Himmel und Hölle - Burkhard Ciupka-Schön - E-Book

Himmel und Hölle E-Book

Burkhard Ciupka-Schön

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Beschreibung

Religiöse Zwänge kommen häufig vor, sind aber gar nicht so leicht zu erkennen. Denn ab wann ist ein ausgeprägter Glaube krankhaft, werden religiöse Gebote und Rituale zur Zwangsjacke? Hinter einem religiösen Zwang stecken extrem hohe Moralvorstellungen und die Angst vor göttlicher Strafe, sollte man diese Anforderungen nicht erfüllen. Der Psychotherapeut Burkhard Ciupka-Schön und der Pfarrer Hartmut Becks beschreiben aus ihrer jeweiligen Perspektive, wie religiöse Zwänge entstehen, wie sie von einem gesunden Glauben abzugrenzen sind und wie Betroffene ihren Zwang überwinden können. Dabei greifen sie auch auf historische Beispiele wie Martin Luther zurück, dessen Biografie für heutige Betroffene sehr hilfreich sein kann.

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Burkhard Ciupka-Schön, Hartmut Becks

Himmel und Hölle

Religiöse Zwänge erkennen und bewältigen

Patmos Verlag

Inhalt

Dank

Wichtiger Hinweis

Einführung

1. Erste Fallgeschichte

Mein langer, sinnloser Kampf gegen religiöse Zwangsgedanken

2. Was sind religiös-moralische Zwänge?

Was ist eine Lästerung Gottes?

Was ist eine zwanghafte Rückversicherung?

Die Doppelte Buchführung – Ich-Dystonie und Ich-Syntonie

Woran erkenne ich, dass ich einem Menschen mit einer Zwangserkrankung gegenüberstehe?

Sünde und Schuld

Entkräftigung von Mythen

Das Lila-Eisbär-Paradox

3. Grenzen und Unterschiede zwischen Religion und religiösen Zwängen

Der Zwang hält nicht, was er verspricht. Er verursacht meistens sogar das genaue Gegenteil!

Tabu und Ritual

4. Häufigkeit von Zwängen

Häufigkeit im Vergleich zu anderen psychischen Erkrankungen

Die Häufigkeit religiöser Zwänge

5. Vielfalt der Zwänge

Gemeinsamkeiten und Abgrenzung

Waschzwänge

Kontrollzwänge

Zwänge mit sexuellen Inhalten

Hort- und Sammelzwänge

Symmetrie-, Ordnungs- und Zählzwänge / Magische Zwänge I.

Verschiedene Zwänge / Magische Zwänge II

6. Der Verlauf von Zwangserkrankungen

7. Internationale diagnostische Standards für Zwangserkrankung im ICD-10

Zwangsgedanken und -handlungen

8. Ursachen und Entstehung von Zwängen aus Sicht der Lernpsychologie

Skinner und die abergläubischen Tauben

Zwei-Faktoren-Modell für Zwänge von Mowrer

Kritik an Skinner und Mowrer

9. Die Therapie von religiös-moralischen Zwängen

Negative Anspannung

Zwangsgedanken

Kognitive Verhaltenstherapie gegen Zwangsgedanken

Beziehung und professionelles Verhalten

Die Problematik des Gottesbildes – straft Gott uns für unsere Taten?

Zwangshandlungen

Theologische Vorschläge zur Therapie

Erfolgreiche Bewältigung von Zwängen

Der Teufelskreis des Zwangs

10. Zwangsstörung – eine religiöse Perspektive

11. Martin Luthers Weg aus Angst und Zwängen

Elternhaus und Kindheit Luthers: Wie ein angstvoller Mechanismus wachsen kann

Eintritt ins Kloster als Selbsttherapie

Ausbildung von Zwangsgedanken und Zwangshandlung

Der Umschwung – die Rettung kommt nicht von innen, sondern von außen!

»Turmerlebnis« oder Raus aus der Kloake!

Zitatnachweis

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Über die Autoren

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Für meinen

Vater Georg Ciupka

* 5.10.1931

+ 28.04.2018

der nun in einer österlichen Welt lebt,

ohne Schmerz und ohne Angst.

Dank

Ich möchte an dieser Stelle allen Menschen danken, die zum Gelingen dieses Buchprojekts beigetragen haben. Hervorheben möchte ich zwei Betroffene mit religiösen Zwängen, die uns ihre Geschichte aufgeschrieben haben und deren Texte ich nur minimal korrigiert und verändert habe.

Besonders danken möchte ich meiner Ehefrau Bettina Schön und meiner Lektorin Heike Hermann, die mir bei der Korrektur der Sprache und der inhaltlichen Gliederung sehr geholfen haben.

Bei Benennung des Geschlechts von Therapeutenkollegen und Betroffenen einer Zwangserkrankung habe ich mich zugunsten einer besseren Lesbarkeit für die verbreitete männliche Form entschieden. Selbstverständlich möchte ich auch immer die Frauen ansprechen, seien sie Kolleginnen, Klientinnen oder Angehörige von Betroffenen.

