Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen - Gunilla Wewetzer - E-Book

Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen E-Book

Gunilla Wewetzer

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Beschreibung

Die Neubearbeitung des Manuals liefert eine praxisorientierte Beschreibung der Behandlung von Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen im Alter von etwa 8 bis 18 Jahren. In der Neuauflage wurden verschiedene Inhalte ergänzt, u.a. wird auf die Gestaltung der therapeutischen Beziehung, auf die Therapiemotivation und auf den Einsatz von Medien in der Psychotherapie eingegangen. Neue therapeutische Entwicklungen, wie z.B. metakognitive, achtsamkeits- und akzeptanzorientierte Strategien, wurden in das Behandlungsprogramm integriert. Zudem wird die Achtsamkeitsgruppe "MOMENTO" vorgestellt, die begleitend zur Einzeltherapie bei Jugendlichen zum Einsatz kommen kann. Das Manual stellt zunächst die Symptomatik und Klassifikation der Zwangsstörung dar und referiert aktuelle Befunde aus der Therapieforschung. Anschließend wird in Form von Modulen der gesamte Therapieprozess von der Diagnostik und Psychoedukation, über die Behandlung bis hin zur Rückfallpropyhlaxe dargestellt. Auf die Möglichkeiten der Einbeziehung der Eltern in die verschiedenen Therapiephasen wird ebenso eingegangen wie auf die Option einer die Psychotherapie begleitenden pharmakologischen Behandlung. Anhand von zahlreichen Fallbeispielen wird die therapeutische Vorgehensweise transparent gemacht. Häufige Fragen und Schwierigkeiten bei der Umsetzung der therapeutischen Interventionen werden problematisiert und Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt. Das Manual ist für die Einzeltherapie konzipiert und kann sowohl im stationären als auch im ambulanten Setting eingesetzt werden. Zahlreiche Arbeits- und Informationsblätter, die auf der beiliegenden CD-ROM vorliegen, unterstützen die Umsetzung der therapeutischen Inhalte in die klinische Praxis.

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Gunilla Wewetzer

Christoph Wewetzer

Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen

Ein Therapiemanual

2., überarbeitete und erweiterte Auflage

Dipl.-Psych. Gunilla Wewetzer, geb. 1965. 1986–1992 Studium der Psychologie in Heidelberg und Marburg. Anschließend Tätigkeit als Diplom-Psychologin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Würzburg und an der Universitätskinderklinik Freiburg. 1999 Approbation zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. 2000–2005 leitende Diplom-Psychologin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Freiburg. Seit 2005 leitende Diplom-Psychologin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der städtischen Kliniken Köln gGmbH.

Prof. Dr. med. Christoph Wewetzer, geb. 1959. 1982–1988 Studium der Medizin in Marburg. Anschließend Tätigkeit als Assistenzarzt an der Klinik für Psychiatrie der Universität Gießen und an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität Marburg. 1991 Promotion. 1994–2005 Oberarzt an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Universität Würzburg. 2001 Habilitation. 2003 Berufung zum Universitätsprofessor an der Universität Würzburg. Seit 2005 Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der städtischen Kliniken Köln gGmbH.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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[email protected]

www.hogrefe.de

Illustrationen: Klaus Gehrmann, Freiburg; www.klausgehrmann.net

Satz: ARThür Grafik-Design & Kunst

Format: EPUB

2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2019

© 2012, 2019 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2873-4; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2873-5)

ISBN 978-3-8017-2873-1

http://doi.org/10.1026/02873-000

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Anmerkung:

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|5|Gewidmet unserem Lehrer Herrn Prof. Dr. Andreas Warnke, einem kinder- und jugendpsychiatrischen Leiter der noch alles repräsentiert: Empirisch wissenschaftliches Denken, therapeutische Kompetenz, warmherzigen Umgang mit den uns anvertrauten Patienten und Familien sowie Begeisterung und Verantwortlichkeit für unser Fach.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur 2. Auflage

