Zwei am Puls der Erde - Theresa Leisgang - E-Book
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Theresa Leisgang

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Beschreibung

Eine Reise um die Welt und zu sich selbst

Die Angst vor der Klimakrise überschattet immer mehr ihren Alltag. Deshalb brechen Theresa Leisgang und Raphael Thelen zur größten Reise ihres Lebens auf: von Südafrika bis zum nördlichen Polarkreis, 20.000 Kilometer über Land, einmal quer durch alle Klimazonen. Sie wollen herausfinden: Wie gehen Menschen schon heute mit der Klimakrise um? Und was können wir tun? Doch bald zwingt die Pandemie sie zur Einsicht, dass nicht nur das Klima kollabiert, und die beiden begreifen, dass sie selbst Teil des patriarchalen Systems sind, das so viele globale Krisen verursacht. Ein Weiter-so ist keine Option mehr, stattdessen entdecken sie auf ihrer Reise neue Handlungsmöglichkeiten und kehren schließlich mit einer Antwort zurück, die ihr Leben für immer verändert.

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Eine spannende Dokumentationsreise durch die Klimazonen unserer Erde – und ein Plädoyer für Widerstand und Neuanfang von den preisgekrönten Reporterinnen und Aktivistinnen Theresa Leisgang und Raphael Thelen.

Autorinnen

THERESA LEISGANG ist ausgebildete Journalistin und Campaignerin. Wenn sie recherchiert, wie Ölkonzerne den Amazonas ausplündern, auf der Sea-Watch im Mittelmeer kreuzt oder mit Kapitänin Carola Rackete Positionen zu Klimagerechtigkeit erarbeitet, dann sieht sie darin die vielen Seiten der gleichen Aufgabe: ein gutes Leben für alle auf unserer geteilten Erde.

RAPHAEL THELEN arbeitet als Reporter an den Bruchstellen der Welt, dort, wo die Konturen von Gesellschaften am schärfsten zutage treten, die Grenzen zwischen Privatem und Politischem verschwimmen. Seine Reportagen erschienen im SPIEGEL, der ZEIT, dem SZ MAGAZIN. 2018 veröffentlichte er sein erstes Buch »Die Straße der Träume«.

Das Buch Eine Reise um die Welt und zu sich selbst

Die Angst vor der Klimakrise überschattet immer mehr ihren Alltag. Deshalb brechen Theresa Leisgang und Raphael Thelen zur größten Reise ihres Lebens auf: von Südafrika bis zum nördlichen Polarkreis, 20.000 Kilometer über Land, einmal quer durch alle Klimazonen. Sie wollen herausfinden: Wie gehen Menschen schon heute mit der Klimakrise um? Und was können wir tun? Doch bald zwingt die Pandemie sie zur Einsicht, dass nicht nur das Klima kollabiert, und die beiden begreifen, dass sie selbst Teil des patriarchalen Systems sind, das so viele globale Krisen verursacht. Ein Weiter-so ist keine Option mehr, stattdessen entdecken sie auf ihrer Reise neue Handlungsmöglichkeiten und kehren schließlich mit einer Antwort zurück, die ihr Leben für immer verändert.

»Ein sehr ehrliches Buch und dennoch ermutigend. Klimakrise zum Anfassen.«

Luisa Neubauer, Fridays for Future

THERESA LEISGANGRAPHAEL THELEN

ZWEI AMPULS DERERDE

Eine Reise zu den Schauplätzen der Klimakrise – und warum es trotz allem Hoffnung gibt

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Originalausgabe Mai 2021

Copyright © 2021 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur GmbH

unter Verwendung eines Covermotivs von:

Getty Images/E+/billnoll; FinePic®, München

Redaktion: René Stein

DF | Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27154-1V004

www.arkana-verlag.de

www.kailash-verlag.de

www.mosaik-verlag.de

www.goldmann-verlag.de

Inhalt

Aufbruch

Day Zero

Idai

Kipppunkt

Kollaps

Kompost

Zukunftsmodell

Rebellion

Bewusstseinswandel

Einskommafünf

Weckruf

Heimkehr

Wir danken

Literatur

Allen, die uns Wurzeln geben.

Aufbruch

Wir stehen mit klopfendem Herzen an einer Straßenecke am Brandenburger Tor, und der Tag hält alles bereit, um bald als historisch zu gelten. Seit Stunden schon zieht die Demonstration von Fridays for Future durch Berlin: Schülerinnen, die selbstgemalte Schilder in die Höhe recken und immer wieder skandieren: »We are unstoppable – another world is possible!« Wir sind unaufhaltsam – eine andere Welt ist möglich. Es ist nicht ihre erste Demo, seit Monaten geht das so. Auf unseren Handys taucht die Nachricht auf, dass fast anderthalb Millionen Menschen deutschlandweit protestieren, weltweit gehen noch viele mehr auf die Straßen. Wir beide stehen mittendrin, doppelt so alt wie viele der Demonstrantinnen, und trotzdem ist es überwältigend schön: Endlich passiert etwas. Zeitgleich sitzen im Kanzleramt die Spitzen der Koalitionsparteien zusammen, um über neue Maßnahmen für den Klimaschutz zu beraten, so nah, dass sie die Rufe der Schülerinnen hören müssten – ausreichend Motivation, um die vielen Versprechen der vergangenen Monate einzulösen, die notwendige Politik zu machen, Geschichte zu schreiben: Kohleausstieg, CO₂-Steuer, dreckige Subventionen abbauen, regenerative Energien ausbauen, und zwar in Deutschland, Verkehrswende, Tempolimit auf Autobahnen, fahrradfreundliche Städte, Förderung regenerativer Landwirtschaft, Auflagen für den Bausektor, mehr Mittel für Anpassungsmaßnahmen im Globalen Süden. Dann kommt die nächste Nachricht aufs Handy. Das sogenannte Klima-Paket sei verabschiedet, die Maßnahmen lesen sich wie ein schlechter Witz, völlig unzureichend, um das Leben auf unserem Planeten zu schützen. Es fühlt sich an, als täte sich in der Realität ein Riss auf, ein Abgrund zwischen all den idealistischen Demonstrantinnen vor uns und der Meldung auf dem Smartphone, und als stürzten wir kopfüber in diesen Abgrund hinein: Vielleicht war es naiv, immer noch daran zu glauben, aber war das nicht mal das große demokratische Versprechen unserer Gesellschaft? Wenn Bürgerinnen für ein wichtiges Anliegen in großer Zahl und friedlich auf die Straße gehen, dann wird die Regierung das irgendwie berücksichtigen. Zumal bei einem Thema wie der Klimakrise. Vor unseren Augen ziehen jene vorbei, denen die Zukunft gehört, und sie fordern nichts, als dass sie einen lebensfähigen Planeten erben werden. Hätten die Tagesthemen am Abend also neue, wirksame Maßnahmen verkündet, untermalt mit den Bildern der demonstrierenden Menschen – wer hätte sich dem ernsthaft entgegenstellen wollen? Doch die Chance ist vertan. Wir fühlen uns niedergeschlagen und fragen uns, wie es jetzt weitergehen soll, und auch, ob wir selbst genug unternommen haben.