Neben den zwei selbstverfassten Berichten der Betroffenen habe ich zur Erläuterung eine größere Anzahl von kleinen Fallgeschichten eingefügt, die ich zum Schutze der Anonymität stark verändert habe. Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen mit real lebenden Personen sind also rein zufällig. Therapeutisch und inhaltlich handelt es sich um echte Beispiele aus meiner Praxis und meiner Beratungsarbeit.

Als Autoren des Buches ist uns beiden die Arbeit von der »Flüchtlingshilfe Alpen« sehr wichtig und wir möchten unsere Honorare dafür einsetzen, um einzelnen Geflohenen in Trauma und Trauer zu helfen. Gedacht haben wir hier an künstlerische Projekte mit einer lokalen Künstlerin und die Finanzierung von Dolmetschern; denn die schweren Themen erzählt man in seiner Muttersprache.

Die Homepage der Flüchtlingshilfe Alpen:

www.fluechtlingshilfe-alpen.de

Wichtiger Hinweis

Die in diesem Buch enthaltenen Informationen, Hinweise und Übungen wurden nach bestem Wissen der Autoren erstellt und sorgfältig geprüft. Sie ersetzen jedoch nicht den persönlich eingeholten theologischen, psychotherapeutischen oder medizinischen Rat. Verlag und Autoren können für Irrtümer, die aus der Anwendung der dargestellten Informationen, Hinweise oder Übungen resultieren, keine Haftung übernehmen. Deren Nutzung bzw. Durchführung erfolgt auf eigene Verantwortung der Leserinnen und Leser.

Einführung

Im Jahre 1521 wurde Martin Luther nach Worms zitiert, um sich im Reichstag vor Kaiser Karl V. zu verantworten, der zu den mächtigsten Männern der damaligen Welt gezählt wurde. Luther wurde aufgefordert, seine Thesen zu widerrufen, die er in seinen Schriften formuliert hatte. Luthers Schriften handelten von der Gnade Gottes und richteten sich unter anderem gegen den Ablasshandel der katholischen Kirche. Jan Hus vertrat ähnliche Thesen und wurde im Jahre 1415 wegen ketzerischer Aktivitäten verbrannt. Luther wusste, dass er sich dem gleichen Risiko aussetzte, wenn er seine Ansichten beibehielt.

Frau S. ist eine fünfunddreißigjährige Verkäuferin, die durch eine Vielzahl von Ängsten belastet wird: »Durch meine Schuld könnte mein Ehemann sterben!«, »Wenn ich meiner Kollegin gegenüber unverschämt bin, trifft mich dafür eines Tages die Strafe Gottes!«, »Ich könnte eines Tages die Kontrolle verlieren und meine Katze erwürgen!« Diese und ähnliche völlig unbegründeten Befürchtungen versucht sie durch tägliche, stundenlange, zwanghafte »Gebete« zurückzudrängen. Besonders starke Ängste bekämpft sie mit ausgiebigen Selbstbestrafungen und bizarren Bußritualen. Besonders wirkungsvoll, weil schmerzhaft, ist für sie ein stundenlanges Beten auf den Knien.

Was hat Martin Luther mit der Frau in unserem kleinen Fallbeispiel zu tun? Die Autoren dieses Buches glauben: Sehr viel, weil beide Personen unter einer religiösen Zwangsstörung litten beziehungsweise leiden.

Der Auftritt Luthers in Worms gehört zu den größten Wendepunkten der Weltgeschichte: »Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Amen.« In Filmen und auf Bildern wird Luther, während er das gesagt haben soll, in aufrechter, stolzer Pose gezeigt, der Kaiser in gebeugter Haltung. Nur hat sich das alles wirklich auch so abgespielt oder sind diese berühmtesten aller Lutherworte eine Propaganda im Spiel der Mächtigen?

Oder war Luther eher das ängstliche, verschrobene Mönchlein, wie er von seinen zeitgenössischen Gegnern geschildert wurde? Wer Texte zu Luthers Biografie durch die psychotherapeutische Brille betrachtet, findet viele Hinweise für eine religiöse Zwangsstörung und viele andere Zwänge. Aus der Sicht eines religiösen Zwanges erscheint die Angst Luthers vor der Strafe Gottes und dem Höllentod schlimmer als die Angst vor dem realen Feuertod und der Macht des Kaisers.

Ist Gott gut und gnädig oder der wütende Richter, der uns Menschen mit Hölle und ewiger Verdammnis bestraft? Dies ist eine zentrale Frage von Luthers Theologie, die auch Menschen mit einem religiösen Zwang quält. Martin Luther schaffte es, seine religiöse Zwangsstörung mit einer Theologie der »Gnade Gottes« erfolgreich zu bekämpfen. Luther protestierte gegen den Ablasshandel, den wir als ein gutes Geschäft mit der Angst bezeichnen können. Die Beseitigung der Angst vor Gott in der Theologie Luthers war gleichzeitig auch die Zerstörung eines sehr erfolgreichen Geschäftsmodells, mit der Luther sich die Feindschaft vieler Mächtiger seiner Zeit zuzog.

