Zwänge bewältigen - Burkhard Ciupka-Schön - E-Book

Zwänge bewältigen E-Book

Burkhard Ciupka-Schön

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Beschreibung

Zwänge beginnen oft im Kindes- und Jugendalter, werden jedoch häufig erst nach Jahrzehnten erkannt und behandelt. Oft haben Betroffene einen langen Leidensweg mit mehreren Therapieanläufen hinter sich. Dabei gibt es sehr gut wirksame Methoden, die Burkhard Ciupka-Schön in seiner psychotherapeutischen Praxis erfolgreich anwendet. Vor allem die Verhaltenstherapie mit Reizkonfrontation erweist sich als äußerst effektiv. Das Buch vermittelt die wichtigsten Informationen zur Zwangserkrankung, will aber vor allem dazu motivieren, sich mit dem Zwang in konstruktiver Weise auseinanderzusetzen. Erfahrungsberichte von Betroffenen, die ihre Zwänge bewältigt haben, runden den kompakten Ratgeber ab und machen Mut, selbst aktiv zu werden.

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Burkhard Ciupka-Schön

Zwänge bewältigen!

Ein Mutmachbuch

Patmos Verlag

Inhalt

Danke

Vorwort

Einleitung

Teil I Zwänge erkennen und verstehen

1. Zwänge – Raus aus dem Schattendasein!

2. Zwang oder nicht Zwang … das ist hier die Frage!

3. Ich bin doch nicht verrückt! – Oder?

4. Welche Zwänge gibt es?

Zwangsgedanken

Zwangshandlungen

5. Ein Zwang kommt selten allein

6. Zwänge und andere psychische Erkrankungen

Zwang und Schizophrenie

Zwang und Sucht

Zwang und Depression

Zwang, Sozialphobie und andere Ängste

Zwang und Panik

Zwang und Magersucht

Zwang und psychosomatische Beschwerden

Zwang, Persönlichkeitsstile und Persönlichkeitsstörungen

Beginn und Verlauf – Vom Regen in die Traufe?

7. Wenn die Kontrolle über die Kontrolle verloren geht

8. Urlaub vom Zwang

9. Vielfalt oder Einheit der Zwangserkrankung?

10. Sind Zwänge wirklich unüberschaubar?

11. Der Teufelskreis des Zwangs

12. Kosten und Nutzen von Zwängen

Teil II Bewältigung von Zwängen

1. Wie Sie dem Teufelskreis und seinen drei Elementen entkommen

Zwangsgedanken

Negative Anspannungen

Zwangshandlungen

2. »Gestatten? Ich heiße Tur Tur und ich bin ein Scheinriese!«

3. Motivation ist der Schlüssel!

4. Der Zwang hält nicht, was er verspricht! Meistens verursacht er sogar das genaue Gegenteil!

5. Weniger ist mehr Kontrolle

6. Das innere Foto

7. Zwangserkrankung, Motivation und Persönlichkeit

Selbstentfremdung

Fehlinformierte Selbstzuschreibung

Achtsamkeit

8. Wachstum der Persönlichkeit – Die PSI-Theorie

Vorteile der PSI-Theorie

No risk, no fun! – Zwang und Stress

9. Jeden Tag eine böse Tat!

10. Der Zwangsteufel

11. Von Pontius zu Pilatus – Wie und wo finden Sie die richtige Hilfe?

Medikamente gegen Zwänge

Wie Sie den richtigen Therapeuten finden

Stationäre und ambulante Therapie im Vergleich

12. Verhaltenstherapie bei Zwängen

Reizkonfrontation als Maßanzug

Ablauf einer Reizkonfrontation

Co-Therapie

Flooding oder Salami-Taktik?

Die Zwangsmatrix

Motivations- und Distanzarbeit

Hausbesuche

Bericht meiner Klientin Katja Ungermanns:

13. Selbsthilfegruppen Zwangserkrankter

»Gemeinsam sind wir stark!«

Unterstützung beim Aufbau von Selbsthilfegruppen

Nützliche Regeln in einer Selbsthilfegruppe

14. Ursachen von Zwangsstörungen

Ursachen und kein Ende

Biologische Ursachen

Ursachen aus psychoanalytischer Sicht

Bindungsstörungen als Ursachen

Symbole als Ursache

Kritische Lebensereignisse als Ursache

Systemische Ursachen

Instinkte als Ursachen

15. Sind Zwänge heilbar?

16. Coming out durch Medienarbeit

Teil III Erfahrungsberichte

1. Edgar Mannhaupt: Zwänge sind falsche Freunde

Vorerkrankungen

Lebenskatastrophen

Familienkonflikte

Die Katastrophe

Soziale Einbindung

Was mir hilft

Verbote, Schuld, Risiko, Verantwortung …

Selbstwertgefühl / Selbstsicherheit

Gefühle

Selbsthilfegruppe

Noch etwas zum Schluss

2. Marc B.: Zwänge – mein inneres Geiseldrama

Mein Lebenslauf

Mein Zwang

Zwang und Humor (Humor und Zwang?)

Zwangserkrankungen und Kinder

Die Kehrseite der erfolgreichen Psychotherapie…

3. Cornelia M.: Ich kann mein Leben wieder genießen

Meine persönliche Literaturbestenliste

Anmerkungen

Zitatnachweis

Literaturverzeichnis

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Danke

Ich möchte an dieser Stelle allen Menschen danken, die zum Gelingen dieses Buchprojektes beigetragen haben. Hervorheben möchte ich vier meiner Klienten, die ihre Lebensgeschichte und die Bewältigung ihrer Zwänge im letzten Teil des Buches aufgeschrieben haben. Wir hatten uns in gemeinsamen Buchbesprechungen darauf verständigt, dass ich die Texte meiner Co-Autoren nur minimal korrigieren und verändern werde.

Besonderen Dank schulde ich meiner langjährigen Assistentin und Kollegin Frau Janine Futschek, die beim Schreiben, Recherchieren und Gestalten der Grafiken tatkräftig mithalf.

Und schließlich danke ich auch herzlich meiner Ehefrau Bettina Schön, die mir half, die Texte in gut lesbare Sprache zu verwandeln.

Bei der Benennung des Geschlechtes von Kollegen und Betroffenen einer Zwangserkrankung habe ich mich zugunsten einer besseren Lesbarkeit für die verbreitete männliche Form entschieden. Selbstverständlich möchte ich auch immer weibliche Kolleginnen und weibliche Klientinnen ansprechen.

Neben vier selbstverfassten Berichten von Betroffenen habe ich zur Erläuterung eine größere Anzahl von kleineren Fallberichten eingefügt, die ich zum Schutze der Anonymität stark verändert habe. Ähnlichkeiten mit real lebenden Personen sind also rein zufällig. Therapeutisch und inhaltlich handelt es sich um echte Beispiele aus meiner Praxis und meiner Beratungsarbeit.