Wir beschäftigen uns schon länger mit der Klimakrise, Raphael als Reporter, Theresa an der Universität Heidelberg in einer Forschungsgruppe. Später hat sie während ihrer Arbeit bei Sea-Watch auf dem Mittelmeer erlebt, wie grausam es für Menschen ist, wenn sie ihre Heimat verlassen müssen und in billigen Schlauchbooten ihr Leben riskieren. Raphael hat die Folgen der Klimakrise erlebt, als er aus dem Irak, Marokko und der Arktis für den SPIEGEL darüber berichtet hat, wie den Menschen das Wasser ausgeht, ihre Ernten verdorren, ihre Nachbarinnen lebendig unter Lawinen begraben werden. Kleine Einblicke in eine Zukunft, die uns Angst einjagt, dabei fühlte sich schon das abgelaufene Jahr 2019 wie ein nicht endender Albtraum an. Erst donnerte Zyklon Idai im Frühjahr über Mosambik hinweg und tötete über tausend Menschen, machte Hunderttausende obdachlos, vernichtete lebenswichtige Ernten – kaum ein Sturm auf der Südhalbkugel wütete seit Beginn der Wetteraufzeichnungen so zerstörerisch. Im Sommer dann rollte eine Hitzewelle über Europa, brach unzählige Hitzerekorde – über 40 Grad an mehr als zwanzig Orten in Deutschland, über 41 Grad in Duisburg-Baerl und Tönisvorst. In Brandenburg verdorrten die Ernten, Vieh wurde wegen fehlendem Futtermittel geschlachtet, Kelkheim im Taunus rief einen Trinkwassernotstand aus. Im Jahr zuvor tötete die ebenfalls ungewöhnliche Hitze in Deutschland über 20.000 Menschen, das Robert Koch-Institut vermeldete vor allem bei älteren Menschen eine hohe Übersterblichkeit, und wir lernten ein neues Wort kennen: Exzess-Mortalität. Und dazu all die Brände. Wochenlang wüteten sie in den Regenwäldern Südamerikas. Dorfbewohnerinnen sahen die Flammen von mehreren Seiten heranrasen, bevor ihre Häuser verbrannten, viele Menschen starben in dem Inferno. Die riesigen Rauchwolken verdunkelten den Himmel, man konnte sie sogar vom All aus erkennen. Ein Zehntel aller Spezies der Welt lebt im Amazonas, unzählige konnten vor der Feuerwand nicht fliehen: Schildkröten, Faultiere, Springaffen. Auch in Kalifornien loderten Brände. Und in Australien. Und in Sibirien. Entwurzelte Menschen. Zerstörte Orte. Uralte Bäume, die wie Streichhölzer zu Asche zerfielen. Keine dieser Katastrophen geht allein auf die globale Erwärmung zurück, doch keine wäre so destruktiv gewesen ohne sie. Und dabei ist das erst der Anfang. In der gesamten Erdgeschichte stiegen die Temperaturen selten so schnell wie heute, und noch nie in der Geschichte der Menschheit war die CO₂-Konzentration in der Atmosphäre so hoch. Durchschnittliche globale Temperaturanstiege werden meist in Relation zu jenen Werten angegeben, die vor der Industrialisierung herrschten. Pumpen die Industrien weiter so viele klimaaktive Gase in die Luft wie bisher, steigt die weltweite Temperatur bis 2050 um zwei Grad, prognostiziert der Weltklimarat IPCC. Schätzungsweise 200 Millionen Menschen leiden dann unter schweren Dürren, Großstädte entlang des Äquators werden unbewohnbar, bis zu einer Milliarde Menschen müssen aus ihrer Heimat fliehen.

Führende Klimawissenschaftler wie Richard A. Betts gehen noch weiter. Sie behaupten, dass unter bestimmten Umständen in den kommenden vierzig Jahren eine Steigerung von vier Grad erreicht wird. Wir beide sind dann in unseren Siebzigern – nicht mehr knackfrisch also, aber auch kein schlechtes Alter. Doch vier Grad mehr heißt Eskalation: Dürren suchen fast die Hälfte der Welt heim, der Mittelmeerraum könnte zur Wüste werden, jeder zweite Mensch hungern. Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung hält den Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation in Zukunft für möglich. Ein Bericht im Auftrag der Europäischen Union spricht vom Ende der Menschheit. Und all das passiert nicht über Nacht – auf dem Weg dahin ist vieles realistisch: Verängstigte Gesellschaften suchen Halt bei rechtsnationalen Führern, Minderheiten werden verfolgt und ermordet, bewaffnete Konflikte werden wahrscheinlicher. Die Bundeswehr diskutiert bereits die Möglichkeit einer steigenden Anzahl von Kriegen in Europas Nachbarschaft. Die Klimakrise ist also kein Ökothema, sie berührt jeden Bereich unseres Lebens, und die Wurzeln dieser Krise liegen in Industrienationen wie Deutschland, in deren jahrhundertelanger Ausbeutung von Ressourcen, Böden, Menschen, hierzulande und im Globalen Süden. Spätestens seit den 1980er-Jahren sind die Konsequenzen hinreichend bekannt. Mitarbeiter von Exxon Mobile, einem der größten Erdölkonzerne der Welt, warnten schon 1981 in einem internen Dokument: Die globale Erwärmung »wird später zu katastrophalen Konsequenzen führen«, und fügten zynisch hinzu: »zumindest für einen Großteil der Erdbevölkerung«. Sie wussten es also damals schon, genau wie die Verantwortlichen aus der Politik es wissen konnten, und trotzdem haben sie nicht gehandelt, nahmen das Leid also bewusst in Kauf, setzten keine Priorität darauf, das menschliche Leben auf diesem Planeten zu erhalten. Auch heute nicht, die Emissionen steigen weiter – ohne Pause.

Es ist kein Feel-good-Thema, aber es wegzuschieben funktioniert nicht, immer wieder holt es uns ein. Im Spätsommer 2019 fuhren wir mit dem Rad nach Brandenburg raus und kamen durch eine Allee, die von hohen Eichen gesäumt war. Die Baumkronen spendeten uns Schatten, doch die Blätter raschelten merkwürdig laut, und uns fiel auf: Sie waren teils vertrocknet. Eichen, deren Wurzeln tief, tief in die Erde reichen, fanden nicht genug Wasser. Wir hielten an, und ein mulmiges Gefühl machte sich breit: Wie konnte das sein? Und wie sollten dann andere Pflanzen noch eine Chance haben? Wir standen da und wussten wieder mal nichts zu tun, mit unserer Hilflosigkeit, unserer Wut und Angst. In uns reifte die Erkenntnis, dass es etwas anderes braucht als noch einen Tweet, noch eine Kampagne, noch eine Reportage, dass auch wir uns vielleicht zu sehr auf das bestehende System verlassen haben, dass es Zeit ist, anderswo nach Antworten zu suchen.

Wir fingen an zu recherchieren, riefen im Ausland lebende Bekannte an, beratschlagten uns mit Freundinnen und Kolleginnen, die schon lange zur Klimakrise arbeiten. Radikaler Wandel, das wurde uns klar, entspringt meist an den Rändern. Es sind vor allem vom System ausgegrenzte und bedrohte Personen, die neue Ideen entwickeln und einen Weg nach vorn aufzeigen, nicht Politiker, nicht Konzernchefs, nicht Talkshowgäste. Vor allem im Globalen Süden kämpfen die Menschen seit vielen Jahren mit den Folgen der Klimakrise und haben Strategien entwickelt, das Problem anzugehen, wissen, was zu tun ist. Sie wollen wir treffen, der Plan: von Südafrika nach Norden 20.000 Kilometer über Land bis in die Arktis reisen, einmal quer durch alle Klimazonen – eine Reise um die Welt und zu uns selbst.