Später heiratete Luther, der als Mönch vor Gott ewige Keuschheit geschworen hatte, Katherina von Bora, eine entlaufene Nonne. Aus der Sicht des katholischen Mittelalters beging Luther damit eine doppelte Todsünde.

Aus meiner gegenwärtigen Sicht als Verhaltenstherapeut stellte Luther sich aus freiem Willen seinen Ängsten und machte daraus eine Reizkonfrontation, die wir Verhaltenstherapeuten als Mittel der ersten Wahl zur Bewältigung von Ängsten und Zwängen ansehen.

Zu Luthers Zeiten hatte man religiöse Zwänge als alleinige Sache der religiösen Seelsorge angesehen. Heute ordnet die moderne Psychiatrie und Psychotherapie Zwänge immer mehr als verborgenes, aber höchst bedeutsames seelisches Phänomen ein, das der professionellen Behandlung bedarf.

Hartmut Becks, seit 25 Jahren Pfarrer, zeichnet im Kapitel »Martin Luthers Weg aus Angst und Zwängen« ein Bild von Luther, das ihn weniger als zornigen, weitsichtigen Übermenschen zeigt, sondern als ein von seinen religiösen Skrupeln und Zwängen getriebenen Menschen, der sich aufgrund seiner besonderen Persönlichkeit und aufgrund historischer Zufälle stetig weiterentwickelte und zum großen Reformator wurde. Und so sollten wir ihn heute sehen. Wir möchten den vielen Menschen, die in ihren religiösen Zwängen gefangen sind, Hoffnung machen. Das Beispiel Luthers zeigt, dass eine Bewältigung religiöser Zwänge möglich ist.

»Menschen mit religiösen Zwängen? Die kenne ich in meiner Gemeinde auch!«, sagte mir einmal der Pfarrer meiner katho­lischen Pfarrgemeinde, mit dem ich mich über die Schwerpunkte meiner verhaltenstherapeutischen Arbeit in meiner Praxis unterhielt.

Die Zwangserkrankung ist eine der häufigsten seelischen Störungen mit wahrscheinlich zwei Millionen Betroffenen in Deutschland. Auf der Basis wissenschaftlicher Untersuchungen lässt sich ermitteln, dass davon circa 118.000 Menschen religiös-moralische Zwänge haben. Spezielle Forschungsansätze zu solchen religiösen Zwängen, moderne psychotherapeutische Fachliteratur und/oder aktuelle Ratgeber zum Thema sind noch ausgesprochen selten.

Dieses Buch richtet sich an Betroffene, Therapeuten, aber auch an Religionslehrer, Gemeindereferenten, Pfarrer und alle Menschen, die viel Umgang mit religiösen Menschen haben. Ein Ziel ist es, diese Personengruppen für religiös-moralische Zwänge zu sensibilisieren und ihnen konkrete Hilfen zum Umgang mit eventuell Betroffenen zu liefern. Denn hinter dem Anschein einer besonderen Frömmigkeit und eines religiösen Interesses verbirgt sich bei Zwangskranken ein ernst zu nehmendes behandlungsbedürftiges Leiden, das in schwereren Fällen neben der Seelsorge einer professionellen ärztlichen und psychotherapeutischen Behandlung bedarf. Luther hat durch seine theologischen Ideen seinen Weg aus Zwängen und Ängsten gefunden. Betroffenen empfehlen wir aber, den Weg nicht alleine zu gehen, sondern Rat und Hilfe bei Personen zu suchen, die über Erfahrung und Wissen im Umgang mit Zwangsstörungen verfügen. Ich werde in diesem Buch zunächst das Phänomen religiöser Zwänge vorstellen, damit der Leser erkennen kann, wann er es mit dieser Art von Zwängen zu tun hat, denn den Betroffenen ist es auf den ersten Blick nicht anzusehen, dass sie an ihren religiösen Vorstellungen leiden. Ich werde Unterschiede und Gemeinsamkeiten der religiösen Zwänge mit anderen bekannteren Zwängen wie das zwanghafte Waschen und das zwanghafte Kontrollieren diskutieren. Dahinter steckt die Frage, ob wir bei religiösen Zwängen die gleichen therapeutischen Strategien einsetzen sollten wie bei allen anderen Zwangsstörungen auch. Neben theologischen und psychologischen Blickwinkeln schenken wir der Stimme der Betroffenen in verschiedenen Fallbeispielen Gehör.

In einem kurzen Überblick vermittle ich einige Grund­kenntnisse über die therapeutischen Hilfsmaßnahmen: Zwangs­erkrankten empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bestimmte Medikamente aus der Gruppe der Serotoninwiederaufnahme-Hemmer und die kognitive Verhaltenstherapie, die auf eine reale Konfrontation mit den Ängsten der Betroffenen abzielt.