I. Theoretischer Hintergrund

Kapitel 1 Einleitung

1.1 Fallbeispiel

1.2 Historische Entwicklung

Kapitel 2 Klassifikation und Epidemiologie

2.1 Aktuelle Klassifikationskriterien

2.2 Epidemiologie

Kapitel 3 Symptomatik, Komorbidität und Verlauf

3.1 Symptomatik

3.2 Komorbidität

3.3 Verlauf der Zwangsstörung

Kapitel 4 Ätiologie

Kapitel 5 Stand der Therapieforschung

II. Durchführung der Therapiemodule

Kapitel 6 Aufbau der Therapiemodule

6.1 Einführung

6.2 Überblick über die einzelnen Module

Kapitel 7 Modul I – Diagnostik

7.1 Inhalte des Moduls

7.2 Hintergrundwissen

7.3 Basisdiagnostik I

7.4 Störungsspezifische Diagnostik

7.5 Basisdiagnostik II

7.6 Basisdiagnostik III

7.7 Einbeziehung der Eltern

7.8 Exkurs: Therapeutische Beziehung

Kapitel 8 Psychotherapeutische Fallkonzeption

8.1 SORC-Modell

8.2 Intrapsychische und interpersonelle Faktoren

8.3 Therapiesetting

8.4 Therapieschwerpunkte und Therapieziele

8.5 Exkurs: Therapiemotivation

Kapitel 9 Modul II – Psychoedukation

9.1 Inhalte des Moduls

9.2 Hintergrundwissen

9.3 Aufklärung über die Symptomatik

9.4 Entwicklung eines allgemeinen Erklärungsmodells

9.5 Entwicklung eines individuellen Erklärungsmodells

9.6 Einbeziehung der Eltern

9.7 Exkurs: Gruppentherapie für Patienten mit Zwangsstörung

Kapitel 10 Modul III – Erste Maßnahmen zur Eingrenzung der Zwänge

10.1 Inhalte des Moduls

10.2 Eingrenzung der Zwänge mit Unterstützung anderer Personen

10.3 Eingrenzung der Zwänge durch den Patienten

10.4 Reduktion der Einbindung der Eltern in Zwangshandlungen

10.5 Fallbeispiel – Marlene (7 Jahre)

Kapitel 11 Modul IV – Kognitive Therapie

11.1 Inhalte des Moduls

11.2 Hintergrundwissen

11.3 Dysfunktionale Strategien im Umgang mit Zwangsgedanken

11.4 Neubewertung dysfunktionaler Strategien

11.5 Funktionale Strategien im Umgang mit Zwangsgedanken

11.6 Neubewertung metakognitiver Denkfehler

11.7 Einbeziehung der Eltern

11.8 Fragen und Probleme

11.9 Fallbeispiel – Markus (15 Jahre)

11.10 Exkurs: Achtsamkeitsgruppe „MOMENTO!“

Kapitel 12 Modul V – Expositionstherapie

12.1 Inhalte des Moduls

12.2 Hintergrundwissen

12.3 Erklärung der Expositionstherapie

12.4 Vorbereitung einzelner Expositionen

12.5 Expositionen mit Therapeutenbegleitung

12.6 Expositionen im Selbstmanagement

12.7 Expositionen mit Co-Therapeutenbegleitung

12.8 Einbeziehung der Eltern

12.9 Fragen und Probleme

12.10 Fallbeispiel – Julia (11 Jahre)

12.11 Fallbeispiel – Thomas (16 Jahre)

12.12 Exkurs: Einsatz von Medien in der Psychotherapie

Kapitel 13 Modul VI – Psychopharmakotherapie

13.1 Inhalt des Moduls

13.2 Hintergrundwissen

13.3 Indikation

13.4 Durchführung

13.5 Einbeziehung der Eltern

Kapitel 14 Modul VII – Nachsorge und Rückfallprophylaxe

14.1 Inhalte des Moduls

14.2 Hintergrundwissen

14.3 Bilanzierung des Therapieerfolges

14.4 Rückfallprophylaxe

14.5 Erweiterte Rückfallprophylaxe

14.6 Dysfunktionale Einstellungen

14.7 Einbeziehung der Eltern

14.8 Fallbeispiel – Markus (15 Jahre)

Literatur

Anhang

Materialien auf CD-ROM

|11|Vorwort zur 2. Auflage

Die Zwangsstörung mit Beginn im Kindes- und Jugendalter ist häufig ein schweres und belastendes Krankheitsbild. Epidemiologische Studien zeigen, dass es sich bei der Zwangsstörung um ein nicht seltenes Krankheitsbild handelt, deren Verlauf eine deutliche Tendenz zur Chronifizierung aufweist. Die Kinder und Jugendlichen haben einen hohen Leidensdruck für die bestehende Symptomatik und bei fast der Hälfte von ihnen bestehen zusätzliche komorbide Störungen.

Daher ist es umso wichtiger, dieses Krankheitsbild genau zu kennen, denn nur so kann eine möglichst frühe Diagnostik und spezifisch wirksame Therapie eingeleitet werden. Da gerade Kinder und Jugendliche sich häufig für ihre Zwangssymptomatik sehr schämen und deshalb versuchen, diese möglichst lange zu verbergen, wird die Diagnose oft erst mit großer zeitlicher Verzögerung gestellt.

Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen zeichnen sich durch eine vielschichtige Symptomatik aus. Die Behandlung ist daher zeitaufwendig und bedarf eines individuell ausgearbeiteten Behandlungsplanes. Die Grundlage der Therapie bildet ein kognitiv-behavioraler Therapieansatz mit pharmakologischer Intervention. Neuere wissenschaftliche Studien belegen die Wirksamkeit dieses Verfahrens (Iniesta-Selpúlveda et al., 2017; Skapinakis et al., 2017).

Es besteht nach wie vor ein großer Aufklärungsbedarf über die spezifischen Behandlungsmöglichkeiten bei Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter. So gibt es bislang lediglich ein Therapiemanual für Kinder und Jugendliche aus dem englischsprachigen Raum (March & Mulle, 1998). Auf der Basis aktueller Daten zur Therapie- und Verlaufsforschung erstellten wir daher ein umfassendes Therapiemanual, welches psychotherapeutische und psychopharmakologische Interventionen berücksichtigt und nun in zweiter Auflage erscheint.

