Zur Psychologie des Bergsteigens - Ulrich Aufmuth - E-Book

Zur Psychologie des Bergsteigens E-Book

Ulrich Aufmuth

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Beschreibung

Ein Buch über die Psychologie des Bergsteigens und des Extremwanderns. Ein Buch für alle, die es in die Berge zieht. Ausgezeichnet mit dem Literaturpreis des Deutschen Alpenvereins

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Über dieses Buch Dieses Buch ist auch ein »Bergbuch«. Aber zugleich weit mehr. Im Gegensatz zu der seit einiger Zeit massenhaft publizierten Bergliteratur verzichtet es weitgehend auf die Darstellung von »Gipfelsiegen« und den dazu ersonnenen Klettertechniken. Das mit dem Literaturpreis des Deutschen Alpenvereins ausgezeichnete Buch beschäftigt sich vielmehr mit den vielfältigen Motivationen des Bergsteigens, die in der geläufigen Alpinliteratur so gut wie nicht auftauchen. Warum steigen Menschen, vor allem aus »Wohlstandsländern«, in die Berge, in diese lebensfeindlichen, ständig mit tödlichen Gefahren drohenden Fels- und Eiswüsten, die zu erklettern früheren Menschen nicht im Traum eingefallen wäre? Warum nehmen sie für dieses ominöse »Gipfelglück« Strapazen auf sich, die an körperliche und geistige Folter erinnern? Ulrich Aufmuth, selbst Bergsteiger, hat aus Berichten bekannter Bergsteiger und aus eigenen Erfahrungen am Berg eine Fülle psychischer Antriebskräfte erschlossen, die zum Teil durch Erfahrungen der frühen Kindheit bedingt sind. Das Bergerlebnis erscheint bei Aufmuth als Versuch, mit unbewältigten Erfahrungen, mit Tod, Verlassenheit, Liebesverlust, fertigzuwerden, auch als Versuch, die Angst, das zentrale Thema aller Bergsteiger, sozusagen kontraphobisch zu bewältigen. Ein Buch für alle, die es in die Berge zieht, aber vor allem auch für den psychologisch Interessierten.

Inhalt

Vorbemerkung

Ich will in diesem Buch anschaulich und nachfühlbar darstellen, was in leidenschaftlichen Bergsteigern vor sich geht.

Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen besteht in meiner eigenen langjährigen Erfahrung als Bergsteiger und Kletterer. Die Einsichten, die ich in diesem Buch in Worte fasse, besitzen für mich den Charakter von persönlichen Gewißheiten. Die Introspektion ist indessen nicht meine einzige Erfahrungsquelle. Es kommt hinzu eine ausführliche Beschäftigung mit den seelischen Erfahrungen anderer leidenschaftlicher Bergsteiger.

Meine theoretische Grundposition besteht in einer liberalen tiefenpsychologischen Auffassung des seelischen Geschehens. Namen, die meine Position zu konkretisieren vermögen, sind: Bruno Bettelheim, Alice Miller, Klaus Dörner/Ursula Plog. Wichtige Anreger sind mir darüber hinaus Fritz Perls und Alexander Lowen.

Meine Art des Nachdenkens über die Bergleidenschaft hat Vorläufer. Die herausragende Gestalt unter all jenen, die sich mit dem Erleben des Bergsteigers näher befaßt haben, ist in meinen Augen Eugen Guido Lammer (1862-1945). Dieser Mann war ebenso wagemutig beim Klettern wie bei der Erkundung seiner eigenen Seelenlandschaft. Ihm bin ich tief verpflichtet. Andere Persönlichkeiten, die ich wegen der Selbstoffenheit in ihren literarischen Werken schätze, sind die Extrembergsteiger Lionel Terray, Reinhard Karl und Reinhold Messner.

Das erklärte Thema dieses Buches ist der bergsteigende Mensch. Mein Interesse und mein Nachdenken zielen indessen über die Thematik des Bergsteigens hinaus. Mich interessiert der Alpinist vor allem als eine spezifische Verkörperung des leidenschaftserfüllten Menschen. Mein Buch möchte einen Beitrag leisten zu einer Psychologie der Leidenschaft und der Besessenheit.

Folgende Personen haben zur Entstehung dieses Buches mit beigetragen: meine Frau Margrit, Florian Simhart, Elmar Landes, Elisabeth und Peter Renz, Martin Morgen, Michael Klein und Willi Köhler. Ihnen allen danke ich hier.

Teil I

BERGSTEIGEN ALS BREITENBEWEGUNG

Gibt es einen natürlichen Drang zum Berg?

Wir leidenschaftlichen Alpinisten neigen dazu, unsere Liebe zum Gebirge als etwas »Natürliches« zu betrachten, als etwas, das zum Wesen des Menschen gehört. Wir halten es für die selbstverständlichste Reaktion der Welt, daß man angesichts eines gewaltigen Berges in Begeisterung ausbricht und sich mit Macht hinaufsehnt. Wir glauben, von den Berggipfeln ginge ein natürlicher Appell zur Eroberung aus.

Weil uns die Berge so fraglos wichtig sind, setzen wir es einfach stillschweigend voraus, die Bergliebe sei im tiefsten Grunde genauso ein menschliches Naturbedürfnis wie Atmen, Essen, Schlafen. Das ist aber falsch.

Das Bergsteigen hat deutliche und genau erfaßbare Gründe. Nur: keiner davon gehört zum Wesen des Menschen an sich. Es gibt einfach keinen natürlichen Trieb zum Berg. Die spezifischen Antriebskräfte der Bergsteigerei erwachsen allesamt aus der gesellschaftlichen und individuellen Situation derer, die das Bergsteigen betreiben.

