Zwangsstörungen - Hildegard Goletz - E-Book

Zwangsstörungen E-Book

Hildegard Goletz

4,7
21,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen beinhalten meist multiple Zwangsgedanken und Zwangshandlungen und können sich als sehr komplex erweisen. Die Zwangssymptomatik stellt für die betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie auch für deren Bezugspersonen häufig eine extreme Belastung dar. In der Folge kann es zu starker Verzweiflung, zu Aggressionen sowie zu Beeinträchtigungen schulischer oder beruflicher Beziehungen sowie in Gleichaltrigen- oder auch Paarbeziehungen kommen. Der Leitfaden beschreibt praxisorientiert das diagnostische und therapeutische Vorgehen bei Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter. Zunächst informiert der Band über den derzeitigen Stand der Forschung bezüglich der Symptomatik, Klassifikation, Epidemiologie, Differenzialdiagnose und Komorbidität, Pathogenese sowie des Verlaufs und der Therapie der Störung. Ausführlich werden Leitlinien zur Diagnostik und Verlaufskontrolle, zu Behandlungsindikationen und zur Therapie formuliert und ihre Umsetzung in die Praxis dargestellt. Diagnostische Verfahren und Interventionsprogramme, die in den verschiedenen Phasen der multimodalen Behandlung eingesetzt werden können, werden kurz und prägnant beschrieben. Materialien zur Diagnostik und Therapie sowie die Darstellung eines Fallbeispiels veranschaulichen das Vorgehen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
4,7 (18 Bewertungen)
14
2
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hildegard Goletz

Manfred Döpfner

Veit Roessner

Zwangsstörungen

Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie

Band 25

Zwangsstörungen

Dipl.-Psych. Hildegard Goletz, Prof. Dr. Manfred Döpfner, Prof. Dr. med. Veit Roessner

Herausgeber der Reihe:

Prof. Dr. Manfred Döpfner, Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann, Prof. Dr. Franz Petermann

Begründer der Reihe:

Manfred Döpfner, Gerd Lehmkuhl, Franz Petermann

Dipl.-Psych. Hildegard Goletz, geb. 1968. Seit 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Klinikum der Universität zu Köln und Leiterin der Schwerpunktambulanz Angst- und Zwangs- (und Tic-) Störungen am Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (akipköln) am Klinikum der Universität zu Köln.

Prof. Dr. Manfred Döpfner, geb. 1955. Seit 1989 Leitender Psychologe an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität zu Köln und dort seit 1999 Professor für Psychotherapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Seit 1999 Leiter des Ausbildungsinstituts für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie AKiP an der Universität Köln. Seit 2000 Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Klinische Kinderpsychologie der Christoph-Dornier-Stiftung für Klinische Psychologie an der Universität Köln.

Prof. Dr. med. Veit Roessner, geb. 1973. Seit 2009 Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus der Technischen Universität Dresden.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Copyright-Hinweis:

Das E-Book einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar.

Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG

Merkelstraße 3

37085 Göttingen

Deutschland

Tel. +49 551 999 50 0

Fax +49 551 999 50 111

[email protected]

www.hogrefe.de

Satz: Mediengestaltung Meike Cichos, Göttingen

Format: EPUB

1. Auflage 2018

© 2018 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2645-7; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2645-8)

ISBN 978-3-8017-2645-4

http://doi.org/10.1026/02645-000

Nutzungsbedingungen:

Der Erwerber erhält ein einfaches und nicht übertragbares Nutzungsrecht, das ihn zum privaten Gebrauch des E-Books und all der dazugehörigen Dateien berechtigt.

Der Inhalt dieses E-Books darf von dem Kunden vorbehaltlich abweichender zwingender gesetzlicher Regeln weder inhaltlich noch redaktionell verändert werden. Insbesondere darf er Urheberrechtsvermerke, Markenzeichen, digitale Wasserzeichen und andere Rechtsvorbehalte im abgerufenen Inhalt nicht entfernen.

Der Nutzer ist nicht berechtigt, das E-Book – auch nicht auszugsweise – anderen Personen zugänglich zu machen, insbesondere es weiterzuleiten, zu verleihen oder zu vermieten.

Das entgeltliche oder unentgeltliche Einstellen des E-Books ins Internet oder in andere Netzwerke, der Weiterverkauf und/oder jede Art der Nutzung zu kommerziellen Zwecken sind nicht zulässig.

Das Anfertigen von Vervielfältigungen, das Ausdrucken oder Speichern auf anderen Wiedergabegeräten ist nur für den persönlichen Gebrauch gestattet. Dritten darf dadurch kein Zugang ermöglicht werden.

Die Übernahme des gesamten E-Books in eine eigene Print- und/oder Online-Publikation ist nicht gestattet. Die Inhalte des E-Books dürfen nur zu privaten Zwecken und nur auszugsweise kopiert werden.

Diese Bestimmungen gelten gegebenenfalls auch für zum E-Book gehörende Audiodateien.

Anmerkung:

Sofern der Printausgabe eine CD-ROM beigefügt ist, sind die Materialien/Arbeitsblätter, die sich darauf befinden, bereits Bestandteil dieses E-Books.

Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

|V|Einleitung: Grundlagen und Aufbau des Buches

Zwangssymptome werden schon seit einigen Jahrhunderten berichtet (z. B. im 17. Jahrhundert als religiöse Melancholie; Moore, 1692) und erste psychiatrische Beschreibungen von Zwangsstörungen erfolgten im 19. Jahrhundert (insbesondere Esquirol, 1838; vgl. Alvarenga et al., 2007). Der Diagnostik und Therapie juveniler Zwangsstörungen wird hingegen erst in den letzten Jahrzehnten zunehmendes wissenschaftliches Interesse gewidmet.

Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen beinhalten meist multiple Zwangsgedanken und Zwangshandlungen und können sich als sehr komplex erweisen. Für die betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie auch für deren Bezugspersonen (insbesondere Eltern, Geschwister) stellt eine Zwangsstörung häufig eine extreme Belastung dar, insbesondere wenn die Zwangssymptomatik täglich sehr zeitintensiv ist oder wenn Familienmitglieder in die Durchführung von Zwangssymptomen eingebunden sind. So kann es zu starker Verzweiflung, aber auch Aggressionen im Familiensystem infolge der Zwangssymptomatik eines Kindes kommen. Neben deutlichen Beeinträchtigungen im Familiensystem ist die Zwangsstörung eines Kindes oder Jugendlichen häufig auch mit Beeinträchtigungen schulischer oder beruflicher Beziehungen, Gleichaltrigen- oder auch Paarbeziehungen verbunden.

