Zwei Esel auf dem Jakobsweg - Tim Moore - E-Book
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Zwei Esel auf dem Jakobsweg E-Book

Tim Moore

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Beschreibung

Was passiert, wenn ein Engländer, ausgestattet mit einer großen Portion britischen Humors, sein Herz und die Zügel in die Hand nimmt und sich mit einem französischen Esel auf heiliges spanisches Terrain begibt? Genau, der Esel ist störrisch, der Weg nach Santiago de Compostela lang, und Tim Moore findet in seinem Pilgerführer aus dem 12. Jahrhundert auch nicht immer die passenden Tipps. Dafür findet er etwas anderes: den Weg in sein eigenes Herz.

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Für Shinto

Übersetzung aus dem Englischen von Theda Krohm-Linke

ISBN 978-3-492-95317-7

Oktober 2016

© 2004 Tim Moore

Titel der englischen Originalausgabe:

»Spanish Steps. One Man and his Ass on the Pilgrim Way to Santiago«, Jonathan Cape, London 2004

Deutschsprachige Ausgabe:

© Covadonga Verlag, Bielefeld, übersetzt von Olaf Bentkämper 2005

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Adam Woolfitt/Corbis

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Prolog

Zum ersten Mal hörte ich auf einem kleinen Boot in Norwegen davon. »Ich mache jetzt den Camino de Santiago«, verkündete Per, und einen Augenblick lang erwartete ich, dass er in seinen Bootsschuhen einen sinnlichen Einmann-Tango aufs Parkett der Kombüse legen würde. Der Augenblick dauerte zum Glück nicht allzu lange an, zumal Per ein kahlköpfiger, präziser Sprachlehrer ist, der mir dann erklärte, der Camino sei ein Weg in Spanien – beziehungsweise quer durch Spanien – mit einer ganz besonderen historischen und religiösen Tradition, ein … ein …

»Ein Pilgerweg?«

»Ja, genau«, erwiderte Per. Ein Pilgerweg. Nächstes Jahr im Sommer. Verträumt blickte er durch das Bullauge neben meiner Schulter und nickte zum Horizont, der auf und nieder schaukelte.

Ich war froh darüber, dass wir gerade mit einer Gruppe fröhlich Geschiedener während eines Tagesausflugs einen sonnigen Fjord entlangtuckerten und ich nicht allein mit ihm auf einem riesigen, wilden Ozean schwamm. Die Pilger, die ich aus Kirchenliedern und Monty-Python-Filmen kannte, trugen schmutzverkrustete Kapuzenumhänge und härene Hemden. Sie rutschten auf blutigen bloßen Knien über ganze Kontinente, ernährten sich von Steckrüben und religiösem Eifer, bis sie jenen fernen Schrein erreichten, der den Büßern, die ihre aufgesprungenen Lippen auf die verschrumpelte Gallenblase des heiligen Pankratius drückte, göttliche Erlösung versprach.

Verstohlen warf ich einen Blick auf Per und sah ihn schon vor mir: im verfilzten, schmutzstarrenden Umhang, lateinische Psalmen skandierend und sich geißelnd. Die Augen loderten vor fundamentalistischer Glut; seine zu Klauen deformierten Hände warteten nur auf den Ungläubigen, dessen Kopf sie durch ein viel zu kleines Bullauge drücken konnten. Auch meinte ich, die ersten Akkorde von John Bunyans To Be a Pilgrim zu hören, ein Kirchenlied, das wir im Schulgottesdienst gesungen hatten und das geradezu bebte vor alttestamentarischem Zorn und der Furcht vor dem Jüngsten Gericht.