Bezüglich der Ursachen von Zwängen stehen wir noch immer am Anfang der Forschung, daher werde ich vorrangig auf die lernpsychologischen Ursachen eingehen. Sicher ist, dass die religiöse Erziehung für religiöse Zwänge eine wichtige Rolle spielt. Die Diskussion genetischer und anderer biologischer sowie psychologischer Ursachen (psychoanalytische Übertragung, Bindung und Persönlichkeit) gehen über den Rahmen dieses Buches hinaus. Abschließend wird Hartmut Becks das Eingangsbeispiel Martin Luthers genauer beleuchten.

Wie intensiv religiöse Zwänge das Leben beeinträchtigen können, soll an dem folgenden Fallbeispiel deutlich gemacht werden. Herr G.F. leidet bereits seit über 60 Jahren an Zwängen, für die er seelsorgerische und therapeutische Hilfe in Anspruch genommen hat. Mit wechselndem Erfolg. Seine Geschichte hat er unter anderem im Mitgliedsheft der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankung aufgeschrieben.

1. Erste Fallgeschichte

Mein langer, sinnloser Kampf gegen religiöse Zwangsgedanken

von G. F.

Stellen Sie sich bitte vor, Sie werden gefragt, wie es Ihnen geht und Sie antworten: »Danke, körperlich gut, aber ich leide sehr unter religiösen Zwangsgedanken.« Erstaunen und Unverständnis Ihres Gegenübers wären sicher groß.

Religiöse Zwangsgedanken und ihre Äußerung stehen unter einem absoluten Tabu, fest installiert durch den eigenen inneren Richter. Er bewertet es als das Schlimmste, das ein Mensch tun kann, und spricht das Todesurteil.

Das Innerste kann die im Hintergrund ständig lauernden und jederzeit überfallartig einschießenden Gedanken und Impulse nicht annehmen. Man erlebt mit unglaublicher Ohnmacht und gleichzeitig bei klarem Verstand, dass man die gefürchteten Gedanken mit dem Willen nicht verhindern kann. Im Gegenteil: Je mehr ich einen Gedanken nicht will, desto mehr muss ich ihn denken. Dafür gibt es in Psychologie oder neuerer Hirnforschung genügend Beweise.

Das subjektive Gefühl, man sei der einzige und allerschlimmste Mensch auf der Welt, der solche Gedanken und Einfälle hat, steigert die Ausweglosigkeit. »Wer so etwas denkt, hat den Tod verdient – im Iran wäre ich schon längst wegen Gotteslästerung hingerichtet worden –, ich bin schlimmer als Hitler oder ein anderer Massenmörder.« So oder so ähnlich erfolgt die verheerende subjektive Selbstbewertung der Zwangsgedanken.

Das Unaussprechliche darf nicht ausgesprochen werden, auch nicht in der Therapie, sagt das Tabu. Mein erster Therapeut drohte mit dem sofortigen Abbruch der Therapie, wenn ich nicht endlich die Gedanken ausspreche. Auch die engsten Familienmitglieder standen hilflos meinem streng gehüteten Geheimnis gegenüber, weil sie nichts von dem Tabu wussten. Die panische Angst vor der späteren, unweigerlich folgenden Strafe durch ewige Verdammung in der Hölle verhindert Äußerungen über die Zwangsgedanken.

In dieser äußersten Notsituation liegt nichts näher als der vergebliche Versuch, die Zwangsgedanken irgendwie in den Griff zu bekommen oder in Schach zu halten. Der Versuch der Vermeidung ist mit stärkster innerer Spannung verbunden. Wie kann man einen Gedanken, den man ja bei sich selbst nicht zulassen kann, vermeiden oder ungeschehen machen? Man wird erfinderisch im Vermeiden, zum Beispiel durch Neutralisieren oder einer Zwangshandlung.

Aus panischer Angst vor dem Gedanken »Gott sei verflucht« muss die innere Abwehr, die es anscheinend mit dem armen Ich gut meint, zwanghaft ständig denken: »Gott sei nicht verflucht.« Der Zusatz durch das Wort »nicht« kommt zu Hilfe. Dann muss man dauernd denken: »zur Hölle mit Gott nicht«. Kann man den Gedanken »Gott sei verflucht« nicht mehr durch das Wort »nicht« neutralisieren, hilft eine magische Zwangshandlung, also zum Beispiel: »Gott ist verflucht, außer ich berühre sofort den Tisch.« Das Vermeidungssystem wird schließlich selbst zu einem Terrorsystem. Da unser Denken in Assoziationen verläuft, kann ein einfacher Schöpflöffel in der Küche plötzlich dazu führen, dass Angst entsteht, etwas gegen den Schöpfer der Welt denken zu müssen.