Vorwort

Nur sehr wenige Fachleute verfügen über so umfangreiche Kenntnisse zum Thema Zwangsstörungen wie der Autor Burkhard Ciupka-Schön. Er ermöglicht detailreiche umfassende Einblicke in die Welt der sogenannten versteckten Krankheit, beleuchtet sie von allen Seiten, schildert plastische Beispiele und versteht es anschaulich, für Betroffene, Angehörige, interessierte Laien und Fachleute komplexe Zusammenhänge und Therapieoptionen zu erläutern.

Im Vergleich zur Bedeutung des Krankheitsbildes ist die Zahl der Publikationen immer noch gering und ambulante Behandlungsspezialisten sind eine Rarität. Die klinische Versorgung findet in der Regel wohnortfern statt, so dass die zu empfehlende Reizkonfrontation unter alltäglichen Bedingungen kaum realisierbar ist. Die nun vorliegende Darstellung erscheint zum richtigen Zeitpunkt, da die neuen, ab 2017 in Gang kommenden, gesetzlichen Rahmenbedingungen stationsäquivalente Behandlungsformen mit Elementen der aufsuchenden Behandlung  (Hometreatment) ermöglichen. Künftig werden das soziale Umfeld einbeziehende, klinische und ambulante sowie Selbsthilfe integrierende Ansätze die Bewältigung der Zwangskrankheit erleichtern.

Ein Buch, das tatsächlich Mut macht, Transparenz schafft und Betroffene anregt, ihren Weg in ein freieres Leben zu erkunden.

Dr. Andreas Horn

Direktor der Psychiatrisch-Psychotherapeutischen Kliniken der Alexianer Krefeld GmbH

Chefarzt der Klinik für Allgemeinpsychiatrie und Psychotherapie

Teil I Zwänge erkennen und verstehen

1. Zwänge – Raus aus dem Schattendasein!

Jeder kennt wohl das Phänomen, dass man vor einer Urlaubsreise ein zweites Mal den Küchenherd kontrolliert oder erneut überprüft, ob die Haustür auch wirklich abgeschlossen ist. Das ist ganz normal. Es gibt aber Menschen, die entgegen ihrem eigenen Willen bestimmte Handlungen exzessiv wiederholen müssen; der Fachmann spricht dann von einer Zwangserkrankung. Es gibt Personen, die hundertfach kontrollieren, ob die Haustür abgeschlossen ist, andere verbringen Stunden im Badezimmer, um immer wieder ihre Hände zu waschen; sie verbrauchen dabei mehrere Stücke Seife in der Woche. Eine weitere Gruppe Betroffener muss immer wieder denselben Gedanken denken. Dies sind die häufigsten drei Erscheinungsformen einer Zwangserkrankung: Kontrollzwang, Reinlichkeitszwang, Gedankenzwang.

Fallbeispiel

Katrin M. ist eine junge Frau Mitte zwanzig aus dem Raum Dresden. Katrin ist verheiratet und hat einen zweijährigen Sohn. Erst seit zwei Jahren ist ihr bewusst, dass eine Symptomatik, die sie bisher immer als »Marotte« abgetan hatte, in Wirklichkeit eine Zwangserkrankung war. Ab Beginn ihrer Volljährigkeit und der nun zunehmenden Verantwortung stellte sie fest, dass bestimmte Verhaltensweisen wie »Kontrollieren, ob der Wagen abgeschlossen ist« oder »das Ordnen der Kleider im Schrank nach festem Schema« einen immer größeren Raum einnahmen. Wenn Katrin im Bad das Licht löschte, schaute sie bis zu fünf Minuten in die Dunkelheit, um sich davon zu überzeugen, dass das Licht auch wirklich aus war. Wenn Katrin ihre Wohnung verließ und von außen die Tür abgesperrt hatte, stand sie draußen noch eine ganze Weile vor der verschlossenen Tür, um zu prüfen, ob sie auch wirklich zu war. Erst wenn es in Katrins Kopf wirklich »klick« gemacht hatte, wenn sich also das sichere Gefühl einstellte, dass die Tür wirklich zu ist, konnte Katrin gehen. Peinlich war natürlich, wenn zufällig jemand aus einer Nachbarwohnung kam und sie dabei beobachtete. Dann schämte Katrin sich zu Tode.

Zunächst gelang es Katrin, in Situationen außerhalb ihres Privatlebens ihre Zwänge unter Kontrolle zu halten. Als sie schließlich heiratete, ein Kind bekam und die Führung des Haushaltes übernahm, gab es immer weniger Außenkontakte, so dass die Zwänge immer mehr Raum einnahmen und sich ausweiteten. Ohne die Hilfe ihrer Angehörigen gelingt es ihr heute kaum noch, ihr Kind zu versorgen und das tägliche Pensum ihrer Haushaltsarbeiten zu bewältigen. Sie ist fast völlig in den ständigen Kontrollen und der Befürchtung, schwerwiegende Fehler zu begehen, gefangen.

Rund zwei Millionen Deutsche sind von Zwängen betroffen, etwa gleich viele Frauen wie Männer.2 Damit ist die Zwangserkrankung, nach Depressionen, Süchten und Angststörungen, die vierthäufigste seelische Störung. Diese Häufigkeit steht im großen Gegensatz zu den noch geringen Kenntnissen vieler Therapeuten und zu der geringen Zahl von ambulanten und stationären Behandlungseinrichtungen, die sich auf die Zwangserkrankung spezialisiert haben.

Zwischen den Jahren 1995 und 2000 habe ich etwa zehntausend Anfragen von Betroffenen in der Geschäftsstelle der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankung e.V. telefonisch und schriftlich beantwortet. Die häufigste Frage, die mir die Betroffenen stellten, war: »Zwangssymptome? Ist das normal?« Sie drückten damit ihre große Scham und Angst vor Ablehnung aus, die sie bisher daran gehindert hatte, aus dem Schattendasein herauszutreten und sich professionelle Hilfe zu suchen.

Seit Menschengedenken wird psychischen Erkrankungen von der breiten Bevölkerung mit Skepsis, Furcht und Abneigung begegnet. Anders als bei Erkrankungen des Körpers, deren Symptome zumeist ersichtlich und deren Ursachen auch von Laien schnell nachvollziehbar sind, können die Ursachen und Auswirkungen von psychischen Erkrankungen häufig nicht in Verbindung gebracht werden. Die »Black Box«, die unser Verstand darstellt, erscheint undurchschaubar. Und was uns undurchschaubar, sprich unverständlich, ist, das macht uns zumeist Angst. Von der Angst zur Abneigung oder gar Feindseligkeit ist es nur noch ein kleiner Schritt.