Wir hängen eine Weltkarte an die Wand, wägen verschiedene Routen ab und markieren dann eine mit leuchtend pinkem Klebeband: In Südafrika wollen wir erfahren, wie die Menschen sich organisierten, als Kapstadt als erster Großstadt der Welt der Day Zero drohte, der Tag, an dem kein Wasser mehr aus den Leitungen kommen würde. In Mosambik hoffen wir die Frauen zu treffen, die ein feministisches Netzwerk gründeten, das dabei hilft, die Folgen von Zyklon Idai zu bewältigen. Im Nordosten Ugandas führt die Dürre zu bewaffneten Konflikten, in denen Mitglieder der Community tapfer vermitteln, um weitere Opfer zu verhindern. In Kenia kämpfen Indigene für ihre Rechte: Seit die Regierung die Wälder eines Hochlands unter »Naturschutz« gestellt hat, werden die Gemeinschaften von Land vertrieben, auf dem sie seit Ewigkeiten leben. Ein Arzt im Sudan will uns mitnehmen auf Malaria-Visite, die Mücken breiten sich wegen der steigenden Temperaturen immer weiter aus. In Alexandria wird man bald die Klimafolgen deutlich sehen: Prognosen gehen davon aus, dass ein Teil der Stadt im Mittelmeer versinken wird. Von dort wollen wir nach Italien übersetzen, dem europäischen Labor für Anpassungsmaßnahmen in der Landwirtschaft, doch neben Forscherinnen treffen wir dort auch Menschen, die aus ihren Ländern geflohen sind, nur um in Europa auf Obst- und Gemüseplantagen ausgebeutet zu werden. Von da aus geht es über die Alpen weiter durch Deutschland, und schließlich überqueren wir den Polarkreis, reisen in die Arktis – kein Ort auf der Welt erwärmt sich schneller, das ewige Eis, es schmilzt und zwingt die Bewohnerinnen dazu, neue Wege zu gehen. Es soll eine Reise werden auf der Suche nach Antworten: Wie verursachen auch wir die Klimakrise mit? Was können wir dagegen tun? Und wie kommen wir raus aus diesem bohrenden Gefühl der Hilflosigkeit und Angst?

Je tiefer wir in die Planung einsteigen, desto mehr haben wir das Gefühl, dass die Idee gut ist, doch es plagen uns auch Zweifel. Wir waren beide in den vergangenen Jahren viel unterwegs, sind erst vor Kurzem nach Berlin gezogen, ein neuer Freundeskreis findet sich gerade, und wir haben Lust, Wurzeln zu schlagen. Jetzt wieder aufbrechen, zu einer so großen und langen Reise, der größten unseres Lebens, gegen die auch ganz praktisch vieles spricht, macht uns an manchen Tagen Angst. Keine Zeitungsredaktion, mit der wir gesprochen haben, wollte das Projekt als Ganzes veröffentlichen, entweder aufgrund inhaltlicher Differenzen oder wegen seiner schieren Größe. Als Exposé liegt es bei einigen Buchverlagen, aber ob das klappt, ist unsicher, genau wie unsere beantragten Stipendien: Einige Stiftungen haben zugesagt, aber unterzeichnet ist kaum eine Förderung. Insgesamt haben wir erst ein Drittel der benötigten Reisekosten zusammen, unsere Ersparnisse mit eingerechnet. Und dann die Sicherheitsfrage. Wir lassen uns gegen Tollwut, Gelbfieber und Cholera impfen, die Malaria-Prophylaxe kommt in die Reiseapotheke, aber dass wir gesund bleiben, ist trotzdem alles andere als sicher. Einige der Städte auf der Route gehören zu den gefährlichsten der Welt, im Norden Mosambiks verübt eine Terrorgruppe tödliche Anschläge auf Reisebusse, in Uganda und Äthiopien kommt es immer wieder zu spontanen Ausschreitungen mit Todesopfern. Statistisch gesehen sterben die meisten Krisenreporterinnen1 jedoch nicht durch Gewalt, sondern bei Autounfällen. Unzählige Kilometer wollen wir über Land reisen, einige davon mit dem Zug, aber dazwischen liegen Straßen, die die Bezeichnung kaum verdienen. Die Risiken sind erheblich. Sind sie es wert? Gleichzeitig wollen wir nicht mehr mit dieser Angst leben, die über unseren Leben hängt wie die verdorrten Äste der Eichen, wollen uns von ihr nicht mehr eingeschränkt fühlen, stattdessen raustreten aus dem Schatten, das Gefühl abschütteln, Teil des Problems zu sein. Wir wollen stattdessen zur Lösung beitragen, wollen wieder aus dem Vollen schöpfen, das Leben genießen, wollen einfach Ja sagen können, wenn wir darüber nachdenken, ob man in diesen Zeiten noch Kinder bekommen kann, ja, wir wollen Antworten finden auf die Frage: Was können wir tun in dieser krisenhaften Zeit? Und wer müssen wir sein auf dem Weg in eine klimagerechte Welt?

1 Aus Gründen der Lesbarkeit verwenden wir in diesem Buch das generische Femininum und hoffen, dass sich alle Menschen ungeachtet ihrer geschlechtlichen Identität darin wiederfinden können. Wenn wir an manchen Stellen Bezeichnungen wie »Konzernchef«, »Politiker«, »Kämpfer« in der maskulinen Form verwenden, sind Bezüge zu den patriarchalen Machtausübungen in diesem Kontext konkret beabsichtigt.

Day Zero

In der Ferne sehen wir die Buschbrände lodern. Wir sind in Kapstadt angekommen und stehen auf dem Balkon unserer Unterkunft. Die Stadt ist von einer hohen Bergkette umgeben, Du Toitskloof, Franschhoek, all die sonst grünen Hänge, sie stehen jetzt in Flammen. Orangerot brennen die Feuer im schwindenden Licht der hereinbrechenden Nacht, ich kann nicht ausmachen, wo die Rauchschwaden aufhören und wo die Wolken anfangen. Ein mulmiges Gefühl packt mich, ich gucke zu Theresa rüber, es scheint ihr ähnlich zu gehen. Wir wollten dahin, wo es brennt, wo die Klimakrise heute schon spürbar ist und kein Phänomen der Zukunft. Dass es so schnell gehen würde, dass die Welt rund um Kapstadt gerade buchstäblich in Flammen steht, hatte ich nicht erwartet. Es geht los.

Wir sind hergekommen, weil die Bewohnerinnen der Stadt in den vergangenen Jahren etwas erlebt haben, das vielen Orten weltweit noch bevorsteht: Day Zero, der Tag, ab dem die Wasserleitungen trocken bleiben. Barcelona war zuvor fast an diesen Punkt gekommen, ebenso wie São Paulo und Beijing, die sich mit demselben Problem konfrontiert sahen. Doch nirgends war die Situation derart eskaliert wie in Kapstadt. Die Pegelstände der umliegenden Stauseen fielen wegen einer anhaltenden Dürre erst auf die Hälfte der normalen Füllhöhe, dann auf ein Drittel. Als es immer noch nicht regnete, verkündete die Stadtregierung 2018: Bald drehen wir den Haushalten die Wasserhähne ab. Der Notfallplan: zweihundert Wasserstellen einrichten, an denen jede Bürgerin pro Tag einen Kanister holen könne, bewacht von Soldaten, die aufpassen, dass niemand zu viel von dem nimmt, was eigentlich frei verfügbar und selbstverständlich sein sollte: Wasser.

