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Beschreibung

Inwiefern kann das Recht sozialen Zusammenhalt stärken? Einerseits wird ihm traditionell eine Ordnungs- und damit zugleich eine Befriedungsfunktion zugeschrieben, ohne die eine komplexe Gesellschaft nicht existieren kann. Andererseits organisiert es diese Gesellschaft zunächst nur als ein Nebeneinander von Rechtspersonen, wodurch nicht notwendig ein Miteinander von Bürger:innen entsteht. Ausgehend von dieser Analyse gehen die Beiträge des Bandes der Frage nach, welche weiteren Leistungen das Recht für sozialen Zusammenhalt erbringen kann, welche Grenzen ihm dabei gesetzt sind und welche Folgeprobleme hieraus entstehen.

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Cover for EPUB

Klaus Günther, Daniel Thym, Uwe Volkmann

Zusammenhalt durch Recht?

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Inwiefern kann das Recht sozialen Zusammenhalt stärken? Einerseits wird ihm traditionell eine Ordnungs- und damit zugleich eine Befriedungsfunktion zugeschrieben, ohne die eine komplexe Gesellschaft nicht existieren kann. Andererseits organisiert es diese Gesellschaft zunächst nur als ein Nebeneinander von Rechtspersonen, wodurch nicht notwendig ein Miteinander von Bürger:innen entsteht. Ausgehend von dieser Analyse gehen die Beiträge des Bandes der Frage nach, welche weiteren Leistungen das Recht für sozialen Zusammenhalt erbringen kann, welche Grenzen ihm dabei gesetzt sind und welche Folgeprobleme hieraus entstehen.

Vita

Klaus Günther ist Professor für Rechtstheorie, Straf- und Strafprozessrecht und Projektleiter am FGZ Frankfurt am Main. Daniel Thym ist Professor für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht sowie Sprecher des FGZ Konstanz. Uwe Volkmann ist Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie sowie Projektleiter am FGZ Frankfurt am Main.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Klaus Günther, Daniel Thym und Uwe Volkmann: Das Recht: eine unterschätzte Größe? – Eine Einführung in diesen Band

Abstract

Klaus Günther: Kein gesellschaftlicher Zusammenhalt ohne Recht – kein Recht ohne gesellschaftlichen Zusammenhalt? – Re-Konstruktionen zwischen Menschenrechten und nationalstaatlicher Verfassung

Abstract

I.

Individualistisch-kontraktualistisches und substanzialistisch-objektivistisches Rechtsverständnis

II.

Nichts anderes als eine Handelsgesellschaft?

III.

Der Zweck der Assoziation und der Status ihrer Mitglieder

IV.

Der vornehmste Zweck der politischen Assoziation

V.

Kein Recht ohne Zusammenhalt

VI.

Zeitkern und Index positivierter Menschenrechte

VII.

Konsequenzen des Zeitkerns und des Indexes der Menschenrechte

VIII.

Kein Zusammenhalt ohne öffentliche Konflikte um die Ausschöpfung der Menschenrechte

IX.

Wie sich die ungesättigten Menschenrechte zu den nationalstaatlichen Verfassungen verhalten

Literatur

Uwe Volkmann: Sozialer Zusammenhalt und allgemeine Rechtsidee

Abstract

I.

Geisterfahrer oder Die Probleme einer Fragestellung

II.

Zur Spannbreite der Rechtsordnungen

III.

Die verbindende Kraft des Rechts

IV.

Die einzelnen Wirkelemente des Rechts

V.

Recht als gemeinsamer Blick auf die Welt

VI.

Die Grenzen des Rechts

Literatur

Laura Münkler: Zusammenhalt qua Verfassungspatriotismus? – Von der rechtlichen Konstruktion gesellschaftlichen Zusammenhalts und dem Zauber von Symbolik

Abstract

I.

Mystifizierung der Gründe des Zusammenhalts im Verfassungspatriotismus

II.

Verfassungspatriotismus zwischen Zwang und Zauber

III.

Zusammenhalt durch Verfassungsrecht

1.

Recht als Perpetuierung von Differenz statt Kreation von Zusammenhalt

2.

Verfassungspatriotismus als systemtheoretische Aussage

3.

Verfassungspatriotismus als bloße Chiffre für Integration qua offenem Diskurs

4.

Normative Gehalte von Verfassungspatriotismus

a) Wertordnungsdenken als Kern von Verfassungspatriotismus

b) Verfassungsidentität als Bedingung für Verfassungspatriotismus

c) Grundrechte als Grundlage von Verfassungspatriotismus

d) Zusammenhalt in Demokratien: Sind Demokraten zwangsläufig Verfassungspatrioten?

e) Eine Gesellschaft von Verfassungsschützern: Gerichte als Austragungsort von Konflikten

f) Verfassungspatriotismus dank Verfassung als Möglichkeitsraum

5.

Verfassungspatriotismus und die Funktion von Ästhetik und Symbolik

6.

Verfassung als Symbol und zugleich Mechanismus des Zusammenhalts

Literatur

Günter Frankenberg: Tocqueville vertrauen?

Abstract

I.

Vertrauen, Risiko, Kontrolle

II.

Wie Uneinigkeit fermentiert wird

III.

Tocqueville und Marx

1.

Gelesen von Gauchet

2.

Vertrauensbildung durch Konflikterfahrung

IV.

Auf dem Weg zu einer konstitutionellen Grammatik von Konflikten

1.

Der Streitgegenstand: Alles-oder-Nichts versus Mehr-oder-Weniger

2.

Mehr-oder-Weniger: Ausgehandelte Verteilungskonflikte

3.

Konfliktmethoden zwischen Disruption und Integration

4.

Streitverhältnisse: Von Gegnern und Feinden

5.

Was Verfassungen leisten … können

V.

Epilog

Literatur

Daniel Thym: Integration durch Recht? Erfolge und Grenzen der rechtlichen Gemeinschaftsbildung in der Europäischen Union

Abstract

I.

Recht als technisches Steuerungsinstrument

1.

Dualer Charakter der Supranationalität

2.

Erfolge einer »Integration durch Recht«

3.

Prinzipielle politische Unterstützung

II.

Fragilität überschießender Zielsetzungen

1.

Politisierung als Ende des »permissiven Konsenses«

2.

Gescheiterter Verfassungsvertrag und fragile Unionsbürgerschaft

3.

Verfassungspatriotismus europäischer Prägung?

III.

Fazit

Literatur

Ute Sacksofsky: Integration durch Verfassungsrechtsprechung

Abstract

I.

Vorklärung: Integration durch Verfassung

II.

Integration als Entscheidungsmaßstab? – Grundsätze

1.