Das war Christentum in Reinkultur, ein bisschen unangebracht im dritten Jahrtausend. Auf der Fähre nach Hause dachte ich darüber nach, dass in England der Kirchgang höchstens noch als exzentrisches, harmloses Hobby galt, so wie das Scheren von Pudeln oder die Vorliebe meines Vaters für »It’s a Long Way to Tipperary«, gespielt von der Blaskapelle der Roten Armee. Das Wort Pilger assoziieren die meisten Menschen mit der Mayflower oder höchstens noch mit einer bestimmten Käsesorte – aber mit fußlahmen Fanatikern? Heutzutage doch nicht mehr, jedenfalls nicht in Europa. Das haben wir doch alles hinter uns. Ebenso gut hätte Per mir erzählen können, dass er seinen Beruf als Lehrer aufgebe und sich zum Küfer umschulen lasse. Und doch hatte er sein Samenkorn auf meinen steinigen Boden geworfen – wenn wir uns das nächste Mal sehen, muss ich ein ernstes Wort mit ihm reden –, und da lag es nun und keimte.

Meine Frau Birna und ich reisten, ließen uns nieder und kauften ein Haus. Und dann kam eines Jahres zu Weihnachten eine Karte von Per – er hatte eine neue Frau kennengelernt, war Leiter der Sprachenabteilung geworden, und ausgelöst worden waren die Veränderungen durch seine Erfahrungen und Empfindungen auf dem Pilgerpfad nach Santiago. Na, schön für ihn. Sein Leben war ziemlich chaotisch verlaufen, und der nette lange Spaziergang nach Spanien hatte ihm geholfen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Erfreulicherweise war bei mir alles in Ordnung. Aber dann bekamen wir ein Kind, aus dem einen Kind wurden Kinder, und auf einmal war gar nichts mehr in Ordnung.

Als ich auf die vierzig zuging – beziehungsweise ziemlich brutal dorthin gezerrt wurde –, überfiel mich ab und zu die übliche Angst. Es war zwar vielleicht keine mächtige, existenzielle Lebenskrise, aber ich hatte das dumpfe Gefühl, dass meiner Seele ein wenig Ausgleich nicht schaden könne. Mit einer Einkaufstüte von Boots auf dem Schoß saß ich in der U-Bahn und grübelte darüber nach, wie sich der Boots-Slogan Ideen zum Leben auf mein eigenes Leben anwenden ließ. Warum fand persönliches Wachstum auf einmal nur noch in Spam-Mails für Viagra statt?

Die Verantwortung für drei Kinder verschärfte die Sorgen, die ich mir um mein ärmliches spirituelles Vermächtnis machte, und der Spiegel, den ich mir vorhielt, machte mir in aller Deutlichkeit klar, dass ich meine immateriellen Angelegenheiten für die nächste Generation wirklich in Ordnung bringen sollte. Mit mitfühlendem Verständnis las ich ein Interview, in dem Bob Geldof beschrieb, wann für ihn der Punkt gekommen war, seine Werte neu zu definieren: Erschrocken hatte er zugehört, wie eine seiner Töchter zwei Freundinnen bat, ihre Tassen bitte nicht in dieses Fach der Geschirrspülmaschine zu stellen, da ihr Dad ein ganz besonderes System zum Einräumen habe. Ist das wirklich alles, was ich meinen Kindern beigebracht habe?, fragte er sich gequält. Wie man die blöde Geschirrspülmaschine einräumt?

Und damit beschreibt Geldof eine Disziplin, in der mir niemand das Wasser reichen kann. Sorgt Bob etwa auch dafür, dass alle Kugelschreiber in der Dose am Telefon korrekt mit der Spitze nach unten stehen? Zwingt er nach einer langen Reise seine Kinder ebenfalls dazu, den Abfall aus dem Fußraum des Autos einzusammeln? Ist der verderbliche Inhalt seines Kühlschranks auch von oben nach unten nach Verfallsdatum geordnet – ach, lassen wir das besser!