Das wird ganz offenkundig, wenn wir in frühere Epochen zurückschauen. Wie war das Verhältnis der Menschen zum Gebirge vor dem Beginn der Neuzeit, vor den Anfängen von Mechanisierung und Industrialisierung? Liebten unsere Vorväter das Gebirge? Verehrten sie die majestätische Gipfelwelt? Pilgerten sie ehrfürchtig und frohen Sinnes auf die Felsburgen hinauf? Ganz und gar nicht. Sie waren heilfroh, wenn sie nicht hinauf mußten in die Hochregion. Jeder, der dort oben zwangsweise zu tun hatte, wurde tief bedauert. Wer, was allerdings kaum jemals vorkam, freiwillig einen weglosen Berg von bescheidener Höhe erklomm, wurde in seinem Verstand angezweifelt. Warum denn reden wir heute noch vom Gang des Dichters Petrarca auf den harmlosen Mont Ventoux, 600 Jahre nach dieser Gelegenheitswanderung? Weil Petrarca auf Jahrhunderte hinaus der einzige Mensch mit Namen war, der ohne äußere Not, freiwillig also, eine etwas höhere Gebirgserhebung erstiegen hat. Was damals als die spleenige Tat eines Außenseiters aufgefaßt wurde, das machen inzwischen Millionen namenloser Zivilisationsmenschen an jedem Wochenende mit Selbstverständlichkeit.

Sind die Menschen anders geworden? Wohl kaum. Die menschliche Natur hat sich in dieser Zeitspanne gewiß nicht grundlegend geändert. Ganz dramatisch haben sich hingegen unsere Lebensumstände verändert. Die Bergleidenschaft als Massenphänomen entspringt aus diesen veränderten Lebensbedingungen.

Zum selben Ergebnis gelangen wir auch, wenn wir das Verhalten der sogenannten Naturvölker in Augenschein nehmen. Sie kennen keinen Bergeroberungsdrang. Im Gegenteil, sie haben eine tiefe Furcht vor den Bergen. Den »Ruf der Berge« hören nur wir Kinder der modernen Industriegesellschaft.

Bergsteigen – die andere Lebensform

Die wenigsten Alpinisten denken bewußt darüber nach, von welcher Art ihre Herzenslandschaft, ihr Seelenlustgarten ist. Man liebt die Berge, und damit ist es genug. Und doch finde ich es für den Zugang zu den Motiven der Bergleidenschaft aufschlußreich und wichtig, daß wir uns den Charakter jener Landschaft, die dem bergsteigenden Teil der Menschheit so lieb und teuer ist, einmal bewußt vor Augen führen.

Wir sind es gewöhnt, die Bergnatur als herrlich, als majestätisch, als ergreifend zu etikettieren. Das ist bisweilen nur ein klischeehaftes Gerede, oft aber empfinden wir Bergsteiger es wirklich so. Wir Bergverehrer schauen dann gewissermaßen mit den Augen des Gefühls, nicht mit denen des Intellekts. Betrachtet man die Berge einmal ganz sachlich, nur vom Verstande her, dann liegt es offen zutage: Oberhalb von zwei, zweieinhalbtausend Meter Höhe sind sie eine Wüste. Das Hochgebirge, besonders natürlich das Bergland oberhalb der Gletscherregion, gehört zu den lebensfeindlichsten Gebieten unserer Erdkugel. Es ist so lebensfeindlich wie die zentrale Sahara oder die Taiga Nordsibiriens. Die Temperaturen schwanken zwischen großer Hitze und polarem Frost. Die Sonne verbrennt in größerer Höhe die Haut und ist unerträglich fürs Auge. Tobende Unwetter, Stürme, Schneefall gehören zum normalen Geschehen. Gerade noch einige primitive Flechten können ab dreitausend Meter den grimmigen Bedingungen trotzen. Das einzige, was das Auge im Hochgebirge erblickt, sind Steine, Eis und Wasser. Ein karges Pflänzchen da und dort erscheint vor dieser grimmigen Kulisse so erquickend wie der herrlichste Rosenstrauß. Die Fels- und Eisregion ist voller, teils schwer berechenbarer Gefahr. Steinschlag, Lawinen, Wetterstürze, Ausgleiten, Spaltensturz, Auskühlung und Erschöpfung bedrohen dort oben Gesundheit und Leben. Dem Sorglosen bringt das Hochgebirge im Handumdrehen Verderben und Tod.

Und genau in den lebensfeindlichsten Bereichen der Wüstenlandschaft Hochgebirge, ab zweieinhalbtausend Meter Höhe aufwärts, halten sich passionierte Bergmenschen am liebsten auf!

In einer gewissen Weise betrachten auch wir, die wir mit Lust auf die hohen Gipfel hinaufsteigen, die Berge noch als einen bedrohlichen Ort. Denn rufen wir uns einmal die Überlegungen in Erinnerung, die wir am Beginn einer großen Tour anstellen: Sie stehen fast alle im Zeichen des Kampfes und der Gefahr. Wir nehmen Daunenjacken und Biwaksäcke mit, um dem Erfrierungstod vorzubeugen; wir versehen uns mit Spezialcremes, damit die Haut nicht verbrennt, wir tragen Spezialbrillen, damit die Augen nicht erblinden, wir packen Steigeisen und Pickel ein, um nicht abzugleiten, Seile, um nicht abzustürzen. Wir haben Schmerztabletten dabei und üben uns im Abtransport von Schwerverletzten. Nur gut trainiert und gut »bewaffnet« hat man Aussichten, den Kampf mit der Wüste Berg einigermaßen sicher zu überstehen.

Nun ist die Frage: Weshalb zieht es uns exakt in diese Landschaft hinauf, die eine einzige Antithese des Lebens ist, die verabscheut und gemieden wurde von alters her? Weshalb tummeln wir Menschen des 20. Jahrhunderts uns mit großem Vergnügen dort oben, wo die Zeitgenossen Johann Sebastian Bachs höchstens ihre schlimmsten Widersacher hinwünschten?

Eine erste, noch sehr pauschale Antwort darauf ist die: Die Wüste Berg zwingt uns moderne Menschen, sofern wir uns unter weitgehendem Verzicht auf die Hilfsmittel der Zivilisation in ihr aufhalten, ganz anders zu leben als im alltäglichen Dasein. Die Tatsache dieses scharfen Bruches in der Lebensgestaltung hat wesentlich mit unserem Glück in den Bergen zu tun.

