Zwei Männer für Miss Darcy - Ali McNamara - E-Book

Zwei Männer für Miss Darcy E-Book

Ali McNamara

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Beschreibung

Die junge Darcy erbt eine kleine Insel vor der irischen Küste und stellt fest, dass die Liebe an unerwarteten Orten wohnt.

Darcy McCall fällt aus allen Wolken: Ihre Tante Molly hat ihr nicht nur ein millionenschweres Vermögen hinterlassen, sondern auch ein gottverlassenes Stückchen Erde: die kleine Insel Tara vor der irischen Küste. Und genau hier liegt Darcys Problem, denn das Geld bekommt sie nur, wenn sie zwölf Monate dort verbringt. Widerstrebend lässt sie ihr hippes Londoner Großstadtleben hinter sich, nur um festzustellen, dass die Insel gar nicht so einsam ist. Denn gleich zwei Männer setzen dort alles daran, Darcy zum Bleiben zu bewegen ...

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Seitenzahl: 631

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Buch

Die junge Darcy McCall fällt aus allen Wolken, als sie bei der Trauerfeier für ihre Tante erfährt, dass sie als Alleinerbin eingesetzt wurde. Zu Darcys eigenem Bedauern hat sie Molly seit Jahren nicht mehr gesehen, doch die alte Dame lebte immer bescheiden. Bei dem Erbe handelt es sich jedoch um einen Geldbetrag in Millionenhöhe – und um eine kleine Insel vor der Küste von Irland. Besonders schockiert ist Darcy über die Bedingung, die mit dem Erbe einhergeht: Darcy muss ein Jahr lang auf dem verlassenen Stückchen Erde leben, auf dem ihre Tante groß wurde, und mindestens 14 Menschen dazu überreden, dorthin umzusiedeln, um auch das Geld zu bekommen. Für die hippe Londonerin, Redakteurin bei einem Modemagazin, undenkbar. Und doch tauscht Darcy High Heels gegen Gummistiefel, um Mollys letzten Wunsch zu erfüllen. Mit sich nimmt sie eine bunte Gruppe, die sich fortan der Wiederinstandsetzung der alten Cottages und des Insellebens widmet. Und schon bald erliegt die Großstädterin dem Charme der Insel Tara sowie der Anziehungskraft von gleich zwei Männern. Darcy muss sich entscheiden, wem und wohin ihr Herz gehört …

Weitere Informationen zu Ali McNamara

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

Ali McNamara

Zwei Männer

für Miss Darcy

Roman

Aus dem Englischen

von Sina Baumanns

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die englische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Breakfast at Darcy’s« bei Sphere, an imprint of Little Brown Group, London.

Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2013

Copyright © der Originalausgabe 2011 by Ali McNamara

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © FinePic®, München

Redaktion: Cathrin Wirtz

MR · Herstellung: Str.

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN 978-3-641-09964-0V003

www.goldmann-verlag.de

Für all diejenigen,

die an etwas glauben.

Oder es eines Tages tun werden.

1

Beerdigungen haben mir schon immer gefallen.

Sie haben eine so beruhigende Gewissheit an sich.

Ganz anders als Hochzeiten. Denn ganz egal, wie schön sie sind, wie viel Hoffnung und Euphorie sie für die Zukunft ausstrahlen, so nagt an mir doch immer der leichte Zweifel, ob das glückliche Paar wohl in ein paar Jahren immer noch zusammen sein wird. Oder ob es vielleicht schon die Scheidung einreicht und exorbitante Anwaltskosten zahlt, um sich um eines der hinreißenden, aber sehr teuren Hochzeitsgeschenke zu streiten, die noch geduldig darauf warten, ausgepackt zu werden.

Taufen gehören für mich mehr oder weniger in die gleiche Kategorie. Oft ertappe ich mich nämlich bei der Frage, ob dieses Kind wirklich an seinem Glauben festhält, wenn er oder sie achtzehn wird und von den fleischlichen Verlockungen in Versuchung geführt wird. Insbesondere dann, wenn man feststellen muss, dass der eine Pate noch am Taufbecken bei Twitter seinen Status auf den neusten Stand bringt, während die andere Patin ihr Spiegelbild im Weihwasser überprüft.