Die damalige Premierministerin des Westkaps Hellen Zille sagte, keine Großstadt habe seit dem Zweiten Weltkrieg oder den Terroranschlägen von New York mit einer vergleichbaren Bedrohung auskommen müssen: Krankheiten, Konflikte und Gewalt. »Die Frage, die meine wachen Stunden dominiert, ist: Wenn Day Zero kommt, wie machen wir Wasser zugänglich und wie verhindern wir Anarchie?« Doch es zeigte sich in den folgenden Monaten: Ihre Angst war unbegründet.

*

Ayakha Melithafa ist siebzehn und das Gesicht der südafrikanischen Klimabewegung. Raphael und ich treffen sie und ihre Freundin Lisa Mathiso in der Nähe ihrer Schule im Stadtteil Khayelitsha. Am Rande einer Straßenkreuzung stehen ein paar Wochenmarktstände, Braai-Grills, Gemüseverkäuferinnen, etwas abseits eine Pizza-Bude, wir stellen uns in die Schlange. Aus einem umfunktionierten Wohnwagen heraus nimmt eine Frau die Bestellungen an: Tropical Pizza, Khalitsha Pizza, Chicken Mayo Pizza, Rasta Pizza. Ich frage Ayakha und Lisa, was sie essen wollen. Eine mittlere Pizza kostet 95 Rand, etwas mehr als fünf Euro, nichts, was sich die Mädels sonst leisten würden. Wir bestellen zwei Mal Minced Meat und eine Greek Pizza. Ayakha sagt, sie hat kein Problem damit, Fleisch zu essen. »Die Klimakrise ist eine Systemkrise. Es nervt, wenn alle immer auf individuellem Konsum rumhacken«, sagt sie. »Der Wandel muss viel größer sein als das.«

Während wir warten, gucke ich sie an und denke, mit ihrer gebügelten Bluse und der perfekt sitzenden Jeans könnte sie eine angehende Unternehmerin sein. Gleichzeitig wirken sie und Lisa auch noch so jung: Die beiden stecken die Köpfe zusammen und kichern, klatschen sich dann gegenseitig in die Hände und sagen einen Spruch auf, den ich nicht verstehe, weil er in ihrer Muttersprache Xhosa ist. Am Ende drehen sie sich um und geben sich einen Klaps auf den Po, bevor sie in schallendes Gelächter ausbrechen. Als unsere Pizzabestellungen fertig sind, finden wir einen schattigen Platz auf einer Bank auf der anderen Straßenseite. Wir setzen uns hin und essen, die beiden erzählen von den letzten Jahren. Als Teil einer Delegation besuchte Ayakha vergangenes Jahr das Weltwirtschaftsforum in Davos, wo sie Greta Thunberg kennenlernte. Gemeinsam mit ihr und vierzehn anderen Jugendlichen reichte sie beim UN-Kinderrechtskomitee eine Beschwerde gegen Industrienationen wie Deutschland ein, weil sie mit ihren Emissionen die Klimakrise befeuern und die Zukunft junger Menschen bedrohen. Aufgewachsen ist sie am Rande von Khayelitsha, einem Township und damit einem jener Viertel der Stadt, in denen das ehemalige Apartheid-Regime nicht-weiße2 Menschen gezwungen hatte, fernab der Innenstadt unter widrigen Umständen zu leben. Ayakha ist lange nach dem Ende der Apartheid geboren. Aber bis heute fehlt es in den »Cape Flats«, in der Ebene vor dem wohlhabenden Tafelberg mit seinen schicken Villen und grünen Vorgärten, an grundlegender Infrastruktur wie Wasserleitungen, Stromversorgung, öffentlichem Nahverkehr und Krankenhäusern. Nach Davos schaffen es sowieso schon nur wenige. Mit Startvoraussetzungen wie denen von Ayakha, denke ich – das machen nicht viele.

*

Theresa schmeißt die leeren Pizza-Kartons in den Müll. Gemeinsam mit Ayakha und Lisa entscheiden wir, zu den Bränden rauszufahren, um uns selbst ein Bild davon zu machen. Wir steigen ins Auto, der Weg führt durch Wellblechhütten-Viertel. In der ganzen Gegend gebe es nur zentrale Wasserstellen, erzählt Lisa, wenn die ausfielen, müssten die Menschen mit Kanistern in benachbarte Viertel laufen und da für Wasser anstehen. Das Gefühl von Wasserknappheit kennen die Bewohnerinnen nicht erst seit den vergangenen Jahren. »Wie war es für dich in der Wasserkrise?«, frage ich Lisa, und sie fängt an zu erzählen.

»Irgendwann kam einfach kein Wasser mehr aus dem Hahn. Wir haben am nächsten Tag einen großen Eimer drunter gestellt und laufen lassen, und als der voll war, stoppte es. Da wussten wir: zwanzig Liter, so viel kriegen wir pro Tag.« Ihre Großmutter begann, das kostbare Gut streng zu rationieren. Jede erhielt zwei abgefüllte Flaschen, das musste reichen, um sich zu waschen und zu trinken, fünf Liter behielt sie für den Haushalt zurück – vorausgesetzt, es kam überhaupt Wasser aus der Leitung. An manchen Tagen blieben die Hähne trocken. »Früher war ich fast immer zu Hause, aber das war jetzt kein gesunder Ort mehr. Ich hab dann angefangen, mehr auf der Straße rumzuhängen«, sagt Lisa. Schließlich bekam sie einen juckenden Ausschlag am ganzen Körper, bis hoch ins Gesicht, kleine Bläschen, aus denen eine Flüssigkeit trat, wenn sie sie aufkratzte. »Daher habe ich noch diese Narben«, sagt sie und zeigt auf die kleinen runden Punkte auf ihren Wangen. In den Tagen vorher sei sie am Strand gewesen und vermutete, das Wasser dort sei der Grund dafür. Der Arzt, der sie untersuchte, erklärte ihr, es komme von Bakterien im Meerwasser. »Und dann hat er noch dumme Witze gemacht: ›Vielleicht mag der Strand dich auch einfach nicht, vielleicht solltest du einfach nicht mehr schwimmen gehen.‹ Ich habe also erst mal gedacht, es läge an mir«, sagt Lisa. Doch bald darauf bekam ihre Cousine die gleichen Pusteln, und dann wurden immer mehr Menschen um sie herum krank, ohne am Strand gewesen zu sein. Sie begriffen, dass es am Leitungswasser lag. Es war verunreinigt. Sie kochten es ab, manche mischten sogar chlorhaltige Bleiche unter, um die Keime abzutöten, aber es half nicht immer. Ayakha hat jüngere Geschwister, denen sie einschärften, das Wasser nicht einfach zu trinken. Ihr kleiner Bruder verstand nicht, was das sollte, wenn er doch Durst hatte. Einmal nahm er unbemerkt ein Glas und bekam daraufhin schlimmen Durchfall. Ayakha erinnert sich, wie er von Tag zu Tag schwächer wurde und seine Augen begannen einzusinken. Ein Arzt konnte ihn gerade noch retten. Lisa sagt: »Ich habe mir angewöhnt, so wenig zu trinken wie möglich, habe immer eine leere Flasche mit in die Schule genommen, weil es dort auf der Toilette meist noch fließendes Wasser gab.« Ihre Großmutter, die aus gesundheitlichen Gründen eigentlich sehr viel trinken muss, nahm nur noch hier und da einen Schluck, um ihre Tabletten runter zu bekommen. Lisa und ihre Schwester fetzten sich immer wieder wegen der angespannten Lage.

»Wie lang ging das so?«, frage ich.

»Über zwei Jahre«, sagt Lisa.