Sowohl neue Einfälle als auch neue Abwehrstrategien wuchern wie Krebs und beherrschen das Denken. Je mehr ich versuche, den Zwangsgedanken durch Abwehr zu vermeiden, desto mehr überlistet der Gedanke meine Abwehr immer wieder. Um das Wort »Kreuz« zu vermeiden, kann ich zwar sagen, dass ich Rückenschmerzen habe, aber ich kann aus einer Kreuzfahrt keine Rückenfahrt machen. Auch bei dem urplötzlich aus heiterem Himmel einschießenden Gedanken beim Anblick von Pilzen zu denken, dass Gott keinen Pfifferling wert ist, ist die Abwehr schwierig. Der Gedanke: »Gott ist doch einen Pfifferling wert«, bringt nicht viel. Als Abwehr muss ich also irgendeine Zwangshandlung erfinden.

Dem Einfallsreichtum der Gedanken sind keinerlei Grenzen gesetzt. Vermeidung und Abwehr kommen kaum noch nach. Wenn aus Tomatensaft plötzlich das Blut Christi wird, das man nicht beleidigen darf, wechselt man zu Apfelsaft. Ein Stück weggeworfener Kaugummi wird zu einer Hostie, auf die man nicht treten darf.

Was soll die Abwehr tun, wenn beim Anblick einer schönen Orgel mit Lichtgeschwindigkeit der Gedanke »Gott ist doch die größte Pfeife von all diesen Orgelpfeifen« überfallartig kommt? Kaum ist man mit viel Mühe allen Kirchen und Kreuzen aus dem Weg gegangen, sitzt man in Bayern in einer Wirtschaft direkt unter einem Kreuz, und der Titel des letzten Wildwestfilms »Hängt ihn höher« oder das Schild in der Metzgerei nebenan mit der Aufschrift »Fleisch, gut abgehangen« schießt wie ein Blitz durch den Kopf. Wie kann man der Musik aus dem Film »Verdammt in alle Ewigkeit« entgehen, wenn sie im Radio kommt? Oder die Panik, beim Filmtitel »Fahr zur Hölle, Liebling« das letzte Wort durch »Gott« ersetzen zu müssen? Der an sich richtige und hilfreiche Satz »Es ist nur ein Gedanke« verfehlt seine Wirkung, denn für die vernichtende Selbstbewertung der Zwangsgedanken ist es ein himmelweiter Unterschied, ob zum Beispiel »Der Baum ist grün« oder »Gott sei verflucht« gedacht wird.

1943 geboren, in den katholischen Glauben hineingewachsen, kam ich schon früh als Kind in eine krank machende kirchliche Moral, zum Beispiel durch den sogenannten Beichtspiegel, der zu einem Leitfaden für die Verdrängung negativer Gefühle oder Gedanken werden kann. Die kirchliche Konstruktion der Gedankensünde – als Kind musste man zum Beispiel beichten, ob man Unkeusches gedacht hatte – bewirkte eine ungeheure Bemühung, Unbewusstes zurückzudrängen und die Tendenz zur Abspaltung; ein guter Nährboden für Zwangsgedanken. Dazu kamen Begriffe wie »Hölle« oder »ewige Verdammnis«, die sich bis heute in mir festkrallen. Diese Begriffe verbanden sich mit der Aussage von einem liebenden Gott, eine Ambivalenz, wie sie stärker nicht sein kann. Wenn dann noch der Begriff der Ewigkeit negativ besetzt wird, kann die Panik nicht größer sein. Eine Sekte verteilte ein Blättchen, in dem die Ewigkeit mit Zeitbegriffen verbunden war. Das bedeutete dann für jeden weiteren Verfluchungsimpuls mindestens eine Milliarde Jahre mehr an Verdammung mit allen dazugehörigen mittelalterlichen Vorstellungen. Auf die Frage, wie lange die Ewigkeit dauert, antwortet ein Rabbi: Alle tausend Jahre wetzt ein Vogel seinen Schnabel am höchsten Berg. Wenn der ganze Berg abgetragen ist, dann ist eine Sekunde der Ewigkeit vorbei. Wenn man denkt, wie lange schon eine Sekunde beim Zahnarzt sein kann, müsste man auf der Stelle verrückt vor Panik werden bei dem Gedanken an die Ewigkeit. Ich beneide jeden, der über solche Gedanken lächeln muss.

Mein erster Psychotherapeut war zugleich katholischer Priester und Analytiker. Einerseits hatte er Verständnis und Wissen über Zwänge, andererseits beichtete ich bei ihm die blasphemischen Gedanken. Es endete dann in einem Exorzismus – von dem er sich später distanzierte –, der mir die endgültige Gewissheit gab, nun vom Teufel besessen zu sein. Die Beichte von religiösen Zwangsgedanken ist aber trotz Absolution und kurzfristiger Erleichterung deshalb kontraindiziert, weil der zur Beichte gehörende Vorsatz, etwas nicht mehr zu tun, bei Zwangsgedanken unmöglich ist. Immer wieder wird, einem Schluckauf im Gehirn vergleichbar, eine Neuschöpfung produziert oder eine raffinierte Falle gestellt, zum Beispiel der Gedanke: »Ich will verdammt sein, wenn ich nicht verdammt bin.« Wie komme ich aus dieser Zwickmühle heraus?

