Zurück im Leben - Silvia Eyer - E-Book

Zurück im Leben E-Book

Silvia Eyer

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Beschreibung

Silvia Eyer war schon als Schülerin heroinsüchtig. Und dies, obwohl ihre Mutter, eine erfolgreiche Künstlerin, und ihr Vater, ehemaliger Korrespondent fürs Schweizer Radio und weitherum als »Stimme des Wallis« bekannt, für ihre drei Kinder ein Nest gebaut hatten, aus dem man eigentlich nicht hinausfallen konnte. Um sich das Geld für die Drogen zu beschaffen, verkaufte Silvia ihren Körper auf dem Berner Babystrich. Trotzdem konnte sie ihre Sucht verheimlichen – bis sie zum ersten Mal von der Polizei mit Drogen erwischt und verhaftet wurde. Da war sie gerade sechzehn Jahre alt. Nicht ganz freiwillig begann sie einen Monat später eine zweijährige Drogentherapie, was den Eltern Anlass zu Hoffnung gab. Doch direkt nach der Therapie wurde es erst richtig schlimm – sie begann zu fixen. Und bald schon steckte sie tief im elenden Kreislauf aus Geldbeschaffen und Suchtstillen. Der tägliche Kampf gegen die grauenhaften Entzugsschmerzen endete erst, als sie körperlich und seelisch am Ende war. Dank der nie endenden Fürsorge ihrer Eltern, einem dreijährigen Methadonprogramm und ihrer intensiven Auseinandersetzung mit Yoga gelang Silvia, was nur wenigen Süchtigen gelingt – der völlige Ausstieg aus den Drogen. Ein Kraftakt, den die heutige Gemeinderätin auch dank der Tatsache schaffte, dass sie die Hoffnung nie verloren hat.

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Seitenzahl: 203

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Wörterseh wird vom Bundesamt für Kultur für die Jahre 2021 bis 2024 unterstützt.

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© 2024 Wörterseh, Lachen

Lektorat: Brigitte MaternKorrektorat: Andrea LeutholdUmschlaggestaltung: Thomas JarzinaFoto Umschlag vorn: Sascha ErpenFoto Umschlag hinten: die fünfzehnjährige Silvia beim Ausflug mit ihrer Mutter nach Barcelona (Privatarchiv)Layout, Satz und Herstellung: Beate SimsonDruck und Bindung: CPI Books GmbH

Print ISBN 978-3-03763-151-5 E-Book ISBN 978-3-03763-843-9

www.woerterseh.ch

 

Für alle, die einen Ausweg suchen

 

Man ertrinkt nicht, weil man unter Wasser taucht, sondern weil man unter Wasser bleibt.

Paulo Coelho

 

Inhalt

Über das Buch

Über die Autorin

Prolog

Mein Büro im Märchengarten

Ein großer Wunsch und schräge Töne

»Das ist doch logisch, du Arschloch!«

Diese heimtückischen Glücksmomente

Unlust pur

Fluchtversuch

»Du Scheißheroin!«

Ein fataler Sonnentag am See

Bodenlose Tiefen

Im Teufelskreis der Sucht

Ein verpatzter Abflug und gebrochene Herzen

Auszeit in Griechenland

Zweiundvierzig Kilo Lebendgewicht

Der Rammbock-Schock

Spürhunde und ein teurer Anwalt

Eine Maus im Rampenlicht

Gefängnis oder Freiheit

Ein Schritt in Richtung Zukunft

Der zweite Geburtstag

Licht im Tal der Tränen

Kopfstand fürs Gehirn

Luftsprünge mit Heli

Nur noch dieses eine Mal!