Damit wir wissen, wovon wir reden, sehen wir es einmal näher an, dieses Leben am Berg. Was tun und treiben wir dort oben?

Auf großer Tour machen wir den ganzen Tag über Dinge, die wir im alltäglichen Leben niemals tun:

Rund um die Uhr verrichten wir körperliche Schwerstarbeit simpelster Art. Sechs, acht, zehn Stunden lang steigen wir mühselige Steinhänge hinauf und hinab mit vielen Kilo Gepäck auf dem Rücken. Fortbewegen, Essen, Trinken, ein Lager für die Nacht bekommen, diese banalen Dinge bilden die Hauptinhalte unseres Tagesablaufs und unseres Denkens. Den ganzen Tag über setzen wir uns ohne Murren den Unberechenbarkeiten und Härten extremer Witterungsverhältnisse aus. Wir waschen uns wenig oder gar nicht, und die Wäsche bleibt oft tagelang auf dem dampfenden Leib. Nachts schlafen wir in der Tageskleidung unter Decken, die schon Hunderte vor uns mit ihrem Duft und Schweiß imprägniert haben. Nach einigen Tagen unterwegs sagen wir zu jedem »du«, ohne uns zu kümmern, wer da vor uns steht. Unsere Gesprächsthemen nach vollbrachtem Tagwerk sind: was wir mit unseren Beinen geleistet haben, wie das Wetter war und wie das Essen und das Lager auf der Hütte ist. Das ist das wundervolle, »zünftige« Leben am Berg. Und wenn wir von einer Tour hinterher beglückt sagen, daß sie besonders »zünftig« gewesen sei, dann heißt das: Sie war besonders wild und »unzivilisiert«.

Ja, wir Bergsteiger sind Menschen, die eine Doppelexistenz führen: Wir führen ein gesittetes, kultiviertes Leben im Tal und ein wildes, primitives Dasein im Gebirge.

Und gerade diese barbarische Existenz am Berg empfinden wir als unendlich beglückender als das alltägliche Sein!

Wie ist dieses Lebensgefühl im Gebirge, auf einer großen Tour? Ich will versuchen, es in Worte zu fassen.

Wir sind im Gebirge merklich froher, lebendiger und sorgenloser als im alltäglichen Dasein. Wir fühlen uns kraftvoller und frischer. Wir quellen mitunter fast über vor Energie und Tatenlust. Das Leben dort droben empfinden wir als viel farbiger und intensiver als das Alltagsleben, es ist voller starker vitaler Gefühle. Kurzum: Bergsteigend öffnet sich uns ein außerordentlich intensiviertes Sein.

Wie sehr unsere Lebensgeister im Gebirge gesteigert sind, wie nachhaltig das Bergerleben ist, das geht uns in vollem Ausmaß erst in der Rückschau auf, aus der Perspektive des Alltags her. Da erscheinen uns dann die Tage im Gebirge wie leuchtende Inseln in einem eintönigen Meer, jeder einzelne Tag ist für lange Zeit tief eingegraben in unsere ganze Person. So tiefe Spuren hinterlassen nur ganz wenige Tage unserer Talexistenz.

In den nunmehr folgenden beiden Hauptkapiteln will ich einige der Gründe dafür benennen, warum in unserer Zeit so viele Menschen mit Leidenschaft und aus tiefem innerem Bedürfnis die »Wüste Berg« aufsuchen und durchstreifen.

Warum wir in den Bergen glücklich sind

Das Bergsteigen und die Defizite des Selbsterlebens in unserer Gesellschaft

Dieses Kapitel ist meine Laudatio auf das Bergsteigen. Lobreden haben es so an sich, daß sie die erfreulichen Seiten ihres Gegenstandes einseitig ans Licht heben und ausmalen. Das ist auch in meinem Lobpreis des Bergsteigens nicht anders. Das kritische Gegengewicht werde ich in späteren Kapiteln nachliefern. Hier aber will ich mich ausschließlich und ausgiebig in den glückhaften Bezirken der Daseinsform »Bergsteigen« ergehen. Ich möchte niederlegen, was das Bergsteigen mir und anderen Alpinisten an Glückserlebnissen schenkt. Als Wissenschaftler bin ich natürlich vor allem am Woher und Warum unseres Glückes am Berg interessiert. Ich mache mir Gedanken darüber, wie das besondere Glückserlebnis des Bergsteigens zustande kommt. Deshalb trägt dieses Kapitel auch die Überschrift: »Warum wir in den Bergen glücklich sind«. Diejenigen unter meinen Bergsteiger-Lesern, die in der herkömmlichen alpinistischen Denkwelt aufgewachsen sind, möchte ich vorbeugend darauf hinweisen, daß meine Darstellung des Bergsteigerglückes manchmal stark von den geläufigen Vorstellungen abweicht.

Seelische Mangelerscheinungen in unserer Gesellschaft

Weiter oben habe ich bereits die These formuliert: Der Alpinismus als Breitenbewegung ist ein ureigenes Kind unserer hochtechnisierten, leistungsorientierten Industriegesellschaft sowie ihres geschichtlichen Werdeganges. Eine umfassende und aussagekräftige Deutung des Alpinismus hat aus diesem Grunde die überindividuellen Bedingungsmomente unseres Daseins zum Ausgangspunkt zu nehmen. Das sind im einzelnen: die ökonomischen Gegebenheiten, die kulturellen Traditionen und die sozialen Funktionsgesetzlichkeiten unserer Gesellschaft. Der Zusammenhang des Bergsteigens mit den grundlegenden Strukturen unserer Gesellschaft soll in den nachfolgenden Ausführungen näher beleuchtet werden, wobei an Erfahrungen angeknüpft werden wird, die jedem Bergsteiger geläufig sind.