Das vorliegende Manual enthält vielfältige Arbeitsblätter für die Diagnostik und Therapie. Es gibt sowohl Arbeitsblätter für Kinder als auch für Jugendliche. Ergänzt werden sie zusätzlich durch Arbeitsblätter für die Eltern. Ziel des Manuals ist auch, dem Therapeuten1 durch die Diskussion von häufig auftretenden Schwierigkeiten in seiner praktischen Tätigkeit zu einer praxisnahen Durchführung der Therapie zu motivieren. Zum besseren Verständnis der diagnostischen und therapeutischen Vorgehensweise werden zu den wichtigsten therapeutischen Interventionen ausführliche Fallbeispiele vorgestellt.

Wir bedanken uns bei den Mitarbeitern des Hogrefe Verlages und insbesondere bei Frau Susanne Weidinger für Ihre geduldige Unterstützung dieses Therapiemanuals. Zuletzt gilt unser herzlicher Dank unseren Patientinnen und Patienten sowie ihren Familien, denen wir viel verdanken und zu deren Wohl dieses Therapiemanual verfasst wurde.

Köln, im Mai 2018

Gunilla Wewetzer

und Christoph Wewetzer

1

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde im gesamten Text auf die Nennung der femininen und maskulinen Form (z. B. Therapeutin/Therapeut) verzichtet. Obwohl im Text meist die männliche Form verwendet wird, sind immer beide Geschlechter gemeint.

|13|I. Theoretischer Hintergrund

|15|Kapitel 1Einleitung

1.1 Fallbeispiel

Beispiel:

Der elfjährige Junge litt anfangs unter der Angst vor Verunreinigung der in der Tube verbliebenden Zahnpasta, nach Gebrauch der Zahnpastatube durch die zwei jüngeren Geschwister. Hierbei befürchtete er besonders durch sich bildende gefährliche Bakterien zu erkranken. Die Zwangssymptomatik hatte schleichend begonnen und sich zuletzt dramatisch verstärkt. Zum Zeitpunkt der Vorstellung in der Klinik litt der Junge unter ausgeprägten Zwangsgedanken, dass alle möglichen Gegenstände in der Wohnung verschmutzt und durch Bakterien verunreinigt sein könnten.

Auf der Basis dieser Zwangsgedanken entwickelte sich ein ausgeprägter Waschzwang mit ca. 30- bis 40-maligem Händewaschen pro Tag, wodurch der Junge gerötete, gereizte und schuppige Hände, mit zum Teil offenen Hautstellen, bekommen hatte. Darüber hinaus musste er Kleidungsstücke, die aus Versehen den Teppich seines Zimmers berührt hatten, aus Angst vor Bakterienverunreinigung, sofort in die Wäsche bringen. Betrat eines der zwei kleineren Geschwister sein Zimmer, so musste er dieses über Stunden reinigen. Das Familienleben war dadurch massiv beeinträchtigt. Die Mutter war intensiv in die Symptomatik eingebunden. Es bestand ein großer Leidensdruck der gesamten Familie. Der Schulbesuch war für den Jungen nicht mehr möglich.

Diese kurze Kasuistik zeigt die typischen Symptome einer ausgeprägten Zwangsstörung. Deutlich wird hierbei nicht nur der Leidensdruck der betroffenen Kinder und Jugendlichen mit den problematischen Auswirkungen für die psychosoziale Entwicklung, sondern auch die Beeinträchtigung des gesamten familiären Umfeldes, das den dringenden Therapiebedarf aufzeigt.

1.2 Historische Entwicklung

In der deutschen Psychiatrie ist der Begriff der „Zwangsvorstellungen“ 1867 von Krafft-Ebing (Sigusch, 2004) eingeführt worden. Er war der Überzeugung, dass diese sich auf dem Boden einer depressiven Symptomatik entwickelten. Maßgebend für das Begriffsverständnis wurden schließlich die Ideen des Berliner Psychiaters Westphal, der 1877 in seiner grundlegenden Arbeit über „Zwangsvorstellungen“ Zwangsphänomene als eigenständige syndromale Kategorie betrachtete und von Wahnideen abgrenzte:

„Unter Zwangsvorstellungen verstehe ich solche, welche bei übrigens intakter Intelligenz und ohne durch einen gefühls- oder affektartigen Zustand bedingt zu sein, gegen und wider den Willen des betreffenden Menschen in den Vordergrund des Bewusstseins treten, sich nicht verscheuchen lassen, den normalen Ablauf der Vorstellungen hindern und durchkreuzen, welche der Befallene stets als abnorm, ihm fremdartig erkennt und denen er mit seinem gesunden Bewusstsein gegenübersteht.“ (S. 669).