Was wächst, lebt

Den Blickwinkel ändern

Eine Orchidee für den Anfang

Unerwartete Gefühle

Epilog

Briefe der Eltern

… von Reinhard Eyer

… von Denise Eyer-Oggier

Nachwort von Elke Lüscher, Sozialpädagogin, Rehabilitationszentrum Lutzenberg

Dank

 

Über das Buch

Silvia Eyer war schon als Schülerin heroinsüchtig. Und dies, obwohl ihre Mutter, eine erfolgreiche Künstlerin, und ihr Vater, ehemaliger Korrespondent fürs Schweizer Radio und weitherum als »Stimme des Wallis« bekannt, für ihre drei Kinder ein Nest gebaut hatten, aus dem man eigentlich nicht hinausfallen konnte. Um sich das Geld für die Drogen zu beschaffen, verkaufte Silvia ihren Körper auf dem Berner Babystrich. Trotzdem konnte sie ihre Sucht verheimlichen – bis sie zum ersten Mal von der Polizei mit Drogen erwischt und verhaftet wurde. Da war sie gerade sechzehn Jahre alt. Nicht ganz freiwillig begann sie einen Monat später eine zweijährige Drogentherapie, was den Eltern Anlass zu Hoffnung gab. Doch direkt nach der Therapie wurde es erst richtig schlimm – sie begann zu fixen. Und bald schon steckte sie tief im elenden Kreislauf aus Geldbeschaffen und Suchtstillen. Der tägliche Kampf gegen die grauenhaften Entzugsschmerzen endete erst, als sie körperlich und seelisch am Ende war.

Dank der nie endenden Fürsorge ihrer Eltern, einem dreijährigen Methadonprogramm und ihrer intensiven Auseinandersetzung mit Yoga gelang Silvia, was nur wenigen Süchtigen gelingt – der völlige Ausstieg aus den Drogen. Ein Kraftakt, den die heutige Gemeinderätin auch dank der Tatsache schaffte, dass sie die Hoffnung nie verloren hat.

Silvia berührt und beeindruckt mich mit ihrer Geschichte. Ihre Autobiografie ist eine Odyssee der Gefühle, eine Hommage an ihre Familie und eine lebensbejahende Inspiration. Mit imponierender Ehrlichkeit zeigt uns die heutige Gemeinderätin die Abgründe ihrer früheren Drogensucht auf. Ihre Geschichte ist ein starkes Zeugnis für die Kraft des Willens und ein wegweisendes Beispiel für alle, die das Glück zu sich lassen möchten.

Michael Brunner, Radio-Moderator

 

Über die Autorin

© Sascha Erpen

Silvia Eyer, geb. 1984 in Naters VS, stürzte bereits als Schülerin in die Heroinsucht. Während einer Drogentherapie begann sie ihre kaufmännische Ausbildung, die sie nach drei Jahren erfolgreich abschloss. Nach dem definitiven Ausstieg aus den Drogen vor elf Jahren arbeitete sie als Journalistin bei einer Walliser Regionalzeitung, bildete sich am Medienausbildungszentrum Luzern in professioneller Medienarbeit weiter und ließ sich schließlich zur Yogalehrerin ausbilden. 2018 wurde die Oberwalliserin in ihrem Heimatkanton Integrationsdelegierte. Aufgrund ihres gesellschaftspolitischen Engagements sitzt sie zudem seit Dezember 2022 im Gemeinderat ihres Wohnortes, der Stadt Naters, wo sie das Ressort Soziales und Liegenschaften betreut.

 

Prolog

Das Geheimnis der Veränderung ist, alle Energie nicht auf die Bekämpfung des Alten zu legen, sondern auf den Aufbau des Neuen.

Dan Millman

Die Energie auf den Aufbau des Neuen legen – die Aussage des Zitats trifft auch auf mich zu. Nach meiner Sucht kämpfte ich lange Zeit mit Minderwertigkeitsgefühlen. Ich lenkte meine Energie auf die Vergangenheit. Erst als ich begonnen habe, meine Geschichte als die meinige zu akzeptieren, konnte ich meine Kräfte für den Aufbau des Neuen einsetzen. Dazu gehört auch dieses Buch. Doch sollte ich meine Geschichte wirklich veröffentlichen? Ich habe lang überlegt. Denn ich wollte ja auch von den dunkelsten Zeiten in meinem Leben erzählen. Ohne etwas auszulassen. Würde ich mit der Kritik umgehen können, wenn ich für das, was ich erzähle, an den Pranger gestellt würde? Meine Antwort lautete schließlich klar und deutlich: »Ja, das kann ich.« Denn ich bin nun mal der Mensch, der ich bin. Und meine Zeit als Heroinsüchtige ist ein Teil davon. Allerdings werde ich – und dafür bitte ich um Verständnis – einige Personen, die in meinem Leben eine Rolle spielten, nicht bei ihrem richtigen Namen nennen, andere klammere ich sogar ganz aus. Denn es ist mein Entschluss, dieses Buch zu schreiben, und nicht ihrer, und ich möchte niemanden ungewollt ins Licht der Öffentlichkeit zerren.