Verfassungstext

2.

Aufgabe

3.

Verfassungstheoretisch

a) Kein auf die Gesamtgesellschaft bezogener Integrationsbegriff als Maßstab

b) Integration – anders gedacht

III.

Konsequenzen

1.

Offenheit der Verfassung

a) Verfassungsgericht und Gesetzgeber

b) Zeitliche Dimension

2.

Staatsorganisationsrecht

3.

Grundrechte

a) Prozessuale Ausgestaltung

b) Grundrechtsschutz als Minderheitenschutz

c) Scheinbar integrationsaffine Argumente

IV.

Fazit

Literatur

Berthold Vogel: Leisten Justizjuristinnen und -juristen einen Beitrag zum Zusammenhalt? – Befunde einer justizsoziologischen Studie

Abstract

I.

Wie weiter in der soziologischen Justizforschung?

II.

Die Sorge um den Zusammenhalt – Von der staatstragenden Klasse zum gesellschaftsgestaltenden Milieu

III.

Spannungsfelder des Strukturwandels der Justiz

1.

Auf der Suche nach dem Personal – Generationenfragen

2.

Verliert die Justiz ihre Sichtbarkeit vor Ort? – Repräsentationsfragen

3.

Die Herstellung der Rechtsordnung – Legitimationsfragen der Justiz

IV.

Der arbeitende Rechtsstaat und der gesellschaftliche Zusammenhalt – Perspektiven der soziologischen Justizforschung

Literatur

Autor:innen

Das Recht: eine unterschätzte Größe? – Eine Einführung in diesen Band

Klaus Günther, Daniel Thym und Uwe Volkmann

Abstract

Im Zentrum des Bandes stehen die verschiedenen Wirkungen und Eigenschaften, die gerade das Recht zu einem zentralen Kandidaten für sozialen Zusammenhalt machen. Einerseits wird ihm in allen einschlägigen Darstellungen eine Ordnungs- und damit zugleich eine Befriedungs- und Integrationsfunktion zugeschrieben, ohne die eine Gesellschaft von einem gewissen Grad der Komplexität an gar nicht existieren kann; insofern bildet es gleichsam die unterste Grundlage von gesellschaftlichem Zusammenhalt überhaupt. Andererseits organisiert es die Gesellschaft zunächst nur als ein Nebeneinander von Individuen und abstrakten Rechtspersonen, nicht notwendig als ein Miteinander von Bürgern. Von hier aus gehen die Beiträge der Frage nach, welche weiteren Leistungen das Recht für sozialen Zusammenhalt erbringen kann, welche Grenzen ihm dabei gesetzt sind und welche Folgeprobleme daraus resultieren können.

Keywords: Recht; Gesellschaft; Zusammenhalt; Verfassung; Integration

Wer über das, was eine Gesellschaft zusammenhält, reden will, wird vom Recht nicht schweigen können. Ausdrücklich gesprochen wird von ihm in diesem Zusammenhang aber nur selten und wenn, dann eher beiläufig oder sogar abschätzig, als ob es für diese ganzen Fragen keine ernsthafte Rolle spielte. Stattdessen drängen sich die anderen üblichen Verdächtigen vor und beherrschen, auch in der wissenschaftlichen Diskussion, weithin das Feld: die Religion, die das gesamte Mittelalter hindurch das einheitsstiftende Fundament der Welt war; die Nation als Wille und Vorstellung, nach der sich im 19. Jahrhundert hierzulande ein Gebilde wie der Staat überhaupt erst formierte; daneben oder dahinter dann, etwa in dieser Reihenfolge, ethnische Zugehörigkeit, überlieferte Kultur, gemeinsame Sprache, vielleicht auch eine politische Ideologie. Sie alle können zweifellos mächtige Bindekräfte sein, deren Intensität, wenn eine bestimmte Gruppe oder auch eine ganze Gesellschaft von ihnen wirklich ergriffen wird, wenig Vergleichbares an die Seite zu stellen ist. Für ihre Religion etwa gehen Menschen in einigen Weltgegenden bis heute in den Tod, und welche Kräfte die nationale Sache, wenn auch vielleicht schon zusammen mit einem Willen zur Behauptung der Freiheit, bis in unsere Tage freizusetzen imstande ist, zeigt derzeit der heroische Kampf der Ukrainer gegen den russischen Aggressor. Wer würde das von so etwas Abstraktem wie dem Recht ernsthaft behaupten wollen? Allenfalls wenn es sich mit einem bestimmten positiven Inhalt auflädt, seinerseits mit einer großen Idee, etwa der von Freiheit und Gleichheit, verbunden wird und es diese dann auf seiner höchsten Stufe, in einer Verfassung als »politischer Bibel des Staates« (Thomas Paine), symbolisch verkörpert, wird dem Recht eine gewisse integrative Kraft zugesprochen, wie man sie dann etwa auf den bekannten Begriff des »Verfassungspatriotismus« bringt. Aber auch hier sind es nicht die oft ganz universalistischen Prinzipien der Verfassung, denen dies zugetraut wird, sondern es ist gerade die spezifische Verbindung, die sie darin – als überhaupt eben möglicher Gegenstand eines Patriotismus – mit einem vorhandenen Gemeinschafts- oder auch Nationalgefühl eingeht. Und selbst diese Verbindung hat man, wie etwa Ernst-Wolfgang Böckenförde, als einen »blassen Seminargedanken« verspottet, auf den man in der Stunde der Krise seine Aktien besser nicht setzen sollte.