Westphal wies bereits auf den frühen Beginn der Erkrankung, ihren chronischen Verlauf und die Schwierigkeiten der Behandlung hin. Jaspers (1973) gelang mit seiner Arbeit zu den Zwangsphänomenen eine der ersten Beschreibungen zur Psychopathologie der Zwangsstörung:

„Der Zwangskranke wird verfolgt von Vorstellungen, die ihm nicht nur fremd, sondern unsinnig erscheinen und denen er doch folgen muss, als ob sie wahr seien. Tut er es nicht, befällt ihn grenzenlose Angst. Der Kranke z. B. muss etwas tun, sonst stirbt eine Person oder es geschieht ein Unheil. Es ist als ob sein Tun und Denken magisch das Geschehen verhindere oder bewirke. Er |16|baut seine Gedanken zu einem System von Bedeutungen, seine Handlungen zu einem System von Zeremonien und Riten aus. Aber jede Ausführung hinterlässt den Zweifel, ob er es auch richtig, auch vollständig macht. Der Zweifel zwingt ihn, von vorne anzufangen“ (S. 240).

Der Terminus „Obcession“ für Zwangsgedanken leitet sich vom lateinischen „osidere“ ab, und meint in diesem Zusammenhang „beherrschen, in seiner Gewalt haben, bedrängen, einengen“. Dies charakterisiert die Symptomatik plastischer und treffender als der deutsche Begriff des „Zwangsgedankens“. Nach Schneider (1967) kann von einem Zwang gesprochen werden, wenn der Betroffene sich von einem „Bewusstseinsinhalt nicht lösen kann, obschon er ihn gleichzeitig als inhaltlich unsinnig oder wenigstens ohne Grund beherrschend oder beharrend beurteilt“ (S. 50 f.).

Lange Zeit herrschte auch in Fachkreisen die Vorstellung, dass Zwangserkrankungen im Kindes- und Jugendalter sehr selten vorkämen. Allerdings hatte bereits Emminghaus (1881) in seinem Lehrbuch „Die psychischen Störungen des Kindesalters“ konstatiert: „Es steht fest, dass diese Störung des Vorstellens auch im Kindesalter vorkommt“ (S. 27). Der entwicklungspsychologische Aspekt der Zwangsstörungen wurde von Stutte (1960) diskutiert, der diese Erscheinungen „physiologische Sicherungsphänomene“ nannte. Nissen (1971) führte hierzu aus, dass die „passageren Zwangsphänomene als Instinkt gebundene, entwicklungsbedingte oder phasenspezifische physiologische Verhaltensformen anzusehen sind, die für die normale psychische Entwicklung des Kleinkindes eine wichtige Funktion zu erfüllen haben“ (S. 74).

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Zwangsstörungen im 20. Jahrhundert vollzog sich parallel zu den Entwicklungstendenzen der Psychiatrie und Klinischen Psychologie. Die Abkehr von einer rein somatisch-biologischen Sichtweise, hin zu einer stärkeren Betrachtung der psychodynamischen Prozesse, wurde durch die Psychoanalyse eingeleitet. In den 1950er Jahren wurden zunehmend auch allgemein-psychologische Erkenntnisse zum Verständnis psychischer Erkrankungen und Auffälligkeiten herangezogen und es entwickelten sich daraus auch neue therapeutische Ansätze. Eingeleitet durch eine immer differenzierter werdende Psychopharmakotherapie gewannen biologische Sichtweisen wieder größere Bedeutung. Mittlerweile existieren nicht nur eine ganze Reihe differenzierter Theorien zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Zwangsstörung, sondern auch gut geprüfte diagnostische Instrumente, sowie effektive Behandlungsmethoden und Modelle zu den jeweiligen Wirkfaktoren. Neurobiologische Arbeitshypothesen und Erkenntnisse führten hierbei nicht nur zu einem besseren Verständnis zentralnervöser Korrelate der Zwangsstörung, sondern auch zu klinischen Implikationen, die sich erfolgreich in kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungsstrategien integrieren ließen (Bolton & Perrin, 2008; Freeman et al., 2009).

|17|Kapitel 2Klassifikation und Epidemiologie

2.1 Aktuelle Klassifikationskriterien

Zwanghafte oder ritualisierte Verhaltensweisen sind vielen Menschen aus ihrem Alltag bekannt. Dazu gehören z. B. das Zählen von Fenstern oder Randsteinen, das Vermeiden auf Fugen von Platten zu treten, oder bei bestimmten Gegebenheiten auf Holz zu klopfen. Bekannt sind auch wiederkehrende Vorstellungen, wie z. B. das beim Betreten einer Brücke erfolgende Nachdenken über die Konsequenzen eines Sprunges in die Tiefe. Diese Gewohnheiten und Rituale sind in den wenigsten Fällen als krankhaft oder behandlungsbedürftig zu werten. Besonders bei Kindern kennen wir eine ganze Reihe wiederkehrender Rituale, Rhythmen und festgelegter Gewohnheiten bis hin zu zwanghaft anmutenden Verhaltensweisen. Hierzu zählen die zum Teil vielfältigen Einschlafrituale von Kleinkindern, die zwanghaft anmutende Bevorzugung bestimmter Kleidungsstücke, Farben oder Nahrungsmittel sowie die Begeisterung für das ständige Wiederholen bestimmter Geschichten, Märchen oder Späße mit Mutter oder Vater. Umgekehrt sind jedoch auch oft geringfügigste, von Mutter oder Vater eingeführte Änderungen im Ablauf der wiederholt erzählten Märchen Ursache von größerem Unmut. Diese Rituale und wiederkehrenden Handlungen gehören zur normalen Entwicklung eines Kindes, denn sie verschaffen ihm Sicherheit, Zuverlässigkeit und ein Gefühl der Geborgenheit. Nach Knölker (1999) ist dies durchaus als „Ausdruck einer Probier-, Nachahmungs- und Funktionslust des Kindes anzusehen“. Aber auch für uns Erwachsene erleichtern einzelne Gewohnheiten und Rituale den Alltag und helfen bei der Strukturierung des Tages und der Bewältigung der Arbeitsabläufe. Wann und wie wird nun aus der Gewohnheit oder dem Ritual ein quälender Zwang, der in letzter Konsequenz die erfolgreiche Alltagsbewältigung verhindert?