Vieles in meinem früheren Leben war sehr schmerzhaft. Beim Schreiben stiegen längst vergessene Erinnerungen auf, und mit den Erinnerungen kamen die Schuldgefühle. Vor allem meinen Eltern gegenüber, denn sie haben meinetwegen viel gelitten. Ungeschehen machen kann ich das alles nicht. Umso dankbarer bin ich, wenn ich sie heute sagen höre, dass sie durch mich auch Positives erfahren hätten, dass, was ich ihnen zugemutet hatte, ihnen sogar einiges über sich und das Leben aufzeigte. Was genau und wie sie die Zeit meiner Drogensucht erlebt hatten, berichten sie im Anhang des Buchs.

Ich möchte allerdings nicht einfach nur meine Geschichte erzählen. Es ist mir wichtig, aufzuzeigen, dass das Leben zwar manchmal sehr schwer sein kann, dass man die Hoffnung aber nie aufgeben darf. Aufstehen, weitergehen! Jeder Schritt, und ist er noch so klein, zählt. Jeder Schritt lässt einen wachsen. Meine Geschichte zeigt aber auch, wie viel Leid hinter einer Drogensucht steckt. Dieses Thema war für viele Jahre weitgehend aus den Medien verschwunden. Bis Mitte der 1990er-Jahre hatte es in der Schweiz eine große offene Drogenszene gegeben. Die Suchtkranken waren damals für alle sichtbar. Seither hat sich viel getan, die Drogensüchtigen wurden einerseits von der Straße geholt, anderseits begann man, ihnen das Leben in der Abhängigkeit zu erleichtern. Deshalb gibt es heute Drogenanlaufstellen wie Fixer- oder Gassenstuben, die kostenlose Abgabe sauberer Spritzen sowie Programme für Schwerstabhängige und solche für Ausstiegswillige. Denn es gibt sie noch, die Suchtkranken.

Laut der Stiftung Sucht Schweiz befanden sich im Jahr 2021 15 996 Personen wegen ihres Opioidkonsums in einer Substitutionsbehandlung, bekamen also beispielsweise das synthetische Ersatz-Opioid Methadon. Die Mehrheit hatte nicht zum ersten Mal eine Behandlung begonnen, sondern bereits vorher einmal versucht, durch eine Therapie clean zu werden – das zeigt, wie schwer der Ausstieg aus der Sucht tatsächlich ist.

Für 2021 gibt das schweizerische Bundesamt für Gesundheit 147 Drogentote an – 1995 waren es noch 376 gewesen –, die meisten starben aufgrund einer Heroinsucht. Diese Zahl erfasst allerdings hauptsächlich diejenigen, die direkt an ihrer Sucht starben, und kaum Todesfälle aufgrund der schrittweisen Verschlechterung des Gesundheitszustands nach langjährigem Drogengebrauch. 2012 waren es 121 Drogentote: Es gibt also wieder eine leichte Aufwärtstendenz. Und in den letzten Monaten berichten Schweizer Medien zudem über neu entstehende offene Drogenszenen, in Zürich beispielsweise, in Chur oder auch im Kanton Aargau.

Es liegt mir also eines sehr am Herzen: Suchterkrankte – wie auch andere Menschen mit Problemen – werden oft verurteilt. Wir sollten aber nicht vorschnell über andere richten. Denn wir wissen nicht, was sie alles durchgemacht haben. Jeder Mensch auf dieser Erde trägt einen Rucksack mit sich. Wie schwer dieser ist und womit er gefüllt ist, erfahren wir erst, wenn wir uns mit ihm auseinandersetzen.

Und zum Schluss noch dies: Ich werde meine Leserinnen und Leser in diesem Buch duzen. Zum einen sind wir bei uns im Wallis generell schnell und gern beim Du. Zum anderen ist es einfacher für mich, weil ich so eine gewisse Nähe zulasse.