Die in den letzten Jahrzehnten erlangten Erkenntnisse der empirischen Forschung, insbesondere bezüglich Ätiologie, Diagnostik und Behandlung juveniler Zwangsstörungen, haben zu einer Verbesserung der therapeutischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Zwangsstörungen geführt. Einen Beitrag zu einer verbesserten therapeutischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Zwangsstörungen zu leisten, hat sich der vorliegende Leitfaden als Ziel gesetzt. Er stellt das Ergebnis einer langjährigen wissenschaftlichen und klinischen Arbeit der Autoren dar und kann als Grundlage für die Durchführung evaluierter diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen dienen. An dieser Stelle möchten die Autoren nicht versäumen, Frau Dr. Sabine Mogwitz für ihre hervorragende Mitarbeit zu danken. Er basiert auf den national und international anerkannten Leitlinien zur Diagnose und Behandlung von Zwangsstörungen der American Academy of Child and Adolescent Psychiatry (AACAP, 2012), des National Institute for Health and Care Excellence (NICE, 2005); der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, der Bundesarbeitsgemeinschaft Leitender Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie und dem Berufsverband der Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (2007) sowie auch der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN, 2013).

|VI|Der Leitfaden ist in insgesamt fünf Kapitel gegliedert:

1 Im ersten Teil des Buches ist der Stand der Forschung bezüglich der Symptomatik, Definition und Klassifikation, der Epidemiologie, der Differenzialdiagnose und Komorbidität, der Pathogenese, des Verlaufs und der Therapie in den für die Formulierung der Leitlinien relevanten Aspekten zusammenfassend beschrieben.

2 Im zweiten Teil sind die insgesamt 14 Leitlinien zu folgenden Bereichen formuliert und ihre Umsetzung in die Praxis dargestellt:

• Diagnostik und Verlaufskontrolle,

• Behandlungsindikationen,

• Therapie.

3 Im dritten Kapitel sind Verfahren kurz und prägnant beschrieben, die für die Diagnostik, die Verlaufskontrolle und die Behandlung angewandt werden können.

4 Das vierte Kapitel beinhaltet Materialien zur Diagnostik und Verlaufskontrolle sowie zur Therapie und erleichtert damit die Umsetzung der Leitlinien in die konkrete klinische Praxis.

5 Im fünften Kapitel ist mittels eines Fallbeispieles die Umsetzung der Leitlinien in die klinische Praxis abschließend illustriert. Die Darstellung orientiert sich an den Gliederungspunkten des Antragsverfahrens für Psychotherapie im Rahmen der gesetzlichen Krankenversorgung.

Zur leichteren Lesbarkeit wird im gesamten Leitfaden (außer in der Fallbeschreibung) das generische Maskulinum verwendet.

Dieser Band wird durch einen kompakten Ratgeber Zwangsstörungen (Goletz et al., 2018) ergänzt, der Informationen für Betroffene, Eltern, Erzieher, Lehrer und Ausbilder beinhaltet. Der Ratgeber informiert über die Symptomatik, die Ursachen, den Verlauf und die Behandlungsmöglichkeiten bei Zwangsstörungen. Die Eltern, Lehrer und Erzieher erhalten konkrete Ratschläge und Anleitungen zum Umgang mit der Problematik in der Familie, in der Schule und im Kindergarten. Jugendlichen werden Ratschläge und Anleitungen zur Selbsthilfe gegeben.

Köln und Dresden, Februar 2018

Hildegard Goletz, Manfred Döpfner

und Veit Roessner

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Grundlagen und Aufbau des Buches

1 Stand der Forschung

1.1 Symptomatik, Definition und Klassifikation

1.2 Epidemiologie

1.3 Komorbide Störungen

1.4 Pathogenese

1.5 Verlauf

1.6 Therapie

1.6.1 Kognitive Verhaltenstherapie

1.6.2 Pharmakotherapie

1.6.3 Alternative Therapieansätze

2 Leitlinien

2.1 Leitlinien zur Diagnostik und Verlaufskontrolle

2.1.1 Exploration des Patienten, seiner Eltern und Erzieher/Lehrer/Ausbilder, gegebenenfalls auch anderer Familienangehöriger

2.1.2 Fragebogen- und Beobachtungsverfahren zur Verhaltens- und Psychodiagnostik

2.1.3 Ergänzende psychologische Diagnostik

2.1.4 Somatische Diagnostik

2.1.5 Bedingungsanalyse

2.1.6 Integration der Ergebnisse der multimodalen Diagnostik, Definition der Behandlungsziele und Therapieplanung

2.1.7 Verlaufskontrolle und Qualitätssicherung

2.2 Leitlinien zu Behandlungsindikationen

2.2.1 Indikationen für die Wahl des Interventionssettings

2.2.2 Indikationen für eine multimodale Behandlung

2.3 Leitlinien zur Therapie

2.3.1 Psychoedukation des Kindes/Jugendlichen, der Eltern, der Erzieher/Lehrer/Ausbilder, gegebenenfalls auch anderer Bezugspersonen

2.3.2 Familienzentrierte Interventionen

2.3.3 Kognitiv-behaviorale Therapie des Kindes/Jugendlichen

2.3.4 Erzieher-/schul-/ausbildungszentrierte Interventionen, gegebenenfalls auch anderer Bezugspersonen des sozialen Umfeldes

2.3.5 Medikamentöse Behandlung

3 Verfahren zur Diagnostik und Therapie

3.1 Verfahren zur Diagnostik und Verlaufskontrolle bei Zwangsstörungen

3.1.1 DCL-ZWA – Diagnose-Checkliste für Zwangs-Spektrum-Störungen

3.1.2 CY-BOCS-D – Deutsche Fassung der Children’s Yale Brown Obsessive-Compulsive Scale

3.1.3 ZWIK-S/-E – Zwangsinventar für Kinder und Jugendliche

3.1.4 FBB-ZWA/SBB-ZWA – Fremdbeurteilungsbogen/Selbstbeurteilungsbogen für Zwangs-Spektrum-Störungen

3.1.5 EAZ-Zwangsstörungen – Allgemeines Explorationsschema für Zwangsstörungen

3.1.6 FABS – Familien-Anpassungs-und-Belastungs-Skala – Kind

3.1.7 FKAU-Z – Fragebogen zu Kausalattributionen bei Zwangsstörungen

3.1.8 FKON-Z – Fragebogen zu Kontrollattributionen bei Zwangsstörungen

3.2 Verfahren zur Therapie bei Kindern und Jugendlichen mit Zwangsstörungen

3.2.1 Zwangsstörungen. Ein Therapieprogramm für Kinder und Jugendliche mit Angst- und Zwangsstörungen (THAZ – Zwangsstörungen)