In den letzten Jahrzehnten jedoch ist ein Wandel zu beobachten. Zwangserkrankungen und andere psychische Störungen wurden in Spielfilmen, Gesundheitssendungen und Talkshows thematisiert. Betroffene, Psychiater und Psychologen bemühten sich um Transparenz und darum, dem Bild des unberechenbaren Erkrankten entgegenzuwirken und Verständnis zu wecken. Geholfen haben hier nicht zuletzt gute Beispiele aus den USA und den Niederlanden, wo bereits offener mit dem Thema umgegangen wird. Einen Therapeuten zu haben, gilt dort schon fast als »schick«.

Zwangserkrankte haben von diesem Wandel in besonderem Maße profitiert, denn die Geschichte des Zwangs, wie Experten sie heute verstehen, ist noch nicht sehr alt. Bis weit in die 1990er Jahre sind behandelnde Psychologen und Psychiater fälschlicherweise davon ausgegangen, dass Zwänge sehr selten und erste Anzeichen für eine schizophrene Psychose seien, deren Behandlung zu einem Ausbruch der Schizophrenie führen könne. Damals gingen die Experten von einer Häufigkeit von durchschnittlich 0,2 Prozent in der Bevölkerung aus. Daher wurde auch wenig Zeit und Mühe in ihre Erforschung und Behandlung investiert.

Dass die Zwangserkrankung tatsächlich die vierthäufigste psychische Erkrankung in Deutschland ist, wurde in einer Unter­suchung von Wittchen und Jacobi3 aus dem Jahr 2012 bestätigt. Befunde wie diese sind hochinteressant, denn nun können Zwangsbetroffene sagen: »Ja, wir sind nicht allein mit dem Problem!«

Die Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankung e.V., zu deren Begründer ich mich zähle (1995), hat von Anfang an auf Öffentlichkeitsarbeit gesetzt, um die Zwangserkrankten zu ermutigen, aus ihrem Schattendasein herauszutreten. Dabei wurde viel erreicht, jedoch sind Zwänge immer noch häufig eine verborgene Krankheit, für die sich viele Betroffene schämen.

2. Zwang oder nicht Zwang … das ist hier die Frage!

Zwänge sind nicht nur sehr häufig, sondern ein bisschen Zwang steckt in jedem von uns. Rituale und Tabus sind allgegenwärtig, dazu ist keine Zwangserkrankung erforderlich. Dies hat mit der starken sozialen Orientierung unserer Gattung Homo Sapiens zu tun. Wir verhalten uns wie Herdentiere und benötigen in der Regel andere Menschen um uns herum, mit denen wir uns austauschen und an denen wir uns orientieren können. In einem größeren Verbund entsteht das, was wir als Gesellschaft bezeichnen. Eine Gesellschaft bietet Schutz, Unterstützung sowie die Möglichkeit, sich zu entfalten. Dabei bedarf es jedoch klarer Regeln und Normen, die jedem Mitglied dieser Gesellschaft bekannt sind, und die dazu dienen, einem friedvollen Miteinander den Weg zu ebnen. Beispiele für solche Regeln sind alltägliche Rituale und Tabus.

Rituale weisen auf die Bedeutung von gemeinsamen Handlungen hin und stärken das gemeinschaftliche Band. Rituale können kultureller und religiöser Natur sein, wie Karnevalsfeiern und das Weihnachtsfest. Ebenso alltäglich sind Rituale im Bereich Sport oder auch kleine familiäre Rituale, wie die Gutenachtgeschichte vor dem Zubettgehen.

Tabus hingegen zeigen Grenzen auf und geben Hinweise, was gesellschaftlich akzeptiert ist und was nicht. Auch hier gibt es Tabus auf verschiedenen Ebenen. Im religiösen Bereich sind Tabus zum Beispiel die Abstinenz vor der Kommunion im Christentum oder das Verbot, Schweinefleisch zu essen im Islam. Auf kultureller und familiärer Ebene können zum Beispiel Sexualität und Nacktheit Tabuthemen sein.

Tabus und Rituale können ein Erkennungsmerkmal sein. Besucher des Kölner Doms, die im Minirock oder mit Kopfbedeckung erscheinen, sind unschwer als Nichtkatholiken erkennbar, während jeder gläubige Katholik diese Tabus kennt und respektiert. Eine Frau, die den Besuch einer gemischten Sauna ablehnt, weil sie sich nackt nur ihrem Lebenspartner zeigen möchte, unterstreicht damit die Bedeutung sexueller Exklusivität für ihre Paarbeziehung.

Wir stellen fest, dass Tabus und Rituale zu unserem alltäglichen gesunden Erleben in Kultur, Religion und Gesellschaft gehören. Tabus und Rituale markieren Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit, sie verstärken die wahrnehmbare Bedeutung der Ereignisse, mit denen sie verbunden sind. Kostüme und Karnevalsumzüge können die Zugehörigkeit zur rheinischen Karnevalskultur ausdrücken und sie verstärken das Gefühl der Ausgelassenheit und des karnevalistischen Frohsinns.

Bei Beerdigungen werden Rituale und Tabus als Signale der Zusammengehörigkeit einer Familie, eines Vereins und einer Nachbarschaftsgemeinschaft wahrgenommen. Trauermusik, Gebete, Trauerreden sowie schwarze Kleidung sind aber nicht nur Demonstrationen nach außen, sondern vielmehr eine Hilfe zur Wahrnehmung und Bewältigung der Trauer und der Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit. Hier haben Rituale einen positiven Charakter.

Nun ist es ein überraschend kleiner Schritt zu den Ritualen und Tabus, die zum Wesen der Zwangserkrankung gehören. Ritualisiertes Händewaschen und wiederholtes Kontrollieren von Haus, Heim und Hof sind plakative Beispiele, wie Zwänge in den Medien dargestellt werden. Typisch sind aber auch gedankliche Tabus, wie aggressive, schreckenerregende Vorstellungen. Doch wo liegt nun der Unterschied zwischen den nützlichen und den schädlichen zwanghaften Ritualen und Tabus? Der bekannte Zwangsspezialist Paul Salkovkis sagte einmal:

Gut zu wissen!

»Vergleicht Gedanken Zwangserkrankter und Normaler – ihr findet keinen Unterschied!«

Und tatsächlich wird sich der ein oder andere »Normale« schon dabei ertappt haben, dass er noch mal zum Auto zurückgegangen ist, um zu kontrollieren, ob es wirklich abgeschlossen ist, oder erschrocken haben bei dem Gedanken: »… dem könnte ich den Hals umdrehen …«

Alltägliche Rituale und Tabus gelten für jeden Menschen in einer Gesellschaft, sollen Bedeutung unterstreichen und den gemeinschaftlichen Bund stärken. Im Gegensatz dazu sind die Spielregeln von Zwangsritualen und -tabus nur dem Betroffenen und einigen wenigen Angehörigen bekannt. Betroffene entwickeln ihre ganz persönlichen Rituale und Tabus und geben ihnen eine zu große Bedeutung. Die Mitmenschen verstehen den Zwangserkrankten nicht mehr und dieser wird immer unsicherer und ein­samer. Zwanghafte Rituale und Tabus sind deutlich übertrieben und werden innerhalb eines kleinen eingeweihten Kreises geheim gehalten.