*

Es fällt mir schwer, mir so eine Situation vorzustellen. Was habe ich an meinen freien Nachmittagen gemacht, als ich fünfzehn war? Wie muss sich wohl Lisas Großmutter gefühlt haben unter dem Stress, für die ganze Familie das Wasser noch viel drastischer zu rationieren als ohnehin schon? Wie viele Liter könnte ich jeden Tag sparen? Während Raphael heute Morgen Frühstück gemacht hat, habe ich mir noch die Website der Stadtverwaltung von Kapstadt angeschaut; auf www.coct.co/thinkwater kann man ausrechnen, wie viel Wasser man durchschnittlich verbraucht. Unter der Dusche heute Morgen habe ich mindestens fünf Minuten das Wasser laufen lassen, das macht fünfzig Liter, dann Zähneputzen, Händewaschen, neun Liter pro Klospülung, da komme ich schon auf knapp achtzig Liter, von denen ich keinen einzigen getrunken habe.

Ich frage Ayakha, wie sie die Zeit erlebt hat. »Es war ziemlich hart«, sagt sie. Sie wuchs in Kapstadt auf, die Schulferien verbrachte sie aber auf der Farm, die ihre Mutter etwa 200 Kilometer von Kapstadt entfernt betreibt, seit sie in Rente gegangen ist. Neben Hühnern, mit denen Ayakha, wenn sie dort ist, am liebsten ihre Zeit verbringt, besitzt die Familie vierzig Tiere: Schweine, Kühe, Ziegen. Anders als auf den großen umliegenden Betrieben, die konventionell Mais oder Zuckerrohr anbauen, gibt es auf der kleinen Farm keine Bewässerung. »Wir sind immer komplett auf den Regen angewiesen«, sagt Ayakha, und der blieb von 2015 bis 2018 aus: Die Niederschläge waren in den Jahren der Dürre so niedrig wie seit dreihundert Jahren nicht. Wenn es nicht regnet, gibt es kein Futter für die Tiere, weil das Gras vertrocknet, und kein Wasser, um das Gemüse zu gießen, ein Großteil des Ertrags geht verloren. »Zuerst sind die Schweine gestorben, eins nach dem anderen«, sagt Ayakha. Schlimmer sei es aber bei den Kühen gewesen. »Die sind total abgemagert«, erinnert sie sich. Sie holten Wasser vom nächsten Fluss in den Stall, kauften zusätzliches Futter. Es half oft nichts. »Als eine trächtige Kuh gestorben ist, hat mein Vater geweint.«

Ein Rind ist im ländlichen Südafrika bis zu 16.000 Rand wert, umgerechnet knapp neunhundert Euro – ein Fünftel der Haushalte im Eastern Cape verdienen so viel Geld im ganzen Jahr – wenn es hoch kommt. Was Ayakha ärgert: Während der drohende Day Zero in Kapstadt weltweit Schlagzeilen machte, wurde selbst in Südafrika kaum darüber gesprochen, welche Folgen die Dürre für die ländliche Bevölkerung hatte. Nicht über Ernteausfälle. Nicht über das Recht auf Nahrung und das Recht auf sauberes Wasser. Nicht über psychischen Druck. Nicht über Gewalt an Frauen, die zunahm, wenn Familienväter ihre Aggression über ausbleibende Ernten zu Hause rausließen. Nicht über Kindesmissbrauch. »Den Weißen ist überhaupt nicht klar, was die Wasserkrise für uns bedeutet hat«, sagt Ayakha. »Die Welt macht sich mehr Sorgen um die Koalas, die in australischen Waldbränden sterben, als um die Tiere, die wir hier im Globalen Süden in der Landwirtschaft verlieren.« Was die beiden erzählen, erinnert mich an eine Stelle aus Kübra Gümüşays Buch Sprache und Sein. Sie schreibt: Wenn es schon keine Solidarität mit weniger privilegierten Menschen gebe, »so lohnt sich zumindest ein Blick auf ihr Erleben, um darin Vorzeichen für die eigene Zukunft zu entdecken. Die Armen der Welt, die Ausgegrenzten der Welt, sie kennen die hässlichsten Fratzen der Klimakrise, des Kapitalismus, des Konsumwahns, der sozialen Medien. Es ist manchmal tragikomisch, den Privilegierten dabei zuzuschauen, wie sie über die Herausforderungen der Zukunft grübeln und zugleich all jene ignorieren, die diese Herausforderungen längst erleben, die längst darüber reden und schreiben.«

*

Seit wir darüber geredet haben, wie es den beiden in der Wasserkrise ging, haben sie aufgehört rumzualbern und gucken aus dem Fenster auf die Stadt, die sich in Richtung der Berge langsam in den Feldern verliert. Ich sehe Theresa im Rückspiegel hinten neben Lisa sitzen, auch sie wirkt bedrückt. »Als ich begriffen habe, wie das alles mit der Klimakrise zusammenhängt«, greift Ayakha den Faden wieder auf, »war ich super überwältigt, habe Angst bekommen. Ich bin teilweise morgens aufgewacht, und es hat sich angefühlt, als würde die ganze Welt über mir zusammenbrechen.« Sie hatte verstehen wollen, woher die Wasserkrise kommt, und angefangen, online die Ursachen zu recherchieren, dann immer tiefer gegraben und gesehen, was noch alles kommen wird: Hitzewellen, Überschwemmungen, Waldbrände, Heuschrecken-Plagen, immer wieder Ernteausfälle, wie sie es schon heute auf der Farm ihrer Mutter miterlebt. Unaufhaltsam stiegen Fragen in ihr hoch: Wenn all das gerade passiert, warum überhaupt noch zur Schule gehen? Warum überhaupt noch morgens aufstehen? Warum überhaupt noch irgendetwas tun?

Vor uns sehe ich die Gipfel der Berge aufragen und dann auf einmal die Rauchwolken der Buschbrände. Dicke graue Säulen, die von den Hängen in den Himmel steigen. Ayakha holt ihr Handy raus, filmt mit der einen Hand, mit der anderen nestelt sie nervös an ihrer Halskette rum. Je näher wir kommen, desto dicker wird der Rauch und zieht in Schwaden über die Straße. Das Sonnenlicht verfärbt sich rot. »Sieht aus wie der Tag des Jüngsten Gerichts«, sagt Theresa. Der Brandgeruch dringt ins Auto. Ich versuche, vom Highway abzufahren, wir wollen näher ran oder zumindest aussteigen, um besser sehen zu können, aber vor der Bergkette kommt keine Ausfahrt mehr. Ein langer, enger Tunnel verschluckt uns. Die Fahrt durch die Dunkelheit fühlt sich ewig an.