Beruflich war ich viele Jahre als Sozialarbeiter tätig. Von den Klienten oder Patienten her gesehen war ich ein einfühlsamer und verständnisvoller Gesprächspartner. Makaber aber war es dann, wenn ich in meiner Tätigkeit beim Sozialdienst eines großen psychiatrischen Krankenhauses das Pech hatte, einer Patientin gegenüberzusitzen, die um den Hals einen Anhänger mit einem Kreuz trug. Unter innerer Hochspannung und Weglauftendenz nahm ich Anteil an ihrer Leidensgeschichte und gleichzeitig rotierte wie wild geworden der Abwehrgedanke: »Das Kreuz ist nicht verflucht.«

Hilfreicher als eine Psychoanalyse, der ich mich unterzog, war für mich eine umfangreiche Verhaltenstherapie. Im Lauf vieler Jahre hatte ich neben einer längeren Psychoanalyse und tiefenpsychologischer Einzeltherapie umfangreiche und längere Erfahrungen mit der Verhaltenstherapie, sowohl in Einzel- und Gruppensitzungen als auch durch einen stationären Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik.

Die Verhaltenstherapie will, dass Gedanken und Impulse zugelassen und nicht vermieden werden. Aber würde dadurch nicht der biblische Tatbestand der Lästerung Gottes erfüllt sein?

Zu meinen Aufgaben in der Verhaltenstherapie gehörte es, alle Verfluchungsgedanken und Einfälle aufzuschreiben und vorzulesen oder diese in einer Kirche oder vor einem Kreuz auszusprechen, sie aufzunehmen und immer wieder abzuhören. Der Anblick des Gemäldes »Höllensturz der Verdammten« gehörte ebenso dazu. Auch nach dem Aufschreiben und Aussprechen der religiösen Zwangsgedanken versuchte ich immer noch, mich mühsam davon innerlich zu distanzieren, indem ich sozusagen alles wie eine Hausaufgabe hinter mich brachte. Beim Abhören der Kassette mit den Verfluchungen empfand ich eine Abspaltung und meine Stimme kam mir wie die eines Fremden vor.

Der Versuch, in der Bibel Trost zu finden, ging leider völlig daneben, da ich mit zuverlässiger Sicherheit Stellen fand, die mich erneut mit Panik erfüllten, zum Beispiel »Wer glaubt, wird gerettet werden; wer nicht glaubt, wird verdammt werden« oder: »Fürchtet nicht die Menschen, sondern den, der in die Hölle zu werfen vermag.«

Als die wohl hinterhältigste Falle wurde für mich die Stelle, an der es heißt: »Wer den heiligen Geist lästert, dem wird nicht vergeben.«

»Welcher Teufel hat Sie denn geritten, dass Sie gerade diese Stelle gefunden haben?«, fragte mich ein Seelsorger. Diese Stelle, die selbst von Theologen teils nicht verstanden oder verschieden ausgelegt werden kann, führte bei mir dazu, dass ich in absolute Panik verfiel, diese angeblich nicht vergebbare Sünde wider den heiligen Geist zu begehen. Ich mied oder umschrieb sofort das Wort Geist. Ein Geistlicher wurde zum Seelsorger umbenannt, Himbeergeist in Himbeerschnaps, und wenn die Handwerksfirma mit dem Namen »Geist« vorbeifuhr, musste ich wegsehen. Beim Anblick von Tauben als Symbol des heiligen Geistes geriet ich besonders in Panik, den Geist zu lästern. Außer den Tauben wurden dann auch andere Vögel in den Abwehrterror einbezogen, zum Beispiel schwarze Vögel, die man an vielen Glasflächen sehen kann. Ich war kurz davor, meinen Lieblingssport Schwimmen einzustellen, weil im Hallenbad auch diese schwarzen Vögel an den Scheiben waren. Dann flog ein kleiner Vogel an meine Fensterscheibe im Büro. Jetzt war der Punkt erreicht, wo ich mich auf die Verhaltenstherapie besann. Ich besorgte mir im Schreibwarengeschäft mehrere große Vögel und klebte sie trotz Panik an mein Bürofenster und ging wieder schwimmen. Abwehr und Vermeidung bewirken zwar eine kurzfristige Beruhigung, aber sie sind zusammen mit der extremen Selbstbeurteilung und Selbstverurteilung das größere Problem als die Gedanken und Impulse. Aus Gedanken, wie sie anderen Menschen täglich auch durch den Kopf schießen, werden Zwangsgedanken. »Die seelischen Kräfte verzehren sich im Zwiespalt, sie sind gebunden in einem unentschiedenen Stellungskrieg mit eingefrorenen Fronten.«

Bibelstellen nehme ich seither möglichst nicht wörtlich oder reiße sie aus geschichtlichen Zusammenhängen. Sonst müsste ich zum Beispiel meinen Hund ins Tierheim geben, weil irgendwo steht: »Hütet euch vor den Hunden.« Und selbst eine Bischöfin ist dann nicht bibelfest, wenn sie die Stelle bei Paulus missachtet, wo es heißt: »Das Weib schweige in der Gemeinde.«

Warum muss ich etwas denken, was ich vom Bewusstsein her absolut nicht denken will? Ist es Schuld oder ist es Nichtschuld? Diese Fragen beschäftigen mich ebenso wie die Aussage eines Therapeuten: »Was man denkt, will im Grunde im Unbewussten gedacht werden.« Empört wird diese Aussage zurückgewiesen, weil man sich total unverstanden fühlt. Man will ja auf gar keinen Fall diese Zwangsgedanken denken, weder bewusst noch durch ein unterbewusstes »Es« im Sinne von Freud.