3. Ich bin doch nicht verrückt! – Oder?

Ob ihr Zwangsverhalten normal sei, ist eine der häufigsten Fragen, die Betroffene stellen. Da der Unterschied zwischen zwanghaften und nützlichen Ritualen und Tabus so marginal ist, haben auch Experten oft ihre liebe Mühe, hier eine Antwort zu geben, und zwischen Zwängen, die einer Behandlung bedürfen, und solchen zwanghaften Verhaltensweisen, die noch als »normal« gelten, zu unterscheiden.

Eine wichtige Instanz für die Unterscheidung ist das Internationale statistische Klassifikationssystem für Krankheiten und verwandte Gesundheitsprobleme (kurz: ICD) von der World Health Organization (WHO).

Bei der nachfolgenden Beschreibung orientiere ich mich an den Kriterien des ICD4, die festlegen, wann Experten von einer Zwangsstörung mit Krankheitswert sprechen:

Generell können Zwänge grob in Zwangsgedanken, Zwangshandlungen und mentale Zwangshandlungen unterschieden werden. Bei Zwangsgedanken handelt es sich um ungewollte Ge­danken, Impulse oder Vorstellungen, die erhebliche Angst oder andere negative Gefühle auslösen können. Die Zwangsgedanken kehren wiederholt zurück und sind länger andauernd. In der Regel versucht der Betroffene die Zwangsgedanken zu ignorieren, zu unterdrücken oder zu neutralisieren. Oft sind Scham oder Schuld die treibenden Mechanismen hinter dieser Reaktion, denn die Gedanken werden – wenn auch als störend, lästig, ungewollt und sinnlos erlebt – durchaus als Produkt des eigenen Verstandes anerkannt.

Zwangshandlungen sind sich wiederholende Verhaltensweisen, die als Rituale oder mentale Akte als Antwort auf die Zwangsgedanken fungieren und diese neutralisieren, das heißt abschwächen sollen. Das Ziel ist demnach der Abbau innerer Spannung und negativer Gefühle. Oft entwickelt sich auch die Vorstellung, mit dem Zwangsritual einem gefürchteten Ereignis vorzubeugen. Auch hier ist das Verhalten nicht sinnvoll. Der Betroffene kann jedoch dem »Zwang« nicht widerstehen, die Handlung auszuführen.

Mentale Zwangshandlungen sind eine Sonderform der Zwangshandlungen, die nicht motorisch mit den Händen, sondern rein in Gedanken ausgeführt werden. Ziele sind hier ebenso die magische Verhinderung von Katastrophen sowie der Abbau negativer Emotionen.

Bezogen sowohl auf Zwangsgedanken als auch auf Zwangshandlungen verweist das ICD darauf, dass die Gedanken und Handlungen mindestens zwei Wochen lang an den meisten Tagen nachweisbar sein müssen, damit von einer Zwangserkrankung gesprochen werden kann. Ein weiteres Kriterium ist, dass die Betroffenen unter ihren Zwängen leiden. Zum Beispiel dadurch, dass sie für die alltäglichen Verrichtungen, Auto abschließen oder Zähne putzen, sehr viel Zeit benötigen, mit der Folge, dass soziale Kontakte darunter leiden oder gar nicht mehr aufrechterhalten werden. In sehr schweren Fällen kann es auch zu einer vorübergehenden oder dauerhaften Aufgabe des Berufs kommen.

Der ICD, den wir hier verwenden, ist der Maßstab, den die meisten Experten heute als verbindlich ansehen. Die Liste der Kriterien lässt sich aber darüber hinaus noch erweitern:

Das Einbeziehen von Angehörigen in ein Zwangssystem ist im ICD nicht zu finden. Rückversicherungen an Angehörige, zum Beispiel, ob das Licht beim Verlassen der Wohnung auch wirklich aus war, spielen bei Zwangserkrankungen eine große Rolle. Sie fehlen im ICD. Auch das Leiden von Angehörigen findet im ICD keine Erwähnung, obwohl Angehörige, die jahrelang in ein zwanghaftes System eingebunden waren, oft selbst psychotherapeutische Betreuung benötigen. In etwa einem Drittel der Fälle sind es Angehörige, die den Impuls zu einer Therapie geben. Angehörige können einen sehr großen Einfluss auf die Entwicklung und die Stärke einer Zwangsstörung haben. Angehörige verstärken einen Zwang, wenn sie die Regeln von Tabu und Ritual übernehmen und wenn sie den Betroffenen Rückversicherungen geben. Angehörige, die in der Beziehung zum Betroffenen bleiben, aber aus dem System des Zwanges aussteigen, tragen wesentlich dazu bei, den Leidensweg von Betroffenen zu verkürzen.

Ergänzend zum ICD zeigt sich bei Zwangserkrankten eine Vielfalt von negativen Anspannungen und Gefühlen, neben Scham und Schuld finden wir Ekel, Angst und das Gefühl der Unvollständigkeit. Zu Beginn ihres therapeutischen Prozesses sprechen die Betroffenen meistens von Anspannung. Später, mit fortschreitender therapeutisch geleiteter Selbsterkenntnis, können die genannten Gefühlsqualitäten als unterscheidbare Formen negativer Anspannung wahrgenommen werden. Auch Kombinationen der verschiedenen Gefühlsqualitäten sind durchaus möglich. Die Zuordnung der Zwangsstörung zu den Angststörungen wurde von den führenden ICD-Experten der WHO mittlerweile aufgegeben. Heute werden Zwangsstörungen als eine eigenständige Gruppe verstanden, was ihrer großen Häufigkeit gerecht wird. Da Ängste bei Zwängen eine eher untergeordnete Rolle spielen, ist auch dies ein gutes Argument für eine eigenständige Diagnose der Zwangsstörung, unabhängig von den Angststörungen.

4. Welche Zwänge gibt es?

Die Symptom-Checkliste auf den folgenden Seiten enthält 55 Beschreibungen der bekanntesten Zwangsbeschwerden. Obwohl diese Liste die meisten der bekannten Zwangsbeschwerden enthält, ist sie noch lange nicht vollständig. Auch für Experten ist die verwirrende Vielfalt der Zwangsstörung eine Herausforderung. Denn es ist wahrscheinlich, dass gleichzeitig verschiedene der beschriebenen Problembereiche zu finden sind. In diesen Fällen gibt es in der Regel ein führendes Symptom, das am meisten belastet. Kleinere Zwänge fallen manchmal erst bei genaueren Untersuchungen auf.

