Zur politischen Theologie des Judentums - Elisa Klapheck - E-Book

Zur politischen Theologie des Judentums E-Book

Elisa Klapheck

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Beschreibung

Elisa Klapheck sucht nach den politischen Implikationen der jüdischen Theologie. Im Zentrum des Politischen steht das gewandelte Verhältnis des Menschen zu Gott. Die ersten Geschichten der Bibel präsentieren Gott noch als Despoten, der eine unbeschränkte Theokratie verlangt, während er sich später als politischer Partner des Menschen selbst an Rechtsnormen bindet. Bereits im ersten Bund mit Noah ist eine Garantie des künftigen Willkürverzichts Gottes gegenüber seinen Geschöpfen zu erkennen. Dann wiederum beschreibt die Tora die Entstehung von Rechtsverhältnissen zwischen den Menschen. Die jüdische Version der polis ist dabei der kahal, dessen Ausweitung über die einzelne Gemeinde hinaus – anders als in der griechisch-römischen Tradition – nicht zu einer vereinheitlichenden Staatsbildung führt, sondern zur dezentralen politischen Wirklichkeit der Diaspora. In die wechselhafte gesellschaftliche Realität muss Gott immer wieder neu integriert werden. Die talmudische Tradition fordert die tätige Selbstkorrektur des Menschen und führt nicht zu einer Relativierung des göttlichen Rechts, sondern zur Bestätigung der Tora als gesetzlicher Maßstab. Kennzeichnend für die religiös-säkulare Spannung des (rabbinischen) Judentums wird der produktive Konflikt mit Gott, der die jüdische Tradition zu einer Theologie der säkularen Gesellschaft weiterentwickelt. Klaphecks facettenreiche Interpretationen zeigen den Reichtum dieses Traditionsbestandes, werfen Schlaglichter auf politisch-theologische Positionen aktueller Debatten. Zu Fragen nach Ausgestaltung des egalitären Rechtsstaats, im Blick auf die Stadt als Paradigma des Politischen, zu Diskussionen um die Bundesstaatlichkeit der EU liefert die jüdische politische Theologie erstaunliche Anstöße. Die Diaspora avanciert zum Vorbild einer pluralistischen Globalisierung und sogar die prinzipielle Begründung von Frauen- und Minderheitenrechten kann aus dem Ideenreservoir des Judentums begründet werden. Sie beweist eine bemerkenswerte Relevanz für die Orientierung in gegenwärtigen politischen Krisen.

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Elisa Klapheck, geb. 1962, ist eine liberale Rabbinerin in Frankfurt a. M. und Professorin für Jüdische Studien an der Universität Paderborn. Sie studierte Politologie, Rechtswissenschaft und Judaistik. 1998 wurde sie Pressesprecherin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Dort gehörte sie zu den Mitbegründern der liberalen Synagoge Oranienburger Straße und der jüdisch-feministischen Organisation „Bet Debora“. Nach ihrer Ausbildung als Rabbinerin war sie zunächst in Amsterdam als erste Rabbinerin in der niederländisch-jüdischen Geschichte bei der Gemeinde „Beit Ha’Chidush“ angestellt. Seit 2009 ist sie Rabbinerin in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt a. M.

Veröffentlichungen u.a.: Fräulein Rabbiner Jonas. Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden? Berlin 1999; Wie ich Rabbinerin wurde. Freiburg 2012; Margarete Susman und ihr jüdischer Beitrag zur politischen Philosophie. Berlin 2014; TB-Ausgabe 2021. Herausgeberin der Reihe Machloket / Streitschriften zu gesellschaftspolitischen Fragen und jüdischer Tradition.

Elisa Klapheck

Zur politischen Theologie des Judentums

E-Book (EPUB)

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2022

Alle Rechte vorbehalten.

Coverabbildung: Chanukka-Leuchter von Rachel Kohn,

Bildbearbeitung: Susanne Ahner, Idee: Elisa Klapheck.

Reproduktionsgenehmigung VG Bildkunst, Bonn

Covergestaltung: Christian Wöhrl, Hoisdorf

EPUB: ISBN 978-3-86393-626-6

Auch als gedrucktes Buch erhältlich:

ISBN 978-3-86393-145-2

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeischeverlagsanstalt.de

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Inhalt

Vorwort

Gott und die Polis

Eine biblisch-politische Deutung

Die hebräische polis | Gott – ein despotischer König? | Die Schöpfung und die Stadt | Das Politische – oder: The Rule of Law | Babylon – oder: politisches Plädoyer gegen die Tyrannei des Einen | Sodom – oder: Die pervertierte polis und ihre Alternative | Beer Schewa – oder: Der erste politische Bund | Fazit

Bundestheologie aus der Wüste – und aus den Steppen

Ist die Europäische Union ein Bund? | Emanzipation eines Weiblichen, eines Politischen | Universalität, Unteilbarkeit und ein egalitäres Menschenbild | Der erste und der zweite Bundesschluss | Zwei politisch-theologische Thesen: 1) Das Problem der Gleichheit2) Stille Kritik gegen Gott | Frauenrechte | Levitische Rechtsräume

Auf dem Weg zu einer Theologie des Rechtsstaates

Das Erste Gebot: ein Rechtswesen | Die säkularen Traditionen der Völker | Religiös-säkulares Spannungsfeld | Zwei „erste“ Gebote | Rückwandelbarkeit des Gesetzes ins Gebot (Franz Rosenzweig) | Das Gesetz der Befreiung

Der produktive Konflikt mit Gott

Fünf religiös-säkulare rabbinische Konzepte für eine multireligiöse, pluralistische Gesellschaft

1) Tikkun Olam – Reparatur der Welt | 2) Zelem Elohim – Ebenbild Gottes | 3) Pikuach Nefesch – Lebensrettung geht vor | 4) Die Noachidischen Gebote – der universelle säkulare Rahmen | 5) Dina de-Malchuta Dina – das Gesetz des Staates gilt | Schlussfolgerung

Zum Gebrauch geheiligtOder: Die kultisch-weltliche Spannung des Heiligen im Judentum

Keduscha | Segnen, lobpreisen, heiligen | Heilig und weltlich – kadosch und chol | Diaspora und Heiligung | Aje mekomo? Wo ist die Stätte?

Neue Welten erschaffenJüdische Theologie und wirtschaftliche Modernisierung

„Gleich Gott sein“ | Das Projekt der Moderne | Der theologische Dauerkonflikt mit Gott | Gott in der Wirklichkeit der Wirtschaft | Gott „erwirbt“ Himmel und Erde | Gott als Ko-Schöpfer | Kijum Olam

Schechina und Wirtschaft

Gemeinsamkeiten der jüdischen Diaspora und der sich globalisierenden Wirtschaft

Lob der Globalisierung | Diaspora als transnationale Wirtschaftsrealität | Von Raba bis Ricardo | Die Halacha und die EU – zwei transnationale Rechtslogiken | „Koscher-Stempel“ beziehungsweise „ethische Zertifikate“

Anmerkungen

Verzeichnis der Quellen und hebräischen Begriffe

VorwortZur politischen Theologie des Judentums

Die in diesem Band versammelten sieben Essays zeichnen anhand der Hebräischen Bibel, des rabbinischem Schrifttums (Talmud, Midrasch) und des zeitgenössischen jüdisch-religiösen Denkens wesentliche Aspekte einer politischen Theologie des Judentums in ihrer Aktualität nach. Die Aufsätze sind über mehrere Jahre in unterschiedlichen Kontexten entstanden. In ihrem Zusammenspiel eröffnet sich die besondere theologische Perspektive, die ich als politisch bewusste Rabbinerin einem am Judentum interessierten Publikum nahebringen möchte.