Die Pilger im Mittelalter pilgerten, weil sie glaubten. Aber ich als ausgemachter Zyniker – woran glaubte ich eigentlich? Wir hatten zwar unseren ältesten Sohn Christian (na ja, auf Isländisch) genannt, aber meine Bibelkenntnisse beschränkten sich auf das Vaterunser und Das Omen. Und religiösen Eifer legte ich bestenfalls metaphorisch an den Tag, da ich sehr auf die Präzision der Messgeräte innerhalb und außerhalb meines Hauses bedacht bin. Ich will mich ja nicht rühmen, aber selbst die Uhr auf dem Kaminsims geht absolut genau, und im Schlafzimmer habe ich die Außentemperatur in großen roten Leuchtzahlen an die Wand projiziert.

Einundsechzig Prozent der Amerikaner vertreten die Auffassung »Das Leben hat nur deshalb einen Sinn, weil es Gott gibt«. In England bekämen Sie eine solche Prozentzahl höchstens zusammen, wenn Sie »Gott« durch »Alkoholgärung« ersetzen würden. Vielleicht ist ja religiöser Glaube als Massenphänomen im einundzwanzigsten Jahrhundert in Europa abgelöst worden durch empirisches Wissen. Und trotzdem wäre es vielleicht ganz schön, ein bisschen mehr … Tiefe ins Leben zu bringen, ohne dadurch gleich zum Anhänger von Hare Krishna oder L. Ron Hubbard zu werden.

Pers Saatkorn war aufgegangen, aber damit das zarte Pflänzchen durch den harten Boden der Trägheit stoßen und sich majestätisch erheben konnte, bedurfte es zweier Zeitungsartikel. Der erste war eine Umfrage in USA Today, bei der Santiago als Nummer sechs unter den zehn »wundervollen Orten« aufgeführt wurde, »an denen sich Ihre Seele verjüngt«. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wo ich den zweiten Artikel gelesen habe, aber unter den preiswertesten Reisen der Welt wurde der Camino aufgeführt, die Pilgerreise durch Nordwestspanien.

Ich ließ Santiago unauffällig ins Gespräch einfließen, prüfte sozusagen das heilige Wasser und entdeckte, dass das Thema wesentlich populärer war, als ich erwartet hatte. Beinahe jeder kannte jemanden, der den Camino schon gegangen war. Häufig war es der Yogalehrer, aber nicht immer. Der Typ, der das Haus meiner Eltern angestrichen hatte, war nach Santiago gepilgert, um über seine Scheidung hinwegzukommen. Auf dem Weg dorthin hatte er ein junges französisches Mädchen kennengelernt, das jetzt seine Frau war. Eine Freundin von uns, Nicky Chambers, war vor sechs Jahren im Sommer mit dem Fahrrad dorthin gefahren, begleitet von einem unkonventionellen Knaben, der dreimal so alt war wie sie. Sie hatte »etwas Spirituelles« gesucht, und als sie im Pilgerschlafsaal über einer Kirche von einem Chor in den Schlaf gesungen worden war, hatte sie es gefunden. »Ich hatte das Gefühl, ich sei gestorben und im Himmel«, erzählte sie mir kichernd am Telefon. Trotz ihres Heiterkeitsausbruchs war ich beeindruckt.

Das gemeinsame Motiv hinter diesen Kreuzzügen war die Suche nach etwas, das über die touristische Routine hinausging, nach einem Gegenmittel zum sinnleeren Konsumieren der Reisen heutzutage. Ein Ausflug auf eine moralische Hochebene – die Aussicht dort oben soll hervorragend sein. Außerdem klang »Pilgerreise« wesentlich anspruchsvoller als »Auszeit« oder »Rückzug«, obwohl es sich in Wirklichkeit doch nur um einen sehr langen Urlaub handelte. Hinzu kam, dass sich seit meiner letzten Fahrradtour quer durch Frankreich meine körperliche Ertüchtigung darauf beschränkte, den schweren Le-Creuset-Schmortopf auf das Regal über dem Kühlschrank zu hieven. Sportliche Betätigung war längst überfällig, und in diesem Fall hätte sie sogar einen spirituellen Nutzeffekt.