Andererseits könnte gerade diese Blässe ein guter Grund sein, nun erst recht über das Recht zu reden. Denn gemeinsam ist all den anderen aufgeführten Potenzen, nennen wir sie traditionale, substanzhafte oder auch ethische, ja auch, dass sie so, wie sie Menschen miteinander verbinden, sie sie immer auch voneinander trennen können: von denen, die einer je anderen Religion anhängen, andere kulturelle und ethnische Wurzeln haben, eine andere Sprache sprechen oder vielleicht auch nur mit der jeweils gerade vorherrschenden Ideologie nichts anfangen können. Und so wie der Grad der Verbindung auf ihrer Grundlage am intensivsten ausfallen kann, so kann auch die Dissoziation bis zu ihrer äußersten Intensität, dem Gegensatz zwischen Freund und Feind, vorangetrieben werden. Und was dann in dieser Dissoziation allein vermitteln oder zumindest verhindern kann, dass sie sich, wie Carl Schmitt prognostiziert hat, bis zur physischen Vernichtung des Gegners steigert, wäre dann vielleicht doch wieder das Recht in seiner elementaren Funktion, die Gesellschaft vom Gebrauch der Gewalt auszuschließen, vielleicht überhaupt Gewalt als Mittel zur Lösung innergesellschaftlicher Konflikte zurückzudrängen. Sicher kann auch das Recht selbst als Macht- und Gewaltinstrument genutzt werden, um wiederum im Namen der Religion, der Nation oder auch einer politischen Ideologie andere auszugrenzen: in Gesetzen zur Verfolgung Andersgläubiger, in Exekutivverordnungen zur Unterdrückung einer politischen Opposition, zuletzt, als geschichtlich düsterstes Beispiel, in den Rassengesetzen der Nationalsozialisten. Aber im Normalfall erfüllt das Recht, indem es Regeln aufstellt, an die sich alle halten müssen, eine elementare Ordnungs- und damit Befriedungsfunktion, ohne die Gesellschaft heutzutage gar nicht möglich wäre. Einen Wert, hat der große Rechtsphilosoph Gustav Radbruch gesagt, führt jedes positive Gesetz ohne Rücksicht auf seinen Inhalt mit sich: Es ist immer noch besser als kein Gesetz, weil es zumindest Rechtssicherheit schafft. Und von einem bestimmten Grad der Ausgrenzung und eben Entrechtung von Menschen oder auch von ganzen Gruppen stellt sich die Frage, ob das Recht, wenn es als Mittel dazu genutzt wird, diese Bezeichnung überhaupt noch verdient. Oder ob es nicht einfach das Gegenteil davon ist, nämlich Unrecht, oft sogar schreiendes Unrecht.

Ist man hier angekommen, fangen allerdings die eigentlich interessanten Fragen erst an. Denn natürlich wird niemand bestreiten, dass das Recht die Gesellschaft organisiert, und es ohne diese Organisation heute keine Gesellschaft, damit aber auch keinen Zusammenhalt in ihr, geben kann. Andererseits bildet das Recht zunächst einmal nur den formalen Unterbau dieses Zusammenhalts, als eine dafür notwendige, aber für sich allein nicht hinreichende Bedingung, wie man oft sagt. Insofern organisiert es – besonders deutlich im Strafrecht, möglicherweise aber auch als bürgerliches Recht oder Verwaltungsrecht – diese Gesellschaft von seiner Natur und Wirkungsweise her als ein Nebeneinander von Rechtspersonen, nicht notwendig als ein Miteinander von Bürgern. Kann es aber auch hierfür Leistungen erbringen, und welche könnten dies sein? Auf welchen Ebenen könnten diese Leistungen wirksam werden, und wie verhalten sich diese zu den Beiträgen der anderen Faktoren, die Integration und Gemeinschaftsbildung bewirken können? Und welche Rolle spielen die je handelnden Akteure im Rechtssystem für die Verwirklichung dieses Anspruchs? Diesen Fragen versucht der vorliegende Band nachzugehen. Hervorgegangen ist er aus der Jahrestagung des Forschungsclusters »Theorien, Politik und Kulturen des Zusammenhalts« des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt, die vom 11. auf den 12. November 2021 in Frankfurt in den Räumen des Forschungsverbunds »Normative Ordnungen« stattfand. Die wesentlichen Beiträge dieser Tagung sind im vorliegenden Band versammelt.

Im ersten Beitrag geht Klaus Günther unter der Überschrift »Zusammenhalt durch Recht oder Recht durch Zusammenhalt? Re-Konstruktionen zwischen Menschenrechten und nationalstaatlicher Verfassung« der inhärenten Spannung nach, die zwischen der umfassenden Inklusion der Staatsbürger – und nur der Staatsbürger – in die rechtliche Grundordnung einer konkreten politischen Gemeinschaft und der Idee universaler Menschenrechte besteht, die von ihrer Anlage her diese Gemeinschaft immer schon transzendiert. Ideengeschichtlich wird dafür ein breiter Bogen geschlagen, der bei der bekannten Staatsdefinition Ciceros beginnt, nach der der Staat als Sache aller (res publica res populi) seine Grundlage in einer gemeinsamen Rechtsvorstellung hat (consensus iuris), und von dort hinüber führt in die von der neueren Diskurstheorie herausgearbeitete Gleichursprünglichkeit von Rechtsstaat und Demokratie bzw. von individuellen Grundrechten und Volkssouveränität; Ziel ist es, das beschriebene Spannungsverhältnis in seiner historischen Tradiertheit zu reflektieren und dadurch gleichzeitig ein Stück aufzulösen.

Zum Teil daran anknüpfend wendet sich Uwe Volkmann dem Thema »Sozialer Zusammenhalt und allgemeine Rechtsidee« zu. Innerhalb dieser Rechtsidee stehen sich, wie man mit einer gewissen Vereinfachung sagen kann, bis heute zwei Grundpositionen gegenüber, die sich gerade in ihren entgegengesetzten Konzeptionierungen von Gesellschaft (und Zusammenhalt) unterscheiden und sich in ausgearbeiteter Form bereits bei Kant und Hegel finden. Nach der liberalen Konzeption hat das Recht vor allem die Aufgabe, die Freiheit des einen um die Freiheit der anderen willen zu begrenzen; es bildet so gleichsam den Zaun, der die Individuen voneinander trennt. Nach der – hier erneut vereinfachend so genannten – gemeinschaftlichen Konzeption stellt es demgegenüber einen verbindenden Ordnungsrahmen bereit, durch den die Bürger und Bürgerinnen ebenso wie durch eine gesellschaftlich grundierte Moral oder Kultur in einen umfassenderen geistigen Zusammenhang integriert werden. Heutige Rechtsordnungen schlagen hier typischerweise einen Mittelweg ein, der gerade in der Idee der individuellen Freiheit und einer allgemeinen Kultur, die sich auf sie gründet, das verbindende Regulativ einer ansonsten funktional differenzierten Gesellschaft sieht.

Für die Verwirklichung einer solchen Kultur der Freiheit dürfte der Verfassung als oberster Rechtsebene des Staates eine herausragende Bedeutung zukommen. In einem Band, der sich dem Zusammenhalt durch Recht widmet, darf deshalb der Verfassungspatriotismus nicht fehlen. In ihm sehen, seit Dolf Sternberger den Begriff aus der Taufe hob, nicht nur so bedeutende politische Denker wie Jürgen Habermas, sondern auch jüngere Autoren wie Jan-Werner Müller oder Tine Stein den einzigen Weg, über den die Integration der hochgradig pluralisierten und individualisierten Gesellschaften unserer Tage überhaupt noch vonstattengehen kann. Den sich daraus ergebenden Fragen wendet sich Laura Münkler in ihrem Beitrag »Zusammenhalt durch Verfassung? Zur Leistungsfähigkeit neuerer Konzepte des Verfassungspatriotismus« zu, in dem es auch darum geht, den Verfassungspatriotismus gegen seine zahlreichen Kritiker zu verteidigen und zugleich ein Stück weit zu reformulieren.