Meiner Argumentation liegen die folgenden Überlegungen zugrunde: Unsere Gesellschaftsform hat zahlreiche elementare Erlebnismöglichkeiten zum »Aussterben« gebracht oder zur seltenen Ausnahme werden lassen, und zwar deswegen, weil sie für das Funktionieren eben dieser Gesellschaftsform unerheblich oder gar hinderlich sind. Mit Zwangsläufigkeit schafft das Alltagsleben in der modernen Leistungsgesellschaft Mangelerscheinungen seelischer Natur. An bestimmten Punkten laufen unsere menschlichen Entfaltungsmöglichkeiten gewissermaßen ins Leere, wodurch schwerwiegende und chronische Defizite des Selbsterlebens entstehen. Pointiert ausgedrückt: Wir laufen in unserem Alltagsdasein in gewisser Hinsicht halbtot herum oder halblebendig, wie man es lieber sehen mag. Von unserem gesamten Gefühls- und Verhaltenspotential werden nurmehr bestimmte Bereiche noch gefordert und in Schwung gehalten, vorzugsweise die sogenannten »höheren«, »geistigen« Persönlichkeitssektoren. Die sonoren Grundakkorde unseres Gefühlslebens, die zutiefst verankert sind in unserer leiblichen Natur, sie klingen hingegen kaum mehr an. Für gewöhnlich werden wir uns dieses Mangels gar nicht mehr bewußt, weil er im Ablauf der zweihundertjährigen Geschichte der Industrialisierung ganz unmerklich zur Normalsituation geworden ist. Nur gelegentlich äußert sich die faktisch eben doch vorhandene Entbehrung in Form gestaltloser und machtvoller Sehnsüchte in Richtung »aussteigen«, »total anders leben«, sowie in Träumen von Wildnis und Abenteuer. Immer sind es Sehnsüchte nach einem urwüchsigen, elementaren Dasein, in dem auch unsere sinnlichen und körperlichen Anlagen voll zum Zuge kommen. Es verlangt uns nach einer Seinsform, die uns ganz und gar wieder Körperwesen sein läßt. Im übrigen gelangt unsere Halblebendigkeit nur indirekt zum Ausdruck, so etwa als Gefühl der Fadheit und Sinnarmut des Normaldaseins, als stete innere Unruhe oder in Gestalt eines diffusen Gefühls des Unbefriedigtseins.

Vieles von dem, was uns im Alltag an grundlegenden und zu einem vollständigen Menschsein notwendigen Erfahrungsmöglichkeiten genommen ist, gibt uns das Leben in der Wüstenlandschaft der Berge in einer geballten Form zurück. Dies möchte ich nachfolgend ausführlich darlegen.

Körpererleben

Der Bereich des körperlichen Erlebens ist wohl am stärksten von der soeben angesprochenen Verkümmerung des Ich-Erlebens in unserer Gesellschaft betroffen. Hier machen sich ganz schwerwiegende Defizite breit. Wir nehmen im Alltagsleben die meiste Zeit über gar keine bewußte Notiz davon, daß wir einen Körper haben. Der Leib ist für die Bewältigung unseres Daseins ziemlich unwichtig geworden. Am ehesten registrieren wir unseren Körper noch dann, wenn er krank ist und Schmerzsignale sendet. Daß unser Körper auch ein Hort vielfältiger glückhafter Empfindungen sein kann, diese Erfahrung wird uns im Alltag kaum mehr zuteil. Gewiß, ich weiß, da ist die Sexualität. Ihr wird heute ein öffentlicher Stellenwert zugemessen wie nie zuvor. Diese grelle Betonung der Sexualität ist aber geradezu ein Symptom unseres Mangels an positivem Körperbezug: Die heute übliche Reduzierung von Körper-Lust auf den Gedanken an Sexualität zeigt an, wie wenig uns die vielzähligen anderen Lusterfahrungen, die in unserem Körper schlummern und warten, noch vertraut sind.

Wie ist es zu jener Verkümmerung des positiven Körpererlebens gekommen, die für das Alltagsdasein in unserer Gesellschaft typisch ist?

Körperliche Kraft und Geschicklichkeit verlieren in der Arbeitswelt seit zwei Jahrhunderten ständig an Bedeutung. Dort, wo körperliche Arbeit noch notwendig ist, wird sie in der Regel einseitiger und eintöniger. Der Schwerpunkt der Aktivität im Berufsleben verlagert sich in ständig wachsendem Maß auf den Intellekt und die Sinnesorgane. Wir rechnen, wir formulieren, wir überwachen Schalttafeln, und wir bedienen Computertastaturen. Auf diese Weise wird der Körper im Berufsbereich weitestgehend unerheblich. Für die meisten Berufe würde es genügen, wenn wir nur noch aus Kopf und Hand bestehen würden, der Rest ist gewissermaßen »Ballast«. So wird der Körper im Alltagsleben heute viel weniger benötigt und dadurch letzten Endes auch weniger geachtet. Schließlich verflüchtigt sich aufgrund der aufgezeigten Zusammenhänge auch unsere Sensibilität und Achtung für alle ursprünglichen Körpergefühle. Kreatürliche Vorgänge, wie Essen, Schlafen, Sich-Bewegen, von unseren Altvorderen noch mit vollen Sinnen und vitaler Lust erlebt, büßen ihren lusthaften Charakter ein. Letztendlich erstirbt damit in uns ein ganz zentraler Erlebensbereich. Es ist kaum übertrieben zu sagen: Wir entfremden uns auf diese Weise den vitalen Fundamenten unseres Seins mit all ihren großartigen Erlebensmöglichkeiten.

Das Bergsteigen nun gibt uns viele der elementaren Möglichkeiten des Selbsterlebens, die aus dem Alltagsdasein weitgehend hinausgedrängt worden sind, zurück. Das sei in den nachfolgenden Ausführungen anschaulich gemacht.