Silvia, im Dezember 2023

 

Mein Büro im Märchengarten

Kinder kennen weder Vergangenheit noch Zukunft. Sie genießen die Gegenwart.

Jean de La Bruyère

Gegen Mittag hämmerte es plötzlich gegen die Tür. Said war gerade losgegangen, um neuen Stoff zu besorgen. Hatte er etwas vergessen? Aber warum trat er so wütend gegen die Tür? Im nächsten Augenblick krachte es ohrenbetäubend. Ein Rammbock ließ unsere Wohnungstür aus dem Schloss springen und krachend gegen die Wand prallen. Polizisten stürmten in die Wohnung. Es ging alles rasend schnell. Einer zielte mit der Pistole auf mich und brüllte: »Auf den Boden! Auf den Boden mit dir!« Ich ging sofort hinunter und legte mich auf den Rücken. Der Polizist setzte mir den Stiefel auf die Brust. Ich bekam kaum Luft. Viel Zeit zum Nachdenken blieb mir nicht. Jemand rollte mich auf den Bauch, riss mir die Hände auf den Rücken. Klick. Die Handschellen schlossen sich. Ich wurde an den Armen hochgezogen und unsanft auf das Sofa gedrückt. Zentimeter für Zentimeter nahmen sie unsere Wohnung auseinander. Und alles, was ich konnte, war zusehen. Jetzt war er also da, der Moment, vor dem ich mich so lange gefürchtet hatte. Ich hatte zuvor schon viele schlimme Momente erlebt, doch dieser hier war anders. Die Angst schnürte mir die Kehle zu. Was passierte nun mit mir und Said, meinem Freund? Dealen war kein Kavaliersdelikt. Mussten wir ins Gefängnis? Womöglich für Jahre? Und wie zum Teufel war ich nur in diese Situation geraten?

Dieser Polizeieinsatz war ein Tiefpunkt in meinem Leben. Er fand am 4. Januar 2008 statt. Ich war damals dreiundzwanzig und seit vielen Jahren heroinsüchtig. Noch heute kann ich die Frage, warum ich so jung in die Drogen abgerutscht bin, nicht gänzlich beantworten. Inzwischen denke ich jedoch, dass dieses Leben für mich bestimmt war. Und dass ich all diese Erfahrungen machen musste, um zu dem Menschen zu werden, der ich heute bin.

Nein, meine Eltern waren keine Alkoholiker, und nein, ich bin nicht in ärmlichen oder prekären Verhältnissen aufgewachsen, und nein, ich war auch keiner Gewalt ausgesetzt. Im Gegenteil. Meine Kindheit war glücklich, sehr glücklich sogar. Ich kam im September 1984 in der Kleinstadt Naters im Oberwallis zur Welt, wohlbehütet inmitten von Bergen. Mein Vater arbeitete als Journalist und Wallis-Korrespondent für das Schweizer Radio SRF, vormals DRS. Meine Mutter war damals schon Künstlerin; sie malte zu Hause, vor allem in den Abendstunden, damit sie sich tagsüber um meine zwei Brüder und mich kümmern konnte. Meine Eltern waren zwar nicht reich, besaßen aber ein schönes Haus. Hier wuchs ich mit den beiden Geschwistern auf: Daniel ist vier Jahre älter als ich – und zwar auf den Tag genau! –, Leander zwei Jahre älter. Ich bin also das Nesthäkchen.

An meine Kindheit habe ich ausschließlich gute Erinnerungen. Unser Haus stand am Rand von Naters, etwas erhöht an einem Hang, sodass wir einen schönen Blick auf das Glishorn und den Simplon hatten. Wie auch auf die Stadt Brig, die vor fünfzig Jahren mit Glis fusioniert hat und mit Naters zusammengewachsen ist. In der Nähe unseres Hauses rauschte ein Wasserfall den Berg hinunter. Wenn im Sommer nachts mein Fenster offen stand, konnte ich ihn hören. Das hatte für mich etwas Beruhigendes.