Dass man dabei immer auch die Demokratie als die von der liberalen Verfassung konkret organisierte Form des politischen Zusammenlebens in den Blick nehmen muss, zeigt Günter Frankenberg in seinem Beitrag »Tocquevilles Frage«, mit dem er zugleich frühere Überlegungen einer kritischen Revision unterzieht. Ihm geht es um das intrinsische Potenzial, das gerade der demokratische Prozess für die Erzeugung von Gemeinsamkeiten unter Bürgern bereithält: Politische Integration erfolgt eben oft im und durch Streit und in den Arenen der Zivilgesellschaft.

Dass die Vorstellung der Stiftung sozialen Zusammenhalts durch Recht auf der Ebene der Europäischen Union eine prominente Rolle spielt, zeigt Daniel Thym in seinem Beitrag »Integration durch Recht: zur Funktionsweise der Europäischen Union«. Gerade die EU verstand sich von Anfang an nicht nur als Wirtschafts-, sondern auch als Rechtsgemeinschaft, die die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten durch die Unterworfenheit unter dieselbe Rechtsordnung in den übergreifenden Ordnungszusammenhang einer europäischen Gesellschaft einbinden wollte. Das Recht wurde dementsprechend von Anfang an als zentraler Motor der Integration angesehen, mit dessen Hilfe die Entwicklung zu einer »politischen Union« im Sinne einer weitergehenden Wertegemeinschaft vorangetrieben werden sollte. In seinem Beitrag zeigt Daniel Thym, dass dieser Mechanismus derzeit an seine Leistungsgrenzen stößt, und öffnet zugleich den Blick auf mögliche Strategien jenseits des Rechts.

Die beiden letzten Beiträge wenden sich der Rolle zu, die Justiz und Rechtsprechung in diesem Zusammenhang spielen, nähern sich dieser aber jeweils aus unterschiedlichen Perspektiven. Unter der Überschrift »Integration durch Verfassungsrechtsprechung?« fragt Ute Sacksofsky, welchen Beitrag Verfassungsgerichte für sozialen Zusammenhalt leisten können. Das Grundproblem und zugleich zentrale Dilemma besteht dabei darin, dass der Verfassung eine integrierende Funktion gerade deshalb zukommt, weil sich in ihren abstrakten und allgemeinen Aussagen alle wiederfinden können, obwohl sie darunter im Einzelfall oft ganz Unterschiedliches verstehen. Verfassungsgerichte müssen dann einerseits den normativen Anspruch der Verfassung transportieren und so die normativen Grundorientierungen der Gesellschaft immer von Neuem in diese einspeisen. Andererseits trennt jede konkrete gerichtliche Entscheidung die Beteiligten immer auch in Sieger und Verlierer, womit die integrierende Wirkung in jedem Anwendungsfall auch wieder verspielt werden kann.

Und welche Rolle spielt hier eigentlich das handelnde Personal? Welche Einstellungen und Mentalitäten herrschen dort vor, wie schätzt es selbst seine gesellschaftliche Funktion ein und inwiefern wirkt sich diese Einschätzung auf das konkrete Entscheidungsverhalten aus? Diesen Fragen wendet sich Berthold Vogel mit dem Beitrag »Die Hüter des Rechts« zu, der als Abschluss des Bandes zugleich die ersten Ergebnisse des FGZ-Projekts »Wer trägt die Verantwortung für öffentliche Güter? Zur Praxis gesellschaftlichen Zusammenhalts« präsentiert.

Wie bei jedem Buch, so haben auch bei diesem viele dazu beigetragen, dass es in dieser Form überhaupt zustande kommen konnte. Zu danken haben wir an erster Stelle Herrn Eric von Dömming, der die Lasten der redaktionellen Bearbeitung fast ganz allein zu tragen hatte. Daneben gilt unser Dank Mathias Rodatz und Sarah Lempp vom Publikationsmanagement des FGZ, ohne deren Geduld und Überblick das Projekt nicht möglich gewesen wäre, sowie unserer administrativen Geschäftsführerin Rebecca Schmidt, die die Entstehung des Bandes engagiert wie immer begleitet hat. Einschließen möchten wir in den Dank nicht zuletzt alle Kolleginnen und Kollegen vom FGZ-Standort Frankfurt, die die Fragen, um die es in diesem Band geht, auf der zugrundeliegenden Tagung mit uns intensiv diskutiert haben und uns darüber hinaus stets mit Rat und Tat zur Seite standen.

Kein gesellschaftlicher Zusammenhalt ohne Recht – kein Recht ohne gesellschaftlichen Zusammenhalt? – Re-Konstruktionen zwischen Menschenrechten und nationalstaatlicher Verfassung1

Klaus Günther

Abstract

Wenn es um die Bedeutung des Rechts für den gesellschaftlichen Zusammenhalt geht, werden üblicherweise zwei gegensätzliche Positionen, wenn auch zumeist in mehr oder weniger vermischter Form, vertreten: Für die einen gibt es keinen Zusammenhalt ohne Recht; dieses, vor allem die Verfassung, verbindet die Individuen erst zur Gesellschaft. Für die anderen ist das Recht in seiner Geltung und Wirksamkeit auf einen vorgängigen gesellschaftlichen Zusammenhalt angewiesen. Der Beitrag skizziert die historischen Grundlagen dieser beiden Positionen und ihrer wechselseitigen Kritik, um dann zu zeigen, dass es sich um eine falsche Alternative handelt. Mit der seit 1789 explizit gesetzten Zweckbestimmung jeder politischen Assoziation, die Menschenrechte für eine bestimmte Gesellschaft unter ihren spezifischen Lebensbedingungen zu garantieren, wird eine rechtliche und gesellschaftliche Veränderungsdynamik ausgelöst. In dem Maße, wie sie von den Beteiligten und nachfolgenden Generationen als eine gemeinsam geteilte Geschichte erfahren wird, kann sie integrative Wirkung entfalten.