Wiederkehrende und anhaltende Verhaltensweisen, Ideen, Gedanken und Impulse werden dann zu Zwangsstörungen, wenn sie sich gegen einen inneren Widerstand aufdrängen. Dabei ist wichtig, dass diese Verhaltensweisen selbst vom Patienten als unsinnig, übertrieben oder quälend erlebt werden. Zwangsstörungen lassen sich in Zwangsgedanken und Zwangshandlungen untergliedern.

Für Kinder und Jugendliche werden dieselben Diagnosekriterien zugrunde gelegt wie für Erwachsene (ICD-10: WHO, Dilling et al., 2011; DSM-5: APA/Falkai et al., 2015; vgl. Kasten 1).

Die Diagnosekriterien des deutlich aktuelleren DSM-5 sind etwas „weicher” als diejenigen der ICD-10. Widerstand gegen die Zwangsphänomene wird nicht mehr ausdrücklich verlangt. Dies ist sicherlich eine sinnvolle Änderung, da manche Betroffene mit langwierigen Krankheitsverläufen in ihren Bemühungen resignieren, die Zwangssymptome zu kontrollieren. Fehlender Widerstand kann somit vor diesem Hintergrund ein Kennzeichen einer schwer ausgeprägten Zwangsstörung sein. Zudem zeigen Kinder häufiger keinen Widerstand gegen ihre Zwänge, da sie wahrscheinlich versuchen, die Symptomatik stärker in ihre kindliche Persönlichkeit zu integrieren. Auch ist im DSM-5 Einsicht in die Übertriebenheit oder Sinnlosigkeit der Zwangssymptome kein notwendiges Diagnosekriterium. Der Grad der Distanzierungsfähigkeit soll aber zusätzlich spezifiziert werden. Weil Kinder häufiger Zwangssymptome nicht als ich-dyston empfinden oder beschreiben können, wird so auch der Entwicklungsaspekt berücksichtigt. Auch die Mehrzahl der erwachsenen Betroffenen ist zudem vom unrealistischen Charakter ihrer Befürchtungen nicht gänzlich überzeugt (Foa et al., 1997; Storch et al., 2008). Mit nicht mehr gefordertem Widerstand und nicht notwendiger aktueller Distanzierungsfähigkeit werden im DSM-5 wie auch schon früher im DSM-IV wesentliche „klassische“ Definitionskriterien der Zwangsstörung teilweise aufgegeben. Diese Veränderung ist gut begründet und verringert die Gefahr, dass Zwangskranke fälschlich als psychotisch diagnostiziert werden. Andererseits wird dadurch die Abgrenzung zu wahnhaften Störungen aber auch schwieriger.

|18|Kasten 1:ICD-10- und DSM 5-Diagnose einer Zwangsstörung

ICD-10 (F42)

Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen bestehen mindestens zwei Wochen lang.

Zwangsgedanken/-handlungen erfüllen die Punkte 1 bis 4:

Zwangsgedanken/-handlungen werden als eigene Gedanken/Handlungen angesehen und nicht als von anderen Personen oder Einflüssen eingegeben.

Sie wiederholen sich dauernd, werden als unangenehm empfunden und meist als übertrieben oder unsinnig erkannt.

Die Betroffenen versuchen, Widerstand zu leisten.

Die Ausführung eines (einer) Zwangsgedanken/-handlung ist unangenehm.

Die Zwangsgedanken/-handlungen führen zu einer massiven psycho-sozialen Beeinträchtigung.

Erkrankungen wie die Schizophrenie und die affektiven Störungen stellen die häufigsten Ausschlusskriterien dar.

DSM-5*

A. Entweder Zwangsgedanken, Zwangshandlungen oder beides:

Zwangsgedanken, wie durch (1) und (2) definiert:

Immer wiederkehrende und anhaltende Gedanken, Impulse oder Vorstellungen, die im Krankheitsverlauf mindestens zeitweilig als aufdringlich und ungewollt empfunden werden, und die meist ausgeprägte Angst und großes Unbehagen hervorrufen.

Die Person versucht, diese Gedanken, Impulse oder Vorstellungen zu ignorieren oder zu unterdrücken oder sie mithilfe anderer Gedanken oder Tätigkeiten zu neutralisieren (z. B. durch die Ausführung einer Zwangshandlung).