Nach dieser Lesart entsteht die politische Theologie des Judentums aus dem produktiven Konflikt des Menschen mit Gott. Die Tora ist danach keine Schrift, die vom Menschen bedingungslosen Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes verlangt, sondern in der die Menschen in einem Aushandlungsprozess mit Gott immer wieder Räume der weltlich-politischen Gestaltung erringen – einer Gestaltung, die jedoch stets auch an Gott rückgebunden wird. Den rabbinischen Schriften zufolge lässt Gott sich auf die neuen Anforderungen ein. Zwar will er eine theokratische Diktatur – doch will er sie zugleich auch nicht. Deshalb müssen die Menschen mit Gott ringen. Dadurch entsteht ein politischer Raum, durch den erst Gott gestalterisch an der menschlichen Gesellschaft mitzuwirken vermag.

Das jüdisch-rabbinische Schrifttum ist Zeugnis des fortwährenden Ringens und Streitens um die Rückbindung Gottes in die Gestaltung der Welt. Das „Politische“ ist zunächst, aristotelisch verstanden, das Paradigma des Verhandelns und gemeinsamen Entscheidens – hier zunächst mit Gott, gespiegelt im Weiteren in den Handlungen und Gesetzen der Menschen. Das „Politisch-Theologische“ ist die Auffassung von einem Gott, der zum Politischen fähig ist – der also nicht in einer Theokratie seine höchste Wirkung findet, sondern im Aushandlungsprozess mit den Menschen seine Geltung erlangt. Es geht daher um eine Spannungsbeziehung, in der Gott mit den Menschen ringt, aber doch immer wieder neu die Beziehung mit ihnen eingeht – und auch umgekehrt, in der den Menschen immer wieder die Rückbindung an Gott gelingt. Die religiös-politische Herausforderung besteht dabei darin, Gott in die säkularen Lebenswelten einzubeziehen.

Diese jüdische Lesart für eine politische Theologie lässt sich auf vielen, gerade heute relevanten Feldern anwenden – beispielsweise einer politischen Analyse der fünf Bücher Mose, einer Auseinandersetzung mit der rabbinischen Einstellung zu säkularen Entwicklungen, dem Rechtsstaat, der multireligiösen Gesellschaft, ethischen und sozialen Herausforderungen, dem Verhältnis der Religion zu wirtschaftlicher Modernisierung, den Frauenrechten, etc. Alle sieben Aufsätze sind theologische Deutungen, die gleichwohl Bezüge zu den politischen Krisen der Gegenwart enthalten (Demokratie, Globalisierung, Pluralismus, Geschlechterkonflikte usw.).

1)Gott und die Polis. Eine biblisch-politische Deutung

Hier wird, ausgehend von Jeremias Aufforderung: „Betet für das Wohl der Stadt“, das Verhältnis Gottes zur Stadt im Lichte der aristotelischen Vorstellung von „Politik“ analysiert, die sich an der polis, das heißt dem städtischen Gemeinwesen orientiert. Der Aufsatz fokussiert vor allem auf das erste Buch Mose. Der Mensch ringt mit Gott um einen Raum der Autonomie, repräsentiert durch die Stadt. Die verschiedenen problematischen Städte (Kain/Chanoch – Babel – Sodom – die Wüstenstadt Beer Schewa) bilden jeweils Herausforderungen an Gott, die aber in eine „Stadt des Schwures“, Beer Schewa, münden – und damit die Bundestheologie vorformen. Es handelt sich um eine theologische Auslegung des Buches Genesis mit Verweisen auf die moderne politische Philosophie (vor allem Dolf Sternbergers Drei Wurzeln der Politik).

2)Bundestheologie aus der Wüste – und aus den Steppen

Aufbauend auf dem ersten Aufsatz analysiert der zweite die politische Seite der Bundestheologie in der Tora. Eine zentrale Frage für die rabbinisch-politische Tradition ist: Warum wurde die Tora in der Wüste gegeben und nicht im Land Israel? Die klassische Antwort lautet: Um den universalistischen Anspruch der Tora hervorzuheben. Hiervon ausgehend werden das zweite Buch Mose (Exodus) und das vierte Buch (Numeri) kritisch verglichen. Während das zweite Buch im Zeichen eines menschheitlichen Optimismus die Machbarkeit der Freiheit durch den Aufbruch aus der Sklaverei bis zum Bundesschluss am Sinai erzählt, gerät der Optimismus im vierten Buch Mose ins Straucheln. Es ist das Buch der vielfältigen politischen Krisen, die mit der Freiheit einhergehen: Infragestellung der Autorität von Moses und Aaron, Entmachtung der Erstgeborenen und anderer Privilegierter, der populistische Aufstand der Rotte Korach, die immer wieder gestellte Frage der Frauengleichberechtigung, der Status der Nichtjuden und Fremden, etc. Auch in dieser primär theologischen Analyse ergeben sich zahlreiche Anknüpfungspunkte an heutige politische Diskurse.

3)Auf dem Weg zu einer Theologie des Rechtsstaates

Dieser Aufsatz fußt auf den „Noachidischen Geboten“ – dem ethischen Mindeststandard für alle Menschen, vor allem ihrem ersten Gebot, sich ein Rechtswesen zu geben. Er knüpft zugleich an das berühmte rabbinische Diktum Dina de-Malchuta Dina – „das Gesetz des Staates ist das Gesetz“ –, das der talmudische Rechtsgelehrte Samuel im dritten Jahrhundert für die jüdische Diaspora formuliert hat. Es etabliert ein „religiössäkulares Spannungsfeld“, in dem sich die jüdisch-politische Tradition in der Diaspora aus der Spannung zu den Gesetzen der Tora und zugleich ihrer Bindung an diese entwickelt hat. Gerade diese Problematik ist eine Inspiration für heutige Auseinandersetzungen über den Primat des demokratischen Rechtsstaates und zugleich über die Frage, welchen Status religiöse Rechtsauffassungen darin haben können.

4)Der produktive Konflikt mit Gott.

Fünf religiös-säkulare Konzepte

Hier wird die jüdische Gegenwartstheologie als produktiver Konflikt dargestellt. Gott will zwar Theokratie. Doch Menschen entwickeln Autonomie und „korrigieren“ die Gesetze Gottes. Das heutige Judentum kennt eine Reihe religiös-säkularer Konzepte, die den Konflikt mit Gott eingehen, um allgemeinen ethischen Vorstellungen entsprechen zu können. Interessanterweise sind diese Konzepte uralt, so alt wie die jüdische Tradition selbst und reichen in die einstigen talmudischen Debatten zurück. Es geht um

— Tikkun Olam (wörtlich „Korrektur“ oder „Reparatur der Welt“), das in der jüdischen Tradition an die Stelle messianischer Heilserwartungen getreten ist. Heute bedeutet Tikkun Olam vor allem soziales Engagement.

— Zelem Elohim („Ebenbildlichkeit Gottes“ als Menschenwürde verstanden, die durchaus im kritischen Konflikt mit Gott steht);

— Pikuach Nefesch („Das Leben hat Vorrang“), das eine moderne jüdische Medizinethik ermöglicht;

— Noachidische Gebote (universeller menschheitlich-säkularer Rahmen);

— Dina de-Malchuta Dina (Primat des Rechtsstaates).