Persönlich fand ich für mich eine Antwort durch mehrere sehr gute Gespräche mit einem logisch denkenden Pfarrer und Pädagogen, vor allem aber durch das Buch des Analytikers Tilmann Moser mit dem Titel »Gottesvergiftung«. Ein Kernsatz darin lautet: »Ich kann niemanden lieben, vor dem ich zugleich Angst habe.« Das ist zwischenmenschlich nicht möglich und auch nicht im Verhältnis zu Gott. Tilmann Moser beschreibt aufrüttelnd, wie er viele Jahre unter einem katastrophal negativen und geradezu vernichtenden Gottesbild, das ihm vermittelt wurde, litt. Hat man so ein Gottesbild, das mit so unglaublich entsetzlichen Strafen wie Hölle und ewige Verdammung verbunden ist, wäre es doch nur logisch, zur Rettung seiner selbst und seiner Menschenwürde dagegen mit aller Macht zu rebellieren. Wenn überhaupt, so will man doch einen guten Gott und keinen Angstgott.

Um aus dem ganzen Schlamassel herauszukommen, war für mich die nachvollziehbare Lösungsmöglichkeit, das in der Seele entstandene, biografische und absolut negative Gottesbild unbedingt zu trennen von einem hoffentlich existierenden wirklichen Gott der Liebe.

Mein Outing und Bruch des Tabus wären ohne diese Trennung nicht möglich gewesen. Bei meinen Schwierigkeiten, vertrauensvoll an einen guten und liebenden Gott zu glauben, tröstete ich mich manchmal mit dem Satz eines verständnisvollen Pfarrers und Gesprächspartners: »Gott ist sicher nicht dümmer als ein guter Psychotherapeut und hat mindestens denselben Wissensstand, was religiöse Zwangsgedanken anbetrifft.«

2. Was sind religiös-moralische Zwänge?

Für Martin Luther war die Auseinandersetzung mit seinem christlichen Glauben mehr als ein Dozentenjob an der Universität. In dem berühmten Turmzimmererlebnis im Jahre 1513 erkannte Luther in den Worten des Apostels Paulus den Schlüssel zur Bewältigung seiner eigenen religiösen Zwänge: Gott schenkt uns seine Liebe und seine Vergebung aus Gnade und wir bekommen sie als ein Geschenk von Geburt an. Wir müssen uns die Liebe Gottes nicht verdienen.

Diese Kernaussage der Theologie von Luther wurde stets als Kampfansage gegen den damals üblichen Ablasshandel verstanden. Sicher diente sie Luther auch als Mittel zur Überwindung seiner eigenen Ängste und Zwänge: Mit der Hilfe von religiösen Neutralisierungen hatte Luther zuvor lange vergeblich versucht, seine Angst vor Gott zu bekämpfen, bis er erkannte, dass seine zwanghaften Handlungen seine Angst vor Gott immer weiter steigerten und dass wir mit Gott keinen Handel abschließen können. Die erlösende Botschaft ist: Ein Handel mit Gott ist nicht nötig, denn wenn wir Paulus folgen, ist die Gnade Gottes ein Geschenk, das uns sicher ist.

Klinische Definition: Religiöse Zwangsgedanken bewegen sich thematisch um ein schlimmes Fehlverhalten gegenüber Gott, zum Beispiel Todsünden oder Gotteslästerung zu begehen. Religiöse Zwänge sind stets mit einer negativen Form der Anspannung verbunden. Dabei handelt es sich vorwiegend um ein Gefühl der Schuld und der Angst vor ewiger Verdammnis, vor dem Fegefeuer oder der Hölle. Religiöse Zwangshandlungen dienen dazu, negative Anspannungen wie Angst und Schuldgefühle zu neutralisieren. Bei offen gezeigten Zwangshandlungen bemühen sich die Betroffenen um Anpassung, sie sind daher von den Ritualen der religiösen Gemeinschaft äußerlich kaum unterscheidbar.