3.2.2 Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Ein Therapiemanual

3.2.3 Kognitive Verhaltenstherapie bei Zwangsstörungen. Ein Therapiemanual

3.2.4 Zwangsstörungen. Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Behandlungsmanual

4 Materialien

5 Fallbeispiel

6 Literatur

|1|1 Stand der Forschung

1.1 Symptomatik, Definition und Klassifikation

„Mama, ich möchte das Buch von gestern wieder lesen.“ Der Wunsch eines Dreijährigen, an mehreren aufeinanderfolgenden Abenden dasselbe Buch vorgelesen zu bekommen, stellt ein Entwicklungsritual des Kindesalters dar. Das Auftreten von Entwicklungsritualen, magischem Denken und abergläubischer Verhaltensweisen („Wenn ich mein Kuscheltier zur Klassenarbeit mitnehme, wird alles gut“) charakterisiert eine normale soziale und emotionale kindliche Entwicklung (vgl. Kap. 2.1.1.2). Überdies können Kinder und Jugendliche zwanghafte Tendenzen zeigen, z. B. durch mehrmaliges Ziehen an dem Kettenschloss die wiederholte Kontrolle, ob dieses richtig geschlossen ist. Wenn der Zeitaufwand für die Durchführung gering ist und dadurch keine Funktionseinschränkungen im Alltag und auch kein Leidensdruck beim Kind oder Jugendlichen (oder seiner Bezugspersonen) ausgelöst werden, dann weisen diese zwanghaften Tendenzen aber keinen Krankheitswert auf (vgl. Kap. 2.1.1.2).

Eine Zwangsstörung weist gemäß den Internationalen Klassifikationssystemen ICD-10 (Weltgesundheitsorganisation, Dilling et al., 2016, 2015) und DSM-5 (American Psychiatric Association/Falkai et al., 2015) als wesentliche Kennzeichen wiederkehrende Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen auf:

Zwangsgedanken (obsessions) sind Ideen, (bildhafte) Vorstellungen oder Impulse (Gedanken mit starker Handlungsaufforderung), die sich dem Betroffenen aufdrängen (als intrusiv erlebt werden) und ihn immer wieder stereotyp beschäftigen. Sie sind fast immer quälend, weil sie ängstigend, scham- oder ekelbesetzt sind, als ungewollt und sinnlos erlebt werden und weil der Betroffene erfolglos versucht, Widerstand zu leisten, oder weil sie einen gewalttätigen oder obszönen Inhalt haben. Der Betroffene versucht, solche Gedanken zu ignorieren, abzuwehren (z. B. durch Vermeidung potenzieller Trigger), zu unterdrücken oder sie mit Hilfe anderer Gedanken oder Handlungen auszuschalten. Sie werden jedoch als eigene Gedanken erlebt, selbst wenn sie als unwillkürlich, abstoßend oder unannehmbar empfunden werden.

Zwangshandlungen (compulsions) sind wiederholte, zweckmäßige und beabsichtigte beobachtbare Verhaltensweisen oder mentale Handlungen, die häufig auf einen Zwangsgedanken hin nach bestimmten streng zu befolgenden Regeln oder in stereotyper Form ausgeführt werden. Das Verhalten bzw. die mentale Handlung dient meist dazu, Unbehagen zu reduzieren oder schreckliche Ereignisse bzw. Situationen unwirksam zu machen bzw. zu verhindern. Dem Verhalten liegt also eine Furcht vor einer Gefahr zugrunde, die den Betroffenen bedroht oder von ihm ausgeht. Der Betroffene sieht im Allgemeinen ein, dass sein Verhalten bzw. seine mentale Handlung übertrieben oder unvernünftig ist. Der Betrof|2|fene hat keine Freude am Ausführen der Handlung, obwohl sie zu einer Spannungsreduktion führt. Kann eine Zwangshandlung nicht adäquat durchgeführt werden, so führt dies zu einem Anstieg von Anspannung, Angst, Scham, Ekel oder Nicht-genau-richtig-Erleben.

Diese Definition beinhaltet, dass ausschließlich wiederkehrende Gedanken, die unangenehme Emotionen auslösen, als Zwangsgedanken bezeichnet werden. Im Gegensatz dazu sind Gedanken, die zur Verminderung dieser unangenehmen Emotionen eingesetzt werden, als mentale oder verdeckte Zwangshandlungen definiert. Die synonymen Bezeichnungen der mentalen Zwangshandlungen als Gedankenzwänge, kognitive Rituale oder neutralisierende Zwangsgedanken bezüglich ihrer diagnostischen Einordnung (als Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen) können Unklarheit hervorrufen und spiegeln die Uneinheitlichkeit in der deutschsprachigen Literatur wider. Unabhängig davon werden diese neutralisierenden Gedanken gemäß der S3-Leitlinie Zwangsstörungen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (2013) den Zwangshandlungen zugeordnet.

Zwangshandlungen haben entweder überhaupt keinen inhaltlichen Bezug zu den Befürchtungen und den diesen häufig vorausgehenden Zwangsgedanken (z. B. „Ich muss meine Schulsachen kontrollieren, damit meiner Mutter nichts Schlimmes passiert“) oder sie sind deutlich übertrieben (z. B. 60-minütiges Duschen bei Kontaminationsängsten). Dieser Zusammenhang von Zwangsgedanken und Zwangshandlungen kann jedoch im Verlauf einer Zwangsstörung schwinden, so dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen dann keine Zwangsgedanken mehr benennen können und die Durchführung der Zwangshandlungen automatisiert erfolgt. Überdies ist auch ein Verlust der spannungsreduzierenden Funktion der Zwangshandlungen möglich (Niedermeier & Zaudig, 2002).