Wenn Sie als Betroffener oder Betroffene dieses Kapitel lesen, bitte ich Sie, die Liste auszufüllen, um Ihre Symptome selbst einzuschätzen. Es kann sein, dass Ihnen bei der Bearbeitung der Liste Zwänge aus früherer Zeit begegnen, die heute nicht mehr bestehen. Durch Ankreuzen der Rubriken jetzt/früher erhalten Sie einen besseren Überblick über Ihre Zwänge, Entwicklungen und Symptomverschiebungen. Die nun folgende Liste kann als strukturiertes Interview gemeinsam mit dem Therapeuten durchgeführt werden. Aber Sie können es auch eigenständig als Instrument der Selbst­untersuchung einsetzen.

Zwangsgedanken

In der folgenden Auflistung werden Zwangsgedanken zusammengefasst, die negative Anspannungen wie Scham und Schuld, Angst, Ekel und Unvollständigkeit verstärken. Zwangsgedanken stehen aber nur selten mit einer einzigen Form der negativen Anspannung im Zusammenhang. Häufiger sind verschiedene Ausprägungen von Anspannung mit einem Zwangsgedanken kombiniert. Zum Beispiel kann der Zwangsgedanke: „Ich bin pädophil und das ist eine Katastrophe!“, sowohl Ekel vor sich selbst als auch Scham- und Schuldgefühle auslösen. Durch offene Gespräche in einem therapeutischen Setting finden Sie hier Klarheit.

Zwangsgedanken

Zwangsgedanken, die vorrangig Scham und Schuld verstärken

jetzt

früher

Furcht, der Verursacher von Unfällen und Katastrophen zu sein (z.B. Angst vor Unfallflucht, Angst vor Bränden durch vergessene Elektrogeräte im eigenen Haushalt, Angst vor offenen Haustüren und Fenstern, Angst vor Stromschlag durch fehlerhafte Installation, Angst vor Überschwemmungen durch nicht sorgfältig zugedrehte Wasserhähne)

Angst über sich die Kontrolle zu verlieren (z.B. zum Ver­gewaltiger zu werden, andere Menschen zu verletzten und zu ermorden, der Familie Haushaltsreiniger ins Essen zu kippen, Stehlen)

Sorge Krankheitserreger, Viren und Bakterien auf andere Personen zu übertragen

Befürchtungen, etwas Falsches, Beleidigendes oder Peinliches zu tun oder zu sagen*

Furcht, Flüche gegen Gott laut öffentlich auszustoßen

Furcht vor blasphemischen Gedanken

Sorge vor Verstößen gegen Recht und Gesetz, Verstöße gegen die Regeln der Moral, Verstöße gegen göttliche Gebote

* Die tatsächliche Ausstoßung von Schimpf- oder Fäkalworten wird Koprolalie genannt und ist ein bekanntes Symptom des Tourette-Syndroms.

Zwangsgedanken, die vorrangig Angst verstärken

jetzt

früher

Befürchtung, sich umzubringen oder sich selbst zu verletzen

Befürchtung, unter einer Schizophrenie zu leiden

Angst vor Giften wie Asbest, giftigen Abfallstoffen, Radio­aktivität, elektromagnetischer Strahlung, Reinigungsmitteln, Lösungsmitteln (Kontaminationsangst)

Angst vor Einbruch und Diebstahl in Verbindung mit der Furcht, diese durch Unaufmerksamkeit begünstigt zu haben

Befürchtung vor Infektionen (Aids, Hepatitis, BSE….)

Die magische Furcht, etwas Schlimmes könnte geschehen, wenn etwas schief oder falsch steht, z.B. weil ein Handtuch nicht sauber gefaltet ist usw.

Drang, Dinge wissen oder sich an Dinge erinnern zu müssen

Abergläubische Gedanken: Freitag der 13., die schwarze Katze von links, gerade oder ungerade Zahlen

Angst vor Krebs oder anderer schwerer Krankheit

Angst vor Gefühlen der Anspannung wie Ekel, Scham, Schuld, Unvollständigkeit und Angst (die Angst vor der Angst)

Zwangsgedanken, die vorrangig Ekel verstärken

jetzt

früher

Exzessive Sorgen durch Körperflüssigkeiten und Exkremente (z.B. Sperma, Urin, Kot, Speichel) kontaminiert zu werden

Exzessive Sorgen über Schmutz, Fett oder Keime

Angst vor bestimmten Tieren: Insekten, Parasiten (z.B. Fuchsbandwurm, Zecken, Spinnen ...); und Angst durch sie geschädigt zu werden

Angst, pädophil zu sein, verbotene sexuelle Handlungen mit Kindern zu begehen

Angst, homosexuell zu sein, Sex mit dem eigenen Geschlecht zu haben

Angst vor Nacktheit

Zwangsgedanken, die vorrangig Unvollständigkeit ver­stärken

jetzt

früher

Die Sorge, etwas könnte schief stehen, unordentlich aus­sehen usw.

Die Sorge, etwas Wichtiges könnte fehlen, wenn es entsorgt oder weggeworfen wird (das sogenannte Messie-Syndrom)

Die Sorge, etwas Schlimmes würde geschehen, wenn ich nicht auf die genau richtige Weise durch eine Tür gehe, wenn rechts nicht das Gleiche wie links getan wird, wenn ich auf die Fugen der Gehwegplatten trete o.ä.

Dysmorphophobie , das heißt Sorgen hinsichtlich des Aussehens und der Proportion des eigenen Körpers (z.B.: Wurstfinger, Körper zu dick oder zu dünn), der eigene Körper fühlt sich falsch an

Unordnung, Asymmetrie (z.B.: Hemden im Kleiderschrank müssen genau auf Kante gefaltet sein, Bücher müssen eine durchgängige Linie ergeben)

Zwangshandlungen

Im Gegensatz zu Zwangsgedanken sollen Zwangshandlungen zum Abbau und zur Neutralisierung negativer Anspannungen wie Scham, Schuld, Ekel, Angst und Unvollständigkeit dienen.

Zwangshandlungen, die vorrangig Scham und Schuld neutralisieren sollen

jetzt

früher

Kontrollzwänge: Exzessive Kontrollen von Fenstern, Türschlössern, Wasserhähnen und Elektrogeräten usw.