Um das Haus herum lag ein großer Garten, in dem ich mit meinen Brüdern gern herumtobte. Es gab eine Ecke, in der meine Mutter Tomaten, Gurken und Salat zog. Den größten Teil des Gartens ließ sie aber bewusst verwildern, damit die Bienen und Schmetterlinge und all die anderen Tiere möglichst viel Nahrung fanden. Und so wuchs zwischen hohen Bäumen ganz viel durcheinander. Einer der Bäume war zudem völlig von Efeu umwachsen, sodass ich mich ein bisschen wie in einer Märchenwelt fühlte. Im hinteren Teil des Gartens stand ein Spielhaus aus Holz. Meine Eltern hatten es einst für meinen ältesten Bruder aufgebaut, es war also schon etwas in die Jahre gekommen. Außen blätterte die grüne Farbe langsam ab, und der Laden des kleinen Fensters hing schief. Drinnen konnte ich knapp aufrecht stehen, aber es stand ein Tischchen darin, an dem ich oft saß.

Ich weiß noch, dass ich ein Buch über Blumenkunde besaß. Damit spazierte ich im Frühling und Sommer oft durch den Garten und versuchte, die einzelnen Pflanzen zu bestimmen. Danach saß ich stundenlang in meinem Spielhaus am Tisch und malte die Blumen, die ich gefunden hatte, und schrieb feinsäuberlich deren Namen darunter. Meine Mutter hatte mir dafür einen Skizzenblock geschenkt. Besonders gut gelangen mir die Zeichnungen allerdings nicht, das künstlerische Talent meiner Mutter habe ich leider nicht geerbt. Aber ich fühlte mich wohl »bei der Arbeit« in meinem kleinen Spielhaus-»Büro«. Die Vorstellung, auch einen Ort zu haben wie mein Vater, der jeden Tag zum Arbeiten ins Büro ging, gefiel mir ausgesprochen gut.

Und dann gab es noch etwas Besonderes bei uns zu Hause: Wir hatten immer viele Katzen, meistens fünf oder sechs, denn meine Mutter liebte diese Tiere. Mein Vater tat zwar so, als könne er die Katzen nicht leiden. Doch ich glaube, dass das gar nicht stimmte, denn wenn er sich unbeobachtet fühlte, sprach er mit ihnen und ließ sie sogar auf seinem Schoß schlafen. Wenn eine Katze Junge bekam, war die Freude bei uns Kindern groß. Stundenlang umlagerten wir das Nest und schauten den kleinen Kätzchen zu, wie sie mit unsicheren Schritten herumtapsten. Mussten wir sie dann nach drei oder vier Monaten weitergeben, waren wir Kinder natürlich sehr traurig. Mein Vater vermutlich etwas weniger. Die meisten Möbel hatten Kratzspuren von oben bis unten, und die Kätzchen spielten sehr gern mit dem Sand aus dem Katzenklo, sodass er in der ganzen Wohnung verstreut herumlag. Trotzdem bin ich, wie meine Mutter heute noch, eine richtige Katzennärrin.

Das Leben war für mich also rundum perfekt. Ich fühlte mich behütet und umsorgt. Allerdings suchte ich damals schon die Stille. Ich war ein in sich gekehrtes Mädchen, versank oft in meiner eigenen Welt. Und war glücklich damit. Probleme gab es erst im Kindergarten.

 

Ein großer Wunsch und schräge Töne

Der Wahnsinn der Welt beginnt im kleinsten Kleinen bereits mit den schwersten Herausforderungen.

Raymond Walden

Meine Eltern suchten für mich den Kindergarten in der Nachbarstadt Brig-Glis aus. Dieser war halbprivat und viel kleiner als der öffentliche Kindergarten in Naters. Und da mein Vater sein Büro in Brig hatte, konnte er mich morgens dorthin bringen. Für mich war der Kindergarten jedoch ein Schock. Ich wurde aus meiner gewohnten Umgebung herausgerissen und musste den ganzen Tag mit Kindern, die mir fremd waren, verbringen. Während sie sich miteinander anfreundeten und zusammen spielten, fand ich nur sehr schwer Kontakt. Ich wusste einfach nicht, wie ich auf sie zugehen sollte. Und wenn ein Kind auf mich zukam, war ich zu scheu, um darauf reagieren zu können. Zudem war mir oft alles zu laut und zu chaotisch. So spielte ich die meiste Zeit allein in irgendeiner Ecke. Damals wusste ich noch nicht, wieso das so war. Aber es machte mich irgendwie traurig. Die einzigen zwei Freundinnen, die ich in diesem Alter hatte, waren zwei Schwestern aus der Nachbarschaft. Wir kannten uns von klein auf. Da sie aber den Kindergarten in Naters besuchten, verloren wir uns aus den Augen.