Aber das ist nur meine Sicht der Dinge; ich weiß eben gern, was als Nächstes passiert. Allzeit bereit – ich halte mich da ganz an den alten Pfadfinderspruch. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob der durchschnittliche Pfadi-Gruppenleiter mir zu sechs Kleiderwechseln während eines Wochenendausflugs raten würde, wenn drei – wenn überhaupt – vollkommen ausreichend wären.

Die Beerdigung, an der ich gerade teilnehme, ist die meiner Tante Emmeline oder Tante Molly, wie ich sie als Kind immer genannt habe. Und wenn ich bedenke, wie nahe wir uns in meiner Kindheit standen, muss ich mir jetzt zu meiner großen Schande eingestehen, dass ich mich nicht mehr genau daran erinnern kann, wann ich Tante Molly zum letzten Mal gesehen habe. Ich hatte immer vorgehabt, mal wieder zu ihr rüberzufliegen und ihr einen Besuch abzustatten, doch aus Wochen wurden Monate und aus Monaten Jahre; Sie wissen ja, wie schnell heutzutage die Zeit vergeht.

Seit wann ist das eigentlich so? Ist das vielleicht eine jener EU-Verordnungen wie die, dass alles nur noch in Kilogramm und Litern gemessen wird? Ist etwa kürzlich die Zeit beschleunigt worden, und ich habe nur die große offizielle Regierungserklärung verpasst?

Mit dem erwähnten »rüber« ist Irland gemeint. Dublin, um genau zu sein. Im Augenblick stehe ich vor den Toren der Stadt, in dem Dörfchen, in dem meine Tante die letzten Jahre ihres Lebens verbracht hat. An dieses kleine Cottage, in dem nun der Leichenschmaus stattfindet, kann ich mich gar nicht erinnern. Das Haus in meiner Erinnerung war ein riesengroßes Herrenhaus direkt am Meer im County Kerry. Als Kind habe ich immer meine Ferien bei ihr verbracht, weil meine Mutter arbeiten musste. Ich erinnere mich an fröhliche Tage, die ich hauptsächlich draußen und im strahlenden Sonnenschein verbracht habe. Sogar im Winter, wenn wir uns warm eingepackt hatten zum Schutz vor dem beißenden Wind, der vom Meer herüberblies und über das Land fegte, schien in meiner Erinnerung an Tante Molly immer die Sonne.

Warum scheint in Kindheitserinnerungen eigentlich immer die Sonne? Hat das auch etwas mit der EU zu tun?

Noch während ich darüber nachdenke, reißt mich eine Dame mit kleinen weißen Locken aus meinen Gedanken. »Noch eine Tasse Tee, Liebes?« Sie trägt eine Schürze mit Blümchenmuster, steht neben mir und hält mir eine Kanne Tee entgegen.

»Nein danke, ich hatte bereits zwei Tassen«, erwidere ich und lege meine flache Hand auf die Tasse.

»Dann vielleicht noch ein wenig Kuchen?« Sie deutet auf den Tisch, der unter der Last der Essensmengen zu ächzen scheint.

»Sehr freundlich, aber nein danke.«

»Sie sind nicht von hier, oder?« Durch ihre silberne Brille hindurch mustert sie mich eingehend.

»Nein. Ich bin aus London für die Trauerfeier hergekommen.«

»Natürlich. Und woher kennen Sie Emmeline?«, fragt sie neugierig und nimmt mich von Kopf bis Fuß in Augenschein.

»Ich bin ihre Nichte.«

Sofort ändert sich der Gesichtsausdruck der Frau; freudig überrascht sieht sie mich an. »Oh, dann müssen Sie Darcy sein! Wie schön! Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, meine Liebe?«

»Ja, das stimmt.« Ich lächele sie an. »Woher wissen Sie, wie ich heiße?«

»Ich bin Maeve. Molly war meine direkte Nachbarin.« Bei der Erinnerung an ihre Freundin wird ihr Blick ganz traurig. Er hellt sich jedoch langsam wieder auf, als sie voller Zuneigung von ihr erzählt. »Molly hat immer von Ihnen gesprochen, ja, das hat sie. Davon, wie Sie sie als Kind immer besucht haben – als sie noch das große Haus in Kerry hatte. Wirklich schade, dass Sie in letzter Zeit nicht mehr kommen konnten, obwohl …« Sie sieht mich vorwurfsvoll an.