Anstrengung

Unterziehen wir als erstes unser Verhältnis zur körperlichen Leistung einer näheren Betrachtung und versetzen wir uns hierzu in das folgende Szenarium: Einödsbach bei Oberstdorf an einem schönen Augusttag. Eine muntere Gruppe von Norddeutschen sitzt vor dem alten Bauernhof, der als Gasthaus eingerichtet ist. Die Leute sind von Birgsau her die leicht ansteigende Fahrstraße heraufgewandert. Das ist ein Spaziergang von einer Stunde, den jedoch die meisten in der Gruppe schon als richtige »Bergtour« empfinden. Stark beeindruckt blicken die Touristen zu den schroff aufragenden Felszinnen der Trettach und der Mädelegabel hinauf. Da nahen einige »Zünftige«, mit Rucksäcken, die fast den Kopf überragen. Sie haben Steinschlaghelme außen angeschnallt, die unmißverständlich anzeigen, daß die Besitzer »Höheres« im Sinne haben. Von den Spaziergängern aus dem Norden gefragt, wohin es denn gehen soll, lautet die lakonische Antwort: Waltenbergerhaus, und wenn die Zeit noch langt, dann heute noch die Trettach-Westwand. Den Feriengästen bleibt der Mund offenstehen: Zu diesem ungeheuer hohen Felshorn mit seinen schauerlichen Wänden wollen die hinauf, heute noch, ohne Seilbahn, mit dem Gepäck! Allgemeines Kopfschütteln, daß sich jemand freiwillig solchen Torturen unterzieht. Die Leute können sich den Weg zum Gipfel nur als einen reinen Schreckensgang vorstellen: Ströme von Schweiß, pfeifende Lungen, schmerzende Waden, wundgeriebene Füße, irre Anstrengung. Nein, da brächte sie die herrlichste Aussicht, der schönste Hüttenzauber nicht hinauf!

Weshalb finden die Touristen das Unternehmen der Bergsteiger so absolut unverständlich, ja verrückt?

Sie haben deshalb kein Verständnis für die Hochalpinisten, weil sie nie mit einer der allereinfachsten, kreatürlichsten Erfahrungen Bekanntschaft machen konnten: mit dem wundervollen Wohlbehagen, das eine anhaltende kraftfordernde Aktivität einem trainierten Körper bereitet. Sie hatten, wie viele Menschen unserer Zeit, niemals jenes euphorische Gefühl intensivster Lebendigkeit kennengelernt, jene Beschwingtheit, die hervorgeht aus dem Erleben körperlicher Stärke und souveränen physischen Leistungsvermögens. Ein solches Erleben wird durch die Aktivität des stetigen Höhersteigens im Gebirge ganz besonders nachhaltig vermittelt. Als Bergsteiger ist man jedesmal aufs neue überwältigt, wenn einen das Wonnegefühl kraftvollen Höhersteigens erfaßt. »Ein unbestimmbares Wohlbehagen überkam uns, wir waren leichter und fröhlicher, unsere Körper hatten eine ungewöhnliche Geschmeidigkeit und Elastizität«, so schilderte schon vor hundert Jahren der Genfer Alpinist F. Thioly das Empfinden, das dem Geübten das Aufsteigen im Gebirge beschert.1 Und wenn Paul Hübel in seinen »Führerlosen Gipfelfahrten«, dem alpinen Bestseller der zwanziger Jahre, die Beschreibung einer Bergtour mit den Worten beginnt: »Weit dehnte sich die Brust im würzigen Hauch der erwachenden Wiesenhänge, die Muskeln strafften sich im kühl belebenden Morgenwind …«,2 so durchfährt uns trotz der stilistischen Patina dieser Worte ein Schauer jenes Stromes von Kraft und Lebendigkeit, mit dem uns ein strammer morgendlicher Aufstieg bisweilen erfüllt. In den schönen Momenten des Steigens, wenn wir so richtig im Rhythmus sind, dann merken wir unsere körperliche Schwere nicht mehr, wir sind dann nur noch »geballtes Kraftgefühl«, um noch einmal Paul Hübel zu zitieren.3 In höchster Steigerung erlebt der Kletterer der oberen Grade dieses Wonnegefühl der überschäumenden Energie. Es kann sich verdichten bis zu einem regelrechten Allmachtsgefühl: Nichts kann mich schrecken oder hindern, ich bin allem, was kommen mag, spielend gewachsen. »Wer ko uns scho was toan!« dieser Leib- und Magenspruch der Gefährten von Hans Ertl4 drückt das göttliche Selbstbewußtsein des Bergsteigers aus, der sich seiner Kraft und Ausdauer absolut sicher ist. Dieses herrliche Gefühl souveräner Kraft – es ist das Lebensgefühl des wilden Tieres oder des Steppenbewohners auf Büffeljagd. Unsere zivilisierte Existenz, die sich abwickelt auf Bürostühlen, Autositzen und Clubsesseln, hat diesen wunderbaren Teil unserer Animalität fast zum Erlöschen gebracht.

Kehren wir nun zu der Episode mit den Feriengästen zurück. Wie sollten diese, als »normale« Mitglieder unserer Gesellschaft, von den geschilderten Wonnen des körperlichen Sich-Forderns wissen? Der Bewegungsapparat, die Muskelkraft werden bei den meisten Menschen im täglichen Leben nur noch geringfügig oder sehr speziell beansprucht. Der Körper erschlafft, und wenn ihm schließlich bei irgendeiner Gelegenheit eine Anstrengung abverlangt wird, reagiert er nur noch mit Unlustempfindungen, oder er versagt gar den Dienst. Auf diese Weise können sich schließlich viele Menschen große körperliche Leistungen gar nicht mehr anders vorstellen, denn als eine Quälerei, der man sich freiwillig nicht unterzieht. Die herrliche Erfahrung eines aus voller Kraft arbeitenden Körpers ist somit vielen Zeitgenossen fremd. Bergsteiger wissen um diese Erfahrung. Die Begegnung mit ihr wird jedesmal wieder wie ein köstliches Geschenk, ja, wie ein Neugeborensein erlebt. Und es ist ja tatsächlich eine Wiedergeburt. Vitale Körperfunktionen werden neu zum Leben erweckt, die im Alltag praktisch »tot« sind, weil sie dort nicht mehr angesprochen werden.