5)Zum Gebrauch geheiligt.

Oder: Die kultisch-weltliche Spannung im Judentum

In diesem Text wird die besondere jüdische Auffassung vom „Heiligen“ und dem Akt der „Heiligung“ thematisiert. Anders als oft angenommen, bedeutet kadosch nicht separiert, getrennt – sondern gewidmet, geweiht, damit das Geheiligte Verwendung findet. Der Wein wird geheiligt, nicht, um getrennt von den Menschen zu sein, sondern um getrunken zu werden (mit einer heilsgeschichtlichen Einstellung natürlich). Thematisiert wird die kultisch-säkulare Spannung in den jüdischen Ritualen. Zwar werden die Dinge durch Heiligung rituell gewidmet, jedoch um in dieser Welt Verwendung zu finden.

6)Neue Welten erschaffen.

Jüdische Theologie und wirtschaftliche Modernisierung

In diesem Aufsatz zeichne ich das Spannungsverhältnis zwischen Gott und dem wirtschaftlich kreativen Menschen nach. Schon die rabbinische Exegese sieht in dem „Gott-gleich-Werden“ der Menschen, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, die menschliche Fähigkeit, „neue Welten erschaffen zu können“. So wird der Mensch immer weniger Ko-Schöpfer Gottes. Vielmehr sieht es in der modernen Gesellschaft aus, als sei der Mensch Schöpfer immer neuer Welten und als könne Gott gerade noch Ko-Schöpfer sein. Wie gestaltet sich die Rückbindung an Gott als Ko-Schöpfer in einer Welt fortschreitender wirtschaftlicher Modernisierung?

7)Schechina und Wirtschaft.

Gemeinsamkeiten der jüdischen Diaspora und der sich globalisierenden Wirtschaft

Die jüdische Erfahrung der Diaspora, das heißt einer dezentralen, durch alle Länder verstreuten und doch durch eine gemeinsame Rechtstradition zusammengehaltenen Lebensform, ist als Inspiration für das Thema „Globalisierung“ noch viel zu wenig erkannt worden. Gar manche der wirtschaftlichen und sozialen, aber auch der rechtlichen Problematiken sind in der jüdischen Tradition bereits erkannt und auf eigene Weise verarbeitet worden. So ist nicht zuletzt der koscher-Stempel vergleichbar mit heutigen Zertifikaten, die ethische Standards im globalen Handel durchsetzen wollen. Der Aufsatz unternimmt darüber hinaus einen Vergleich der transnationalen jüdischen Rechtstradition mit der transnationalen Rechtslogik der Europäischen Union.

Die historische und die politisch-theologische Erkenntnis, dass die Entwicklung zu rechtsstaatlichen und pluralistischen Gesellschaften in starkem Maße gerade auch dem Judentum entstammt und über säkulare Wege unser heutiges westliches Denken prägt, kommt erst allmählich zu Bewusstsein. Tatsächlich ist Europa jüdischer als die meisten wissen. Dieser Band eröffnet ein Spektrum unseres jüdischpolitischen Erbes.

Elisa Klapheck

Juni 2022

Gott und die Polis

Eine biblisch-politische Deutung

Die hebräische polis

Das Wort Politik leitet sich bekanntlich vom griechischen Wort polis ab – die Stadt. Die polis als eine zivilisationshistorisch entstandene, besser: von Menschen geschaffene Form des Zusammenlebens mit einem ganz eigenen politischen Selbstverständnis, findet sich allerdings auch in der Hebräischen Bibel.1 So steht im Buch Jeremia der verblüffend „politische“ Satz:

„Sucht das Wohl der Stadt, dahin ich euch weggeführt habe, und betet um sie zu dem Ewigen; denn in ihrem Wohle wird euch wohl sein.“ (Jer. 29, 7. Hervorhebungen hier und in den folgenden Zitaten von mir, E.K.)

Jeremias Aufforderung, sich in der babylonischen Verbannung einzurichten, wird zumeist im Kontext einer Rechtfertigung des Exils, beziehungsweise einer Strafe Gottes verstanden. Jerusalem war im Jahre 586 v. Z. von der Armee Nebukadnezars besiegt, der Tempel zerstört und große Teile der Bevölkerung Judäas nach Babylonien deportiert worden. Vom Propheten Jeremia erhofften sich die Exilanten eine von Gott offenbarte Aussicht auf baldige Rückkehr. Doch Jeremia reagierte mit einer ganz anderen Auffassung. Hier die ganze Textstelle:

„So spricht der Ewige der Heerscharen, Gott Israels, zu all den Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel weggeführt. Baut Häuser und bewohnt sie, und pflanzt Gärten und esst ihre Frucht. Nehmt Frauen und zeugt Söhne und Töchter und nehmt für eure Söhne Frauen und eure Töchter gebt Männern, dass sie gebären Söhne und Töchter, und mehrt euch dort und vermindert euch nicht. Und sucht das Wohl der Stadt, dahin ich euch weggeführt habe, und betet um sie zu dem Ewigen; denn in ihrem Wohle (bi-schloma) wird euch wohl sein.“ (Jer. 29, 4–7)

In dem letzten Satz, dem Aufruf, für das Wohl der Stadt zu „beten“, kündigt sich ein Mehr an. Es ist, wie ich in diesem Aufsatz darlegen will, ein theologisches Mehr, das den Leserinnen und Lesern noch gar nicht als mögliche politische Botschaft in der Hebräischen Bibel aufgefallen sein mag: die Bedeutung der Stadt für eine jüdisch-politische Theologie.

Bis dahin verstand sich das Exil in den Prophetenschriften als eine Strafe Gottes – eine negative Existenzform, die man nur durch Rückkehr in das eigene Land hinter sich lassen konnte. Doch in Jeremias Worten scheint eine neue Option auf. Das „Wohl der Stadt“ erscheint hier als ein neuer, in Zukunft zu beschreitender jüdischer Weg. Jeremias Worte verweisen dabei auf ein allgemeines Wohl, das Juden mit anderen Stadtbewohnern teilen werden: „denn in ihrem Wohle“, das heißt dem allgemeinen Wohl, „wird euch wohl sein“. Die Vorstellung birgt die Vision eines gedeihlichen urbanen Zusammenlebens von Menschen, unter denen Juden nur eine Gruppe unter anderen bilden.

Dolf Sternberger, Schüler von Karl Jaspers und Freund von Hannah Arendt, hat in seinem großartigen Werk Drei Wurzeln der Politik die grundsätzlichen Formen der Politik herausgearbeitet.2 Als einer der maßgeblichen politischen Publizisten, der nach der NS-Diktatur die demokratische Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland u.a. mit dem Begriff „Verfassungspatriotismus“ prägte, bietet Sternberger in Drei Wurzeln der Demokratie ein geistiges Instrumentarium, mit dem „Politik“ von anderen Formen der Machtausübung abgegrenzt werden soll. Heute, da die Demokratie in den westlichen Staaten erneut in Gefahr scheint, erweist sich Sternbergers Buch als sehr aktuell. Was ist „Politik“, was ist „politisch“? Nicht jede Form der Machtausübung verdient, „politisch“ genannt zu werden. Ein autokratischer Machthaber, eine populistische Regierungspartei, die den Rechtsstaat aushöhlt, eine Diktatur gar – sind gerade nicht „politisch“. Sie intendieren vielmehr die Vernichtung des Politischen.