Vermeidung von Kontrollen von Fenstern, Türschlössern, Wasserhähnen und Elektrogeräten, indem ich dies von anderen Personen ausführen lasse oder indem ich dies in Begleitung anderer Personen ausführe, auf die ich magisch die Verantwortung übertrage

Forderung von Rückversicherung durch Kollegen oder Familienangehörige, denen ich auf magische Weise die Verantwortung für die Sicherheit von Fenstern, Türschlössern oder Arbeitsprozessen übertrage

Exzessive Kontrollen und Vermeidung, damit ich nicht zum Verursacher von Katastrophen (z.B. Unfälle, Brände) werden kann

Kontrollzwänge beim Autofahren, abruptes Bremsen, exzessive Kontrolle im Rückspiegel, Vermeidung von Autofahren durch Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, Kontrolle des Polizeifunks

Der Drang, sich zu entschuldigen, zu beichten oder zu bekennen

Offensichtliche Rituale und gedankliche Rituale, z.B. exzessiv Gebete vor sich hin sprechen oder im Kopf aufsagen

Zwangshandlungen, die vorrangig Ekel neutralisieren sollen

jetzt

früher

Waschzwänge: Exzessives und ritualisiertes Händewaschen, Duschen, Baden, Zähneputzen, Körperpflege

Vermeidung von Verschmutzungen: Meidung von öffentlichen Orten (insbesondere öffentlichen Verkehrsmitteln und öffentlichen Toiletten, Arztpraxen), die von vielen fremden und kranken Menschen aufgesucht werden

Vermeidung von körperlicher Berührung, insbesondere Sexualität

Putzzwang: Beschäftigung mit der Reinigung des Haushalts

Zwangshandlungen, die vorrangig Unvollständigkeit neutralisieren sollen

jetzt

früher

Wiederholungszwänge: Mehrmaliges Lesen, Schreiben, Hinsetzen, Durch-die-Tür-Gehen, bis sich das Gefühl des Richtigseins einstellt

Zählzwänge: Zählen nach einem System oder einer Regel, Ausführen von Alltagshandlung nach magischem Zahlenmuster (Viermal rechts tippen fordert viermal links tippen)

Ordnungszwänge: Bücher im Regal strikt nach Größe sortieren, Bleistifte strikt parallel sortieren usw.

Hort- oder Sammelzwänge (= Messie-Syndrom): Sammeln von Abfall mit der Folge, dass die Wohnung vermüllt und unbewohnbar wird

Exzessives Erstellen von Listen über Alltagsdinge

Meine Empfehlung:

Füllen Sie die Liste einmal für sich selbst aus. Dies hilft Ihnen, Ihre Beschwerden genauer zu erkennen, denn nur so wissen Sie, worauf Sie Ihre Energie bei der Bewältigung richten wollen.

5. Ein Zwang kommt selten allein

Neben den – auch aus den Medien – eher bekannteren Symptomen wie Waschen und Kontrollieren gibt es noch eine weitaus größere Vielfalt an Zwangsgedanken und Zwangshandlungen.

Bei den Zwangsgedanken ist mit 45 Prozent das häufigste Thema »Verschmutzung«, gefolgt von pathologischen Zweifeln (dem Zweifel, ob man eine Handlung wirklich oder richtig ausgeführt hat) sowie von Zwangsgedanken in Bezug auf den eigenen Körper, Symmetrie und Sexualität.

Zwangsgedanken mit der Vorstellung von aggressiven Impulsen gehören mit 28 Prozent zu den sechsthäufigsten Zwangsgedanken (laut der Erhebung einer psychiatrischen Klinik in Münster aus dem Jahr 2009)5.

Bei den Zwangshandlungen sind Kontrollieren und Waschen die mit 62 Prozent und 49 Prozent am meisten verbreiteten Themen. Nach einer aktuellen Auszählung in meiner Praxis habe ich festgestellt, dass Waschen der häufigste Zwang bei den Frauen, Kontrollieren der häufigste Zwang bei den Männern darstellt.

Weitere häufige Themen sind der Drang nachzufragen oder zu beichten, Dinge zu ordnen oder zu zählen, Verhaltensweisen oder gesprochene Sätze zu wiederholen sowie der, besonders in den letzten Jahren durch Medien populärer gewordene Drang, Dinge zu sammeln. In das öffentliche Bewusstsein ist dies als das Messie-Syndrom eingegangen.

Das Tückische am Zwang ist, dass er nahezu jeden Inhalt annehmen kann und sich hartnäckig im Betroffenen »verbeißt«. Stets erscheint der Zwang in neuen Gewändern. Ich habe den Eindruck, je intelligenter der Besitzer eines Zwanges ist, desto mehr Verkleidungen des Zwanges entwickeln sich. Je länger dem Zwang dabei freien Lauf gelassen wird und Zwangsgedanken mit Zwangshandlungen neutralisiert werden, desto schwieriger ist es später, dagegen vorzugehen. Neben dem ursprünglich einen Thema kommen weitere dazu, bis fast jeder Bereich des Lebens »verzwängelt« ist.

6. Zwänge und andere psychische Erkrankungen

Zwänge treten häufig gemeinsam mit anderen Störungen auf6, am häufigsten mit Depressionen, mit Sozialphobie, mit Panik, verschiedenen anderen Phobien und Suchterkrankungen. Experten nennen dies eine Komorbidität und meinen damit das gemeinsame Auftreten zweier oder mehrerer Erkrankungen.

Eine Komorbidität von Zwängen mit anderen Störungen ist eher die Regel als die Ausnahme. Therapeuten, die Zwänge behandeln, sollten sich auch in den anderen Themenbereichen gut auskennen und sich auf eine Teamarbeit mit anderen Kollegen einstellen. Die Zusammenarbeit von Ärzten und Psychologen ist heute ohnehin obligatorisch. Ergotherapeuten, Sozialarbeiter, Physiotherapeuten und Ernährungstherapeuten zusätzlich ins Boot zu holen, ist von Fall zu Fall durchaus sinnvoll. In Kliniken gibt es feste Behandlungsteams, die sich aus den genannten Berufsgruppen zusammensetzen.

Meine Empfehlung:

Wenn Sie Ihre Behandlung nicht in einer Klinik durchführen, empfehle ich Ihnen gemeinsam mit Ihrem Arzt oder Therapeuten zu überlegen, ob die zusätzliche Zusammenarbeit mit einer der genannten Berufsgruppen empfehlenswert ist und zu Ihrem Behandlungsplan passt.

Komorbidität schließt die Möglichkeit ein, dass Zwänge und andere Erkrankungen sich gegenseitig bedingen und verstärken. Der Zwang führt fast immer zur Eskalation und verursacht dadurch »versteckte Kosten«, wie die nachfolgend beschriebenen komorbiden Störungen. Die versteckten Kosten sind den meisten Betroffenen nicht bewusst. Diese Erkenntnis steht im krassen Gegensatz zu den Grundmotiven der meisten Betroffenen, die sich erhoffen, durch ihre Zwangshandlungen Sicherheit zu gewinnen und Krankheiten abzuwehren.