Keywords: Menschenrechte; Verfassung; Nation; Konflikt; Geschichte

Kaum jemand dürfte bestreiten, dass das Recht zumindest ein, wenn nicht gar der wesentliche Faktor gesellschaftlichen Zusammenhalts ist, weitgehend unabhängig davon, was man im Einzelnen unter diesem vieldeutigen Begriff versteht.2 Von dieser Überzeugung waren unter anderem die Anfänge der Soziologie als Wissenschaft geleitet, für die das Recht eine zentrale Rolle bei der Beantwortung der Frage spielte, wie Gesellschaft überhaupt möglich sei.3 Auch gesellschaftliche Modernisierungsprozesse, die rasch zu einem der Hauptthemen der Soziologie gerieten, wurden häufig an einem Wandel des Rechts dechiffriert. Exemplarisch lässt sich das an Emile Durkheims Werk »Über soziale Arbeitsteilung« zeigen, in dem der Übergang von mechanischer zu organischer Solidarität sich primär an dem Wechsel von der gesellschaftlichen Vorherrschaft des Strafrechts zum zivilen Vertragsrecht manifestiert. Max Weber wiederum setzt in seinen Studien zu »Wirtschaft und Gesellschaft« rationale Herrschaft als höchste Entwicklungsstufe des okzidentalen Rationalismus gleich mit legaler Herrschaft, basierend auf einem formalisierten und systematisierten Recht.

Freilich bleibt jene Behauptung über die prominente Rolle des Rechts für gesellschaftlichen Zusammenhalt noch oberflächlich und unbestimmt, weil sie nichts darüber sagt, in welcher Weise das Recht dabei welche Funktionen übernimmt. Hier beginnen dann auch die Kontroversen. Sie lassen sich in zwei Positionen zusammenfassen, die sich in einigen Ausprägungen zu einem Gegensatz steigern können. Die erste lässt sich schlagwortartig formulieren als These des Zusammenhalts durch Recht: Das Recht sei eine notwendige Bedingung für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Demnach ist das Recht genetisch und normativ primär, andere sozialintegrative Faktoren demgegenüber sekundär, sie entfalten ihre Wirksamkeit erst auf der Grundlage der juridischen Integration. Die Gesellschaft konstituiert sich nicht primär durch außerrechtliche Merkmale und Handlungen, sondern durch die Staatsbürgerschaft und die mit ihr verbundenen Rechte und Pflichten. Der in rechtlichen Verfahren geregelte Erwerb der Staatsbürgerschaft bleibt unabhängig von Merkmalen wie Abstammung, Ethnie, Religion etc. Eine Nation ist zuerst Staatsbürgernation: »Nation ist Staatsbürgergemeinschaft, nicht in erster Linie Sprach- oder Volksgemeinschaft.«4 Eine nationale Identität, ein gemeinschaftliches, aus historischen Erfahrungen sich nährendes kollektives Selbstverständnis, bildet sich in einer Staatsbürgernation erst auf dieser Grundlage.

Die These, dass Recht nur durch gesellschaftlichen Zusammenhalt möglich sei, kehrt dieses Verhältnis um. Eine Gesellschaft konstituiere sich primär durch geteilte außer- oder vorrechtliche Eigenschaften wie eine gemeinsame Sprache, ethnische Zugehörigkeit (»Volk« im substanziellen Sinne), Kultur oder Religion: »… die zunächst unpolitisch verstandene Idee des Volkes […], das vor und über dem Staat lebendig ist als schöpferische Kraft, die in der Sprache und im Volksgeist sich ausdrücken soll.«5 Die Nation ist zuerst Kulturnation. Das Recht geht nicht nur genetisch aus diesen Gemeinsamkeiten hervor, sondern hat in ihnen auch seine normative Grundlage und wird durch sie in seiner Geltung sowie in seinem Gehalt bestimmt und begrenzt. Sie werden auch nicht bewusst hergestellt oder künstlich erzeugt, sondern wachsen organisch und in langen, Generationen übergreifenden Zeiträumen. So erscheinen sie wie natürliche Tatsachen: »Den Staat auf das Volk gründen, heißt dann, ihn in Einklang bringen mit den natürlichen Ordnungen des Menschengeschlechts.«6

In vielen Debatten über gesellschaftlichen Zusammenhalt treten diese beiden Positionen häufig weniger als klar geschiedene Alternativen auf, sondern vermischt, allerdings mit unterschiedlichen Gewichtungen. Zumindest wird darauf verwiesen, dass es über die Staatsangehörigkeit und deren Grundlage, die Verfassung, hinaus noch weitere Gemeinsamkeiten geben müsse. Das rechtliche, vor allem durch die Verfassung und ihre Grundrechte gestiftete Band sei zu dünn und zu brüchig, um gesellschaftlichen Zusammenhalt vor allem in Phasen von Konflikt und Krise zu gewährleisten. Außerdem wird behauptet, dass die Trennung zwischen Staatsbürger- und Kulturnation eine Erfindung der Moderne sei, beginnend mit der Amerikanischen und der Französischen Revolution. Aus einem revolutionären Akt hervorgegangen, seien Menschenrechte und Verfassungen ein Produkt bewussten Handelns, eine künstliche Ordnung, welche die gewachsenen, im Leben der Menschen und ihrer Vorfahren verwurzelten, sich dem bewussten Handeln weitgehend entziehenden natürlichen Ordnungen entwerte.

Im Folgenden soll dargelegt werden, dass es sich insofern um eine falsche Alternative handelt, als das Recht dabei als eine äußerliche, abstrakte und formale normative Ordnung unverbundener Individuen nach dem Paradigma des Privatrechts konzipiert wird, die keinen Sitz im Leben einer sich demokratisch selbst bestimmenden Nation habe, während Konzeptionen des Zusammenhalts evoziert werden, die eine unverfügbare sittliche Substanz behaupten, die nur von einer homogenen Nation adäquat verkörpert und durch eine politisch autonome Gesetzgebung weder hergestellt noch verändert werden kann und darf. Der wesentliche Grund für diese falsche Alternative besteht darin, dass mit dem Aufkommen der Menschenrechte beide Seiten einer Veränderungsdynamik ausgesetzt werden, die auch das Verhältnis von Recht und gesellschaftlichem Zusammenhalt aus dieser starren Entgegensetzung befreit.