Als ich vom Kindergarten in die Grundschule wechselte, änderte sich mein Verhalten nicht. Wieder zog ich mich zurück und verbrachte in der Schule die meiste Zeit allein. Als Schülerin war ich eher mittelmäßig, nur im Fach Deutsch hatte ich gute Noten. Meine Mittelmäßigkeit lag vermutlich daran, dass ich oft vor mich hin träumte und zum Fenster hinausschaute, statt der Lehrperson zuzuhören – da draußen schien mir die Welt einfach viel friedlicher zu sein als im Klassenzimmer.

In dieser Zeit, ich war sieben Jahre alt, wurde ich das erste Mal richtig krank. Plötzlich bekam ich in der Schule hohes Fieber und musste mich übergeben – vor allen Kindern, ich weiß noch, dass mir das sehr peinlich war. Die Lehrerin vom angrenzenden Kindergarten fuhr mich in ihrem helllila Auto mit den dunkellila Punkten nach Hause. An das Auto kann ich mich noch gut erinnern, weil die Bemalung so gut zu ihrer fröhlichen Art passte. Als meine Eltern mich zum Arzt brachten, diagnostizierte der eine einfache Grippe. Doch es wurde nicht besser. Wieder zu Hause, stieg das Fieber auf über vierzig Grad Celsius. Und dann kam in der Nacht auch noch ein stechender Schmerz in der Brustgegend hinzu, dessen Heftigkeit mich schier überwältigte. Ich schrie vor Schmerzen und kollabierte fast, weil ich kaum Luft bekam. Meine Eltern brachten mich mitten in der Nacht ins Krankenhaus. Dort wurde beim Röntgen ein Schatten hinter meinem Herzen entdeckt: »versteckte Lungenentzündung« lautete, soweit ich mich erinnere, der medizinische Fachbegriff für diese atypische Lungenentzündung.

Ich verbrachte zehn Tage auf der Station an einem Tropf, der an einer riesigen Maschine hing. Diese piepte ständig, während sie meine Vitalfunktionen und meine Sauerstoffsättigung überwachte. Das war die einzige schlimme Krankheit, die ich während meiner Kindheit und Jugendzeit bekam. Einen Knochenbruch oder etwas Derartiges hatte ich nie. Dafür war ich wohl einfach zu vorsichtig und zu still.

An ein anderes Ereignis, das mir große Angst einjagte, erinnere ich mich ebenfalls noch genau. Es war im Herbst 1993, zwei Tage nach meinem neunten Geburtstag. Tagelang hatte es geregnet, und dann trat die Saltina über die Ufer, der Fluss, der die beiden Stadtteile Brig und Glis trennt. Entwurzelte Bäume und Geröll stauten an einer Brücke das Wasser, sodass es nicht abfließen konnte und das ganz Stadtzentrum überschwemmte. Ich kam gerade aus der Schule und war auf dem Heimweg. Als ich beim Bahnhof, dem tiefsten Punkt der Stadt, die Straße überqueren wollte, stand das Wasser schon kniehoch. Es war braun gefärbt vom mitgeführten Schlamm. Komplett überfordert, war ich vor Angst wie gelähmt. Ich glaube, ich verstand nicht einmal richtig, was gerade vor sich ging, stand völlig bewegungsunfähig im Wasser, während es immer höher stieg. Plötzlich packte mich eine Frau am Arm und zog mich durch das Wasser auf die andere Seite des Bahnhofs, wo das Gelände noch nicht überschwemmt war. Zu Hause angekommen, weinte ich noch immer; meine Mutter, die von der Katastrophe noch nichts mitbekommen hatte, sah mich und meine bis knapp unterhalb der Hüfte nassen und verdreckten Hosen ungläubig an. Als ich ihr schluchzend erzählte, was passiert war, rief sie umgehend meinen Vater an, der sein Büro im Stadtzentrum hatte. Er bestätigte meine Geschichte und schilderte ihr das Ausmaß der Überschwemmung.