»Es ist nur … Ich hatte beruflich alle Hände voll zu tun und war auch sonst sehr beschäftigt.« Wie schon den ganzen Tag über meldet sich wieder mein schlechtes Gewissen.

»Was machen Sie gleich noch einmal? Ich glaube, Molly hat erzählt, dass Sie Zeitungsreporterin sind, nicht wahr?«

»So ähnlich … Ich arbeite als Kulturredakteurin bei einem Gesundheits-und-Beauty-Magazin für Frauen.«

»Gesundheit und Schönheit, sagen Sie?« Maeve denkt kurz nach. »Was soll man denn darüber schreiben? Einmal kräftig mit einer ordentlichen Phenolseife abschrubben und dann mit kaltem Wasser abbrausen, das hat mich mehr als achtzig Jahre lang fit gehalten.«

Überrascht schaue ich Maeve an. Sie sieht ganz gewiss nicht aus wie über achtzig. Auf den ersten Blick hätte ich sie höchstens auf Mitte/Ende sechzig geschätzt, und auch ihre Haut wirkt deutlich jünger.

»Ja, das überrascht Sie jetzt, nicht wahr?« Stolz streicht sie die Rüschen ihrer Schürze glatt. »All diese teuren Cremes und Hautprodukte können Sie getrost vergessen! Die braucht man gar nicht.« Sie beugt sich zu mir. »Ich will Ihnen einen Rat geben, mein Kind. Sie sollten besser damit aufhören, sich all diese Schminke ins Gesicht zu schmieren. Auf lange Sicht wird Ihnen das die Haut ruinieren. Saubere, frische Luft und einen gesunden Lebensstil – mehr braucht man nicht, um jung zu bleiben.«

Unbewusst taste ich mit der Hand nach meiner unglaublich kleinen Mulberry-Tasche. Die ist zum Bersten gefüllt mit Lippenstiften, Puderdöschen, Augenbrauenbürsten und Kompaktpuder – für gewöhnlich ist allein meine Make-up-Tasche größer als dieses winzige Ding. Heute allerdings habe ich mich für dieses Handtäschchen entschieden, weil es farblich genau zu meinen zinngrauen Louboutins passt. Für Tante Mollys Beerdigung wollte ich so gut wie möglich aussehen, selbst wenn sie nicht mehr da war, um mich so zu sehen.

»So«, fährt Maeve fröhlich fort und scheint von einem Moment auf den anderen ihre ernste Warnung vergessen zu haben. »Es ist so schön, dass jemand von der britischen Seite von Mollys Familie es geschafft hat herzukommen, um ihr die letzte Ehre zu erweisen.«

»Stimmt, von uns gibt es nicht mehr allzu viele«, fange ich an, doch da ist Maeve schon längst von einem schwergewichtigen Mann abgelenkt worden, der gerade über einer Platte mit Obstkuchen sinniert.

»Mein Lieber, darf ich Ihnen ein Stück von dem Kuchen abschneiden?«, fragt sie ihn und ist froh, wenigstens irgendjemandem in Sachen Essen behilflich sein zu können.

Während Maeve dem Mann ein großes Kuchenstück abschneidet, betrachte ich die bunt zusammengewürfelte Menschenmenge, die sich nun in der Küche des winzigen Steincottage drängt, das meiner Tante gehört hat. Aufgrund des Altersdurchschnitts nehme ich an, dass all diese Leute Mollys Freunde und Bekannte sind. Diese Vermutung habe ich bereits seit der Kirche – es war schon seltsam, dass alle Anwesenden so viel älter waren als ich. Bei Beerdigungen kommen normalerweise Trauernde verschiedenen Alters zusammen, doch bei Mollys Trauerfeier waren alle Anwesenden etwa in Mollys Alter. Familienmitglieder waren nicht darunter, da ich sehr genau weiß, dass Molly außer meiner Mutter keine Schwestern oder Brüder hatte. Und da meine Mutter gestorben ist, als ich zwanzig war, also vor mittlerweile gut sieben Jahren, bin ich die Einzige, die von dieser Seite der Familie übrig geblieben ist. Verzweifelt versuche ich, mich an einige der Geschichten zu erinnern, die Molly mir als Kind über ihre eigene Kindheit in Irland erzählt hat, doch wie sehr ich mir das Hirn auch zermartere – mir will einfach nichts einfallen. Es ist ein ziemlich frustrierender Gedanke, dass Erinnerungen, die ich wachrufen will, vergraben bleiben, während ich mich an anderes erinnern könnte, was ich aber lieber vergessen würde.