Da Zwänge eigentlich sehr häufig, aber nach wie vor recht unbekannt sind, werden sie von den Betroffenen in der Regel verheimlicht. Menschen mit einer Zwangserkrankung möchten gerne der gesellschaftlichen Norm entsprechen, in ihrem Selbstverständnis sind Zwänge ungewöhnlich und peinlich. Da Zwänge häufig gemeinsam mit anderen Störungen auftreten, wird die andere Störung oft in den Vordergrund gestellt und der peinliche Zwang vernachlässigt. Ich empfehle professionellen Helfern einige gezielte Fragen nach Zwängen zu stellen, wenn sie einer der im Folgenden beschriebenen komorbiden Störungen begegnen. Professionelle Helfer werden häufig die Überraschung erleben, dass sich hinter einer dieser komorbiden Störungen eine Zwangsstörung versteckt.

Meine Empfehlung:

Sprechen Sie gegenüber dem Arzt ihres Vertrauens offen über Zwänge. Zwänge üben Einfluss auf viele andere Krankheiten aus, die Ihr Arzt nur dann schnell und zielführend behandeln kann, wenn er das Gesamtbild kennt.

Zwang und Schizophrenie

Obwohl Betroffene genau wissen, dass ihr zwanghaftes Handeln keinen Erfolg verspricht, müssen sie es dennoch tun. Dies ist ein Zustand, der sehr gut durch die Redewendung »Verrückt bei klarem Verstand« beschrieben wird. Betroffene sehen manchmal in der völligen Sinnlosigkeit ihrer Zwänge irrtümlich ein Argument für eine noch schwerere psychische Erkrankung, die Schizophrenie.

Schizophrenie wird heute von Experten als paranoid-halluzinatorische Psychose bezeichnet. Es gibt einen schleichenden Beginn der Schizophrenie in der Jugendphase im Übergang zum jungen Erwachsenenalter der betroffenen Menschen. In einer frühen Phase sind die Symptome der Schizophrenie noch sehr unauffällig. Ängste, Depression, Gedankenabriss, Rückzug und eine herabgesetzte Leistungsfähigkeit, die in der frühen sogenannten Prodromal-Phase einer Schizophrenie zu finden sind, könnten auch im Zusammenhang mit einer harmloseren Lebenskrise stehen. In der akuten Erkrankungsphase der Schizophrenie wird es dann wesentlich deutlicher, es kommt dann zum Beispiel zum Hören von Stimmen oder es entwickeln sich misstrauische Wahnvorstellungen, die sich darauf beziehen, von anderen Menschen verfolgt oder durch andere beeinträchtigt zu werden.

Die falsche Selbsteinschätzung der Zwangskranken, an Schizophrenie zu leiden, wurde durch eine überholte psychiatrische Lehrmeinung bestätigt, in der Zwänge unter den Verdacht gestellt wurden, ein frühes Stadium einer Schizophrenie zu markieren. Diese Meinung und die daraus folgende Schlussfolgerung, dass es ge­fährlich sei, Zwänge überhaupt zu behandeln, gilt heute als falsch. Experten haben festgestellt, dass der Zusammenhang zwischen Zwängen und einer Schizophrenie sehr gering ist. Zwang und Schizophrenie lassen sich ganz eindeutig mit der Frage nach der »doppelten Buchführung« unterscheiden.

Unter »doppelter Buchführung« verstehe ich die unterschiedliche Bewertung, die Zwangskranke bei sich oder bei anderen Personen vornehmen: Eine Frau wendet die Hygienevorschriften, die ihr Zwang verlangt, nur auf sich und ihren engen Familienkreis an. Sie käme nicht auf die Idee, dass diese Reinlichkeitsregeln in ein Lehrbuch für Hygiene gehören würden. Sie würde auch nicht fremde Menschen von der Richtigkeit ihrer Hygienevorstellung überzeugen wollen.

Dies ist bei schizophrenen Menschen anders, sie sind von der Richtigkeit ihrer Wahnvorstellung fest überzeugt. Zum Beispiel, dass ein Geheimdienst ihnen über eine Fernsehsendung eine Mitteilung machen möchte. Schizophrene kennen keine »doppelte Buchführung«, sondern ihre Wahnvorstellungen und Halluzinationen beanspruchen absolute Gültigkeit. Daher verheimlichen Schizophrene ihre Wahnvorstellungen auch nicht so, wie Zwangskranke es mit ihren Zwangsgedanken und -handlungen tun.

Gut zu wissen!

Der Zusammenhang zwischen Zwang und Schizophrenie ist gering. Sie brauchen keine Angst davor zu haben, dass die Behandlung Ihrer Zwangserkrankung zu einer Schizophrenie führt. Diese frühere Lehrmeinung ist falsch!

Noch vor zwanzig Jahren haben Psychiater nur einen sehr kleinen Teil der Zwangserkrankten in ihren Kliniken oder Praxen kennengelernt. In Wirklichkeit gab es schon damals sehr viel mehr Betroffene, die ihren Zwang einigermaßen mit Arbeit und sozialen Anforderungen vereinbaren konnten, aber aus Scham nicht damit an die Öffentlichkeit gingen.

Zwangserkrankte mit einer sehr schweren Ausprägung und einem sehr langen ungünstigem Krankheitsverlauf konnten ihre Zwänge jedoch irgendwann nicht mehr verheimlichen und benötigten schließlich psychiatrische Hilfe. Da der Zwang bei diesen schweren Verläufen mittlerweile das Leben und Denken völlig beherrschte, war für diese Schwerkranken unter den Zwangskranken auch die Unterscheidung zwischen Zwang und Wirklichkeit, sozusagen die »doppelte Buchführung« verloren gegangen. Psychiater sahen das in früheren Zeiten als wahnhaft an und gaben diesen Zwangskranken fälschlicherweise die Diagnose Schizophrenie. Die dann durchgeführte Behandlung mit Neuroleptika, Medikamente, die eigentlich bei Schizophrenie recht erfolgreich sind, brachten bei den falsch diagnostizierten Zwangserkrankten kaum etwas. Aus dieser frühen Unkenntnis der Experten, gepaart mit der Verschwiegenheit und dem Pessimismus der Zwangsbetroffenen, wurde die Nähe zwischen Zwang und Schizophrenie überbetont. Unter dem Vorzeichen miserabler Behandlungserfolge führte dies Experten zu einer therapeutischen Bankrotterklärung: Zwangserkrankungen galten als nur schwer behandelbar oder eine Behandlung einer Zwangserkrankung beschwöre die Gefahr einer Schizophrenie herauf, die unter dem Zwang schlummere. Dieses schlechte Image des Zwangs gilt von der Seite der Experten heute als überwunden. Ein spätes Echo ist aber noch zu spüren und bekräftigt ärgerlicherweise den Pessimismus der Betroffenen, die an dem Erfolg ihrer Behandlung zweifeln.