*

Wir wenden, nehmen auf der anderen Seite des Tunnels die erste Abfahrt und gelangen auf eine kleine Landstraße mitten im Nirgendwo, umgeben von Feldern. Die Sonne neigt sich dem Horizont zu, die Dunkelheit kommt jetzt schnell, und wir sehen die Brände überall lodern. Ein großes Areal steht ein paar Kilometer Luftlinie vor uns in Flammen, entlang der Bergkette entdecken wir in beide Richtungen weitere Brandherde. Buschbrände sind normal in dieser Jahreszeit, aber durch die anhaltende Dürre geraten sie schneller außer Kontrolle. Südafrika zählt mit durchschnittlich 450 Millimetern Regen pro Jahr ohnehin zu den trockensten Ländern der Erde. Die klimatischen Veränderungen machen Extremwetterereignisse immer unberechenbarer. Woher in einer Dürre Löschwasser für die Brände nehmen? »Nirgends Feuerwehrleute zu sehen«, sagt Raphael. Stumm stehen wir da, hilflos, wie so oft angesichts der Klimakrise. Der Himmel färbt sich dunkelviolett, Ayakha postet Fotos von den Feuern auf Social Media, dann steigen wir wieder ins Auto – ihre Eltern warten –, und sie erzählt uns von dem Moment, als ihre Hilflosigkeit einer Wut wich, die ihr Kraft gab. »Lisa und ich sind dann von Klasse zu Klasse gegangen, haben angeklopft und gefragt, ob wir kurz fünf Minuten haben könnten, um etwas über die Klimakrise zu erzählen.« Die ganze zehnte Klasse über seien die beiden nur als die ›Climate Change Girls‹ bekannt gewesen. Doch ihre Mitschülerinnen hätten wenig Interesse gehabt. »Die machen sich Sorgen um Arbeitslosigkeit, HIV, Stromausfälle. Klima war einfach kein großes Thema für die.« Sie fanden kaum Mitstreiterinnen auf dem Schulhof, dafür aber im Internet. Ayakha trat der African Climate Alliance bei und fühlte sich zum ersten Mal verstanden. »Das hat mir wirklich geholfen, wieder klarzukommen, weil ich mich als Teil dieser Familie fühlte, die ein gemeinsames Ziel hatte: gegen die Klimakrise kämpfen.« Die African Climate Alliance schlug Ayakha als Repräsentantin vor, die in Davos mehr Klimaschutz fordern sollte, es war ihre erste große Reise. Sie lernte Mitstreiterinnen aus Uganda und der Schweiz kennen, gab Interviews – und ihr wurde nochmal bewusst, wie komplex das Thema ist. »Wenn man Aktivistin wird, dann kommen plötzlich alle und wollen dich testen. Also musste ich super viele Dinge lernen, über die Wirtschaft, über Ökosysteme, Statistiken zur Klimakrise«, sagt sie. »Aber das fiel mir irgendwie leicht.«

Nach Davos konnte die südafrikanische Politik Ayakhas Forderungen nicht mehr ignorieren, Präsident Cyril Ramaphosa lud sie ins Parlament ein. Aufgeregt sei sie nicht gewesen, sagt sie, inzwischen hatte sie schon viele Leute getroffen, die Macht und Ansehen genossen. »Ich hab nicht mal gedacht: ›Oh, Sie sind der Präsident!‹« Dass er sie in seiner Rede vor dem Parlament namentlich erwähnte, machte sie wiederum doch stolz und ermutigte sie nach den schwierigen Zeiten, die hinter ihr lagen. »Das war schon ein krasser Moment, zu realisieren: Es ist nicht alles umsonst, was wir hier machen.« Gemeinsam mit Lisa und unzähligen anderen hatte Ayakha es geschafft, dass nicht nur über die Wasserkrise, sondern auch über deren Ursache gesprochen wurde, dass dem Klima mehr Platz in Zeitungen und Magazinen eingeräumt wurde. Für sie ein Funken Hoffnung, ein Weg raus aus der Klimaangst.

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Am nächsten Tag klingeln Theresa und ich bei Riyaz Rawoot. Er öffnet und führt uns in den lichtdurchfluteten Behandlungsraum seiner Physiotherapiepraxis, fragt uns, ob wir einen Kaffee wollen, und guckt uns erwartungsvoll an, dabei haben wir die großen Erwartungen an diesen Tag: Riyaz baute während der Dürrezeit eine Quelle, die Zehntausenden nicht nur Zugang zu Wasser gab, sondern auch neue Hoffnung schenkte – bis die Stadtregierung einschritt und die selbstgebaute Quelle zubetonieren ließ. Wenn jemand in Kapstadt weiß, wie wir Krisen gemeinsam begegnen können und ob es Grund für Zuversicht in diesen Krisenzeiten gibt, dann ist es Riyaz. Er schlägt vor, dass wir zum Ort der alten Quelle fahren: »Wie viel Zeit habt ihr? Ich habe heute keine Termine mehr und würde euch gerne auf dem Weg noch ein paar Sachen zeigen«, sagt er und trinkt seinen Kaffee aus. Wir fahren auf die geschäftige Hauptstraße vor seiner Praxis, passieren eine methodistische Kirche, die Windsor Preparatory School und die Al-Furqan-Moschee, rechts Danilos Pasta, auf der anderen Straßenseite der Sajid Barbershop. Die Nachbarschaft zeigt die Vielfalt der Stadt. Nur fünfzehn Prozent der Stadtbevölkerung sind weiß, in Wirtschaft und Politik sind sie aber stärker vertreten als der Großteil der knapp vier Millionen Bewohnerinnen, von denen sich zwei Fünftel als Schwarz bezeichnen und zwei Fünftel als »Coloreds« gelten, so werden in Südafrika Kinder Schwarzer und Weißer genannt. Auch über 40.000 indischstämmige Menschen leben in Kapstadt. Wegen der Vielfalt trägt Südafrika den Spitznamen »Rainbow Nation«. Riyaz macht uns auf ein Straßenschild aufmerksam, Imam Haron-Road, benannt nach dem gleichnamigen Anti-Apartheid-Aktivisten. Haron, erzählt Riyaz, war wegen seiner politischen Arbeit 1969 verhaftet worden und nach einhundertdreiundzwanzig Tagen in Isolationshaft gestorben, laut Polizeibericht mit zwei gebrochenen Rippen und inneren Verletzungen, weil er von einer Treppe gestürzt sei. »Niemand bekommt solche inneren Verletzungen, weil er von einer Treppe fällt«, sagt Riyaz. »Er wurde gefoltert und ermordet.« Damit beginnt Riyaz einen Crashkurs in Apartheidsgeschichte. Die Rassentrennung begann eigentlich in dem Moment, als niederländische Kolonialisten 1652 mit ihren Schiffen anlegten. Traditionell habe es hier kein Konzept wie Landbesitz gegeben, sagt Riyaz, alle haben das Land gemeinsam genutzt. »Aber das europäische Verständnis war: Ich habe es für ein paar Perlen abgekauft, also ist es jetzt meines.«

Riyaz’ Vorfahren stammen aus Irland und Indien, einige Ahnen sind im englischen Landadel zu finden. Als das Apartheidsregime im 20. Jahrhundert Gesetze erließ, nach denen die innerstädtischen, lebenswerteren Wohngebiete den Buren und Engländern vorbehalten werden sollten, marschierten Soldaten in viele Viertel ein, um alle nicht-weißen Familien aus ihren Häusern zu vertreiben. »Meine Eltern wurden mit vorgehaltener Waffe rausgeworfen«, erzählt er. Es blieb kaum Zeit, die Koffer zu packen, ihr neues Haus lag außerhalb der Stadt in der staubigen Ebene. Bis zu den 1980er-Jahren wurden durch diese »Homeland Politik« etwa dreieinhalb Millionen Menschen vertrieben. Um die Townships von den nun rein weißen Vierteln zu trennen, nutzten Apartheid-Stadtplaner Hügel, Müllhalden oder Straßen. »Links von dieser Straße hätten zum Beispiel nur Weiße gewohnt, rechts nur Schwarze«, sagt Riyaz und zeigt aus dem Fenster. »Du wurdest quasi in ein Gefängnis aus Zugstrecken, Autobahnen und Sicherheitszäunen gesperrt.« Wir erzählen ihm, dass viele Südafrika-Reisende uns davor gewarnt haben, überhaupt in die Townships zu fahren, die Gefahren seien für Weiße unkalkulierbar. Riyaz lacht. »Natürlich sagen die so was, weil die meisten nur ihre Vorurteile haben und selbst noch nie das Leben in unseren Vierteln gesehen haben.« Klar leben die Bewohnerinnen auch ganz normale Leben, denke ich, gehen einkaufen, gehen zum Arzt, warten auf die Pizza, warten auf den Bus, nur können sie eben nicht auf dieselbe Infrastruktur zählen wie Leute in den weißen Vierteln. Dieser Teil der Stadt war nie dafür ausgelegt, den Menschen Zugang zu Wasser, Strom, Gesundheitsversorgung zu garantieren.