Zwangsstörungen erweisen sich als äußerst vielgestaltig. Am häufigsten werden bei Kindern und Jugendlichen multiple Zwangsgedanken und Zwangshandlungen beschrieben, während ausschließliche Zwangsgedanken oder ausschließliche Zwangshandlungen seltener auftreten (z. B. American Academy of Child and Adolescent Psychiatry (AACAP), 2012; Jans et al., 2007). Alleinige Zwangshandlungen werden häufiger von Kindern als von Jugendlichen benannt (Geller et al., 1998b). Tabelle 1 gibt eine Übersicht über die häufigsten Zwangshandlungen und Zwangsgedanken. Beispiele für typische Inhalte von Zwangsgedanken im Kindes- und Jugendalter sind in Tabelle 2 aufgeführt. Geller und Kollegen (2001a) zeigten eine höhere Anzahl aggressiver Zwangsgedanken (einschließlich befürchteter katastrophaler Ereignisse, wie Tod oder Krankheit bezüglich sich selbst oder einer Bezugsperson) bei Kindern (63 %) und Jugendlichen (69 %) mit Zwangsstörungen als bei erwachsenen Zwangspatienten (31 %) auf. Demgegenüber gaben die Jugendlichen (36 %) im Vergleich zu den Kindern (15 %) und Erwachsenen (10 %) häufiger religiöse Zwangsgedanken an. Überdies wiesen die Kinder (18 %) gegenüber den |3|Jugendlichen (6 %) und Erwachsenen (6 %) weniger Einsicht in ihre Zwangssymptomatik auf.

Tabelle 1: Häufigkeit verschiedener Formen juveniler Zwangsstörungen (Geller et al., 1998b)

Zwangsgedanken

Kontamination

32–87 %

Sich selbst oder anderen Schaden zufügen

12.5–81 %

Körperbezogene Inhalte

3–38 %

Horten/Sammeln

10–36 %

Religiöse Inhalte

4.2–29 %

Sexuelle Inhalte

4–27 %

Andere Gedanken

10–55 %

Zwangshandlungen

Waschen/Reinigen

38–85 %

Wiederholen

5–76 %

Kontrollieren

20–73 %

Ordnen/Arrangieren

17–62 %

Zählen

14–42 %

Horten/Sammeln

3–42 %

Andere Handlungen

26–53 %

Tabelle 2: Typische Inhalte von Zwangsgedanken bei Kindern und Jugendlichen

Inhalt des Zwangsgedankens

Beispiel(e)

Kontamination

„Ich könnte schmutzig sein und mein Bett schmutzig machen.“

„Die war bestimmt dreckig, wer weiß, was da alles dran ist.“

„Jetzt ist meine Hand von dem dreckigen Stift auch dreckig geworden.“

„Vielleicht habe ich etwas Dreckiges angefasst und dies gelangt jetzt in meinen Körper und ich könnte daran erkranken.“

„Wenn ich den jetzt anziehe, werde ich auch ekelig und mein Bakterienschleier wird dicker.“

Sich selbst oder anderen Schaden zufügen

„Ich könnte mich oder andere Personen verletzen.“

„Ich darf dem Tisch nicht den Atem stehlen, sonst stirbt der Tisch und ich bin Schuld“.

|4|Aggressive Themen

„Es könnte mich jemand umbringen oder ich könnte meinen Charakter verändern“.

„Meiner Mama könnte etwas Schlimmes passieren.“

„Hoffentlich passiert uns nicht wieder etwas Schlimmes“.

„Könnte ich mich jetzt mit Fuchsbandwurm angesteckt haben?“; „Was hat die Pflanze alles berührt?“

Körperbezogene Inhalte

„Ich könnte krank werden.“

Horten/Sammeln

„Ich kann dies nicht wegwerfen, da dies ein Teil von mir ist.“

Religiöse Inhalte

„Ich habe gesündigt und gehöre dadurch nicht zu den Auserwählten, die zu Gott kommen.“

„Wenn ich die Akten nicht mehrmals sortiere, komme ich in die Hölle.“

Sexuelle Inhalte

„Ich habe Sex mit meinem Vater.“

„Hoffentlich habe ich kein sexuelles Gefühl, wenn ich ein Kind sehe oder an eins denke.“

Symmetriedrang (Bedürfnis)

„Die Schuhe müssen genau nebeneinanderstehen.“

„Liegen meine Schulsachen symmetrisch auf dem Tisch?“

Drang etwas zu sagen, zu fragen oder zu beichten (eingestehen)

„Ich muss auf bestimmte Art ‚Gute Nacht‘ sagen“.

„Ich muss mich für alles, was ich heute falsch gemacht habe, entschuldigen.“

In einer Metaanalyse zur Identifikation von Zwangssymptomdimensionen haben Bloch und Kollegen (2008) bei Kindern und Jugendlichen die Symptomdimensionen „Zwangsgedanken zu Symmetrie sowie Kontroll-, Wiederholungs-, Ordnungs- und Zählzwänge“, „Reinigungszwänge und Zwangsgedanken bezüglich Kontamination und somatische Zwangsgedanken“, „Zwangsgedanken zu Horten und Sammelzwänge“ und „Aggressive, sexuelle und religiöse Zwangsgedanken“ herausgearbeitet. Diese Symptomdimensionen wichen nur geringfügig von jenen für das Erwachsenenalter identifizierten Symptomdimensionen ab (z. B. Bloch et al., 2008).

Ein Vergleich der Manifestationsformen zwischen jüngeren und älteren Kindern zeigt in beiden Altersgruppen eine ähnlich hohe allgemeine Schwere der Zwangssymptomatik (z. B. Geller et al., 2001a; Nakatani et al., 2011; Selles et al., 2014). In der Studie von Selles und Kollegen (2014) gaben die älteren Kinder (10- bis 18-Jährige) mehr Zählzwänge und magische kognitive Rituale an, wohingegen jüngere Kinder (3- bis 9-Jährige) häufiger Horten/Sammeln berichteten. Möglicherweise unterscheiden sich jüngere von älteren Kindern mit Zwangsstörungen über|5|dies auch hinsichtlich des Auftretens komorbider Störungen (Selles et al., 2014; vgl. auch Kap. 1.2). Des Weiteren gibt es Anhaltspunkte dafür, dass Kinder und Jugendliche mit einem frühen Erstmanifestationsalter der Zwangsstörung (<10 Jahre) von Kindern und Jugendlichen mit einem späteren Erstmanifestationsalter (> = 10 Jahre) bezüglich Zwangsinhalten und Komorbiditäten differieren (Nakatani, et al., 2011; vgl. auch Kap. 1.2).

Für das Kindes- und Jugendalter sowie für das Erwachsenenalter gelten sowohl gemäß der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10; Weltgesundheitsorganisation, Dilling et al., 2016, 2015) als auch gemäß dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-5; American Psychiatric Association/Falkai et al., 2015) dieselben Diagnosekriterien. Diese sind in Tabelle 3 dargestellt.