Vor meinem geistigen Auge nahm eine strukturierte Argumentation Gestalt an, die mir gefiel. Eine Reise, frei von jener leeren Dekadenz, welche die meisten Auslandsreisen prägt, die aber wegen der historischen Glaubwürdigkeit den Genuss von Alkohol vorsah. Urlaub, der kein Urlaub war, obwohl er mich nach Spanien führte. Eine transzendente Entdeckungsreise, die darüber hinaus ein gewisses Maß an Körperertüchtigung verlangte und deren innewohnende Askese alle Vorzüge der Sparsamkeit hatte. Die zeitgenössische Wiederbelebung eines mittelalterlichen Abenteuers, aber zum Preis von 1350.

Eins

Von Saint-Jean-Pied-de-Port auf der französischen Seite der Pyrenäen bis nach Santiago de Compostela an der Nordwestküste Galiciens in Spanien sind es rund achthundert Kilometer. Bis etwa zum letzten Viertel des vergangenen Jahrtausends legten Abermillionen von Menschen diese Strecke zurück, zum Teil, um sich die Beine in einer der reizvollsten Landschaften Europas zu vertreten, zum Teil, damit ihnen ihre Sünden vergeben wurden und sie sich ein schönes Leben nach dem Tod sicherten. Ihr Ziel war die Kathedrale, in der die sterblichen Überreste des Apostels Jakob ruhten, des heiligen Schutzpatrons von Spanien.

Jakob, der vierte Apostel Jesu, bot sich eher weniger für einen tausendjährigen Personenkult an: Er war so aufbrausend, dass die anderen Fischer ihn und seinen ähnlich unbeherrschten Bruder Johannes »Söhne des Donners« nannten. Außerdem war er so stur und anmaßend, dass er wahrhaftig verlangte, im Paradies zur Rechten von Gottes Sohn zu sitzen. Als er von seinem Herrn als Missionar nach Westen geschickt wurde, erwiesen sich diese Charaktereigenschaften als ungünstig, und als Jakob in der linken Spitze des Römischen Reichs, in Nordwestspanien, angekommen war, hatte er nicht mehr als gerade sieben Jünger um sich versammelt. Sein freches Mundwerk gereichte ihm auch nach seiner Rückkehr ins Heilige Land nicht zum Vorteil: Anno Domini 44 wurde er als erster Apostel auf Befehl von Herodes Agrippa geköpft.

Aber ein Märtyrer ist ein Märtyrer, und so schmuggelte man Jakobs Leiche aus Jerusalem hinaus und brachte sie per Schiff nach Galicien, dem Endpunkt seines erfolglosen prophetischen Kreuzzugs. Wenn ich Ihnen jetzt sage, dass diese Reise auf einem unbemannten Boot aus massivem Marmor stattfand, ahnen Sie vielleicht, dass wir uns jetzt vom Festland der Fakten vorsichtig auf die wogende See der Mythen und Legenden begeben.

Als Jakobs solides Leichengefährt am Strand angespült wird – einem Strand, übersät von Muscheln, die das Symbol des heiligen Jakob werden sollen –, erwartet ihn schon das göttlich vorgewarnte Heer der Jünger, möglicherweise alle sieben. Sie betten seine Leiche sofort in einen großen Steinsarkophag, der dann von einem Ochsengespann zu einem Hügel gezogen wird. Dieser interessiert uns hier nur insofern, als er vierzig Kilometer von der Küste entfernt liegt – eine wahre Ochsentour.