Kampf

Dem körperlichen Sich-Einsetzen im Gebirge wohnt viel vom Charakter des Kampfes inne. Vor allem beim extremeren Bergsteigen tritt das Element des Kampfes ganz augenfällig hervor. Die großen Alpinisten sprechen es auch immer wieder aus: »Uns locken die Wände, die Grate, um die man raufen und ringen und mit dem letzten Einsatz kämpfen muß …« (Toni Schmid).5 Und Hermann Buhl vor einer schweren Tour: »Wir bereiteten uns innerlich auf einen erbitterten Kampf im Fels vor, und wir taten gut daran«.6 Derselbe nach seiner denkwürdigen Durchsteigung der Eigernordwand im mörderischen Schneesturm: »Der härteste Kampf in meiner bisherigen Bergsteigerlaufbahn ist ausgefochten«.7

Im Verlaufe von schwierigen Besteigungen wachen Gefühle in uns auf, wie sie wohl ehedem einen fechtenden Krieger beseelt haben müssen. Recht plastisch kommt dies zum Ausdruck in den folgenden Zeilen von Edward Whymper, in denen eine Episode aus der Erstbesteigung der Barres des Ecrins geschildert wird: »Als wir die Spitze des Passes erblickten, stürmten wir so leidenschaftlich vorwärts, als gelte es der Mauerbresche einer Festung, nahmen den Graben, hinten geschoben und vorn gezogen, im ersten Anlauf, eroberten den steilen Hang, der nun folgte, und standen um acht Uhr fünfzig Minuten in der kleinen Lücke, 11.054 Fuß über dem Spiegel des Meeres. Die Bresche war erstürmt.«8 Kriegerisches Empfinden spricht auch aus Whympers Reminiszenzen an seine Erstbesteigung des Matterhorns: »Das Matterhorn war ein hartnäckiger Feind, wehrte sich lange, teilte manchen schweren Schlag aus, und als es endlich mit einer Leichtigkeit, die niemand für möglich gehalten hatte, besiegt wurde, da nahm es als heimtückischer Gegner, der überwunden, aber nicht zermalmt ist, eine fürchterliche Rache«.9 Hier wird vom schweren Berg genauso gesprochen, wie von einem Gegner in Menschengestalt. Die wilden Kampfesregungen, die ein Berg in uns hervorzurufen vermag, sind offenbar dieselben, wie sie im Kampf gegen einen hartnäckigen menschlichen Kontrahenten entstehen. Verglichen mit einem menschlichen Kampfgegner hat der Berg indes einen großen Vorteil: Am Berg können wir »voll zuschlagen« (wie wir es ja selber oft formulieren), das heißt, wir können bedenkenlos und ungehemmt alle Wildheit und Kraft, die in uns sind, dem Berg gegenüber freilassen. Unter Menschen geht das im gewöhnlichen Dasein nicht, auch nicht in solchen kämpferischen Sportarten wie Ringen, Boxen, Judo und Fechten. Da sind dem vollen, freien Kampfimpuls immer Fesseln angelegt.

Der Kampf, als ein unmittelbares und körperliches Sich-Messen mit einem ebenbürtigen Gegenüber, scheint zur elementaren Antriebsausstattung des Menschen zu gehören. Einem leibhaftigen Gegner gegenübertreten und sich mit ihm messen, dieser Impuls steckt auch im homo sapiens, ob wir es nun wahrhaben wollen oder nicht. Freilich ist im »zivilisierten« Leben kaum eine unserer anlagemäßigen Regungen so sehr der Deformierung und dem Zwang zur Verleugnung unterworfen worden wie gerade die Lust am Kämpfen. Die sozialen Konventionen legen unserem Drang zum Kämpfen enge Fesseln an. Wir dürfen dem Kampfimpuls lediglich im strikt geregelten Rahmen bestimmter Sportarten frönen oder, in einer reichlich passiven Weise, als Zuschauer von Kampfsportdarbietungen und von Filmen, die Kampfszenen enthalten. Die außerordentliche Beliebtheit der passiven Beteiligung an Kampfereignissen in Sport und Medien signalisiert allerdings auf eine ganz drastische Weise, wie sehr die Disposition zum Kampf auch in uns gezähmten Wesen noch lebendig ist.

Meiner Darstellung zufolge ist das Kämpfen aus dem heutigen Alltagsleben weitgehend eliminiert worden. An dieser Stelle wird der Leser nun vielleicht den Einwand Vorbringen, daß doch auch im täglichen Dasein heute viel von »Kampf« die Rede sei. Wir seufzen über den schweren »Daseinskampf«; in der beruflichen Sphäre finden erbitterte »Konkurrenzkämpfe« statt; Unternehmer und Arbeitnehmer beziehen in »Arbeitskämpfen« Front gegeneinander. Betrachten wir diese »Kämpfe« des Alltagslebens einmal näher: Handelt es sich hier um ein elementares, unmittelbares Kräftemessen mit Menschen oder mit faßbaren Gewalten? Vollzieht sich hier ein offenes Ringen klar identifizierbarer Gegner?

In keiner Weise. Die sogenannten Kämpfe des Alltags bestehen aus subtilen Rivalitäten, aus abstrakten Ritualen. Sie kosten Nervenkraft, aber mit körperlichem Einsatz haben sie nichts zu tun. Sehen wir uns beispielsweise den beruflichen Positions-»Kampf« näher an: Das ist ein schlaues Taktieren und Abwägen, ein zermürbendes Sich-Verbergen und Sich-Verstellen, ein unermüdliches »Beziehungen pflegen« und sich in Positur werfen, wobei möglichst immer ein lächelndes Gesicht zur Schau zu stellen ist. Die Kämpfe des Alltags sind nervenzerschleißende Streßzustände, aber kein elementares Feuerwerk der Sinne und der Körperkraft, wie es das Wesen des Kampfes ist.

Das Gebirge bildet eine der Enklaven, in denen wir echten Kampf im besten Sinne des Wortes noch austragen können. Nicht zuletzt darum lockt uns die strenge Welt der Berge.