Während in der ICD-10 die Zwangsstörungen in die neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen eingruppiert sind, liegt im DSM-5 eine eigene Kategorie Zwangsstörung und verwandte Störungen vor. In dieser neuen Kategorie des DSM-5 werden Diagnosen zusammengefasst, die phänomenologisch eine gewisse Nähe zu Zwangsstörungen aufweisen. Diese werden auch als Zwangs-Spektrum-Störungen bezeichnet (z. B. Hartmann & Wilhelm, 2013).

Diese verwandten Störungen des DSM-5 umfassen

die Körperdysmorphe Störung,

das Pathologische Horten,

die Trichotillomanie (Pathologisches Haareausreißen),

die Dermatillomanie (Pathologisches Hautzupfen),

die Substanz-/Medikamenteninduzierte Zwangsstörung und Verwandte Störungen,

die Zwangsstörung und Verwandte Störungen aufgrund eines Anderen Medizinischen Krankheitsfaktors,

die Andere Näher Bezeichnete Zwangsstörung und Verwandte Störungen,

die Nicht Näher Bezeichnete Zwangsstörung und Verwandte Störungen.

|6|Tabelle 3: Diagnostische Kriterien einer Zwangsstörung nach ICD-10 (Weltgesundheitsorganisation, Dilling et al., 2016, 2015) und DSM-5 (American Psychiatric Association/Falkai et al., 20151)

ICD-10 (F42)

DSM-5

Symptomatologie

A. Entweder Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen (oder beides) an den meisten Tagen über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen.

A. Entweder Zwangsgedanken, Zwangshandlungen oder beides:

Zwangsgedanken, wie durch (1) und (2) definiert:

B. Die Zwangsgedanken (Ideen oder Vorstellungen) und Zwangshandlungen zeigen sämtliche folgenden Merkmale:

sie werden als eigene Gedanken/Handlungen von den Betroffenen angesehen und nicht als von anderen Personen oder Einflüssen eingegeben;

sie wiederholen sich dauernd und werden als unangenehm empfunden, und mindestens ein Zwangsgedanke oder eine Zwangshandlung werden als übertrieben und unsinnig anerkannt;

Immer wiederkehrende und anhaltende Gedanken, Impulse oder Vorstellungen, die im Krankheitsverlauf mindestens zeitweilig als aufdringlich und ungewollt empfunden werden, und die meist ausgeprägte Angst und großes Unbehagen hervorrufen.

Die Person versucht, diese Gedanken, Impulse oder Vorstellungen zu ignorieren oder zu unterdrücken oder sie mithilfe anderer Gedanken oder Tätigkeiten zu neutralisieren (z. B. durch die Ausführung einer Zwangshandlung).

3. die Betroffenen versuchen, Widerstand zu leisten (bei lange bestehenden Zwangsgedanken und Zwangshandlungen kann der Widerstand allerdings sehr gering sein). Gegen mindestens einen Zwangsgedanken oder eine Zwangshandlung wird gegenwärtig erfolglos Widerstand geleistet;

4. die Ausführung eines Zwangsgedankens oder einer Zwangshandlung ist für sich genommen nicht angenehm (dies sollte von einer vorübergehenden Erleichterung von Spannung und Angst unterschieden werden).

Zwangshandlungen sind durch (1) und (2) definiert:

Wiederholte Verhaltensweisen (z. B. Händewaschen, Ordnen, Kontrollieren) oder mentale Handlungen (z. B. Beten, Zählen, Wörter lautlos wiederholen), zu denen sich die Person als Reaktion auf einen Zwangsgedanken oder aufgrund von streng zu befolgenden Regeln gezwungen fühlt,

Die Verhaltensweisen oder die mentalen Handlungen dienen dazu, Angst oder Unbehagen zu verhindern oder zu reduzieren oder gefürchteten Ereignissen oder Situationen vorzubeugen; diese Verhaltensweisen oder mentalen Handlungen stehen jedoch in keinem realistischen Bezug zu dem, was sie zu neutralisieren oder zu verhindern versuchen, oder sie sind deutlich übertrieben.

Beachte: Kleine Kinder könnten noch nicht in der Lage sein, den Zweck dieser Verhaltensweisen oder mentalen Handlungen auszudrücken.

|7|Symptomatologie

C. Die Betroffenen leiden unter den Zwangsgedanken und Zwangshandlungen oder werden in ihrer sozialen oder individuellen Leistungsfähigkeit behindert, meist durch den besonderen Zeitaufwand.

B. Die Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen sind zeitintensiv (sie beanspruchen z. B. mehr als 1 Stunde pro Tag) oder verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

D. Häufigstes Ausschlusskriterium: Die Störung ist nicht bedingt durch eine andere psychische Störung, wie Schizophrenie und verwandte Störungen (F20-F29) oder affektive Störungen (F30-F39).

C. Die Symptome der Zwangsstörungen sind nicht Folge der physiologischen Wirkung einer Substanz (z. B. Substanz mit Missbrauchspotenzial, Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors.

D. Die Symptome werden nicht besser durch das Vorliegen einer anderen psychischen Störung erklärt (z. B. exzessive Sorgen, wie bei der Generalisierten Angststörung; übermäßige Beschäftigung mit dem äußeren Erscheinungsbild, wie bei der Körperdysmorphen Störung; Schwierigkeiten, Gegenstände auszusondern oder sich von diesen zu trennen, wie beim Pathologischen Horten; Haareausreißen, wie bei der Trichotillomanie [Pathologisches Haareausreißen]; Hautzupfen/-quetschen, wie bei der Dermatillomanie; Stereotypien, wie bei der Stereotypen Bewegungsstörung; ritualisiertes Essverhalten, wie bei Essstörungen; übermäßige Beschäftigung mit Substanzen oder Glücksspielen, wie bei den Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen und abhängigen Verhaltensweisen; übermäßige Beschäftigung, eine Krankheit zu haben, wie bei der Krankheitsangststörung; sexuelle dranghafte Bedürfnisse und Fantasien, wie bei der Paraphilie; Impulsdurchbrüche, wie bei den disruptiven, Impulskontroll- und Sozialverhaltensstörungen; Grübeln über Schuld, wie bei einer Major Depression; Gedankeneingebung oder Wahn, wie bei einer Störung aus dem Schizophrenie-Spektrum oder anderen psychotischen Störungen; oder stereotyp wiederholten Verhaltensmustern, wie bei der Autismus-Spektrum-Störung).

|8|Subformen

Die Diagnose kann mit der folgenden vierten Stelle differenziert werden:

F42.0 vorwiegend Zwangsgedanken und Grübelzwang

F42.1 vorwiegend Zwangshandlungen (Zwangsrituale)

F42.2 Zwangsgedanken und –handlungen, gemischt

F42.8 sonstige Zwangsstörungen

F42.9 nicht näher bezeichnete Zwangsstörung

Spezifizierung

Bestimme, ob:

Mit Guter oder Angemessener Einsicht: Die Person erkennt, dass die zwangsbezogenen Überzeugungen definitiv nicht, wahrscheinlich nicht oder möglicherweise nicht zutreffen.