Mit einem ungeduldigen Seufzer trinke ich den letzten Schluck meines Tees mit Milch. Wie konnte ich es nur so weit kommen lassen? Als Kind hat Tante Molly mir so viel bedeutet; wie habe ich zulassen können, sie dermaßen aus meinem Leben driften zu lassen? Ich hätte mich mehr bemühen müssen, mit ihr in Kontakt zu bleiben … Und ich hätte mir wirklich die Mühe machen sollen, sie hier zu besuchen. Schließlich waren wir nicht im Streit auseinandergegangen; wir hatten uns nur auseinandergelebt. Nein, das zu behaupten wäre unfair: Ich hatte zugelassen, dass wir uns auseinandergelebt hatten.

»Entschuldigen Sie bitte?«

Ich drehe mich um, und neben mir steht ein schlanker, elegant gekleideter junger Mann mit Anzug und Krawatte. »Habe ich es mit Miss McCall zu tun?«

»Ja, das haben Sie.«

»Miss Darcy McCall?«

»Ja.«

Erleichtert schaut er mich an. »Oh, sehr gut. Dann erlauben Sie mir bitte, mich Ihnen vorzustellen.« Er streckt mir seine Hand entgegen. »Niall Kearney. Stets zu Ihren Diensten, Miss McCall.«

»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Mr Kearney.« Zögernd erwidere ich seinen Händedruck.

Er nickt.

Ich lächele und hoffe, dass ihn das dazu bringt weiterzureden.

»Entschuldigung, natürlich sagt Ihnen der Name nichts, nicht wahr?« Er greift in seine Jacketttasche und holt eine Visitenkarte hervor. »Hier ist meine Karte. Mein Vater, Patrick Kearney, war viele Jahre lang der Anwalt und Freund Ihrer Tante. Er bedauert es zutiefst, dass er heute nicht hier sein kann, doch leider geht es ihm im Augenblick nicht allzu gut, und deshalb vertrete ich die Kanzlei in seinem Namen.« Während er mich stolz darüber informiert, strafft er die schmalen Schultern in seinem Jackett, das ihm ein bisschen zu groß ist.

»Ich verstehe.« Einen Moment lang starre ich auf die Karte. »Aber wie kann ich Ihnen behilflich sein, Mr Kearney?«

Verstohlen schaut sich der Mann nach allen Seiten um, bevor er sich zu mir vorbeugt. »Zuallererst, Miss McCall«, flüstert er, »muss ich darauf bestehen, dass Sie mich Niall nennen. Ich mag vielleicht Anwalt sein, aber mir gefällt der etwas persönlichere Umgang miteinander besser.« Wieder sieht er sich verstohlen um. »Aber wir sollten zuerst einen etwas privateren Ort aufsuchen, um unsere Unterhaltung fortzusetzen.«

»Ich bin nicht sicher, ob …« Ich zögere wieder; dieser Typ kommt mir ziemlich seltsam vor.

»Es ist nur …« Er lässt den Blick um sich schweifen und deutet mir an, das Gleiche zu tun. Und tatsächlich: Obwohl alle anderen in diesem Zimmer so tun, als würden sie ihren Tee trinken und wären in die Unterhaltungen mit ihren Gesprächspartnern vertieft, wandern ihre Blicke immer wieder rasch zu uns, bevor sie ebenso rasch wieder wegschauen. Ohren werden definitiv in unsere Richtung geneigt und Hörgeräte angepasst, während Niall und ich unbeholfen in der gegenüberliegenden Ecke der Küche beisammenstehen. »Was ich zu sagen habe, ist recht delikater Natur. Ich möchte nur ungern, dass das innerhalb von zehn Minuten die Runde in der Küche und im ganzen Dorf macht.«

»Vielleicht sollten wir uns dann wirklich an ein ruhigeres Plätzchen zurückziehen.« Suchend schaue ich mich um. »Wie wäre es, wenn wir nach draußen gehen?«, schlage ich vor, als mein Blick durch das Küchenfenster auf Tante Mollys Garten fällt. »Ich bezweifle, dass sich dort heute irgendwer aufhält – dafür ist es einfach viel zu kalt.«

Ich ziehe mir meinen dunkelgrauen Mantel im Military-Look an und freue mich insgeheim, ihn noch einmal tragen zu können. Dieses Juwel von Vivienne Westwood habe ich erst kürzlich online erstanden – ein Glücksgriff mit einem Rabatt von fünfundsiebzig Prozent. Ich hatte hin und her überlegt, ob ich ihn kaufen sollte, doch an diesem eiskalten Januartag ist der Mantel seinen Preis wirklich allemal wert.