Dem Stellenwert des Kämpfens beim extremen Bergsteigen möchte ich noch einige nähere Überlegungen widmen. Beim einfachen Bergwandern ist das Kampfmoment wenig ausgeprägt und nur sporadisch bedeutsam. Beim Klettern und erst recht im extremen Alpinismus spielt das kämpferische Moment jedoch eine zentrale Rolle als Handlungsmotiv. Das Bergsteigen auf schwierigen Routen ist in gewissem Sinne eine aggressive Aktivität. Dementsprechend waren und sind die großen Männer des Alpinismus auch nahezu ausnahmslos ausgesprochene Kämpfernaturen. Diejenigen, die heutzutage extreme Kletterer sind, wären zu früheren Zeiten wohl zum großen Teil Krieger und Gladiatoren gewesen.

Große Bergsteiger geraten erst dann so richtig in Fahrt, wenn der »Gegner Berg« sich grimmig und widersetzlich zeigt. Vollends in ihrem Element sind die Extremen, wenn der Ausgang des Ringens mit dem Berg im Ungewissen liegt, wenn die Frage: Wer ist stärker? bis zum Schluß offenbleibt. Der Wille, »stärker zu sein«, aus einer elementaren, wilden Kampfhandlung als Sieger hervorzugehen, bildet bei nicht wenigen Extremen den machtvollsten Stimulus ihres rauhen Tuns. Der Berg ist für sie in erster Linie von Interesse als Herausforderer und als Widerstand. Das haben viele Extreme schon ausgesprochen, und ihr Verhalten beweist es mit zwingender Deutlichkeit. Bezeichnend ist eine Episode, die Lionel Terray, einer der großartigsten Männer und Menschen des französischen Alpinismus, berichtet: Nach wochenlangen und entbehrungsreichen Bemühungen hatte er mit seinen französischen Expeditionskameraden den Gipfel des Makalu erreicht. Als Terray auf der höchsten Spitze stand, da empfand er nicht so sehr Stolz und Genugtuung über diesen seinen ersten (und einzigen) Achttausendersieg, sondern es erfüllten ihn Trauer und Enttäuschung. Und aus welchem Grund? Weil der Berg ihn nicht auf die allerletzte Probe gestellt, weil er ihm nicht das Äußerste abgefordert hatte! Erst der totale Kampf um Sein oder Nichtsein hätte dem großen Franzosen das glanzvolle Gipfelziel wertvoll gemacht.

Die Extremen brauchen Gegner, die das Letzte aus ihnen herausholen. Der erbitterte Kampf vermittelt diesen Männern das tiefste Existenzerlebnis. Kämpfen bedeutet für sie den absoluten Höhepunkt, die Apotheose des Lebendigseins. Je wilder der Kampf, desto heller erglüht ihre Lebensflamme. Deshalb sind viele Extreme geradezu süchtig nach dem Ringen mit schwersten Wänden und Bergen: Hier wächst diesen Kämpfernaturen eine Lebendigkeit zu, die ihnen ihr ganzes übriges Dasein nicht annähernd gewährt. Es ist eine Lebendigkeit, die sich aus dem Körper speist, aus der vollkommenen Anspannung aller Muskeln, Nerven und Sinne. Im ernsten Kampf ist jede Faser des Leibes auf Aktion und höchste Energieentfaltung eingestellt; unser Körper wird zu einer vibrierenden Ballung von Energie. Das schenkt uns ein barbarisch großartiges Lebensgefühl, das Lebensgefühl des Raubtiers, das mit seinesgleichen ringt.

Das Verlangen nach der »Grenzsituation« des äußersten Kampfes zwingt die Extremen, Gipfel und Routen von ständig steigender Schwierigkeit anzugehen. Denn mit wachsender Übung und Erfahrung rückt jene Grenze der existentiellen Gefährdung und Herausforderung, oberhalb welcher der Kampf für die Extremen erst zum ekstatischen Erleben wird, immer weiter hinauf. Wie die Helden der frühen Sagenwelt hasten die großen Eroberer der Berge ungestillt von Kampf zu Kampf, sind sie stets auf der Umschau nach noch gewaltigeren Gegnern. Der Lauf ihres Schicksals ähnelt auch häufig genug demjenigen der Kriegerfiguren der abendländischen Sagen: Viele sterben auf dem rastlosen Zug von Kampf zu Kampf, und wenige nur finden schließlich Frieden und innere Erfüllung außerhalb des unsteten Kämpferdaseins.

Vom Essen und vom Trinken

Von nichtbergsteigenden Verwandten und Bekannten werde ich immer wieder gefragt, weshalb ich so oft in die Berge gehe. Manchmal klingt aus dieser Frage eine provokative Absicht heraus, etwa in der Richtung: »Mal sehen, ob er für seine dauernde Bergrennerei überhaupt eine Begründung findet!« Meist gebe ich in einem solchen Fall kurz und wahrheitsgetreu zur Antwort: »Ich gehe in die Berge, weil es mir Freude macht.« Mitunter sage ich auch: »Ich steige auf die Gipfel, weil mir dann das Essen doppelt so gut schmeckt.« Bei dieser Antwort argwöhnen meine Gesprächspartner, ich wolle sie verulken. Tatsächlich aber ist es mir vollkommen ernst damit.

Wenn meine Gedanken sich den Bergen zuwenden, dann ist eine meiner ersten Assoziationen der gewaltige, ja bodenlose Appetit, dem auch das einfachste Eßbare als Delikatesse erscheint. Steil aufgehäufte Teller von pasta asciutta auf einem soliden Hüttentisch tauchen als himmlisches Mahl vor meinem inneren Auge auf. Dazu noch eine kühle Flasche Rotwein – das ist in den Bergen, nach großer Tour, für mich ein Höhepunkt des Lebensgenusses. Den ganzen Körper durchströmt ein lustvolles Sehnen, allein schon bei der bloßen fernen Vorstellung. Der Leser denkt sich an dieser Stelle vielleicht, das seien rechte Trivialitäten, diese gewissermaßen im Magen und Gaumen aufgespeicherten Erinnerungen. Für mich gehören jedoch diese »niederen« Sinnesfreuden des Bergsteigens zu den herrlichsten Erlebnissen, die das Leben am Berg (und überhaupt) gewährt. Kein noch so erlesener Konzertabend (und ich liebe Musik) oder sonst ein hochkultivierter Genuß vermag in mir ein so tiefes, aus der Wurzel des Daseins hervorströmendes Wohlbehagen hervorzurufen wie – pasta asciutta mit Rotwein nach großer Tour.