I.Individualistisch-kontraktualistisches und substanzialistisch-objektivistisches Rechtsverständnis

Dass die faktischen außerrechtlichen Gemeinsamkeiten unter den Angehörigen einer Gruppe von Menschen von einer anderen normativen Art seien als ihr Status als Bürger einer rechtlich konstituierten Gemeinschaft, gilt schon für das antike Rom. Dort wurde unterschieden zwischen der Herkunft eines Menschen, der origo, die geografisch-lokal und genealogisch-familiär (als Filiation) bestimmt war. Unabhängig davon bestand das Bürgerrecht der communis patria, das man als Bürger einer Stadt (civitas) innehatte.7 Cicero fasste diese Unterscheidung so, dass jeder Römer zwei Vaterländer (duas patrias) habe: ein natürliches, patria naturae, und ein bürgerschaftliches, patria civitatis, oder rechtliches, patria iuris. Dieses definierte er als eine »Vielzahl von Menschen, die sich zusammenschließen, indem sie ein gemeinsames Recht anerkennen und ein gemeinsames Gut anstreben.«8 Wie wirkmächtig und geläufig diese Unterscheidung war, lässt sich mehr als eineinhalbtausend Jahre später an ähnlich lautenden Formulierungen ablesen. So beantwortet Abbé Sieyès in seiner Abhandlung über den Dritten Stand von 1789 die Frage: »Was ist eine Nation?« mit der Definition: »Eine Körperschaft von Gesellschaftern (corps dʼassociés), die unter einem gemeinschaftlichen Gesetz leben und durch dieselbe gesetzgebende Versammlung repräsentiert werden.«9 In dieser Tradition bewegt sich auch Kant noch: »Ein Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen.«10

Diese formellen Definitionen geben jedoch keine Antwort auf die Frage, wodurch die Vereinigung unter Rechtsgesetzen motiviert ist. Die Unbestimmtheit zeigt sich vor allem an dem Begriff des Zusammenschlusses, der Assoziation oder Vereinigung. Im Hinblick auf die Voraussetzungen und Motive lässt er vielerlei Deutungen zu. Die Antike setzt ein natürliches Streben des Menschen nach Bildung politischer Gemeinschaften voraus (Aristoteles: der Mensch als zoon politikon). In dieser Tradition fügt Cicero seiner Staatsdefinition die Bemerkung hinzu, dass die erste Ursache der Vereinigung die »in der Natur des Menschen liegende Neigung zur Geselligkeit« sei,11 bemerkt wenig später dann aber auch, dass »das Gesetz das Band der bürgerlichen Gemeinschaft (lex sit civilis socieatatis vinculum)« und ein Staat (res publica) nichts anderes sei als »die Rechtsgemeinschaft der Bürger (quid es enim civitatis nisi iuris soietatis civium?)«.12 Das natürliche Streben vermag zwar zu erklären, warum Menschen überhaupt in Gemeinschaften leben wollen und müssen, doch bedarf eine solche natürliche Gemeinschaft erst noch der Transformation in eine Rechtsgemeinschaft. Dazu müssen sich deren Mitglieder explizit zusammenschließen, bzw. durch Erwerb des Bürgerrechts in sie eintreten. Die hervorgehobene Bedeutung des Rechts als des einigenden Bandes, das die Mitglieder einer aus Natur motivierten politischen Vereinigung zusammenhält, wird augenfällig an Ambrogio Lorenzettis berühmtem Fresko der guten und schlechten Regierung im Palazzo Publico von Siena (1338–40): Die jeweils von den beiden Waagschalen der Gerechtigkeit, der ausgleichenden und der verteilenden, laufenden Bänder werden von der Figur der Concordia zu einem Band geflochten, das weiter zu den Bürgern wandert, von denen jeder einzelne mit einer Hand das Band des Rechts, das vinculum iuris, ergriffen hat. Sinnfälliger lässt sich der Zusammenhalt durch Recht kaum visualisieren.13

Demgegenüber akzentuieren die neuzeitlichen Theorien des Gesellschaftsvertrages das kontingente Moment eines wechselseitigen Vertragsschlusses zwischen Einzelnen, durch welchen eine unter Gesetzen lebende politische Gemeinschaft erst künstlich hergestellt werden müsse. Begründet wird das Eingehen dieses Vertrages durch Vernunft oder doch zumindest durch Klugheit. Zwar ist diese Klugheit vom Selbsterhaltungstrieb mitbestimmt, insofern sie auch das Kalkül der Vor- und Nachteile eines geregelten gesellschaftlichen Zusammenlebens für die egozentrische Interessenverfolgung enthält. Allerdings unterwirft es den Selbsterhaltungstrieb zugleich der Kontrolle und Disziplinierung durch Gründe. Das Streben nach einem Leben in einer Gemeinschaft ist daher nicht allein durch die Natur, sondern durch Gründe bestimmt, und der Entschluss dazu bleibt kontingent und der freien Willkür jedes Einzelnen überlassen. Da jeder14 mit einem natürlichen Recht auf Freiheit begabt ist, kann die Gründung einer Gemeinschaft, die dieses Recht in ein gesetzliches Recht auf gleiche Freiheit gemäß einer gemeinsamen Gesetzgebung transformiert und vor Verletzungen schützt, nur durch freiwillige Zustimmung jedes einzelnen Rechtssubjekts gerechtfertigt werden. Das Modell dafür ist der Vertrag, den jeder Einzelne im Naturzustand mit jedem Anderen zugunsten einer gesetzgebenden Souveränität schließt. Vorher gibt es keine Gemeinschaft – außer den Räuber- und Beutegemeinschaften des Naturzustands.

Trotz jenes – von Hobbes explizit gegen Aristoteles vorgebrachten – Unterschiedes zur Antike gleichen sich beide darin, dass es das Recht ist, das entweder aus einer natürlichen Gemeinschaft oder aus den im Naturzustand konkurrierenden Einzelnen eine Rechtsgemeinschaft macht. Gleichviel, ob durch einen kontingenten, privatautonomen Vertragsschluss oder kraft eines natürlichen Strebens, das durch einen bewussten Akt der Vereinigung unter einem gemeinsamen Recht ergänzt wird – die Gemeinschaft wird erst dadurch explizit gebildet, dass die Beteiligten untereinander rechtlich verbunden sind, sei es wie in der Antike durch die objektiven Prinzipien der verteilenden und ausgleichenden Gerechtigkeit, sei es wie in der Neuzeit durch eine gemeinsam gestiftete Gesetzgebungsautorität – oder durch beides.