Um nicht noch mehr Misstrauen und Argwohn zu erregen, flüchten wir nacheinander in den Garten. Als ich nach draußen trete, schlägt mir die frostige Luft entgegen, und ein starker Wind weht mir die langen Haare von der Schulter ins Gesicht.

Blöder Wind! Von allem, was das Wetter so zu bieten hat, hasse ich den Wind wirklich abgrundtief. Er greift mich immer dann an, wenn ich das Haar gerade frisch frisiert habe – mein langes blondes Haar, mühevoll geglättet bis zum Gehtnichtmehr. Sobald ich den ersten Schritt vor die Tür setze, liegt oben im Himmel schon eine starke Windböe auf der Lauer, wie man es von Zeichnungen in Kinderbüchern kennt. Die Böe grinst boshaft zu mir herunter, bevor sie dann zu ihrer Attacke auf meine Frisur ansetzt. Bei Regen kann man sich ja wenigstens noch mit einem Schirm zur Wehr setzen. Aber Wind verhindert jegliche Schutzmaßnahme dieser Art und ist darum das deutlich größere Übel.

Die freie Natur und ich sind im Januar nicht unbedingt beste Freunde – so ist es eben. Aber nach all der stickigen Luft in dem brechend vollen Haus bin selbst ich für die kühle, frische Luft dankbar, die mir um die Nase weht und meine Lungen füllt. Ich wende mich an Niall.

»Worum geht’s denn nun bei diesem großen Geheimnis?«, frage ich höflich und bemühe mich gleichzeitig, mein Haar in den Mantelkragen zu stopfen. Diese Zusammenkunft hier in Mollys Garten hat etwas absolut Geheimnisvolles. Dabei ist es wirklich eine Schande, dass Niall nicht besser aussieht, sonst hätte dieses heimliche Treffen mit einem Fremden unter freiem Himmel wirklich aufregend werden können.

Ich bremse mich. Ich muss damit aufhören, jeden sofort nach seinem Äußeren zu beurteilen – was ich mir leider angewöhnt habe, seitdem ich beim Goddess-Magazin arbeite. Mir ist klar, dass sich fast jeder schon nach den ersten Sekunden gleich eine Meinung über jemanden bildet. Aber wenn man wie ich in der Schönheitsbranche arbeitet, in der das äußere Erscheinungsbild alles ist, was zählt, wirkt diese Angewohnheit noch viel erschreckender.

Mal ganz abgesehen davon, dass es wirklich nicht Nialls Schuld ist, dass er, na ja, wie soll ich es auf nette Weise sagen … lassen Sie es mich so formulieren: Er ist eben kein Ölgemälde. Der schlichte graue Anzug, den er trägt, besteht aus einem einreihigen Jackett und einer Hose, kombiniert mit einem weißen Hemd und einer schlichten bordeauxfarbenen Krawatte – was man wohl kaum als eine sonderlich spannende Kombination bezeichnen kann. Niall selbst ist nur knapp über 1,70 m groß und recht schmal gebaut – okay, er ist spindeldürr. Dazu trägt er eine schlichte Brille mit silberner Fassung und hat welliges mausbraunes Haar, das zu einem akkuraten Kurzhaarschnitt frisiert ist – was insgesamt gesehen für einen jungen, aufstrebenden Anwalt aus Dublin ganz angemessen ist. Nach eingehender Betrachtung beschließe ich, dass er nicht wirklich hässlich ist, aber eben auch nicht attraktiv – er sieht eben … schlicht aus.