Schon in den 1960er-Jahren begann die internationale Ächtung des Regimes, und doch erhielt die Apartheid von so mancher Seite Unterstützung. CSU-nahe Einrichtungen, der deutsche Verfassungsschutz und die Bundesregierung halfen den südafrikanischen Rassisten mit Informationen, Freundschaftsbesuchen sowie Waffenlieferungen aus. Doch im Land selbst wuchs der Widerstand. Imam Haron war nicht der Einzige, der gegen die rassistische Unterdrückung rebellierte. Zu seiner Beerdigung 1969 kamen 40.000 Menschen, rund 250.000 waren bei den Studierendenprotesten von 1976 auf den Straßen, als Afrikaans als einzige Unterrichtssprache eingeführt werden sollte. Der Widerstand hörte nicht mehr auf, Nelson Mandela wurde zum Hoffnungsträger einer ganzen Generation und 1994 zum ersten Schwarzen Präsidenten des Landes. Seine Vision war gigantisch, doch viele der alten Strukturen haben bis heute überdauert. Wir überqueren eine Bahnlinie, dahinter erstrecken sich wieder Siedlungen aus Wellblechhütten.

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Schon lange, bevor die Stadtregierung vor dem Day Zero warnte, war er für die Menschen in diesem Teil der Stadt Realität, erklärt Riyaz. 150.000 Haushalte haben bis heute keinen Zugang zu fließendem Wasser, das sind rund eine halbe Million Menschen, die jeden Tag an öffentlichen Brunnen Schlange stehen müssen. Ihr Wasserverbrauch macht nur fünf Prozent der ganzen Stadt aus – wer einen schweren Kanister nach Hause schleppen muss, überlegt sich wahrscheinlich gut, wofür das Wasser gebraucht wird. »Die natürliche Dürre ist vielleicht weniger akut, seit es wieder geregnet hat«, sagt Riyaz. »Aber die politische Dürre nicht.« Ich verstehe, was er meint: Wasserknappheit ist nicht nur ein naturgegebenes Phänomen. In Kapstadt sieht man jeden Tag, dass Schwarze Nachbarschaften auch deshalb am schlimmsten betroffen sind, weil bis heute keine Politik gemacht wird, um die historischen Ungerechtigkeiten zu überwinden. Raphael und ich haben gesehen, wie viele Bewohnerinnen der reichen Viertel großzügig ihre Rasen sprengen, Autos waschen und die privaten Swimmingpools füllen. Unter großem Wasserverbrauch wird auch der berühmte südafrikanische Wein hier am Kap produziert. »Die Menschen aus der Region wollen Wasser, nicht Wein«, sagt Riyaz. Sie bekommen ihn ja auch nicht, denke ich, er wird größtenteils exportiert. Südafrikanisches Wasser in deutschen Weinregalen.

Während Riyaz spricht, kommt mir Kapstadt auf einmal vor wie die Miniaturversion unserer Welt, schließlich hat nicht nur in dieser Stadt die Apartheid überlebt. Große Teile der Welt funktionieren nach ihrem Prinzip: Die Elite trinkt gekühlten Weißwein, während mehr und mehr Menschen Wasser fehlt. Wegen des imperialen Lebensstils einiger Privilegierter gerät das Klima aus dem Gleichgewicht. Und gleichzeitig macht in Talkshows noch zu oft die Erzählung die Runde, eine wachsende Weltbevölkerung sei das größte Problem. Es ist ein Argument, das Menschen im Globalen Süden die Schuld dafür geben will, dass die Erde an ihre Belastungsgrenzen kommt. Doch nicht ›overpopulation‹ ist Treiber der globalen Umweltkrisen, sondern ›overconsumption‹. Das gilt für Wasser genauso wie für die globale Erwärmung: Der Konsum der reichsten zehn Prozent verursachte seit 1990 weltweit die Hälfte aller CO2-Emissionen. Ein Mitglied des obersten ein Prozent produziert hundertmal mehr Emissionen als jemand aus den ärmsten fünfzig Prozent der Weltbevölkerung. Doch der Globale Norden ist nicht nur verantwortlich für das Problem, er verschleppt auch notwendige Maßnahmen, prägt ein rassistisches Narrativ, zieht Mauern an seinen Außengrenzen hoch, um sich abzuschotten gegen eine Realität, die er mitverursacht. Menschen wie Ayakha, Lisa und Riyaz haben wenig zur Klimakrise beigetragen, aber leiden schon heute unter den Folgen. Sie können nicht auf Unterstützung durch die Politik zählen, um die Folgen zu bewältigen. Doch sie suchen sich Wege, mit der Krise umzugehen.

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Wir erreichen Newlands, das Viertel, aus dem Riyaz’ Familie einst vertrieben wurde. Auf der Straße sehe ich kaum Schwarze Menschen, dafür sind viele Häuser mit protzigen Säulen verziert und von spitzen Zäunen und hohen Mauern umgeben, von denen manche elektrisch geladene Drähte zieren. Straff gespannt wie Instrumentensaiten, singen sie das stumme Lied der Angst der weißen Bewohnerinnen vor ihren Schwarzen Mitbürgerinnen. »Das Haus da auf der Ecke«, sagt Riyaz zu Theresa und mir, als wir in eine schmale Sackgasse einbiegen, »kostet eine halbe Millionen Rand, das an der Seite, das ist ein Altenheim, und da vorne am Ende der Straße, das war die Quelle.« Wir parken und laufen auf einen Zaun zu, die einstige Quelle der Hoffnung lag davor: nach ihrem Weg durch den Untergrund der Stadt sprudelte sie in ein rechteckiges Becken, eingelassen in den Bürgersteig, zwei Schritte lang, einen breit, eingefasst in Ziegelsteine – heute ausgefüllt mit stumpfem Beton.

Anfangs, also einige Jahre bevor die Wasserkrise 2017 eskalierte, sei Riyaz nur mal aus Neugier vorbeigekommen. Er hatte schon von seinen Großeltern von diesem Ort gehört, wollte ihn sich selbst mal anschauen und war begeistert. Ruhig ist es, ausladende Bäume spenden Schatten, Eichhörnchen, Hasen, Enten und Perlhühner habe er schon beobachten können, sagt Riyaz. Vor allem aber hatte es ihm die Gesellschaft angetan. Leute aus ganz Kapstadt seien gekommen, um sich das klare Wasser abzufüllen, ein paar Neuigkeiten auszutauschen, ein bisschen zu scherzen. Auch Riyaz ging immer häufiger hin. »Um die Gemeinschaft und die Umgebung zu genießen«, sagt er, während wir da stehen, wo früher die Quelle sprudelte.