Als einige Tage später das Wasser abgeflossen war, wurde die ganze Zerstörung sichtbar. Die Räume zahlreicher Geschäfte und Restaurants waren verwüstet. Auf dem Stadtplatz, dem Bahnhofplatz und den Straßen der Innenstadt lagen der Schlamm und der Schutt teilweise zwei Meter hoch. Mein Vater kam damals mehrere Tage nicht nach Hause. Er konnte sein Büro zwar verlassen, doch er musste rund um die Uhr arbeiten. Als Wallis-Korrespondent war er in dieser Zeit nicht nur beim Radio SRF ein gefragter Journalist, sondern auch bei zahlreichen TV-Sendern aus dem In- und Ausland. Für einen dieser Sender – ich glaube, es war das Schweizer Fernsehen – gab ich damals übrigens das erste Interview meines Lebens. Der Sender hatte ein Kind gesucht, das erzählen konnte, was es während der Überschwemmung erlebt hatte. Meine Mutter steckte mich also in meine schönsten Kleider, und ich schilderte am Ort des Geschehens, dem Bahnhof, ziemlich nervös, wie mir dort eine fremde Frau auf die andere Seite geholfen hatte.

Bald rückten Soldaten und der Zivilschutz an, um bei den Aufräumarbeiten zu helfen. Ich weiß nicht mehr genau, wie lange es dauerte, bis von der Überschwemmung nichts mehr zu sehen war, ein Jahr sicher. Etwas Gutes hatte die ganze Sache jedoch: Danach wurde das Stadtzentrum von Brig autofrei geplant, was nicht nur für die dort lebenden Menschen ein Gewinn ist, sondern auch für die vielen Touristinnen und Touristen.

In der Schule ging es derweil weiter wie bisher. Ich war viel zu unsicher, als dass es mir gelingen konnte, Kontakte zu knüpfen. Ich saß in den Pausen irgendwo allein in einer Ecke oder auf einer Bank, während die anderen Kinder Fußball spielten oder seilhüpften. Sie fragten mich manchmal, ob ich nicht mitmachen wolle. Ich wollte nicht. Und irgendwann gaben sie es auf. Vor kurzem fiel mir eines der Klassenfotos wieder in die Hände, die jedes Jahr gemacht wurden. Darauf stehe ich ganz am Rand, Kopf und Oberkörper in Richtung der Gruppe geneigt. Vermutlich dachte ich, dass es so weniger auffiele, wie abseits und allein ich stand.

Meine Eltern erzählten mir später einmal, dass sich die Lehrer damals wegen meiner Zurückgezogenheit Sorgen machten. Auch ich begann mir in dieser Zeit darüber Gedanken zu machen. Ich begriff allmählich, dass Alleinsein in unserer Gesellschaft nicht als normal angesehen wird. Und fragte mich, wieso ich so anders war als die anderen Kinder, ob etwas mit mir nicht stimmte. War ich vielleicht zu dumm oder nicht liebenswert? Diese Sorge hat mich lange Jahre begleitet. Dass ich hochsensibel war und unter einer Reizfilterschwäche litt, erfuhr ich erst viele Jahre später. Noch als Erwachsene zwang ich mich oft, überall mit dabei zu sein, und sagte nie Nein, wenn mir etwas zu viel wurde. Erst spät begriff ich, dass ich mich nicht schämen muss für mein Bedürfnis, genügend Zeit für mich allein zu haben.

Als ich mit zwölf Jahren die sechste Grundschulklasse besuchte, schloss ich dann aber doch eine erste Freundschaft: Es waren zwei Zwillingsmädchen, die zu uns in die Schule gewechselt hatten. Da sie neu waren, hatten auch sie noch keinen Anschluss in der Klasse. Obwohl es mich viel Überwindung kostete, die Mädchen anzusprechen, war der Wunsch, endlich wie die anderen zu sein, größer. Also nahm ich all meinen eigentlich nicht vorhandenen Mut zusammen. Und siehe da, es funktionierte. Die beiden wurden meine ersten richtigen Schulfreundinnen.