Trotz dieser faszinierenden Geschichte gerät Jakobs letzte Ruhestätte rasch in Vergessenheit, und zwar so vollständig, dass es siebenhundertfünfzig Jahre dauert, bis sie wiedergefunden wird. Mittlerweile sind die Römer den Westgoten gewichen, die ihrerseits die spanischen Zügel in die Hände der Mauren gelegt haben. Die versetzen Europa durch ihr rasches Vordringen in Angst und Schrecken: zu Anfang des achten Jahrhunderts wird Spanien fast vollständig von den Muslimen beherrscht. Allerdings nur fast, denn in ihrer Ungeduld, nach Frankreich zu gelangen, haben sie ein paar christliche Ansiedlungen in den nördlichen Bergen übersehen. Man könnte Parallelen zum gallischen Dorf von Asterix ziehen, das die Römer auch nie einnehmen konnten, und läge damit gar nicht so falsch.

Die kampfbereiten christlichen Guerillas formieren sich nämlich, unterstützt von Karl dem Großen, der die Pyrenäen überquert, um die maurischen Heiden nach Afrika zurückzudrängen. Es erweist sich jedoch als schwierig, eine einheitliche Front in Nordspanien, dem Brückenkopf für die Rückeroberung durch die Christen, zu bilden. Man benötigt dringend etwas oder jemanden, um die verschiedenen antiislamischen Bewegungen zu einigen und den gerechten Zorn der christlichen Welt zu schüren. Wenn wir doch nur … Was ist los, du alter Eremit? Du hast Sterne über einer Höhle in den Hügeln funkeln sehen? Du bist hineingegangen und hast diese Knochen ausgegraben? Hier, Bischof Theodomir, lass das Skelett mal überprüfen! Tatsächlich? Na, das ist doch ein Ergebnis. Und die anderen beiden? Hey, Leute: Wir haben gerade Santiago gefunden. Und die anderen Skelette sind wahrscheinlich seine Jünger.

Es erinnert alles ein bisschen an Das Leben des Brian. Wie durch Zufall fügen sich die einzelnen Teile zum Gesamtbild. Campus stellae, das Sternenfeld, aus dem sich letztendlich der Name ergab: Santiago de Compostela. Die Knochen des heiligen Jakob, eines echten Apostels, gehören zu den wertvollsten Reliquien des Christentums – und hinzu kommt noch, dass der demütige Pilger Jakob, der Urvater aller Pilger auf dem Jakobsweg, der Legende nach zugleich auch Santiago Matamoros ist, Jakob der Maurentöter. Man erblickte den heiligen Jakob regelmäßig am Himmel auf seinem weißen Schlachtross, wenn die Heiden mal wieder in die Flucht geschlagen wurden – nicht weniger als sechzigtausend Tote werden ihm in der (wahrscheinlich fiktiven) Schlacht von Clavijo im Jahr 844 zugeschrieben. Er war also einerseits das Maskottchen für die harmoniesüchtigen Christen, die ihren Nächsten lieben wollten, und ein unersättlicher Psychopath für die, die sie lieber enthauptet sahen.

Diese Bandbreite an Fans machte Santiago de Compostela zu einer der beliebtesten christlichen Pilgerstätten. Der damalige König Alfonso ließ an der Stelle eine Kirche und ein Kloster erbauen, um die eine Stadt herumwuchs. Die ersten Pilger werden Ende des neunten Jahrhunderts erwähnt, und Mitte des zehnten Jahrhunderts erfreute sich der Camino de Santiago bereits großer Beliebtheit. Als im zwölften Jahrhundert der christliche Fundamentalismus auf dem Höhepunkt und die Kreuzzüge in vollem Gang waren, kamen jedes Jahr schätzungsweise zwischen zweihundertfünfzigtausend und einer Million Pilger nach Santiago. In einem Heiligen Jahr, wenn der Jakobstag, der 25. Juli, auf einen Sonntag fiel, waren es sogar noch mehr. (Nach päpstlichem Erlass erhielten Pilger in einem Heiligen Jahr vollständigen Ablass für alle Sünden. Und mit dem Pilger-Hattrick – Santiago, Rom, Jerusalem – konnte man so viele Sündenmeilen sammeln, dass man für die Zukunft sogar Missetaten gut hatte.)