Religiöse Zwänge zeichnen sich im Unterschied zu einfachen religiösen Handlungen durch einen Exzess in Bezug auf Umfang und Dauer aus. Zwangsgedanken und Zwangshandlungen werden in der Regel jenseits der Öffentlichkeit und jenseits der religiösen Gemeinschaft, der die Betroffenen angehören, ausgeführt. Die mit der Krankheitsentwicklung einhergehende soziale Isolation führt zu einer zunehmenden schleichenden Entkopplung der zwanghaften Maßstäbe im Vergleich zu den Maßstäben der religiösen Gemeinschaft, die sich in Werten, Zielsetzungen, Bräuchen, Gebeten, Tabus und Ritualen ausdrücken.

Die schleichende Entwicklung der Zwänge zum Exzess steht in Wechselwirkung mit einer um Anpassung bemühten Grundpersönlichkeit der Betroffenen. Zwangsgedanken und Zwangshandlungen werden von den Betroffenen als Produkt des eigenen Verstandes erkannt, was Zwänge von schizophrenen Psychosen, Wahnvorstellungen oder drogeninduzierten Durchgangssyndromen deutlich unterscheidet.

Das rationale Bewusstsein, dass man von den Maßstäben der religiösen Gemeinschaft abweicht, fördert die Isolation und der volle Umfang der Zwangsgedanken und Zwangshandlungen wird gegenüber den Mitmenschen und Gemeindemitgliedern verborgen. Im Gegensatz zu diesem rationalen Bewusstsein der eigenen Abweichung bestehen bei den Betroffenen ein intensives Gefühl von Angst und Schuld und ein zwanghaftes Gefühl, dass die neutralisierenden religiösen Zwangshandlungen richtig seien.

Pierre Janet, einer der Wegbereiter der modernen Psychotherapie, bezeichnete die Zwangsstörung als die Krankheit des Zweifelns, was dem Grundsatz »Glauben heißt Vertrauen« widerspricht. Sich selbst nicht zu vertrauen, ist das Kernproblem der Zwangsstörung.

Besonders häufig treten religiöse Zwänge in Einheit mit moralischen, magischen und sexuellen Zwängen auf. Hierbei geht es meist um die Frage, was ein moralisch oder auch sexuell richtiges oder falsches Verhalten ist.

Darüber hinaus verbinden sich religiöse Zwänge mit jeder anderen Art von Zwangserkrankungen, die ich im 5. Kapitel (Vielfalt der Zwänge) beschreiben werde. Ein weiteres typisches Erkennungsmerkmal, das einen Zwang von tiefer Spiritualität und Frömmigkeit unterscheidet, ist neben dem bereits erwähnten Exzess im Verhalten, dass sie häufig gemeinsam mit anderen seelischen Störungen wie zum Beispiel Depression und Panik vorkommen.

Was ist eine Lästerung Gottes?

von Hartmut Becks

Unbestritten ist im Kontext des Alten Testaments eine Lästerung Gottes, vor allem die Verfluchung oder Unbilligmachung des Gottesnamens, eine schwerwiegende und mit der Todesstrafe belegte Tat: »Wer des Herrn Namen lästert, der soll des Todes sterben; die ganze Gemeinde soll ihn steinigen. Ob Fremdling oder Einheimischer, wer den Namen lästert, soll sterben.« (Lev 24,16) Der Gottesname selbst (Jahwe) galt als unantastbar und heilig, von daher formuliert der Dekalog: »Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht!« (Ex 20,7)

Davon ausgehend entsteht später die Vorstellung, dass Gott selbst die scheinbar ungeahndeten Lästerungen erkennt und am Ende der Tage bestraft: » [...] dass sie lebendig hinunter zu den Toten fahren, so werdet ihr erkennen, dass diese Leute den Herrn gelästert haben.« (Num 16,30) All diese Entwicklungen lösen schon früh in der religiösen Praxis Israels eine gewisse Ängstlichkeit und psychologische Verunsicherung aus, die dazu führt, den ­Gottesnamen am besten gar nicht auszusprechen, um sich so ehrfurchtsvoll von jeder Schuld fernzuhalten. Diese äußere Gesetzlichkeit führt dann zu einer innerseelischen Verschärfung des Blasphemieverbotes, die den Einzelnen sehr unter Druck setzen kann.

Dabei sind die eigentlichen Ursprünge und Ursachen des Verunglimpfungsgebotes nicht theologischer, sondern eher soziologischer und sozialgeschichtlicher Natur. Denn die umgebenden Völker Israels glaubten an viele Götter (Polytheismus) und so war es für die Volksgemeinschaft von existenzieller Bedeutung, den Eingottglauben (Monotheismus) als geschichtlichen und identitätsstiftenden Faktor zu schützen und zu verteidigen. Seit dem Auszug aus Ägypten verdankte Israel seine Existenz der Führung durch Jahwe: »Denn ich will sie in das Land bringen, das ich ihren Vätern zu geben geschworen habe, darin Milch und Honig fließt. Und wenn sie essen und satt und fett werden, so werden sie sich zu anderen Göttern wenden und ihnen dienen, mich aber lästern und meinen Bund brechen.« (Deut 31,20) Gotteslästerung in Israel bedeutet darum vor allem, die Existenz und die Herkunft des eigenen Volkes zu vergessen.