Mit Wenig Einsicht: Die Person denkt, dass die zwangsbezogenen Überzeugungen wahrscheinlich zutreffen.

Mit Fehlender Einsicht/Wahnhaften Überzeugungen: Die Person ist vollkommen davon überzeugt, dass die zwangsbezogenen Überzeugungen zutreffen.

Bestimme, ob:

Tic-Bezogen: Die Person weist gegenwärtig oder in der Vorgeschichte eine Tic-Störung auf.

In Bezug auf die Zwangsstörungen unterscheiden sich beide Klassifikationssysteme hinsichtlich des Zeitkriteriums. Während in der ICD-10 Zwangssymptome an den meisten Tagen über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen vorliegen müssen, gibt das DSM-5 zeitintensive Zwangssymptome von beispielsweise täglich mehr als einer Stunde vor. Weitere Divergenzen betreffen Widerstand und Einsichtsfähigkeit. Das in der ICD-10 für die Diagnose erforderliche Widerstandsbemühen ist im DSM-5 kein Kriterium für eine Diagnose. Die Einsichtsfähigkeit in die Übertriebenheit bzw. Sinnlosigkeit der Zwangssymptomatik ist in der ICD-10 ein notwendiges, im DSM-5 hingegen kein notwendiges Diagnosekriterium. Die im DSM-5 diesbezüglich geforderten Spezifizierungen „mit guter oder angemessener Einsicht“, „mit wenig Einsicht“ oder |9|„mit fehlender Einsicht/mit wahnhaften Überzeugungen“ berücksichtigen die mangelnde Einsicht mancher Kinder in ihre Zwangssymptomatik (insbesondere auch aufgrund ihres jeweiligen kognitiven Entwicklungsstandes), aber auch von Jugendlichen (z. B. Geller et al., 2001a; Lewin et al., 2010) und Erwachsener (z. B. Alonso et al., 2008; Bellino et al., 2005). Dadurch kann sich die Abgrenzung zu psychotischen Störungen als schwieriger gestalten. Da Kinder und Jugendliche mit Zwangsstörungen ohne sowie mit komorbiden Tics möglicherweise bezüglich der Phänomenologie und des Verlaufs der Zwangssymptomatik sowie ihrer familiären Transmission differieren (z. B. Roessner & Rothenberger, 2007), ermöglicht das DSM-5 eine Spezifizierung hinsichtlich des aktuellen oder früheren Vorliegens einer Tic-Störung. Die ICD-10 beinhaltet die Diagnose von Zwangsstörungs-Subtypen: (1) Zwangsstörung mit vorwiegend Zwangsgedanken, (2) mit vorwiegend Zwangshandlungen und (3) mit Zwangsgedanken und -handlungen gemischt. Unter Berücksichtigung der Zuordnung der mentalen Rituale zu den Zwangshandlungen kann das Vorliegen ausschließlicher Zwangsgedanken bei Personen mit Zwangsstörungen jedoch sehr selten empirisch nachgewiesen werden (Williams et al., 2011).

Sowohl Zwangsgedanken als auch -handlungen können täglich stundenlang anhalten. Zwangsstörungen können erhebliches Leiden verursachen, zeitraubend sein oder den normalen Tagesablauf, die schulischen (z. B. Ledley & Pasupuleti, 2007; siehe auch Fischer-Terworth, 2010) und beruflichen Leistungen, die Freizeitaktivitäten und Gleichaltrigenbeziehungen (z. B. Allsopp & Verduyn, 1990; Piacentini et al., 2003) sowie das Familiensystem (z. B. Farrell & Barrett, 2007; Murphy & Flessner, 2015) beeinträchtigen. Für Eltern und Geschwister erweisen sich Zwangsstörungen häufig als extrem belastend. So können beispielsweise Wasch-, Reinigungs-, Kontroll-, Wiederholungs-, Berührungs- oder Ordnungszwänge, welche die einzelnen Familienmitglieder behindern bzw. einschränken, sowie nicht enden wollende Frage- und Rückversicherungszwänge, aber auch Aggressionen die Familie zur Verzweiflung bringen. In vielen Familien wird das alltägliche Leben völlig auf den Kopf gestellt. Häufig konzentriert sich alles auf das betroffene Kind. So fühlen sich Geschwisterkinder häufig vernachlässigt, und ein „zwangsfreies“ Familienleben ist kaum mehr möglich. Familien bemühen sich vorwiegend darum, sich an den von der Zwangsstörung des Kindes dominierten Familienalltag anzupassen (family accommodation), indem sie aus Hilflosigkeit heraus eigene Regeln entwickeln. So können sie beispielsweise die Zwangssymptome des Kindes passiv ertragen. Sie können sich aber auch direkt oder indirekt in die Zwangssymptomatik einbinden lassen (Farrell & Barrett, 2007). Eine direkte Einbindung beinhaltet die aktive Unterstützung des betroffenen Kindes bei der Durchführung seiner Zwänge, z. B. Begleitung eines Waschvorgangs durch Mitwaschen, Mitzählen, Handtücher anreichen usw., bestimmte Wege gehen, um sie für das Kind zu reinigen oder wiederholte Beantwortung von Fragen oder |10|Rückversicherungen-Geben. Überdies können Eltern oder Geschwister Lichtschalter für das betroffene Kind betätigen oder auch Türen öffnen bzw. aktiv das Kind bei der Durchführung von Zwangssymptomen unterstützen. Bemühen sich Familienmitglieder, sich der Einbindung in die Zwangssymptomatik zu widersetzen, ist dies häufig mit endlosen Diskussionen und gegenseitigen Aggressionen verbunden. Die Einbindung kann auch indirekt erfolgen, indem zwangsauslösende Situationen durch Familienmitglieder vermieden werden, z. B. das Nicht-Berühren mancher Gegenstände, das Nicht-Einschalten des Fernsehers oder Radios zur Vermeidung bestimmter gesprochener Worte oder das Nicht-Betreten des Zimmers des betroffenen Kindes (vgl. Döpfner, 1999).