Um Wasser zu zapfen, musste man mit einem Fuß in das Loch steigen, auf einem wackeligen Stein balancieren und gleichzeitig die Flasche oder den Kanister vor das Rohr halten, das da rauslugte. Immer wieder rutschten Menschen aus und stürzten. »Als Orthopäde habe ich mir die Ergonomie des Ganzen angeguckt und gedacht: Warum nicht etwas tun? Und mich aber auch gefragt: Warum tut da sonst keiner was?« Er legte ein paar mehr Steine in das Loch, was es sichtlich einfacher machte, und sein Erfindergeist war geweckt. Es folgten mehr Steine, dann ein Schlauch, den man anheben konnte, um das Wasser leichter abzufüllen. Aus dem Schlauch wurde eine selbst gebastelte Standrohrleitung mit zwei Auslässen, damit jeweils zwei Leute gleichzeitig Wasser zapfen konnten. Und schließlich, während die Pegelstände in den Staudämmen rund um die Stadt sanken, das Wasser aus den Leitungen in den Häusern knapper wurde und die Zahl der Menschen an der Quelle anwuchs, wuchs Riyaz’ Konstruktion mit: vier Auslässe, dann fünf, dann zehn, dreizehn und schließlich eine zehn Meter lange Konstruktion aus dicken PVC-Rohren und Holz, an der sechsundzwanzig Menschen gleichzeitig Wasser holen konnten. Riyaz holt sein Handy aus der Tasche und zeigt uns Fotos. Hunderte Menschen stehen da in drei Reihen in der baumbestandenen Straße: Basecaps, Kopftücher, Haarreifen. Braune Haare, krause Locken, blonde Haare. Ein Skateboarder mit Hawaiihemd schiebt seinen Kanister an einem Jungen in Schuluniform und einer älteren Dame vorbei. Manche sehen müde aus, die Schlange ist sehr lang. Aber ansonsten strahlen die Gesichter eine Gelassenheit aus, die mich überrascht. Es scheint, als würden sie nicht an ihrem Schicksal und der Krise verzweifeln, sondern als seien sie einverstanden mit diesem Moment der Gemeinsamkeit. Aus der kleinen Sackgasse in einem Viertel, das sich Weiße vor achtzig Jahren gewaltsam genommen hatten, wurde ein Treffpunkt für ganz Kapstadt. Riyaz hängte ein laminiertes Schild auf: 25 liters for you. 25 liters for me, und die Leute verstanden die Botschaft, es ist genug für alle da. Sie unterstützten sich beim Abfüllen der Kanister und beim Tragen, manche kamen sogar nur deshalb: Sie genossen es einfach, die Stimmung aufzusaugen, in der niemand das Sagen hatte und alle sich gegenseitig halfen – egal wer sie waren und woher sie kamen. Riyaz sagt: »Es war eine wundervolle Zeit.«

Einmal habe er neben der einzigen noch freien Zapfstelle gestanden, als eine Frau aus dem Altenheim rüberkam.

»Kann ich da mal ran?«, fragte sie.

»Nein«, antwortete er schelmisch.

»Wirklich?«

Mit gespieltem Ernst sagte er: »Ja.«

Die Frau habe sich abgewandt, doch Riyaz löste es auf, entschuldigte sich und schob hinterher: »Wenn Sie zum Meer gehen, und da stehen andere Leute am Strand, fragen Sie sie um Erlaubnis, ins Wasser zu gehen?« Die Frau lachte, und die beiden freundeten sich an.

Während wir da stehen, wo all das stattgefunden hat, folgt Riyaz auf einmal einer Eingebung, kniet sich mit seiner beigen Hose auf dem dreckigen Asphalt und kratzt altes Laub weg, steckt seine Hand in ein Loch, das seitlich im Bordstein klafft, und zieht seinen Arm wieder raus, in der hohlen Hand schimmert etwas Wasser. Er hebt sie zum Mund, trinkt, und sein Gesicht strahlt. »Das ist das erste Mal, dass ich es seit damals trinke.«

Theresa kniet sich als Nächste hin, nimmt einen Schluck und blickt ihn fragend an: »Schmeckt nach nichts.«

»Genau, nichts«, sagt Riyaz und grinst.

»Ha!«, sagt Theresa lächelnd. »Stimmt, es ist nicht gechlort wie das Leitungswasser in der Stadt.«

Ich beuge mich vor und komme mit meinem Ohr dem Loch so nahe, dass ich hören kann, wie das Wasser plätschert. Das Geräusch macht mich augenblicklich ruhiger, meine Brust weiter, der ganze Stress der Stadt fällt von mir ab.

Riyaz läuft los, quer über eine kleine Wiese zu dem weißen Gebäude des Altenheims, und bedeutet uns, mitzukommen. Er klopft an ein Fenster und grinst uns erwartungsvoll an. »Hier wohnt Yasmin, die Frau, mit der ich mich an der Quelle angefreundet habe.« Sie öffnet das Fenster, Lachfalten umrahmen ihre Augen.

»Yasmin, kann ich ein Glas ausleihen?«, fragt Riyaz.

»Klar, kommt doch rein«, sagt sie.

Wir stehen in ihrer Küche und unterhalten uns, ihre Wohnung ist klein und gemütlich, von dem Fenster aus kann man die ganze Straße überblicken. In den Monaten vor dem angekündigten Day Zero kamen täglich bis zu 7.000 Menschen daran vorbei und gingen zur Quelle, um sich mit Trinkwasser zu versorgen.

»Wie war das damals für dich so nah dran?«, frage ich.

»Ich habe das genossen«, sagt sie. »Es war viel Bewegung.«

Seit Riyaz und sie sich kennengelernt haben, arbeiten sie zusammen. Sie näht orthopädische BHs, die er entworfen hat, und so saß sie jeden Tag mit Blick nach draußen an ihrer Nähmaschine und sah das Kommen und Gehen der Menschen, jene Szenen, die wie ein Sinnbild für das stehen, was damals in ganz Kapstadt passierte, etwas, das viele Besucherinnen zu dieser Zeit als »Wunder« beschrieben. Doch jetzt mit Abstand scheint es weniger wie ein Wunder, vielmehr wie eine menschliche Verhaltensweise, die in Politik und Medien bloß wenig Aufmerksamkeit bekommt – dabei ist sie entscheidend im Umgang mit den weltweiten Folgen der Klimakrise.

Angesichts fallender Pegelstände verringerte die Stadtverwaltung den Wasserdruck in den Rohren, und auch die Haushalte taten ihren Teil, reduzierten ihren Wasserbrauch drastisch. Doch es reichte nicht: Die Pegelstände fielen weiterhin, und es schien, als ließe sich Day Zero nicht mehr abwenden. Die Regierung engagierte eine Kommunikationsagentur, und diese empfahl: Panikmache. Die Politikerinnen folgten dem Rat, warnten vor Krankheiten, Gewalt und Anarchie und veröffentlichten online eine detaillierte Verbrauchskarte der Stadt, auf der jede sehen konnte, ob die Nachbarin zu viel Wasser verbrauchte. Jetzt konnten sich die Menschen gegenseitig denunzieren. Doch die Bewohnerinnen sprangen nicht darauf an. Nicht Shaming und noch mehr Trennung waren die Folgen, stattdessen wuchs eine Kultur der Eigenverantwortlichkeit und Kooperation. Eine Facebook-Gruppe zur Wasserkrise hatte bald 160.000 Mitglieder, die sich gegenseitig Tipps gaben, wie sie möglichst effizient Wasser sparen konnten: Die Menschen installierten Duschen, die Wasser wiederverwendeten, Zisternen für Regenwasser, Sparvorrichtungen für Waschmaschinen. Auch Mitglieder der weißen