Wie sieht es im Alltag mit dem Vergnügen des Essens aus? Wir kommen abends abgespannt nach Hause, die Gedanken sind noch ganz bei den Schwierigkeiten und Zwischenfällen am Arbeitsplatz. Die Gattin hat eine schöne Brotzeit hergerichtet. Doch ein Genießen, das den ganzen Körper erfaßt, wird die Mahlzeit nicht. Der Kopf und die Sinne sind nicht recht dabei, wir merken gar nicht richtig, was und wieviel wir essen.

Wie anders erleben wir den »trivialen« Vorgang des Essens im Gebirge: Auch wenn’s dabei oft primitiv zugeht und nur Hausmannskost zur Verfügung steht, so ist das Essen nach großen Unternehmungen doch ein wahrhaftiges Fest der Sinne, das jeden Gedanken, jede Körperfaser in Beschlag nimmt. Ja, man kann von regelrechten Orgien der Kauwerkzeuge und der Verdauung sprechen. Jeder Schluck, jeder Bissen ist Lebensfülle und Lebenslust. Wir knüpfen wieder an das verlorengegangene Eßbehagen unserer Vorväter an.

Wo mit allen Sinnen gegessen und getrunken wird, da wird auch mit Hingabe und Hochgenuß verdaut. So viel ungeniertes und sichtlich genußvolles Gepolter von Rülpsern und anderen Winden wie bei einer fröhlichen Gruppenfahrt ins Gebirge hört man im Alltagsleben das ganze Jahr über nicht. Ja, auch das sind vitale Wonnegefühle, nur verbieten wir uns gewöhnlich diese Freuden, gilt die Sache doch als anrüchig und vulgär. Da waren unsere Vorfahren bis in die Barockzeit hinein noch sehr viel freimütiger und körperfreundlicher eingestellt! Sie artikulierten die Verdauungswonnen des Körpers in unschuldiger Freizügigkeit. Offenbar besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Geringschätzung der Nahrungsaufnahme und der Tabuisierung der Verdauungsfunktionen.

Außerordentlich vielfältig sind die einfachen Sinnenfreuden beim Bergsteigen. Auch der Schlaf wird hier zur seelentiefen Wohltat. Statt der nervösen Abgespanntheit am Ende eines zermürbenden Berufsalltags bringen wir von einer tüchtigen Tour solide Erschöpfung mit, die den ganzen Körper ergreift und ihn schnell in tiefen Schlaf versinken läßt. Noch viele andere körperliche Funktionen wären zu nennen, die im Gebirge einen ganz neuen Wert bekommen, plötzlich zu intensiven »Lustquellen« werden. Es sind alles triviale Dinge, die nun mit einem Mal eine ganz neue, vitale Qualität annehmen, wie etwa die Sonnenwärme, die nach einem schattigen Anstieg den Körper unendlich wohltuend umfängt, oder der erste Schluck Wasser nach einer langen Kletterfahrt, der uns erquickt wie das schönste Göttergeschenk.

Das äußerlich besehen so karge und entbehrungsreiche Leben am Berg ist für uns moderne Menschen voll der tiefsten, weil rar gewordenen Sinnengenüsse. Es ist unendlich reicher an körperlichen Freuden als das Alltagsleben mit den schönen Menüs, den weichen Betten, den bequemen Autos, den klimatisierten Räumen … Unser Körper, unsere Sinne schenken uns mit einem Mal herrliche Empfindungen von einer elementaren Intensität, wie sie unser gewöhnlicher Alltag nie gewährt. Wir leben wieder ganz und mit Hingabe unsere kreatürliche Existenz. Wir bestehen aus Muskelkraft, aus Essen, Trinken, Kampf und Erschöpfung. So setzen wir den Körper im Gebirge gewissermaßen wieder in seine ureigenen Rechte ein, in die Rechte, die er vor zwei, drei Jahrhunderten auch im Alltagsleben der meisten Menschen noch besessen hat, die ihm heutzutage aber unsere moderne Gesellschaftsorganisation im Verein mit einer leibfeindlichen idealistischen Daseinsinterpretation weitgehend genommen hat.

Wir Bergsteiger berufen uns immer auf hohe Werte und Ideale, wenn wir uns zur Begründung unseres Tuns verpflichtet wähnen. Wir beschwören die Liebe zur Natur, die hehre Bergkameradschaft, das Streben nach Freiheit usw. Wir suchen unsere Legitimation fortwährend in den höchsten Sphären, während die überzeugendste und echteste Begründung doch so nahe liegt: In den Freuden des Körpers, im Triumph verschütteter Erlebnisse der vitalen Ebene. Aber freilich, das widerstrebt uns, solch »primitive« Gründe zu nennen. In dieser Hinsicht sind wir noch ganz dem elitäridealistischen Erbe der deutschsprachigen Pioniere der Alpenerschließung verhaftet, die vor gut hundert Jahren eine offizielle Bergsteigerideologie geschaffen haben, die sich bis heute kaum gewandelt hat. Einige hundert Männer, die damals im Alpenverein das Sagen hatten und die allesamt aus den sogenannten »feineren Kreisen« stammten, befanden im vorigen Jahrhundert, daß die Bergsteigerei »geistigen« Zwecken zu dienen habe – und das ist uns bis auf den heutigen Tag noch Dogma und Gesetz, mit der Folge einer peinlichen Diskrepanz zwischen unserem tatsächlichen Handeln und Erleben im Gebirge und der »offiziellen« Ideologie bezüglich eben dieses Handelns und Erlebens. Wir sind seit jeher ausgemachte Heuchler, wir Bergsteiger des deutschsprachigen Raumes: Wir führen ein herrlich barbarisches Leben im Gebirge, aber wir glorifizieren es als eine Großtat von Geist und Kultur.