Anhand der aristotelischen Definition von „Politik“3 schärft Sternberger den Unterschied zwischen „Regieren“ und „Herrschen“. Er übersetzt polis nicht nur mit „Stadt“, sondern auch mit „Bürgerschaft“ – beziehungsweise „politisch“ mit „bürgerschaftlich“. „Politisch“ ist die Regierungsform, in der Regierung und Regierte dieselben sind. Der aristotelischen Definition folgend ist für eine „politische“ Regierungsform kennzeichnend, dass jeder Regierte potentiell Regierender sein kann. Die polis ist danach die sich selbst regierende Stadt, in der die Bürger die Verantwortung für die Regierungsgeschäfte selber tragen. Bei dieser Regierungsform wird die Herrschaft von mehreren (und nicht einem Einzelnen) ausgeübt, die Regierenden werden gewählt, sie sind an das Recht gebunden und sie regieren nur für eine begrenzte Zeit, es gilt das Prinzip einer milden Gerichtsbarkeit, den Entscheidungen geht ein starkes Maß an Beratung und Abwägung voraus, die Amtsführung der Regierenden wird durch die Bürger kontrolliert – und: Sie ist eine Regierungsform, die sich besser für Städte als für Länder oder Reiche eignet.4

Wie lässt sich die politische Theologie der Hebräischen Bibel an der aristotelischen Auffassung von der polis und der „Politik“ messen? Auch die Hebräische Bibel enthält einen unschätzbaren Anteil an der Geschichte der politischen Ideen – vor allem durch Motive wie den Bundesschluss am Berg Sinai als Blaupause für den Gesellschaftsvertrag oder die messianische Hoffnung als gesellschaftlichen Anspruch auf eine bessere Zukunft, um nur einige der prägnantesten Ideen mit politischem Potential zu nennen.5 Zwar kennt die Tora selbst das Wort „politisch“ nicht. Ihr Thema ist der monotheistische Gott in Verbindung mit der Geschichte Israels als Genese der konfliktvollen Mensch-Gott-Beziehung. Gleichwohl findet in den Konflikten Gottes mit den Menschen auch eine immanente Auseinandersetzung mit dem Politischen statt.

Ein Wort zur politischen Theologie: Bei einer „theologischen“ Auseinandersetzung bildet nicht das Verhalten der Menschen untereinander, sondern die Mensch-Gott-Beziehung den Ausgangspunkt – im Unterschied zur politischen Philosophie, die auf eine Referenz an Gott verzichten und sich allein den Menschen zuwenden kann. Meine Sichtweise ist eine „theologische“, was bedeutet, dass die Orientierung auf Gott bzw. auf ein Höheres vorausgesetzt wird, um den über die einzelnen Menschen hinausgehenden Maßstab bestimmen zu können, durch den sich das Politische – durchaus im aristotelischen Sinn – unter den Menschen entfalten kann. Damit will ich eine jüdisch-politische Lesart der Hebräischen Bibel entfalten. Es wird sich zeigen, dass ein „göttlicher“ Maßstab nicht von vornherein in der Bibel gegeben ist, sondern dieser für Gott nur in der Beziehung mit Menschen ermittelbar wird. Die Herausbildung des Politischen spielt hierbei eine wesentliche Rolle. Das ist von der Tora her, den „Fünf Büchern Mose“, mit denen die Hebräische Bibel beginnt, erkannt. Und zwar von Anfang an. Das gesamte erste Buch, das Buch Genesis/Bereschit lässt sich als eine Auseinandersetzung mit dem politischen Anspruch der Menschen lesen und wie sich dieser auf die Genese der Mensch-Gott-Beziehung auswirkt – beziehungsweise wie von Gott her der Maßstab für das Politische sukzessive in den ersten Geschichten der Bibel zum Ausdruck kommt. Im Verlauf dieses Aufsatzes werde ich ausgehend von den ersten Geschichten der Bibel die politische Theologie in einem aristotelischen, aber auch in einem jüdischen Sinn nachzeichnen. Ich werde Dolf Sternbergers aristotelischem Fokus auf die polis folgen und nach der Bedeutung der Stadt für den politischen Gehalt der werdenden Mensch-Gott-Beziehung fragen. Ich verspreche mir davon einen explizit politischen, wenngleich jedoch andere Schwerpunkte setzenden jüdischen Beitrag, der die Geschichte der politischen Ideen ebenfalls bis auf den heutigen Tag prägt.

Gott – ein despotischer König?

Aristoteles spricht in der Politik von zwei Formen der Herrschaft: „politische“ Herrschaft und „despotische“ Herrschaft.6 Das Urmodell des Despoten sei der „Vater“, der „Herr des Hauses“ (oikos), dem alle anderen Mitglieder (die Ehefrau, die Kinder und die Sklaven) untergeordnet sind. Die höchste Stufe dieser Herrschaftsform ist der „König“ – der „Landesvater“. Im Unterschied zur bürgerschaftlichen Regierung in der polis ist die Regierungszeit eines Königs (und ebenso des Vaters) nicht zeitlich beschränkt. Der König und seine Untertanen sind gerade nicht dieselben! Der König wird nicht notwendig durch eine Wahl eingesetzt, auch sind seine Entscheidungen nicht notwendig an ein vorheriges Beratungsverfahren gebunden. Ein despotischer Herrscher kann durchaus ein gnadenvoller und gerechter König sein – ebenso ein gütiger und vergebender Vater. Aber niemals entsteht in der Gnade, Güte oder Vergebung ein Verhältnis auf Augenhöhe.

Die Unterscheidung zwischen „politischer“ und „despotischer“ Machtausübung ist heute wieder wichtig, um Pervertierungen der Politik, die auf ihre Selbstaushöhlung hinwirken, beizeiten zu erkennen und entgegenwirken zu können. Sternberger erinnert auf der Grundlage von Aristoteles daran, dass jede gute Regierungsform ihr negatives Gegenbild hat. Ein Despot kann ein gnädiger König sein. Potentiell ist er aber auch ein Tyrann. Ebenso hat auch das politische, bürgerschaftliche Regieren sein negatives Zerrbild, wenn sich politisch in „opportun“, „intrigant“ oder „zynisch“ verkehrt.

Zurück zu Jeremia: Dass er vom Wohl der „Stadt“ redet und nicht vom Wohl eines „Königreiches“ ist etwas, worüber man beim Lesen stolpern mag. Ist es nur ein Zufall, dass Jeremia vom Wohl „der Stadt“ spricht und nicht vom Wohl „des Königreichs“? Gemäß der biblischen Vorstellung bedeutete die Exilierung der Juden eine von Gott verhängte Strafe und war Babylonien von Gott nur bestimmt worden, diese auszuführen. Gleichwohl zeigt die Hebräische Bibel sehr wohl ein Bewusstsein für den Unterschied zwischen einer Politeia und einer Monarchie, einer Stadt und einem Königreich. Das zeigt sich an einer anderen Formulierung, die der von Jeremia ähnelt, aber gerade in diesem Punkt exakt den anderen Akzent setzt und in den Unterschied weist. Jeremia hatte zu Beginn des babylonischen Exils die exilierten Juden aufgefordert, für das Wohl der Stadt zu beten. Jahrzehnte später gibt der persische Herrscher Darius den Juden die Erlaubnis, nach Jerusalem zurückzukehren und dort den Tempel wieder aufzubauen:

„Damit sie darbringen Wohlgerüche dem Gotte des Himmels, und beten für das Leben des Königs und seiner Söhne.“ (Esra 6, 10)

Darius verlangt kein Gebet für die Stadt, sondern für ihn und seine Söhne, das heißt für seine Monarchie. König Darius’ Herrschaftsform, die unumschränkte Macht, die er im Königreich Persien ausübte, ist sicherlich nicht das, was wir heute, ob als Jüdinnen und Juden, ob als Angehörige einer anderen Religion, als ein religiöses Gut hochhalten würden. Eher spricht uns die bürgerschaftliche Andeutung Jeremias an, die Rabban Gamliel in den rabbinischen Sprüchen der Väter sogar als eine heilige Aufgabe ansieht:

„Alle, die sich mit öffentlichen Angelegenheiten befassen, sollen es für den Himmel tun“ (M Awot 2, 2)

Bleiben wir noch bei Jeremia: Er sagte den jüdischen Exilanten, dass das Leben in der Diaspora, in Städten, in denen Juden nur eine Minderheit bilden, zur neuen Lebensform geworden sei. Die alte Welt des Königreichs Judäa war untergegangen. Zwar wurde das als Strafe Gottes verstanden. Aber in Jeremias Worten spricht Gott, als gehe es auch um eine Neugründung der Welt:

„So spricht der Ewige der Heerscharen, Gott Israels, zu all den Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel weggeführt. Baut Häuser und bewohnt sie, und pflanzt Gärten und esst ihre Frucht. Nehmt Frauen und zeugt Söhne und Töchter und nehmt für eure Söhne Frauen und eure Töchter gebt Männern, dass sie gebären Söhne und Töchter, und mehrt euch dort und vermindert euch nicht.“ (Jer. 29, 4–6)

Bis hierhin klingt es ähnlich wie die einstmalige Aufforderung an Adam und Eva im Garten Eden: „Seid fruchtbar und mehret euch“. Doch statt der alten Perspektive „und macht euch die Erde untertan“, richtet sich die neue Perspektive der Häuser, Gärten und Familien auf eine neue Lebensform, die aber gerade nicht auf Herrschaft und Unterwerfung hinausläuft. In einer bürgerschaftlichen Stadt herrscht vielmehr die Aussicht auf gemeinsame Teilhabe an der Macht und auf die Möglichkeit einer Mitgestaltung der allgemeinen Angelegenheiten.

Michael Walzer hat in seiner politischen Analyse der Machtstrukturen in der Hebräischen Bibel hervorgehoben, dass sich die Aussagen der großen Schriftpropheten zumeist im Zusammenhang der Königsherrschaft verstehen.7 Propheten wie Amos und Jesaja traten als Kritiker des jeweiligen Königs auf. Das gilt in besonderem Maße auch für den Propheten Jeremia, der überdies erlebte, wie das Königreich Judäa von Babylonien zerstört wurde. Liegt darin der Grund für die neue Sicht?

Nach dem biblischen Zeugnis gehörte Jeremia einer Familie an, die ursprünglich im Nordreich Israel gelebt hatte, jedoch bei dessen Zerschlagung durch Assyrien ins südliche Königreich Judäa geflüchtet war.8 In Jerusalem erlebte Jeremia nunmehr das Déjà-vu der Belagerung durch ein anderes Großreich, Babylonien, sowie den Fall von Jerusalem mit anschließendem Weg ins Exil. Die Hebräische Bibel beschreibt ausführlich in den zwei Königsbüchern, wie beide Königsdynastien scheiterten – sowohl des Nordreichs Israel als auch des Südreichs Judäa. Doch nun, da auch die Oberschicht Judäas ins Exil gehen musste, spricht Jeremia nicht von einem Untergang, sondern von einer neuen Option – dem Wohl der polis.

Aber wie verhält sich das zum „König aller Könige“? Manche Leserinnen und Leser mögen schon oben ein Unbehagen verspürt haben. Sie mögen bei den Ausführungen zur „despotischen“ Herrschaft weniger an die assyrischen, babylonischen oder persischen Herrscher in der Antike gedacht haben als an den einen Gott – jenen Gott, der in der jüdischen und christlichen Liturgie auch als „der Herr“, als „der Vater“ oder als „der König“ – ja sogar als „der König aller Könige“ bezeichnet wird! Wie schon gesagt ist der „Vater“ bei Aristoteles’ Definition von Machtausübung das Urbild des „Königs“. Vater und König hängen zusammen. Der König ist der Landesvater. Der Familienvater ist nur der König in der kleinsten Einheit – dem oikos, dem Hausstand, dem die Ehefrau, die Kinder und die Sklaven angehören. Er ist der Herr des Hauses, der darüber die Herrschaft ausübt.9

Im Christentum haben wir das Vaterunser – im Judentum ist es das Awinu malkejnu („Unser Vater, unser König“), jene Anrede, mit der jedes Jahr an den jüdischen Hohen Feiertagen, die im Zeichen der Umkehr, der Teschuwa, stehen, die Mensch-Gott-Beziehung wiederhergestellt wird. Haben wir es in der jüdischen Religion also mit einem antipolitischen – einem despotischen Gott zu tun? Die Antwort hierauf ist: Ja – aber es bleibt nicht dabei.

Im Talmud, dem großen rabbinischen Werk der Spätantike, das die jüdische Tradition bis heute fundiert, erkennen wir den Wandel, den Gott in der Auseinandersetzung mit seinem Volk untergehen musste. Die Rabbinen bezeugen dabei ein tiefes Wissen um den despotischen Ursprung Gottes, aber sie gestalten die Mensch-Gott-Beziehung dahingehend, dass Gott vom despotischen Tyrannen zum politischen Partner der Menschen wird. Das besagt zum Beispiel die berühmte Textstelle, in der Gott betet, seinen despotischen Zorn zu überwinden und sich barmherzig innerhalb einer milden Gesetzesausübung zu verhalten.

„Woher wird abgeleitet, dass der Heilige, er ist gesegnet, betet? – es heißt: ‚Ich werde sie nach meinem heiligen Berge bringen und sie in meinem Bethause erfreuen.‘ (Jes. 56, 7)10 Es heißt nicht ‚ihrem Bethause‘, sondern ‚meinem Bethause‘, woraus zu entnehmen, dass der Heilige, er ist gesegnet, betet. – Was betet er? R. Zutra b. Tobia erwiderte im Namen Rabhs: Es möge mein Wille sein, dass meine Barmherzigkeit meinen Zorn bezwinge, dass meine Barmherzigkeit sich über meine Eigenschaften wälze, dass ich mit meinen Kindern nach der Eigenschaft der Barmherzigkeit verfahre und ihrethalben innerhalb der Rechtslinie (milde Gesetzesausübung) trete.“11 (BT Brachot 7a)

Die auf den ersten Blick nur scheinbar schönen Vorstellungen vom liebenden Vater und barmherzigen König dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die jüdische Tradition genau um die Bedeutung der Despotie weiß und den Tyrannen kennt, der sich bisweilen auch in Gott offenbart hat – wenn „sein Zorn“ durchbricht. Ebenso weiß die jüdische Tradition, dass sich Gott „innerhalb der Rechtslinie“ verhalten und eine milde Gesetzesausübung walten lassen kann (eines der oben genannten aristotelischen Kriterien für politische Machtausübung).