1.2 Epidemiologie

Im Kindes- und Jugendalter werden für Zwangsstörungen Prävalenzraten von 0.1 % bis 3.6 % angegeben. Die epidemiologischen Studien ergaben geringere Häufigkeiten bei Kindern als bei Jugendlichen (Canals et al., 2012). So zeigen 0.026 % der 5- bis 7-Jährigen (Heyman et al., 2001), 0.2 % der 6- bis 7-Jährigen (Carter et al., 2010), 0.14 % der 8- bis 10-Jährigen (Heyman et al., 2001) und 1.8 % der 8- bis 12-Jährigen (Canals et al., 2012) Zwangsstörungen. Im Jugendalter betragen die Prävalenzraten 1 % (Flament et al., 1988) bis 3.6 % (Zohar et al., 1992). Bei 18-Jährigen ergibt sich eine Prävalenzrate von 4 % (Douglass et al., 1995). Dabei sind (potenziell) steigende Prävalenzzahlen von Zwangsstörungen in den letzten beiden Jahrzehnten zu berücksichtigen (Atladottir et al., 2015 mit Untersuchungen in Dänemark, Finnland und Schweden). Überdies ist auch miteinzubeziehen, dass Zwangsstörungen (als „verheimlichte“ Störungen) potenziell unterdiagnostiziert werden (Moore et al., 2007). Die Prävalenzrate im Jugendalter ist ähnlich hoch wie im Erwachsenenalter (z. B. Angst et al., 2004; siehe auch Abramowitz, 2006a; Zaudig, 2002). Die meisten erwachsenen Zwangspatienten (mehr als 80 %) berichten über einen Störungsbeginn bereits im Kindes- und Jugendalter (z. B. Nestadt et al., 2000). In den Studien von Canals und Kollegen (2012) sowie Valleni-Basile und Kollegen (1994) wiesen 5.5 % bzw. 19.3 % der untersuchten Kinder und Jugendlichen subklinische Zwangssymptome auf.

Bezüglich des Erstmanifestationsalters deuten bisherige Studien auf eine bimodale Verteilung mit einem Störungsgipfel bei 10 bis 11 Jahren (Range: 6 – 14 Jahre, Garcia et al., 2009) und einem weiteren bei 21 bis 23 Jahren hin (Delorme et al., 2004; Geller et al., 1998b). Der früheste berichtete Störungsbeginn beträgt 2 Jahre (Garcia et al., 2009).

Trotz der Heterogenität der bisherigen Studienergebnisse gibt es Anhaltspunkte dafür, dass im Kindesalter bei Jungen eine höhere Rate von Zwangsstörungen als bei Mädchen (3:2) vorliegt (z. B. Geller, 2006), |11|während im Jugendalter (Valleni-Basile et al., 1994) sowie im Erwachsenenalter (Abramowitz, 2006a; Zaudig, 2002) eine ungefähre Gleichverteilung der Geschlechter oder eine leicht höhere Rate beim weiblichen Geschlecht besteht. In einigen Studien wurde bei Jungen ein früherer Störungsbeginn beschrieben (z. B. Hanna, 1995; Ruscio et al., 2010; Swedo et al., 1989b).

1.3 Komorbide Störungen

Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter sind häufig mit anderen psychischen Störungen assoziiert. Den Übersichtsarbeiten von Geller und Kollegen (1998a) sowie Wewetzer und Klampfl (2004) zufolge weisen ca. 62 % bis 97 % der Kinder und Jugendlichen mit einer Zwangsstörung mindestens eine komorbide Störung auf. Die häufigsten komorbiden Störungen beinhalten Angststörungen, depressive Störungen, Tic-Störungen, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen und Störung des Sozialverhaltens sowie mit zunehmendem Alter auch Persönlichkeitsstörungen (vgl. Tab. 4; siehe auch Jans et al., 2007). Bezüglich der differenzialdiagnostischen Abgrenzung der Zwangsstörung gegenüber anderen Störungen wird auf Kapitel 2.1.1.1 verwiesen.

Tabelle 4: Häufigkeit komorbider Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit Zwangsstörungen (Geller et al., 1998a; Reddy et al., 2001; Riddle et al., 1990b; Swedo et al., 1989b; Thomsen, 1999).

Komorbide Störungen

Häufigkeit

Angststörungen

13–70 %

Depression

8–73 %

Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen und oppositionelle/dissoziale Störungen

3–57 %

Essstörungen

12–35 %

Tic-Störungen

13–60 %

Asperger-Syndrom

0–10 %

Sprach-/Entwicklungsstörungen

13–27 %

Selektiver Mutismus

0–15 %

Enuresis

7–37 %

Somatoforme Störungen

6 %

Substanzmissbrauch

1 %

Zwanghafte Persönlichkeitsstörung

11–14 %

|12|1.4 Pathogenese

Aufgrund der bisherigen Befundlage lässt sich annehmen, dass Zwangsstörungen eine sehr heterogene Störungsgruppe darstellen. In der Hypothese potenzieller Subgruppen manifestieren sich die bislang nachgewiesenen Unterschiede bezüglich des Erstmanifestationsalters, der Phänomenologie, des Verlaufes und der Prognose (vgl. auch Kap. 1.1 bis 1.3 und 1.5). Die Ätiologie und Pathogenese der Zwangsstörung sind bisher lediglich in Ansätzen ergründet. Die Heterogenität dieser Störung legt multifaktorielle Ursachen nahe, in denen neurobiologische, genetische, neuroanatomische und neurophysiologische, neuroimmunologische, neuropsychologische und psychosoziale Faktoren Berücksichtigung finden (z. B. Abramowitz et al., 2007; Arnold & Richter, 2007; Larson et al., 2007; Rosenberg et al., 2007).