Zwangshandlungen sind durch (1) und (2) definiert:

Wiederholte Verhaltensweisen (z. B. Händewaschen, Ordnen, Kontrollieren) oder mentale Handlungen (z. B. Beten, Zählen, Wörter lautlos wiederholen), zu denen sich die Person als Reaktion auf einen Zwangsgedanken oder aufgrund von streng zu befolgenden Regeln gezwungen fühlt.

Die Verhaltensweisen oder die mentalen Handlungen dienen dazu, Angst oder Unbehagen zu verhindern oder zu reduzieren oder gefürchteten Ereignissen oder Situationen vorzubeugen; diese Verhaltensweisen oder mentalen Handlungen stehen jedoch in keinem realistischen Bezug zu dem, was sie zu neutralisieren oder zu verhindern versuchen, oder sie sind deutlich übertrieben.

Beachte: Kleine Kinder könnten noch nicht in der Lage sein, den Zweck dieser Verhaltensweisen oder mentalen Handlungen auszudrücken.

B. Die Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen sind zeitintensiv (sie beanspruchen z. B. mehr als 1 Stunde pro Tag) oder verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

C. Die Symptome der Zwangsstörungen sind nicht Folge der physiologischen Wirkung einer Substanz (z. B. Substanz mit Missbrauchspotenzial, Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors.

D. Die Symptome werden nicht besser durch das Vorliegen einer anderen psychischen Störung erklärt (z. B. exzessive Sorgen, wie bei der Generalisierten Angststörung; übermäßige Beschäftigung mit dem äußeren Erscheinungsbild, wie bei der Körperdysmorphen Störung; Schwierigkeiten, Gegenstände auszusondern oder sich von diesen zu trennen, wie beim Pathologischen Horten; Haareausreißen, wie bei der Trichotillomanie [Pathologisches Haareausreißen]; Hautzupfen/-quetschen, wie bei der Dermatillomanie; Stereotypien, wie bei der Stereotypen Bewegungsstörung; ritualisiertes Essverhalten, wie bei Essstörungen; übermäßige Beschäftigung mit Substanzen oder Glücksspielen, wie bei den Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen und abhängigen Verhaltensweisen; übermäßige Beschäftigung, eine Krankheit zu haben, wie bei der Krankheitsangststörung; sexuelle dranghafte Bedürfnisse und Fantasien, wie bei der Paraphilie; Impulsdurchbrüche, wie bei den disruptiven, Impulskontroll- und Sozialverhaltensstörungen; Grübeln über Schuld, wie bei einer Major Depression; Gedankeneingebung oder Wahn, wie bei einer Störung aus dem Schizophrenie-Spektrum oder anderen psychotischen Störungen; oder stereotyp wiederholten Verhaltensmustern, wie bei der Autismus-Spektrum-Störung).

Bestimme, ob:

Mit Guter oder Angemessener Einsicht: Die Person erkennt, dass die zwangsbezogenen Überzeugungen definitiv nicht, wahrscheinlich nicht oder möglicherweise nicht zutreffen.

|19|Mit Wenig Einsicht: Die Person denkt, dass die zwangsbezogenen Überzeugungen wahrscheinlich zutreffen.

Mit Fehlender Einsicht/Wahnhaften Überzeugungen: Die Person ist vollkommen davon überzeugt, dass die zwangsbezogenen Überzeugungen zutreffen.

Bestimme, ob:

Tic-Bezogen: Die Person weist gegenwärtig oder in der Vorgeschichte eine Tic-Störung auf.

Anmerkung: * Abdruck erfolgt mit Genehmigung aus der deutschen Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition © 2013, Dt. Ausgabe: © 2015, American Psychiatric Association. Alle Rechte vorbehalten.

Meist treten bei einem Betroffenen Zwangshandlungen und Zwangsgedanken kombiniert auf und sind auch inhaltlich aufeinander bezogen. Die ICD-10 unterscheidet als Subtypen die gemischte Zwangsstörung mit Gedanken und Handlungen von derjenigen mit jeweils im Vordergrund stehenden Zwangshandlungen oder Zwangsgedanken. Werden mentale Rituale korrekt als Zwangshandlung eingeordnet, lässt sich allerdings der Subtyp mit überwiegend Zwangsgedanken empirisch kaum noch finden (Williams et al., 2011).

War die Zwangsstörung im DSM-IV noch unter die Angststörungen subsummiert, so bilden im DSM-5 Zwangsspektrum-Störungen eine eigene Kategorie, zu der neben der Zwangsstörung die Körperdysmorphe Störung, zwanghaftes Horten, die Trichotillomanie, die Dermatillomanie sowie pharmakologische und anderweitig organisch bedingte Zwangsspektrum-Störungen zählen. Gemeinsamkeiten liegen zusammenfassend darin, dass alle diese Störungen auf einer Dimension mit den Polen „zwanghaft“ und „impulsiv“, die mit Über- bzw. Unterschätzung von Schaden und Risiko einhergehen, eingeordnet werden können. Hypochondrie, Essstörungen, Tic-Störungen und autistische Störungen, die auch in Zusammenhang mit dem Zwangsspektrum-Begriff diskutiert wurden, wurden in diese Kategorie des DSM-5 jedoch nicht mit aufgenommen (Hartmann & Wilhelm, 2013).