In der Hebräischen Bibel zeigt jedoch nicht erst der Prophet Jeremia ein Bewusstsein für die politische Option jüdischen Lebens und zwar genau im Sinne einer Teilhabe an einem städtischen, multi-ethnischen, multi-religiösen Gemeinwesen. Die Idee der Stadt als Ort des Politischen, wie ihn Jeremia andeutet, hat vielmehr einen langen biblischen Vorauf, der bis in die Urgeschichten des Buches Genesis zurückgeht. Davon unten mehr. Bei Jeremia macht die politische Option längst Teil einer göttlichen Offenbarung aus. Später wird im Talmud darüber gestritten, ob Gott die Institution eines israelitischen Königshauses überhaupt gut gefunden habe.12 Die beiden einschlägigen Stellen in der Hebräischen Bibel hinterlassen ein ambivalentes Bild. Im 1. Buch Samuel, als das Volk einen König über sich wünscht, wird dies als Affront gegen Gott gewertet. Im Buch Deuternomomium wird zwar ein „Königsgesetz“ aufgeführt, dass aber die Privilegien des Königs stark einschränkt und ihn vor allem unter das Gesetz stellt.

Der israelische Politologe Daniel J. Elazar hat am biblischen Begriff kahal (Gemeinschaft) aufgezeigt, dass bereits die Tora selbst einen hebräischen Begriff der polis besitzt, diesen aber mit der Idee des Bundes verknüpft.13 Das bedeutet, dass aus Sicht der jüdischen Tradition die polis ein religiöses, ein religiös-politisches Potential enthält, das sich in der „Gemeinschaft“ verwirklicht. Diejenigen, die das jüdische Exil weniger als Strafe Gottes, sondern als die nunmehr vorherrschende diasporische Lebensform des jüdischen Volkes als Gemeinschaft verstehen, können Jeremias Aussage auch als einen neuen Auftrag lesen: Das unter den Völkern lebende jüdische Volk soll eben dieses religiöspolitische Potential „dort“ verwirklichen. Es soll dort, also in jeder Stadt, in der Juden und Jüdinnen leben werden, geschehen und gerade nicht in einem Land, in dem man von einem jüdischen König, einem jüdischen Despoten, beherrscht wird.

Übrigens weiß die Hebräische Bibel nur sehr wenig von einem Gott als „Vater“. Diese Bezeichnung ist erst spät in die religiöse Sprache eingetreten. Als Bezeichnung Gottes kommt sie in der Hebräischen Bibel insgesamt nur 17 Mal (!) vor.14 Die Dominanz der Gottvater-Vorstellung entstammt verstärkt dem Neuen Testament. Allein in den vier Evangelien wird Gott rund 170 Mal als Vater bezeichnet. Das Paradigma der christlichen Gottvater-Sohnesschaft macht es heute zusätzlich schwer, die religiös-politische Problematik dieser Figur aufzulösen. Auch nur ganze drei Mal (!), an eher poetisch gestimmten Stellen, wird Gott in der Tora als „König“ bezeichnet. Der Bibelwissenschaftler Israel Knohl sagt sogar, dass die Tora das Konzept einer „Gottkönigschaft“ unterdrückt.15 Das jährliche Schofarblasen am Neujahrsfest sei das Relikt eines Inthronisierungsrituals, wobei es bezeichnender Weise die Menschen sind, die in diesem Ritual Gott als ihren König inthronisieren – und nicht er selbst bereits König ist. Es wird auch viel seltener, als man denkt, Gott von den biblischen Protagonisten als „Herr“ angesprochen. Die Übersetzungen täuschen. Mit „HERR“ wird lediglich das Tetragramm überdeckt.

Nicht nur wegen der dahinter liegenden patriarchalischen Vorstellung, sondern vor allem wegen der politischen Problematik sind heute alle drei Bezeichnungen – Herr-Vater-König – unangemessen, zumal sie von der Hebräischen Bibel nicht zwingend vorgegeben sind. Vielmehr hat Gott in den prägnanten Geschichten der Bibel ganz verschiedene Namen. So bieten schon die Gottesnamen in den zwei ersten Kapiteln, den beiden Schöpfungserzählungen, gerade auch philosophisch gesehen ganz unterschiedliche Möglichkeiten, die nichts mit Herr oder König zu tun haben. Elohim – aufgebaut aus El / „Gott“ – jedoch durch das endende -im ein Plural und einem Heiligkeit bedeutenden h in der Mitte, weist in die göttliche Vielfalt des einen Gottes. Das Tetragramm JHWH, ein Konstrukt aus den hebräischen Zeitwörtern jehi, howe, haja /„es wird, es ist, es war“ – bezeichnet ein Immerwährendes, das sich von jehi, dem (messianisch) Zukünftigen her bildet und von dorther in das Vergangene haja reicht. Allein diese beiden Namen bieten vielfältigere und gerade heute religiös-politisch hilfreichere Zugänge zu einem Verständnis von Gott, als die inadäquate Einschränkung auf „der Herr“, respektive „Vater“ oder „König“, die alle drei nach der aristotelischen Philosophie den „Despoten“ bezeichnen.

Jedenfalls legt sich die Hebräische Bibel Gott nicht auf einen despotischen Schöpfergott fest. Sie schreibt vielmehr eine „Geschichte Gottes“ in seiner sich zum Menschen entwickelnden Beziehung. Diese ist auch eine Beziehung eines immer neuen Aushandelns. Die Reziprozität, in der die Wirklichkeit der Mensch-Gott-Beziehung immer neu ausgehandelt wird, ist unbedingt in den biblischen Geschichten zu erkennen. In der jüdischen Liturgie drückt sich die Reziprozität beispielsweise im hebräischen Wort kone aus – „erwerben“. Gott, „der Himmel und Erde“ erwirbt – kone schamajim wa-arez.16 So in der ersten Segnung des Fürbitten-Gebets.

„Gesegnet bist du, Ewiger17, unser Gott und Gott unserer Vorfahren, […] der große, der mächtige, der gefürchtete Gott, höchster Gott, der Himmel und Erde erwirbt.“18

Die Formulierung entstammt der Begegnung Abrahams mit Malki Zedek (Gen. 14, 19) und wurde in die jüdische Liturgie aufgenommen. Leider drängen die deutschen Übersetzungen die Aussage zumeist zurück.19 Oft heißt es „dem Himmel und Erde gehören“, was eine „Herrschaft“ Gottes untermauern soll. In manchen Gebetbüchern ist immerhin die Rede von „der Himmel und Erde eignet“.20 Aber wie werden Himmel und Erde zu Gottes Eigentum? Die Rabbinen meinten durch den Schöpfungsakt. Durch die Erschaffung habe Gott die Welt zu seinem Eigentum „erworben“.21 Unten werden wir jedoch sehen, dass die Rabbinen auch den Menschen – seit dem Essen vom Baum der Erkenntnis – zutrauten, neue Welten zu erschaffen. Die Folge davon wäre, dass Gott die neuen Erschaffungen der Menschen, das heißt die sich verändernde Realität ebenfalls immer wieder neu eignen muss.