Schizophrenie und Zwang treten eher selten gemeinsam auf. Zwänge, die sich in einem mittleren Stadium ihrer Entwicklung befinden, lassen sich von Experten recht gut von einer Schizophrenie unterscheiden, was für die Behandlung, die Prognose und das Selbstverständnis der Betroffenen sehr wichtig ist.

Zwang und Sucht

In meiner Zeit als Therapeut in einer Fachklinik für Abhängigkeitserkrankungen sind mir viele Zwangskranke begegnet, die Alkohol einsetzten, um sich zu entspannen. Das Trinken hatte vorübergehend auch eine Abnahme von Zwangsgedanken und Zwangshandlungen zur Folge. Am nächsten Morgen erwarteten den Betroffenen ein Kater und noch mehr Zwänge, die er nur durch immer mehr Alkohol bekämpfte. Dieser unangemessene Selbsthilfeversuch hat eindeutig mehr Nach- als Vorteile, weil sich der Zwang im Alkohol nicht auflösen lässt und sich der Betroffene neben dem Zwang noch das zusätzliche Problem der Sucht ein­handelt.

Eine erhöhte Gefahr süchtig zu werden, besteht jedoch nur für ungefähr die Hälfte der Betroffenen. Die andere Hälfte neigt zur Abstinenz, weil Alkohol die Wahrnehmung von Sicherheit im ei­genen Körper beeinträchtigt, was sich für Zwangserkrankte bedrohlich anfühlen kann.

Zwang und Depression

Die Depression ist die häufigste seelische Störung mit einem Anteil von einem Viertel in der Gesamtbevölkerung. Etwa drei Viertel aller Zwangserkrankten leiden im Laufe ihrer Krankengeschichte an einer behandlungsbedürftigen Depression. Es ist ein naheliegender Schluss, Zwangserkrankungen und Depressionen als eine Krankheit zu betrachten. Da aber der überwiegende Teil der Depressiven keine Zwänge ausbildet und auch längst nicht jeder Zwangskranke unter Depressionen leidet, hat sich die Trennung dieser beiden Störungsbilder durchgesetzt, die sehr häufig komorbid auftreten. Pessimismus und Hilflosigkeit sind Komponenten, die der Depression zuzuordnen sind, die aber auch häufig den Fortschritt in der Therapie der Zwangserkrankung hemmen können.

Depressionen werden von den Betroffenen als sehr negativ und belastend wahrgenommen. Wenn sich Depressionen einstellen, weil der Zwang nach einer längeren Entwicklung Konflikte in der Partnerschaft oder am Arbeitsplatz ausgelöst hat, entsteht oft erst der Leidensdruck, der zum ersten Therapeutenkontakt führt. Die Betroffenen verschweigen aber auch hier meistens zunächst ihre Zwänge aus Peinlichkeit: »Wenn ich dem Doktor sage, was meine verrückten Gedanken und Handlungen sind, lässt der mich sicher gleich in eine Irrenanstalt einweisen!« Alleinstehende oder Menschen, bei denen sich die Zwänge als Vermeidung oder mentale Rituale äußern, sind sich ihrer Zwänge als Phänomen oftmals überhaupt nicht bewusst, weil sie teilweise schnell und unsichtbar im Kopf abgewickelt werden.

Marc B. in einer unserer Fallgeschichten (siehe Teil III) beschreibt uns sein Leiden unter Zwängen, die ihm selbst lange kaum bewusst waren, weil sie sich fast ausschließlich im Kopf abspielten. Dass Marc B. neben einer Depression auch unter Zwängen litt, wurde erst in unserer gemeinsamen Therapie aufgedeckt.

Gegen unentdeckte Fälle von Zwangsstörungen hilft eigentlich nur eine umfassende, systematische Befunderhebung, in der alle Störungsbilder, die hier als Nachbarn der Zwangsstörung aufgezählt sind, abgefragt werden. So werden Fehlbehandlungen ausgeschlossen und ein Zwangserkrankter kann direkt die richtige psychotherapeutische und medikamentöse Behandlung erhalten. Aus der Auswahl der verschiedenen antidepressiven Medikamente kann sich der Arzt für die Verschreibung von sogenannten Serotonin-Wiederaufnahmehemmern entscheiden, die neben der stimmungsaufhellenden Wirkung bei Depressionen auch erfolgreich gegen Zwänge einsetzbar sind, weil sie die Fähigkeit zu Entscheidungen verbessern. Außerdem sollte der Patient zu einem Spezialisten für Zwänge, wie spezielle Kliniken oder niedergelassene Verhaltenstherapeuten, überwiesen werden, denn ohne die Behandlung der Zwänge werden sich auch die Depression und die sonstigen Probleme in der Partnerschaft oder am Arbeitsplatz nicht bessern.

Meine Empfehlung:

Den Teufelskreis aus Zwang und Sucht sowie den Teufelskreis aus Zwang und Depression können Sie nur durchbrechen, wenn Sie sich zur Behandlung Ihres Zwangs entscheiden.

Zwang, Sozialphobie und andere Ängste

Sich seiner selbst nicht sicher zu sein, ist ein Gefühl, das sowohl bei Zwang als auch bei einer Sozialphobie vorkommt. Etwa die Hälfte aller Zwangskranken hat auch eine Sozialphobie. Dabei handelt es sich um die Angst vor öffentlichen Auftritten, zum Beispiel dem Halten einer Rede, Unbehagen beim Essen in einem Lokal oder Schwierigkeiten beim Durchsetzen eines angemessenen Anliegens. Ein Gruppentraining sozialer Kompetenzen sollte daher obligatorischer Bestandteil der Therapie von Zwangserkrankten und Sozialphobikern sein.

Angstzustände finden wir bei vielen psychischen Störungen, so auch bei Zwängen, Depressionen und Phobien. Tendenziell richten sich Ängste bei Menschen mit Depressionen auf die Vergangenheit, bei Menschen mit sozialer Phobie eher auf konkrete vorgestellte Katastrophen in der Gegenwart oder der Zukunft: Angst vor Versagen, Angst vor Ablehnung und negativer Bewertung.

Die Ängste, die Zwangskranke beschreiben, richten sich dagegen auf eine weniger konkrete, ungewisse Zukunft. Vielleicht könnte eine fehlerhaft angeschlossene Steckdose irgendwann eine Katastrophe auslösen?

Neben solchen Ängsten kennen Zwangskranke auch noch andere Formen negativer Anspannung, die für sie, aber weniger für Sozialphobiker typisch sind: Schuld, Ekel oder ein Gefühl der Unvollständigkeit. Scham ist dagegen ein Gefühl, das sowohl bei der Zwangserkrankung als auch bei der Sozialphobie regelmäßig vorkommt.