Zu einer Zeit, als es in Europa noch weniger als fünfundsechzig Millionen Einwohner gab und die durchschnittliche Lebenserwartung bei fünfunddreißig Jahren lag, ergeben sich faszinierende demografische Folgerungen: Nach einer Berechnung (ja, zugegeben, es ist meine eigene) stattete zwischen einem Fünftel und einem Drittel der mittelalterlichen Bevölkerung irgendwann einmal dem heiligen Jakob einen persönlichen Besuch ab. Als der Camino zum ersten europäischen Kulturweg erklärt wurde, stellte der Europarat fest: »Die Pilgerreise nach Compostela wird als die größte Massenbewegung des Mittelalters angesehen.«

Als Google meine Neugier geweckt hatte, wandte ich mich der Fachliteratur zu. Am Anfang hatte ich noch das Monty-Python-Bild von Pilgern als willenlosen, masochistischen Fanatikern im Kopf, zumal es schwierig war, ihre Motive auf einen Nenner zu bringen, wenn man einmal davon absieht, dass sie alle der Hölle entkommen wollten. Die Kranken – die an grässlichen mittelalterlichen Gebrechen litten – wurden von der Hoffnung auf wundersame Heilung angezogen, ebenso wie die Umnachteten. Thomas Becket zum Beispiel empfahl die Pilgerreise einer Frau, die fürchtete, vom Satan besessen zu sein. Die Neugierigen kamen, um etwas zu lernen und um Abenteuer zu erleben. Die Bösen kamen, um das einladend hilflose Heer der Touristen zu berauben, entweder gewaltsam oder arglistig; und wenn sie erwischt wurden, kamen sie erneut, da man Verbrechern anstelle einer weniger reizvollen Bestrafung die Möglichkeit bot, nach Santiago zu pilgern. (Gewöhnlich wurden sie aufgeknüpft, und ihr Kadaver verrottete an der Straße – im Mittelalter blieb einem der Galgen nur erspart, wenn man ein weniger offensichtliches Verbrechen begangen hatte, wie zum Beispiel eine Ehebrecherin aus Surrey, die 1325 vor die Wahl gestellt wurde, entweder nach Santiago zu pilgern oder »sechsmal mit Ruten um verschiedene Kirchen geprügelt zu werden«.)

Manche Pilger wurden von ihrem Dorf geschickt, um bei Pestilenz oder Hungersnot die Rettung des Himmels zu erflehen, oder sie mussten als Vertretung für ihre faulen Herren die Wanderschaft antreten. Der Sündenerlass galt nämlich für den Namen, der auf der Compostela stand, dem Zertifikat, das am Ende der Reise ausgestellt wurde. In Santiago trafen sich die Guten, die Bösen und die Gemeinen.

Und sie kamen aus den entlegensten Ecken der bekannten Welt. Gottesfürchtige, verwegene Pilger machten sich nicht nur aus Frankreich, Italien, Großbritannien und Deutschland auf den Weg, sondern sie kamen auch aus Griechenland, Polen und Ungarn. Einer der frühesten Berichte erzählt von der Pilgerreise eines Wikingers im Jahr 970. Ein armenischer Eremit berichtete 983 von seinem Besuch in Compostela. Aus den Trampelpfaden wurden Hauptstraßen, die sich von Nordeuropa durch Westfrankreich an Saint-Jean-Pied-de-Port vorbei über die Pyrenäen erstreckten; nach und nach kamen andere Wege vom Mittelmeer her hinzu, und so zog sich der Camino Frances, der französische Weg, immer weiter nach Westen, auf den Spuren der Römer.