„Erwerben“ oder auch „eignen“ ist nicht schon gleichbedeutend mit „herrschen“. Das hebräische Wort kone bedeutet auch „kaufen“. Ob aufgeschrieben oder vorausgesetzt, jeder Kauf enthält einen impliziten Vertrag, an den sich zwei Parteien binden. „Erwerben“ kann jedoch auch eine immaterielle Aneignung sein. Als religiös verstandene Handlung zur Herstellung einer gegenseitigen Beziehung kehrt das Motiv des Erwerbens immer wieder in den rabbinischen Schriften zurück. Ein berühmtes Beispiel steht in den Sprüchen der Väter:

„Jehoschua, Sohn des Perachja, sagt: Mache dir einen Lehrer, erwirb dir einen Freund und beurteile jeden Menschen zum Guten.“ (M Awot 1, 6)

In der religiösen Mensch-Gott-Beziehung erwerben sich Gott und Mensch gegenseitig. Beide tun ihren Part. In einer Beziehung, in der man sich gegenseitig erwirbt, verlangt die Reziprozität ein sich gegenseitiges Gerechtwerden, was wiederum ein gegenseitiges Kennenlernen und Wertschätzen der anderen Seite voraussetzt. Vom Menschen aus und von Gott aus. In dieser potentiellen Wechselseitigkeit entstehen in der Hebräischen Bibel Rechtsformen, die der jüdischen Vorstellung von der Mensch-Gott-Beziehung als einer Rechtstradition zugrunde liegen. Indem Gott Himmel und Erde erwirbt, wird er zum (Rechts-)Partner der Menschen. In der rabbinischen Exegese ist sogar davon die Rede, dass Gott, nachdem Eva und Adam vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, mit ihnen die neue Situation „verhandelt“ (nassa we-natan).22

Wie beschreibt die Tora die Entwicklung, in der Gott politisch wird? Wie wird aus dem unbändigen Despoten ein Gott, der mit seinen menschlichen Partnern einen heiligen Rechtsmaßstab herausbildet? Bezeichnenderweise geschieht das durch die Erschaffung eines politischen Gebildes, das Gott erwerben wird, beziehungsweise durch das Gott politisch wird. Die Stadt.

Die Schöpfung und die Stadt

Bevor wir uns den mythischen Urstädten im Buch Genesis zuwenden und damit eine biblische Vorstellung von der sich herausbildenden polis gewinnen, richten wir zunächst den Blick auf die Herausbildung eines autonomen geistigen Raums der beiden Urmenschen Adam und Eva. Dabei zeigt sich, dass die Geschichte der werdenden polis in der Bibel von einem Weiblichen ausgeht – Eva. Sie lässt sich im dritten Kapitel des Buches Genesis von der Schlange ansprechen. Sie isst vom Baum der Erkenntnis, ihr gehen die Augen auf (pikuach ejnajim), sie beginnt zu verstehen. Sie überzeugt Adam, ihrem Schritt zu folgen. So entsteht bereits im Paradies, durch die Möglichkeit zu erkennen und zu unterscheiden, ein erster Raum der Freiheit. Das Verhältnis zwischen Mensch und Gott wandelt sich in eine Beziehung, in der die Menschen eine eigene Stimme gegenüber Gott erwerben. Es ist die Geschichte der Selbstermächtigung der Menschen innerhalb der Mensch-Gott-Beziehung. Sie ist damit zugleich die Geschichte Gottes, der sich angesichts der Selbstermächtigung der Menschen ebenfalls neu auf die Menschen bezieht. Und zwar von Anfang an. Es ist zu betonen, dass die Geschichte der sich fortsetzenden Mensch-Gott-Beziehung als eine produktive Konflikt-Beziehung zu lesen ist, aber nicht als die eines Bruchs. Erst von jetzt an werden die Menschen zum (kritischen) Gegenüber für Gott. In der biblischen Darstellung sagt die Schlange zu Eva:

„Ihr werdet nicht des Todes sterben. Sondern Gott weiß, dass welches Tages ihr davon esset, werden aufgetan eure Augen, und ihr werdet, gleich Gott (ke-Elohim) sein, erkennend Gutes und Böses.“ (Gen. 3, 4–5)

Der rabbinische Kommentar von Raschi erläutert zu „gleich Gott“:

„‚Ihr werdet gleich Gott sein‘ – Schöpfer von Welten.“23

Das bedeutet im rabbinischen Verständnis: Mit dem Genuss der Erkenntnis werden Menschen fähig, neue Welten zu erschaffen. Im biblischen Bericht bestätigt Gott die eingetretene neue Situation und fürchtet, dass sich die Menschen fortan für Gott ebenbürtig halten:

„Siehe, der Mensch ist geworden, wie einer von uns, zu erkennen Gutes und Böses; und nun, dass er nicht strecke seine Hand und nehme auch vom Baume des Lebens und esse und lebe auf ewig!“ (Gen. 3, 22)

Die Bibel lässt darum Adam und Eva aus dem Paradies vertreiben. Aber die Fähigkeit, nunmehr Welten zu erschaffen, bleibt den Menschen erhalten. Nicht nur hat Eva den ersten Schritt der menschlichen Selbstermächtigung im Paradies getan. Sie bringt auch den ersten Städtebauer, nämlich Kain zur Welt.

„Und Adam erkannte (jada) Eva, sein Weib, und sie wurde schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe mir erworben (kaniti) einen Mann (isch) vom Ewigen.“ (Gen. 4, 1–2)

Allein schon sprachlich fällt Evas Rolle auf. Adam „erkennt“ Eva. Es ist das mit dem Baum der Erkenntnis assoziierte Wort jada, mit dem auch das miteinander Sex Machen ausgedrückt ist. Bei der Aufzählung der Generationen gebraucht die Bibel an anderen Stellen fast durchgängig das Verb „zeugen“ (holid). Der Vater XY „zeugte“ den Sohn XY. Aber hier, am Anfang der Genealogie der Menschheit, „erkennt“ Adam seine Frau Eva. Im antiken Verständnis bedeutete das Wort „erkennen“ (j-d-a), eine intime und verlässliche Paar-Beziehung mit Rechtsgeltung einzugehen.24 Erkennen, die Fähigkeit einen anderen Menschen in seiner oder ihrer Andersheit zu ermessen, ist der biblische Modus, in dem Eva schwanger wird und einen Sohn auf die Welt bringt. Sie nennt ihn „Kain“ – was von kone /„erwerben“ abgeleitet ist.

„Ich habe mir erworben (kaniti) einen Mann (isch) vom Ewigen.“ (Gen. 4, 2)

Erkennen und erwerben – die zwei verschiedenen Aspekte treten zunehmend in Distanz zueinander – das Gegenteil einer Symbiose. Die Menschen sind im Prozess des Erwerbens – der distanzierenden Gewahrung – und parallel gerät auch Gott in den Prozess des Erwerbens. Während Adam noch im Paradies, unmittelbar nach der Erschaffung Evas gesagt hatte, sie sei „Fleisch von meinem Fleisch“ – die Frau also als identisch mit ihm selbst wahrnimmt – klingt bei Eva das Bewusstsein für den Anderen im Namen ihres Sohnes an. Kain, das männliche Kind, ist ein Anderer, der gerade nicht identisch mit seiner Mutter ist. „Vom Ewigen“, so die kryptische Formulierung, hat Eva einen von ihr verschiedenen Menschen erschaffen und erwerben können. Sie sieht in Kain, dem von ihr geborenen männlichen Kind, nicht eine Erweiterung ihrer selbst. Sie sieht den Anderen – die Voraussetzung des Politischen. Keine Identität, sondern Verschiedenheit, Andersheit, Vielheit.25 Verschiedenheit, um durch Politik zu Aushandlungen und Lösungen zu gelangen. In der Bibel entsteht die Verschiedenheit „vom Ewigen“, also von Gott her, so zumindest in den Worten Evas. Bereits hier wird deutlich, dass die Verschiedenheit der Menschen mit Gott zu tun hat und das Ebenbild Gottes keine Gleichheit meint.