Der eingangs formulierte Gegensatz zwischen einem Zusammenhalt durch Recht und einem Recht, das einen vorgängigen, vorkonstitutionellen Zusammenhalt immer schon voraussetzt, bedarf also der Präzisierung. Für beide Positionen ist wesentlich, dass ein Zusammenhalt ohne Recht nicht denkbar ist. Beide unterscheiden sich jedoch darin, auf welche Weise das Recht diese Schlüsselfunktion gewinnt. Gemäß dem individualistisch-kontraktualistischen Rechtsverständnis ist der Zusammenhalt das Resultat eines Zusammenschlusses, der aus einer Vielzahl individueller Entscheidungen, sich miteinander unter einer gemeinsamen Gesetzgebung zu assoziieren, hervorgeht. Dagegen ist für ein substanzialistisches, objektivistisches Rechtsverständnis das den Zusammenhalt stiftende Recht immer auch schon durch eine vorausgehende Einheit oder Identität bestimmt, die durch den Zusammenschluss nur bekräftigt wird und sich in der Gesetzgebung und dem einigenden Band des Rechts bloß manifestiert. Das lässt die Möglichkeit zu, das Recht in seiner Funktion für den Zusammenhalt zu relativieren zugunsten einer aus anderen Faktoren sich bestimmenden kollektiven Identität. Nur soweit das Recht seinerseits aus einer objektiv vorgegebenen, dem Zusammenschluss immer schon vorausgehenden, und diesen motivierenden normativen Ordnung hervorgehe, könne es auch integrierend wirken. In Wahrheit handelt es sich daher um eine Konzeption des Rechts, in der diesem zwar eine sichernde und bekräftigende Funktion für den Zusammenhalt zukommt, in der es aber zugleich auf einen durch andere, nicht-rechtliche normative Ordnungen gestifteten Zusammenhalt angewiesen und davon abhängig ist. Diese Ordnungen begrenzen die Gesetzgebung, unter der sich die Mitglieder assoziieren, und bestimmen deren fundamentale Normen, denen durch den Zusammenschluss zu einer Rechtsgemeinschaft inhaltlich nichts mehr hinzugefügt wird.

Freilich zeigt sich schon bei Abbé Sieyès, dass die individualistisch-kontraktualistische Deutung des Begriffs Assoziation, die er mit seiner Definition der Nation als Rechtsgemeinschaft vorgeschlagen hatte, von ihm selbst nicht konsequent durchgehalten wurde. So setzt er nur wenige Abschnitte später die Nation als das Erste und Ursprüngliche und identifiziert das Gesetz mit ihr, wenn er in einer berüchtigten Wendung bemerkt: »Die Nation existiert vor allem anderen; sie ist der Ursprung von allem. Ihr Wille ist immer legal, sie ist das Gesetz selbst. Vor ihr und über ihr gibt es nur das natürliche Recht.«15 Das legt den Schluss nahe, dass der Zusammenhalt durch Recht, wie er mit der definitorischen Gleichsetzung der Nation mit einer freiwilligen Assoziation unter einer gemeinsamen Gesetzgebung eingangs bestimmt wurde, durch die spätere Aussage zur Nation wieder konterkariert würde. Nicht die Assoziation bringe die Nation hervor mit der Folge, dass diese in jener aufginge, sondern die Nation bringe die Assoziation hervor und bestimme deren Gesetze. Diesen Schluss zieht Thomas Vesting: »Auf der anderen Seite kennt die Schrift über den Dritten Stand nicht wenige Passagen, in denen die individualistische Ableitungsbasis des Nationsbegriffs […] verloren geht und die Nation als eine Körperschaft beschrieben wird: als eine Einheit, die zuerst da sei, die der Ursprung von allem sei und deren Wille immer gesetzlich sei, weil sie das Gesetz selbst sei. Hier artikuliert sich ein eher unbewusstes Begehren nach einer unmittelbaren Handlungsfähigkeit der Nation.«16

Freilich lässt sich bezweifeln, ob damit bereits ein substanzialistischer Nationenbegriff postuliert wurde, wie er später das Verständnis des Verhältnisses von Nation und Recht dominieren sollte.17 Denn auch die Nation kann, wie Sieyès an jener Stelle ausdrücklich betont, das Naturrecht, also das gleiche natürliche Freiheitsrecht jedes Einzelnen, nicht beseitigen. Zudem beschränkt sich der Wille der Nation auf die verfassungsgebende Gewalt (pouvoir constituant), welche die legislative und exekutive Gewalt erzeugt und autorisiert, die ihrerseits der Verfassung unterworfen sind (pouvoir constituée). Danach tritt »die Nation […] als eigenständiger Akteur nicht mehr in Erscheinung«, sondern es sind »die Repräsentanten, die nach verfassungsmäßig festgelegten Kriterien bestimmt werden.«18 Doch auch diese Auflösung hinterlässt den Eindruck, dass das Verhältnis von freiwilliger Rechts-Assoziation und substanzieller Nation letztlich ungeklärt bleibt.

II.Nichts anderes als eine Handelsgesellschaft?

Gegen die individualistisch-kontraktualistische These vom Zusammenhalt durch Recht ist schon früh der Einwand erhoben worden, dass die Gesellschaft dadurch zu einer Angelegenheit der privaten Willkür würde. Wenn die Rechtsgemeinschaft nur dadurch zustande komme, dass eine Vielzahl von Einzelnen sich zufällig unter einer gemeinsamen Gesetzgebung zusammenschlösse, dann wäre nicht nur ihre Entstehung durch die private Willkür jedes Einzelnen bedingt, sondern auch ihr weiterer Bestand bliebe davon abhängig. Nicht nur ihre Gründung sowie der Erwerb der Mitgliedschaft qua Staatsbürgerrecht wären eine Sache der privatautonomen Entscheidung, sondern auch der jederzeitige Austritt. Das folge konsequent aus dem Vertragsmodell der Gesellschaft. Diese würde reduziert werden auf einen Verein, in den man jederzeit ein- oder austreten könne.

Dieser Einwand wurde erstmals in aller Deutlichkeit von Edmund Burke mit Blick auf die Französische Revolution formuliert, er findet sich aber auch bei vielen anderen Gegnern des naturrechtlichen Vertragsmodells der Gesellschaft. Burke hypostasiert und mystifiziert den Gesellschaftsvertrag zu einer Manifestation der ewigen und unverfügbaren kosmischen Ordnung, die sich in den von Menschen gebildeten Rechtsgemeinschaften wie in einem Abbild reproduzieren müsse. »Jeder Vertrag jedes einzelnen Staates ist nur eine Klausel in dem großen vor-/urzeitlichen Vertrag (primaeval contract) der ewigen Gesellschaft, der die niederen mit den höheren Naturen verbindet, der die sichtbare mit der unsichtbaren Welt verknüpft, gemäß einem festen Vertrag, der durch den unumstößlichen Eid sanktioniert ist, der alle physischen und moralischen Naturen fest-/zusammenhält, jede an ihrem bestimmten Platz.«19 In der bis heute maßgeblichen deutschen Übersetzung durch Friedrich Gentz, der Metternichs Restaurationspolitik in der Zeit des Vormärz publizistisch unterstützte, findet sich am Ende dieses Satzes – »which holds […] each in their appointed place« – dafür das deutsche Wort »zusammenhält«. Womöglich handelt sich dabei um eine der ersten Assoziationen gesellschaftlichen Zusammenhalts mit einer dem Menschen unverfügbaren, durch eine Verfassung nur abbildbaren, vorgegebenen, natürlichen Ordnung. Der Zusammenhalt wird durch diese Ordnung, die jeder Natur ihren vorbestimmten Platz anweist, den nichts und niemand, wie Gentz übersetzt, »verlassen darf«,20 gewährleistet. Das Recht soll diesen primären Zusammenhalt nicht gefährden. Vor allem nicht durch abstrakte und individuelle, vorstaatliche Menschenrechte.