Und alle Pilger hinterließen eine Fährte aus Gold, wenn sie in den Gasthöfen übernachteten und aßen, wenn sie die Messe besuchten und eine Münze auf den Kollektenteller legten. Auch bekannte Persönlichkeiten, von Franz von Assisi bis hin zu El Cid, pilgerten nach Santiago, und vor allem Monarchen kamen so reichlich, dass der Weg bald als Camino Real, königlicher Weg, bezeichnet wurde. Prinz Sigurd von Norwegen, Ludwig IX. von Frankreich, Ferdinand und Isabella von Spanien, sie alle wollten den Kampf gegen den Antikatholizismus unterstützen. (Edward I. von England schickte allerdings einen Vertreter, und Heinrich II. hatte zwar dem Papst geschworen, dem heiligen Jakob höchstpersönlich seine Aufwartung zu machen, begnügte sich dann aber mit der kürzeren, weniger beschwerlichen Pilgerreise nach Canterbury.) Santiago de Compostela jedenfalls blühte und gedieh. In zahlreichen Gasthöfen und Tavernen wurde für das leibliche Wohl der Pilger gesorgt, und die Goldschmiede sorgten mit edelsteinbesetzten Schreinen für die spirituellen Bedürfnisse von Königen und ihrem reichen Gefolge. Befestigte Klöster und Kirchen boten Zuflucht vor den Mauren, und auch auf Burgen und Schlössern war Schutz zu finden.

997 nahmen die Mauren Santiago ein, zerstörten die Kirche und stahlen die heiligen Glocken. Sie wurden als Olivenölbehälter in Córdoba missbraucht, bis die Christen sie zweihundertvierzig Jahre später zurückeroberten. Im zwölften Jahrhundert allerdings war der nördliche Weg nach Compostela weitgehend sicher vor heidnischen Überfällen und wurde nun auch als Handelsstraße genutzt. Die Woll- und Kornhändler von Navarra und Kastilien konnten ihre Produkte in Ruhe exportieren, und als sie immer reicher wurden, errichteten sie voller Dankbarkeit Kathedralen.

Mit dem Zurückweichen der maurischen Bedrohung jedoch verrohten die Sitten, und das rüpelhafte Benehmen der Pilger hatte nichts mehr mit dem ursprünglichen religiösen Anspruch des Jakobswegs gemein. Statt frommer Wanderer waren immer mehr geldgierige Touristen unterwegs. In der Kathedrale brachen regelmäßig Raufereien aus, der Papst musste eingreifen, um den Verkauf »gefälschter« Jakobsmuscheln und anderer dubioser Souvenirs auf dem Platz vor der Kirche zu verbieten, und an der Strecke ließen sich immer mehr Bettler und Quacksalber nieder. Wegen der zunehmenden Zahl von Taschendieben, falschen Priestern und leichten Mädchen verbot Ludwig XIV. seinen Untertanen, nach Santiago zu pilgern. »Du gehst als Pilger und kommst als Hure zurück«, hieß es in einer Redensart der damaligen Zeit. Das goldene Zeitalter neigte sich dem Ende zu.

Zum ersten Mal dachten die europäischen Christen das Undenkbare, und sie schrieben es sogar auf. »Es gibt weder Haar noch Knochen vom heiligen Jakob im spanischen Compostell«, berichtete der britische Reisende Andrew Borde im sechzehnten Jahrhundert – und dabei war er als Pilger unterwegs. Die Reformation und das daraus erwachsende Protestantentum in weiten Teilen Nordeuropas reduzierten schließlich den Pilgerstrom auf Franzosen und Italiener. Im achtzehnten Jahrhundert trugen Aufklärung und Wissenschaft dazu bei, dass der stetige Strom zu einem Tröpfeln wurde, und 1835 brach die Infrastruktur entlang des Jakobswegs völlig zusammen, als nämlich der spanische Staat sich den gesamten Besitz der großen religiösen Orden unter den Nagel riss und verkaufte.