Doch schon bei der ersten Probe aufs Exempel führt die von Gott herrührende Verschiedenheit zwischen den Menschen in die Katastrophe. Eva gebiert noch einen zweiten Sohn – Abel. Der wird Schafhirte. Kain ist Ackerbauer. Beide Brüder bringen Gott von ihren Erträgen dar. Kain gibt von der Frucht des Bodens, Abel von den Erstlingen seiner Schafe. Gott nimmt jedoch nur die Gabe von Abel an. Kain wird zum ersten (Bruder-)Mörder. (Gen. 4, 3 ff.) Es gibt viele Deutungen, warum Gott nur das Opfer des einen Bruders annehmen wollte. Die rabbinische Exegese versuchte, einen Unterschied in der Qualität ihrer Opfergaben auszumachen. Die Bodenfrüchte, die Kain Gott dargebracht habe, seien von niederer Qualität gewesen (laut Raschi war es nur Leinsamen),26 die besseren Früchte habe er für den gewinnbringenden Handel aufbewahren wollen. Hingegen seien Abels Erstlinge von „den fetten“, das heißt von „erster Qualität“ gewesen. Abel habe also von ganzem Herzen dargebracht, im Gegensatz zu Kain, der sein Opfer berechnete. Eine andere Deutung besagt, dass die Geschichte den historischen Konflikt zwischen sesshaften Bauern und nomadischen Hirten ausdrückt. Aber das ist nicht plausibel, denn der Konflikt wird in der Bibel nicht dahingehend gelöst, dass Gott Kain bestraft und Abel, beziehungsweise das nomadische Hirtentum, wieder in seine Rechte setzt. Auch ist der Hass (zwischen Brüdern) nicht das eigentliche Thema.

Eher ist Moshe Halbertals faszinierender Studie On Sacrifice zu folgen. Halbertal präsentiert darin eine ganz andere Interpretation der Darstellung. Das Problem sei nicht in erster Linie eines zwischen Menschen – es sei vielmehr in erster Linie eines zwischen den Menschen und Gott. Den eigentlichen Skandal verursachte die Ungerechtigkeit Gottes. Gott verhält sich als ein Despot, der entscheidet, wie er will. In der göttlichen Willkür begründe sich, so Halbertal, ein ursprüngliches Trauma in der monotheistischen Mensch-Gott-Beziehung – exemplifiziert an der Geschichte von zwei Brüdern.27 Gott nimmt das Opfer des einen Bruders an, das Opfer des anderen Bruders hingegen weist er ab.

„Da wandte sich der Ewige zu Abel und zu seinem Geschenke. Aber zu Kain und zu seinem Geschenke wandte er sich nicht, und es verdross den Kain sehr, und es sank sein Antlitz.“ (Gen. 4, 4–5)

Aus diesen Worten spricht die grundlose Ungerechtigkeit eines Despoten, der tut und lässt, was er will. Halbertal deutet die erste biblische Katastrophe, den Brudermord, weniger als eine Krise zwischen Brüdern, als die zwischen den Menschen und Gott. Gott handelt weiterhin despotisch, wo doch auf Erden schon ein Bewusstsein für Verschiedenheit existiert. Die Bibel thematisiert hier fast noch an ihrem Anfang – wir sind erst im 4. Kapitel – eine existentielle menschliche Angst, von Gott abgelehnt zu werden. Darin spiegele sich zugleich die tiefe Angst des Menschen, von den Eltern, von der Gesellschaft, von den geltenden Werten, den höheren Instanzen, usw. in dem Besten, was man ist, was man zu geben hat, mit dem man sich hervortun möchte, verworfen zu werden:

„und es verdross den Kain sehr, und es sank sein Antlitz.“ (Gen. 4,5)

Das „Herabsinken des Antlitzes“, die empfundene Degradierung, die auch mit einer Demoralisierung einhergeht, ist das Gegenteil von dem, was bürgerschaftliche Werte hochhalten würden: das einzelne Individuum mit seinem von Gott gegebenen Potential. Es ist die für die Ideologie des Bürgertums typische Wertschätzung, aus der das Recht auf gleiche Rechte für alle und Gerechtigkeit durch einen für alle gleichermaßen geltenden Rechtsmaßstab erfolgt.

Es ist nun an Gott, „gerecht“ zu werden.

Halbertals Analyse geht nicht in die politische Richtung, sondern in die kultische. Der spätere israelitische Opferkult sei eine Strategie, um die Ungerechtigkeit Gottes zu bannen. Indem ein Ritus mit klaren Regeln festgelegt werde, würden nicht nur die Menschen, sondern, wichtiger noch, würde Gott an Regeln gebunden. Wer die richtigen Opfer nach der korrekten Weise darbiete, habe Anspruch auf eine gute Behandlung durch Gott.28 Das in der Tora über mehrere Bücher ausgefeilte System der Opfer im Heiligtum, dem Tempel, sei eine Reaktion, im Wege des Kults Gottes Ungerechtigkeit in Schranken zu bannen und ihn auf gerechtes Verhalten zu verpflichten.

Im weiteren Verlauf des biblischen Kain-Narrativs scheint es, dass Gott tatsächlich seine despotische Seite überwindet. Er belegt Kain mit einem Fluch, aber er tötet ihn nicht. Kain fürchtet, durch den Fluch nunmehr der Ermordung durch andere Menschen preisgegeben zu sein und konfrontiert Gott mit seiner Verzweiflung. (Gen 4, 14) So wird er zum ersten Menschen, der sein Schicksal nicht akzeptiert und Gott einen Spiegel vorhält. Auch dies kann man im rabbinischen Sinn als ein Verhandeln lesen. Tatsächlich wandelt sich Gottes Einstellung. Dieser Wandel ist nach meiner politisch-theologischen Lesart die raison d’etre der Geschichte – wenn nicht der ganzen Tora. Gott tötet Kain nicht, er gibt Kain vielmehr eine zweite Chance. Kain bekommt ein Zeichen – das „Kainsmal“, das ihn schützt und damit heraushebt. Nicht als Täter! Sondern als einen, der seine Tat bekennt und sein Leben noch einmal versucht. Das Zeichen schützt Kain jedoch nicht nur vor der Gewalt der anderen Menschen, sondern vor allem auch vor Gott. Gott nimmt sich durch das Verleihen dieses Zeichens zurück. Er lässt Kain fortziehen. Damit gibt er ihm die Freiheit zu eigener weltlicher Gestaltung. Die Mensch-Gott-Beziehung tritt damit in eine neue Phase. „Und Kain ging weg von dem Angesichte des Ewigen und wohnte im Lande Nod gen Morgen von Eden.“ (Gen 4, 16) Gott lässt es zu, er hört auf ihn zu beaufsichtigen. Kain wird im Folgenden zum Begründer der Kultur und der Städte. Weiterhin ist das Weibliche präsent:

„Und Kain erkannte seine Frau, und sie wurde schwanger und gebar den Chanoch. Er war’s, der eine Stadt baute, und nannte sie nach dem Namen seines Sohnes Chanoch. Dem Chanoch wurde Irad geboren.“ (Gen. 4, 17–18)

Die Sprache changiert hier. War es Kain, der die erste Stadt gebaut hat und sie nach seinem Sohn Chanoch benannte oder war es Chanoch selbst? Ohne das Erkennen und Gebären der