Die Eltern der beiden waren berufstätig und verdienten nicht schlecht. Sie wohnten in einer Attikawohnung am Rande von Brig, in die man nur gelangte, wenn man den Schlüssel für den Aufzug hatte. Und in der Wohnung gab es sogar einen kleinen Pool, groß genug, dass wir darin schwimmen konnten. Das alles beeindruckte mich sehr. Wir verbrachten fortan viel Zeit zusammen und gründeten sogar eine A-cappella-Girl-Popband. Gut gab es zu dieser Zeit noch keine Smartphones, mit denen man Aufnahmen und Videos machen konnte, sodass es keine Zeugnisse unseres schrägen Gesangs gibt. Und ja, es machte mich tatsächlich glücklich: Endlich hatte ich Freundinnen, war nicht mehr das schüchterne Mädchen, das allein in der Ecke saß. Und weil sich die Zwillinge auch mit anderen Mädchen und Jungs in meiner Klasse anfreundeten, konnte ich mit ihrer Hilfe weitere Freundschaftsbande knüpfen. Am Ende der sechsten Klasse hatte ich für kurze Zeit sogar meinen ersten Freund. Doch es waren nur wenige Wochen, in denen wir Händchen hielten und scheu Küsse auf die Wangen austauschten.

Dann kam nach der sechsten Grundschulklasse der Wechsel in die höhere Schulstufe. Und die Zwillinge gingen in eine Privatschule in Naters. Ich wollte die so schwer gewonnenen Freundinnen auf keinen Fall verlieren und bat meine Eltern, mich statt in der öffentlichen Schule ebenfalls in der privaten anzumelden. Meine Eltern erfüllten mir diesen Wunsch, geholfen hat dabei sicher die Tatsache, dass meine Mutter dort Malen unterrichtete. Zudem lag die Schule keine zwei Gehminuten von meinem Zuhause entfernt, was recht praktisch war. Und so besuchte ich gemeinsam mit meinen beiden Freundinnen in Naters das private Progymnasium.

Die Klassen an dieser Schule waren sehr klein, ich glaube, es waren jeweils nicht mehr als zehn Schülerinnen und Schüler, was meinem Bedürfnis nach weniger Lärm und Hektik sehr entsprach. Es lag sicher an den kleinen Klassen, dass ein gutes Gruppengefühl entstand. Außenseiter gab es keine. Ich fühlte mich wohl in dieser Schule. Zum ersten Mal. Doch dann kamen kurz vor Ende des ersten Schuljahres zwei Hiobsbotschaften: Meine beiden Freundinnen zogen um, ans andere Ende der Schweiz. Und weil sich noch zwei weitere Schülerinnen von der Schule abmeldeten, wurde unsere Klasse geschlossen. Mangels Alternativen musste ich nun doch an die öffentliche Schule in Brig-Glis wechseln. Der Gedanke daran war für mich kaum zu ertragen. Begann nun alles von vorn? Würde ich wieder die Außenseiterin sein?

 

»Das ist doch logisch, du Arschloch!«

Müsste ich das Leben der meisten Menschen in wenigen Worten zusammenfassen, käme dabei heraus: endloser Widerstand gegen das, was ist.

Paulo Coelho

1998 wechselte ich also nach dem Sommer in die zweite Sekundarstufe der öffentlichen Schule von Brig-Glis. Ich war nun fast vierzehn Jahre alt und hatte große Angst vor dem ersten Tag an der neuen Schule. Auf gar keinen Fall wollte ich wieder die Außenseiterin sein, und so begann ich, meine Angst und meine Unsicherheit zu überspielen. Die Taktik ging auf, ich freundete mich mit ein paar Mädchen an und entwickelte mich rasant zu einer kleinen Rebellin. Ich passte mich meiner neuen Clique an, trug die angesagten Klamotten, begann, Alkohol zu trinken und zu rauchen. So wurde aus dem braven kleinen Mädchen eine taffe Jugendliche.