ihn im Horizont der europäischen Philosophie, zumal im Horizont des Denkens von Kant und Hegel sowie dessen anvisierter Aufhebung durch Marx. Jede Studie verfolgt einen in sich geschlossenen Gedankengang und kann für sich gelesen werden. Dafür wurden gelegentliche Wiederholungen in Kauf genommen. Zumal der Gedanke einer unendlichen Vorgeschichte der Menschheit – des gescheiterten Überganges in ihre selbstbestimmte Geschichte – macht sich in den meisten der Studien geltend, ebenso der mit ihm verbundene Hintergrund einer Auseinandersetzung um die Vernunft der Wirklichkeit. In jeder Studie aber wird die Sache der kritischen Theorie unter einem anderen Gesichtspunkt entfaltet. So kann erst der Zusammenhang der Einzeluntersuchungen, die über einen Zeitraum von zwanzig Jahren entstanden sind, beanspruchen, diese Sache zur Darstellung zu bringen.

Hierzu richten sich die Untersuchungen vor allem auf die Versuche Horkheimers und Adornos. Sie haben das Problem einer kritischen Theorie hervorgebracht, ohne deren Selbstwiderspruch bewältigen zu wollen. An ihnen kann daher der scharfsinnige Unsinn am besten begriffen werden. Die hier vorgelegten Studien untersuchen aber auch die Transformation der kritischen Theorie durch Jürgen Habermas und ihre Folgen. Habermas’ Projekt – und sein Denken versteht sich selber als »Projekt«: als das »unvollendete Projekt der Moderne« – bewältigt den Selbstwiderspruch der kritischen Theorie, indem es die Theorie von der Kritik wieder trennt. Dieses Projekt bestimmt die heutige Verfassung der kritischen Theorie noch dort, wo sie sich von ihm abwendet. Daher muß es begriffen werden. Marx und Engels hatten die traditionelle Kritik ihrer Zeit als »kritische Kritik« verspottet, die selbstherrlich über die Wirklichkeit zu Gericht sitzt, ohne ihre eigene Verwicklung in diese zu erkennen, und sie hatten die traditionelle Theorie als eine bloße Interpretation der Welt angeklagt, die vor deren Veränderung verstummt. Mit ihrem scharfsinnigen Unsinn suchte die kriti10sche Theorie das zu beheben. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten unserer Zeit, daß die heutigen Versionen der kritischen Theorie jenem Spott eine neue Gegenwart zu bereiten scheinen, indem sie sich selber wieder in Formen der traditionellen Theorie oder der traditionellen Kritik gießen.

Wer hieraus auf eine Mißachtung dieser Versionen schlösse, hätte allerdings den Zusammenhang nicht begriffen. Die kommunikationstheoretische Wende, an der ihre anerkennungstheoretische Weiterführung und letztlich sogar die Macht- und Lebensformkritik hängen, antwortet ja auf das Oxymoron der kritischen Theorie. Entsprechend darf diese Wende nicht als Sündenfall verstanden werden, hinter den zurück es in den Garten des richtigen kritischen Denkens zu gelangen gelte. Vielmehr gehört sie zu der Artikulation des Problems, für das die kritische Theorie mit ihrem Namen plädiert. Das ändert nichts am Fehlgang von Habermas und seinen Folgen. Doch der Fehlgang ist kein Fehltritt vom rechten Weg, sondern gehört zur Sache der kritischen Theorie selber. Denn als Oxymoron ist sie ohne den Fehlgang, der sich aus der Einsicht in ihre Widersprüchlichkeit nährt, nicht zu verstehen.

Das führt zu einem letzten Punkt. Nach dem Gesagten ist die kritische Theorie krisenhaft. Ihr scharfsinniger Unsinn drückt die Krise des Sinnvollen aus, und ihre Zerlegung in neue Formen der traditionellen Theorie und der traditionellen Kritik vollzieht die Krise ihres eigenen Konzeptes. Diese Krisenhaftigkeit könnte ihr zum Vorteil gereichen. Nachdem unsere Lage lange Zeit für stabil gehalten wurde – sowohl in der bleiernen, postmodernen Stabilität zur Spätzeit des kurzen zwanzigsten Jahrhunderts als auch in der dynamischen, akkumulierenden Stabilität nach dem vorläufigen Endsieg über den Sozialismus –, ist seit mehr als zwei Jahrzehnten das Bewußtsein einer vielfältigen Krise wach. Sie ist die »Siegkrise des Westens« (Ulrich Beck). Wenn nicht alles täuscht, dann hat die Philosophie diese Krise bisher nicht an sich herangelassen. Sie spricht zwar von ihr, bleibt aber in ihrer Verfassung von ihr unberührt. Entsprechend kann ein Denken auf neue Weise bedeutsam werden, das die Form der Krise in sich aufgenommen hat. Die hier vorgelegten Studien verfolgen darum nicht nur eine erläuternde Absicht. Vielmehr hoffen sie, durch Nachdenken über den scharfsinnigen Unsinn der kritischen Theorie in den Reflexionsverhältnissen der Krise klüger zu werden.

11Aus der Krise hinaus führt die kritische Theorie freilich nicht. Das könnte erst eine Revolution der Denkart, die eine Denkart der Revolution wäre. Wie sie aussähe, müßte nach der Erfahrung eines Zeitalters der Extreme neu begriffen werden.