Die Ausschlusskriterien für die Diagnose einer Zwangsstörung fordern in beiden Klassifikationssystemen, dass die Zwangssymptomatik nicht durch eine andere psychische bzw. organische Störung oder durch Substanzzufuhr verursacht ist.

2.2 Epidemiologie

Die „Epidemiological Catchment Area (ECA)“-Studie von Weissman aus dem Jahr 1981 (Weissman et al., 1994) war die erste große epidemiologische Studie zur Häufigkeit der Zwangsstörung im Erwachsenenalter. Darauf folgende Untersuchungen berichteten Prävalenzraten zwischen 1,9 bis 3,3 % (Kalra & Swedo, 2009; Ruscio et al., 2010). Aktuelle Daten aus einer Untersuchung bei Probanden mit deutscher Nationalität zeigten sogar eine 12-Monatsprävalenzrate von 3,3 % mit männlichem und 4,0 % mit weiblichem Geschlecht (Jacobi et al., 2014). Zwänge im Erwachsenenalter gehören somit zu den häufigsten psychischen Störungen. Die Prävalenzraten bei Kindern und Jugendlichen sind damit vergleichbar und betragen zwischen 0,5 und 4,0 % (Wittchen et al., 1998; Heyman et al., 2001). Studien mit einer selektiven Stichprobe von älteren Jugendlichen kamen auf Prävalenzraten von ca. 2,5 % (Douglass et al., 1995). Die Tatsache, dass gerade unter Zwangsstörungen leidende Kinder und Jugendliche aus Scham versuchen, ihre Zwangssymptome zu verheimlichen, erschwert epidemiologische Prävalenzuntersuchungen (Thomsen, 1994). Die erste Studie zur Inzidenzrate einer nicht klinischen Population mit einer Stichprobe von 3283 Jugendlichen konnte eine 1-Jahres-Inzidenzrate von manifest Zwangserkrankten von 0,7 % aufzeigen und von Jugendlichen mit einer subklinischen Symptomatik von 8,4 % (Valleni-Basile et al., 1996). Allerdings muss hier von Minimalzahlen ausgegangen werden, da die Untersuchungsmethodik ursprünglich auf das „Screening“ depressiv Erkrankter ausgerichtet war und deshalb nicht in vollem Umfang die Sensitivität des Verfahrens für die Zwangsstörung besaß.

Die vergleichbaren Prävalenzen bei Kindern und Jugendlichen einerseits und Erwachsenen andererseits verweisen darauf, dass juvenile Zwangsstörungen nicht immer einen kontinuierlichen Verlauf nehmen müssen, da dies mit über das Alter ansteigenden Prävalenzraten einhergehen müsste. Andererseits geben die eher geringen Unterschiede zwischen Lifetime- und Punktprävalenzen auch Hinweise auf eine hohe Persistenz des Störungsbildes.

In den Adoleszenten und Erwachsenen einbeziehenden epidemiologischen Studien finden sich Frauen und Männer in ähnlicher Verteilung (Rasmussen & Eisen, 1998; Regier et al., 1993), während im Kindes|20|alter das Verhältnis von Jungen zu Mädchen mit etwa 2 zu 1 angegeben wird (Hanna, 1995; Masi et al., 2006). Mancebo und Mitarbeiter (2008) sehen als Ursache hierfür jedoch methodische Probleme in Bezug auf unklare Definitionen der Stichprobe. Der höhere Anteil von männlich betroffenen Kindern könnte aber auch auf den tendenziell früheren Beginn der Erkrankung bei Jungen zurückzuführen sein. Dies würde erklären, warum bei Erwachsenen die Geschlechterrelation ungefähr gleich verteilt ist (Reinecker et al., 1994).

Früher wurde angenommen, dass Zwangsstörungen nur sehr selten ihren Beginn in der Kindheit und Jugend haben. Mittlerweile wissen wir aber, dass der Beginn der Zwangserkrankung meist vor dem 25. Lebensjahr liegt und häufig in der frühen Jugend beobachtet wird (Pauls et al., 1995; Millet et al., 2004). Das angenommene Alter für den Erkrankungsbeginn bei Kindern variiert zwischen 6 und 14 Jahren, wobei der durchschnittliche Erkrankungsbeginn bei 10 Jahren im Kindes- und Jugendalter liegt (Garcia et al., 2009). Bei Erwachsenen liegt der durchschnittliche Erkrankungsbeginn bei 19,5 Jahren (Ruscio et al., 2010).

|21|Kapitel 3Symptomatik, Komorbidität und Verlauf

3.1 Symptomatik

Abergläubisches Verhalten, magisches Denken und ausgeprägte Rituale sind besonders bei Kindern in der Entwicklung häufig zu beobachten. Dabei beziehen sich die kindlichen Rituale sehr stark auf Alltagssituationen, wie z. B. das Zubettgehen, das Essen oder das Anziehen. Ritualisiertes Verhalten im Kindesalter hat seinen Altersgipfel um das zweite Lebensjahr und nimmt mit zunehmendem Alter deutlich ab.