Vor diesem Hintergrund erscheint die gewillkürte Rechtsgemeinschaft durch kontingente Assoziation wie eine ursprungsvergessene, überhebliche und den heiligen Eid der Natur brechende Selbstermächtigung und Hybris. Sie bringt die verfasste Gesellschaft mit ihrem Staat herunter auf das niedrigere Niveau einer reinen Zweckgemeinschaft zu gegenseitigem Nutzen, die nur Bestand hat, solange jeder Gesellschafter seinen Vorteil gewahrt weiß, wie das bei Handelsgesellschaften der Fall ist:

»[A]ber der Staat sollte nicht so betrachtet werden, als sei er nichts Besseres als eine Handelsgesellschaft (partnership agreement) für einen Handel mit Pfeffer und Kaffee, Kattun oder Tabak oder irgendeinen anderen derartigen unbedeutenden Zweck, die für einen kleinen, vorübergehenden Vorteil eingegangen und nach dem Belieben der Parteien wieder aufgelöst werden kann. Er ist mit anderer Ehrfurcht zu betrachten.«21

Vermutlich hatte Burke jene Fernhandelsgesellschaften vor Augen, die zuerst in England 1600 und zwei Jahre später auch in den Niederlanden gegründet wurden, um die zwar nur auf langen und gefährlichen Seewegen zu erreichenden, aber im Erfolgsfall höchst profitablen, monopolistischen Handelsplätze in Amerika, Indien, Japan, Südostasien und Afrika zu gründen. Von dort aus ließen sich die indigene Bevölkerung wirtschaftlich ausbeuten oder auch versklaven, neue Absatzmärkte erschließen sowie in Europa begehrte Rohstoffe, Güter und Waren aneignen oder produzieren (die von Burke genannten Beispiele fallen allesamt in diese Kategorie). Damit wurden sie zum Wegbereiter des europäischen Kolonialismus wie insbesondere die britischen und die niederländischen Ostindien-Kompanien.22 Vielleicht auch, weil diese Gesellschaften in Übersee wie para-staatliche Organisationen agierten, die im Konfliktfall gegen die indigenen Bevölkerungen oder europäische Konkurrenten auch Krieg führten, mochte Burke aus dem Vergleich mit einem durch die natürliche Ordnung gerechtfertigten und sie verkörpernden Staat ein Argument gegen das Vertragsmodell gewinnen. Eine Gesellschaft, die nur um des individuellen privaten Vorteils willen gegründet wird und in die man ein- oder austreten kann, wenn und solange wie sich das Gewinnstreben jedes Einzelnen gemeinsam besser realisieren lässt als allein, hält nur solange zusammen, wie die Einzelnen ihre privaten Interessen durch die Gemeinschaft befriedigt sehen.

Ohne sich auf Burke zu beziehen, formuliert Hegel 1820/21 in Paragraf 257 seiner Grundlinien der Philosophie des Rechts einen analogen Einwand, wenn er begründet, warum die durch das System der Bedürfnisse charakterisierte bürgerliche Gesellschaft des Staates zu ihrer Objektivierung einer sittlichen Substanz bedürfe. Er wendet sich gegen die liberalistische Deutung eines die Marktgesellschaft bloß schützenden, private Eigentumsrechte sowie Vertrags- und Gewerbefreiheit garantierenden Minimalstaates, der darüber hinaus keine weiteren Zwecke verfolgen darf, und folgert daraus ebenso wie Burke, dass die Zugehörigkeit zu einem Staat dann allein durch das private Interesse bedingt, also zufällig sei:

»Wenn der Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt und seine Bestimmung in die Sicherheit und den Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit gesetzt wird, so ist das Interesse der Einzelnen als solcher [Herv. Hegel] der letzte Zweck, zu welchem sie vereinigt sind, und es folgt hieraus ebenso, dass es etwas Beliebiges ist, Mitglied des Staats zu sein.«23

In diesem Zusammenhang dürfte auch Hegels in Paragraf 273 seines rechtsphilosophischen Hauptwerks vorgebrachte Kritik an der – für Marx wenig später zentralen – Frage, »wer die Verfassung machen soll«24 stehen, die er als im Ganzen sinnlos zurückweist, weil »ein bloß atomistischer Haufen von Individuen« dem Begriff einer Verfassung widerstreite, wenn sie über das Verlangen nach Schutz ihres Privatinteresses hinaus nichts weiter verbinde. Vielmehr müsse eine Verfassung immer schon vorausgesetzt sein, sodass »das Machen« – ähnlich wie bei Burke – nur als eine verfassungsgemäße »Änderung« einer immer schon vorausgesetzten Verfassung möglich sein könne.

»Überhaupt aber ist es schlechthin wesentlich, dass die Verfassung, obgleich in der Zeit hervorgegangen, nicht als ein Gemachtes angesehen werde; denn sie ist vielmehr das schlechthin an und für sich Seiende, das darum als das Göttliche und Beharrende und als über der Sphäre dessen, was gemacht wird, zu betrachten ist.«25

Damit reiht sich Hegel zwar nicht in die onto-theologische Tradition ein, die Burke noch einmal mit der göttlichen naturgesetzlichen Ordnung, in der jede Natur ihren vorgegebenen Platz habe, evoziert hatte, und die von den restaurativen Staatstheoretikern Europas in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr oder weniger vergeblich wiederbelebt wurde. Jedoch entzieht er mit dem Argument, eine Verfassung könne nur als etwas den Einzelnen Vorgegebenes, schlechthin an und für sich Seiendes, und damit der politischen Autonomie prinzipiell Entzogenes verstanden werden, einer sich zum pouvoir constituant ermächtigenden verfassungsgebenden Versammlung die Grundlage. Wenn überhaupt, dürfte sie zwar gewisse Änderungen an ihr vornehmen, sich aber nicht zu ihrem Schöpfer machen.

III.Der Zweck der Assoziation und der Status ihrer Mitglieder

Das Problem der zweiten Position, wie sie hier stellvertretend von Burke und Hegel repräsentiert wird, besteht darin, dass ihre Protagonisten den Zusammenschluss zu einer Rechtsgemeinschaft nur entweder wie eine privatautonome Vereinsgründung zum wirtschaftlichen Vorteil (Handelsgesellschaft) denken können oder als Bekräftigung einer unverfügbaren, vorgegebenen normativen Ordnung, von der das Recht nur ein Element unter anderen ist.