Und wieder einmal verlor sich die Spur der Knochen von Santiago. 1884 tauchten unter dem Fußboden der Kathedrale drei Skelette auf, aber selbst als der Papst daraufhin hastig bestätigte, es handle sich um die Knochen des heiligen Jakob und seiner beiden Jünger, hörte niemand richtig zu. Auf dem heiligen Weg wurde es still, und die Natur eroberte ihn zurück: Wer in den Fünfzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts die Pilgerreise nach Santiago de Compostela antreten wollte, brauchte ein Zelt, einen Kompass und eine Machete. Eine Amerikanerin, die 1982 von Saint-Jean nach Santiago wanderte, verlief sich ständig in dunklen Wäldern, ohne jemals einer Menschenseele zu begegnen.

In einem anderen Land wäre vielleicht die ganze Angelegenheit völlig in Vergessenheit geraten, nicht aber in Spanien, wo man sich in Gottes Namen auch heute noch mit Tomaten bewirft, die Jungen Santiago tauft und die Mädchen Camino. Das von König Ferdinand und Königin Isabella erbaute Hostal de Los Reyos Católicos am Platz vor der Kathedrale ist zwar längst zu einem Luxushotel umgebaut worden, in dem Julio Iglesias besonders gern absteigt, aber das Management dort erfüllt immer noch seine traditionelle Pflicht. Wenn Sie in Ihren schmutzigen Wanderklamotten mit einer Compostela in der Hand an der prächtigen Rezeption auftauchen, dann bekommen Sie drei Tage lang eine kostenlose Mahlzeit. Ich schmeckte sie bereits auf der Zunge.

Zwei

So wie die Bruderschaft des heiligen Jakob nach einer sinistren Freimaurersekte klingt, denkt man bei ihrem Pilger-Workshop automatisch an Zwangsarbeit in einer unbelüfteten, mit Torf befeuerten Gießerei. Deshalb war es für mich beinahe eine Enttäuschung, als ich an einem Samstagmorgen Anfang März in einen Gemeindesaal im Süden Londons kam und auf lauter relativ normal aussehende Leute in Steppwesten traf, die Nescafé aus Plastikbechern tranken.

Ein paar scharfsinnig dreinblickende, zerzauste Akademiker, vier unerschrockene Emanzen, zwei oder drei Eigenbrötler, die sich Notizen machten, und jede Menge Fleecejacken. Da ich bei Weitem der jüngste der Anwesenden war, schloss ich daraus, dass Pilgerreisen ein Zeitvertreib für Senioren waren. Der typische mittelalterliche Pilger war kein König oder Bischof, sondern ein Leibeigener, ein Mann, der erst dann nach Santiago pilgern durfte, wenn sein Herr sein produktives Leben als beendet betrachtete. Damals wird das so ungefähr mit fünfundvierzig Jahren gewesen sein. Seitdem haben wir das Rentenalter zwar ein wenig angehoben, aber fast alle um mich herum waren noch Lohnsklaven, denen verspätet die Freiheit gewährt worden war. Wie auf ein Stichwort hin stand ein Graubart im karierten Hemd auf, der gerade erst von Canterbury nach Santiago gewandert war (zustimmendes Gemurmel: »Hmm, so muss man es machen!«), und begrüßte die anwesenden Möchtegernpilger.

»Hartherzigkeit und Selbstsucht«, sagte er und blickte uns mit leuchtenden Augen an. »Das sind die Steine, die Sie in Santiago zurücklassen müssen.«

Na, das kam der Sache schon näher, auch wenn es mir ein wenig schwerfiel, diese herzhaft nickenden Menschen mit der spirituellen Wiederauferstehung des Jakobswegs in Verbindung zu bringen – von 2500 im Jahr 1986 waren die Pilgerzahlen im Heiligen Jahr 1999 auf 154 000 angestiegen. Man konnte sich zwar vorstellen, dass sie sich freiwillig melden würden, um in einem Stromleitungen zu verlegen oder gelbe Pfeile auf Wände und Asphalt zu malen, damit die Pilger auf dem rechten Weg blieben.

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