Mit den störungsspezifischen Zwangsritualen haben die kindlichen Rituale die Hartnäckigkeit, mit der auf die exakte Durchführung geachtet wird, gemeinsam und auch die Situationen des täglichen Lebens, in denen sie auftreten. Zwangsrituale als Krankheitssymptome entstehen häufiger erst um das 6. bis 8. Lebensjahr herum. Sie werden also zu einem Zeitpunkt manifest, zu dem die kindlichen Rituale deutlich rückläufig sind. Zwangsrituale werden in diesem Alter oft schon als ich-dyston, belastend und quälend erlebt. Kindliche Rituale sind hingegen entwicklungsbezogene Verhaltensweisen, die positiv von den Kindern erlebt werden und durchaus zu einer normalen emotionalen und sozialen Entwicklung gehören. Bisher konnte auch in der Literatur kein Kontinuum von kindlichen Ritualen zu Zwangsritualen belegt werden. So zeigte sich in einer Studie von Leonard et al. (1990), dass Kinder mit einer Zwangserkrankung und deren Eltern nicht häufiger als Kontrollprobanden kindliche Rituale und abergläubisches Verhalten angaben.

Die Symptomatik einer Zwangsstörung ist oft vielschichtig, komplex und individuell sehr unterschiedlich. Meist treten bei einem Betroffenen mehrere Zwangshandlungen und Zwangsgedanken kombiniert auf (Nissen et al., 2017) und sind funktional miteinander verbunden. Die unsinnigen Befürchtungen können abergläubischen oder magischen Inhalt haben. Manche – meist differenziertere – Betroffene, entwickeln ein für Außenstehende geradezu groteskes Gebäude von miteinander verwobenen, bizarren Zwangsphänomenen. Ein früher Erkrankungsbeginn ist assoziiert mit höheren Vorkommen von „Unvollständigkeitserleben“ (Summerfeldt, 2004) und dem Vorkommen von sogenanntem „Not-just-right“-Erleben (Ghisi et al., 2010).

Zwangsgedanken

Bei den Zwangsgedanken handelt es sich um Gedanken, Bilder, Ideen, Vorstellungen oder Impulse, die sich dem Erkrankten gegen seinen Willen aufdrängen und ihn immer wieder beschäftigen und Ängste auslösen. Meist sind es zwanghafte Befürchtungen, die sich inhaltlich auf Verschmutzung, Bakterien, Infektionen, Symmetrie, Genauigkeit oder das Sammeln von Gegenständen beziehen. Auch können sich Vorstellungen und Bilder aggressiver, sexueller oder religiöser Natur dem Bewusstsein aufdrängen (Rasche-Räuchle et al., 1995). Im Unterschied zur psychotischen Symptomatik werden Zwangsgedanken als eigene und nicht als von außen kommende oder durch andere eingegebene Gedanken erlebt. Bei Kindern und Jugendlichen sind die Vorbehalte gegen Schmutz, infektiöse Keime und Umweltgifte häufiger als Sorgen im Hinblick auf Unfälle, Tod oder Krankheit (Swedo et al., 1989; Kalra & Swedo, 2009).

Nicht jeder Gedanke, der im Rahmen einer Zwangsstörung auftaucht, ist ein Zwangsgedanke. Es kann auch eine „kognitive Zwangshandlung“ sein. Entscheidend für die Einordnung des Gedankens ist die Funktionalität: Löst der Gedanke Angst aus, ist er ein Zwangsgedanke, reduziert er aber die Angst, dient der Gedanke der Neutralisierung und ist somit als eine Zwangshandlung einzuordnen.

|22|Merke

Kinder und Jugendliche erleben Zwangsgedanken wie folgt:

Die Gedanken beschäftigen sich oft mit der Sorge, sich selbst oder jemand anderen einen Schaden zu zufügen.

Der Inhalt der Zwangsgedanken ist oft sehr belastend und wirkt angesichts dessen, was im normalen Leben passiert, überzogen und übertrieben.

Die häufig auftretenden Gedanken lösen Anspannung, Sorge, Angst, Unbehagen oder manchmal auch Ekel aus.

Die Gedanken kommen immer wieder und lassen sich nicht verdrängen oder unterdrücken.

Sie spiegeln nicht die eigene Meinung oder Haltung wieder, sondern werden als fremd, abscheulich oder peinlich erlebt.

Tabelle 1 zeigt das prozentuale Vorkommen der Inhalte von Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. Aufgrund des schon erwähnten Schamgefühls ist davon auszugehen, dass gerade Zwangsgedanken, bei denen es um aggressive und sexuelle Inhalte geht, wahrscheinlich zu selten erhoben werden, da die Kinder und Jugendlichen sie häufig nicht angeben. Sehr viel seltener sieht man gerade bei Kindern im Gegensatz zu Erwachsenen isolierte Zwangsgedanken (Wewetzer, 2004).

Am häufigsten finden sich Zwangsgedanken, die das Thema Verschmutzung/Kontamination sowie aggressive Gedanken zum Inhalt haben. Bei den Zwangshandlungen stehen Wasch-/Reinigungshandlungen sowie Kontrollhandlungen im Vordergrund (Agarwal et al., 2017). Eine genaue Auflistung möglicher Zwangsgedanken und Zwangshandlungen findet sich in Tabelle 1.