Genetische Faktoren

Generell zeigen die Ergebnisse von Zwillings-, Familien- und anderen Erblichkeitsuntersuchungen konsistent eine deutliche genetische Komponente (Pauls et al., 2014). So weisen Zwillingsstudien auf eine Heritabilität von 45 % bis 65 %, d. h. durch genetische Faktoren oder Gen-Umwelt-Interaktionen bedingte Verursachung der Zwangsstörung bei Kindern und Jugendlichen, hin (van Grootheest et al., 2005). Damit liegt die Heritabilität bei Zwangsstörungen höher als bei anderen internalisierenden Störungsbildern wie z. B. Angststörungen oder Depressionen (McGrath et al., 2012). Analog zu den Ergebnissen bzgl. anderer neurobiologischer Parameter scheint auch bei den früh beginnenden Zwangsstörungen eine höhere genetische Komponente vorzuliegen, d. h. bei Kindern und Jugendlichen ist im Durchschnitt eine höhere Erblichkeit zu beobachten als bei Erwachsenen mit einer Zwangsstörung. Dies erhöht neben anderen Indizien (z. B. PANDAS; siehe Neuroimmunologische Faktoren) die Wahrscheinlichkeit, dass früh beginnende Zwangsstörungen möglicherweise einen eigenen Subtyp darstellen. Die Ergebnisse genomweiter Assoziationsstudien (z. B. Mattheisen et al., 2015) weisen analog zu einer Metaanalyse (Taylor, 2013) zu gefundenen Kandidatengenen – wie bei anderen psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter auch – in Richtung einer polygenetisch bedingten Störung, wobei im Einzelfall viele Gene einen relativ kleinen Effekt für den jeweiligen Phänotyp bedingen. Dabei wurden vor allem Gene mit Effekten auf die serotonerge, dopaminerge und glutamaterge Neurotransmission identifiziert (Pauls et al., 2014). Für neurochemische Veränderungen, vor allem in der Gruppe der frühbeginnenden und mit Tics assoziierten Zwangsstörungen spricht auch die Studie von Skarphedinsson und Kollegen (2015a), die zeigen konnte, dass vor allem in dieser Subgruppe eine medikamentöse Therapie besonders wirksam ist.

|13|Neuroanatomische und neurophysiologische Auffälligkeiten

Pathophysiologische Modelle von Zwangsstörungen fokussieren auf Veränderungen der frontostriatalen Netzwerke. Allerdings mehren sich auch die Autoren, die von keinen nennenswerten neuropsychologischen Defiziten bei Kindern und Jugendlichen mit Zwangsstörungen ausgehen, wobei sie jedoch durch die Limitationen der Studien und deren geringer Anzahl durchaus zur Vorsicht bzgl. dieser Schlussfolgerung mahnen (Abramowitch et al., 2015; siehe Neuropsychologie). Es wird vermutet, dass eine Hyperaktivität des orbitofrontalen Kortex zu persistierenden Befürchtungen hinsichtlich drohender Gefahren bzw. Schadens (d. h. Zwangsgedanken) führt, was wiederum in Versuchen einer Neutralisierung (d. h. Zwangshandlungen) resultiert. Passend dazu zeigen funktionelle Bildgebungsstudien relativ einheitlich eine erhöhte Aktivierung im lateralen und orbitofrontalen Kortex sowohl bei Kindern als auch Erwachsenen mit Zwangsstörungen (Pauls et al., 2014). Allerdings sind – wie bei anderen psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter auch – die Befunde je nach Studienstichprobe (z. B. Alter, Geschlecht, Medikation), Untersuchungsmethode usw. unterschiedlich. Interessanterweise wurde auch bei Verwandten, die selbst nicht von einer Zwangsstörung betroffen waren, aber natürlich durch die Verwandtschaft ein erhöhtes genetisches Risiko aufwiesen, ebenfalls eine solche Dysfunktion im orbitofrontalen Kortex gefunden (Chamberlain et al., 2008). Analog haben Studien zur Behandlung von Patienten mit Zwangsstörungen nach einer kognitiven Verhaltenstherapie eine verminderte Aktivität im orbitofrontalen Kortex nachweisen können (Pauls et al., 2014).

Neuroimmunologische Faktoren

Fast schon eine eigenständige Diskussion zur Ätiologie entwickelte sich in den letzten 10 bis 20 Jahren zur Frage, ob nicht die Zwangsstörung bei einer Subgruppe von Patienten als Folge der Bildung von Autoantikörpern nach einer Infektion mit β-hämolysierenden Streptokokken auftritt. Sogar ein eigenes Akronym wurde eingeführt: PANDAS (paediatric autoimmune neuropsychiatric disorders associated with streptococcus; Swedo et al., 1998), jedoch inzwischen von einigen Autoren auch durch PANS (paediatric acute-onset neuropsychiatric syndrome; Murphy et al., 2014) ersetzt, um den vielen Unklarheiten zu einem wirklichen Kausalzusammenhang zwischen Infektion und Zwangsstörung Rechnung zu tragen. Als besondere Merkmale dieser Untergruppe wurden unter anderem ein plötzlicher Symptombeginn bzw. eine plötzliche Symptomverschlechterung, ein früher Störungsbeginn sowie eine enge Verknüpfung mit Tics (individuell wie familiär) angesehen. Auch scheinen die Kinder und Jugendlichen dieser Subgruppe noch mehr zusätzliche komorbide Symptome und Störun|14|gen aufzuweisen, als die der Nicht-PANDAS-Gruppe. Dazu zählen Tic-Störungen, Enuresis, Impulsivität und motorische Entwicklungsprobleme. Auch wenn – wie erwähnt – kausale Zusammenhänge noch immer eher spekulativ sind, erscheint vielen die Möglichkeit einer kausalen Therapie der Zwangsstörung durch Antibiose, Immodulation bis hin zur Plasmapherese sehr verlockend (Latimer et al., 2015). Gebremst wird die Euphorie vor allem durch Studien, die zeigen, dass diese Subgruppe genauso gut bzw. schlecht auf die Standardtherapie der Zwangsstörungen anspricht (Storch et al., 2006b) und damit eine unwirksame und eventuell sogar nebenwirkungsreiche antibiotische/immunmodulierende Behandlung keinerlei Vorteil, sondern wahrscheinlich nur mehr Risiken bietet. Allerdings sollte die Diskussion zwischen Gegnern und Befürwortern einer antibiotischen PANS/PANDAS-Behandlung die immer noch geringe Evidenz zu einem ursächlichen Zusammenhang berücksichtigen. Gleiches gilt für eine präventive Antibiose z. B. bei erhöhtem familiärem Risiko. Belastbarere Ergebnisse wird künftig vermutlich die European Multicenter Tics in Children Study (EMTICS; Roessner & Hoekstra, 2013) bieten.