»Es handelt sich keineswegs um ein Geheimnis, Miss McCall«, erwidert Niall und reißt mich aus meinen Gedanken. »Ich muss lediglich einen Termin mit Ihnen vereinbaren, das ist alles.«

»Warum?«

»Um den letzten Willen Ihrer Tante zu verkünden.«

In dem Augenblick bin ich nicht ganz bei der Sache, da ich gerade verzweifelt versuche, mit meinen Louboutins nicht im weichen, matschigen Gras zu versinken. Denn nur weil ich sie noch brandneu bei eBay einer Frau abgekauft habe, die sie verkaufte, um die Hochzeit ihrer Tochter bezahlen zu können, heißt das nicht, dass ich mit ihnen den Garten umgraben will. »Molly hat ein Testament hinterlassen?«

»Ja, und ein recht vertracktes obendrein, wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben. Sie wusste sehr genau, was mit ihrem Besitz geschehen sollte, als sie starb.«

»Ihrem Besitz?« Ich spitze die Ohren: Anwälte nehmen das Wort »Besitz« für gewöhnlich nur in den Mund, wenn es um eine ordentliche Geldsumme geht. »Meine Tante Molly hatte also ein paar Groschen im Sparstrumpf, sagen Sie?«, scherze ich und lächele Niall an.

»Bitte, Miss McCall«, rügt er mich und starrt mich finster über den Rand seiner Brille hinweg an. »Eine Testamentseröffnung ist eine ernste Angelegenheit, über die man keine Witze machen sollte.«

»Nein, natürlich nicht, Mr Kearney, ich … Ich meine natürlich Niall.« Ich versuche, einen ernsthaften und nüchternen Eindruck zu machen. »Wann findet die Testamentseröffnung statt?«

»Das hängt ganz von Ihnen ab, Miss McCall.« Wie zuvor drinnen schaut sich Niall wieder auf die gleiche verstohlene Art und Weise um. Während er dann den Kopf zu mir neigt, schweifen seine hellblauen Augen ein letztes Mal herum. »Denn«, fährt er so leise fort, dass ich Mühe habe, ihn zu verstehen, »ich bin erfreut, Ihnen mitteilen zu dürfen, Miss Darcy McCall, dass Sie die Alleinerbin von Miss Emmeline Ava Aisling McCalls gesamtem Besitz sind.«

2

Ich bin was?« Ich rufe so laut, dass ein Rotkehlchen, das auf einem Stechpalmenstrauch in der Nähe sitzt und nach Futter sucht, verschreckt in einer Regenrinne Schutz sucht. Es beäugt uns vorsichtig und scheint darüber nachzudenken, ob die zwei Eindringlinge in seinem Garten möglicherweise eine Gefahr für seine winterliche Nahrungssuche darstellen.

Niall wedelt hektisch mit der Hand und bedeutet mir, leise zu sein. »Miss McCall«, zischt er. »Bitte! Wir wollen doch keine Aufmerksamkeit erregen!«

»Warum?«, will ich wissen und versuche, mir das Haar – das aus dem Mantelkragen geglitten ist und nun vom Wind aufgebläht wird – aus dem Gesicht zu streichen. »Wo ist denn das Problem?«

Nervös schaut sich Niall um, ob uns auch ja niemand in den Garten gefolgt ist. Doch nur das Rotkehlchen beobachtet uns vom Dach aus, den Kopf belustigt geneigt.

»Weil ich nicht möchte, dass die anderen dort drinnen« – er nickt in Richtung des Hauses – »mitbekommen, worüber wir uns unterhalten. Im Haus befinden sich ein paar Leute, die womöglich erwartet haben, im Testament berücksichtigt zu werden. Die werden nicht gerade begeistert sein, wenn sie erfahren, dass dem nicht so ist.«

»Oh.« Ich wende den Blick vom Haus ab und lasse ihn zu Niall zurückschweifen. »Jetzt verstehe ich.«

»Gut.« Niall schiebt sich die Brille auf der Nase höher. »Ich bin froh, dass wir das geklärt haben; jetzt wissen Sie, worum es geht. Wann können wir uns treffen und die Formalitäten erledigen?«

»Welche Formalitäten?«

»Die Testamentseröffnung.«

»Ach ja, natürlich. Wann wäre es Ihnen denn recht?«

»Wie wäre es morgen in meinem Büro?«

»Aber ich fliege schon morgen nachhause zurück – nach England.«

»Verstehe … Wann genau?«

»Mein Flug geht morgen früh um acht Uhr dreißig.«

Niall verzieht das Gesicht. »Das macht die Sache ein wenig kniffelig.«

»Können Sie es mir nicht einfach jetzt sagen?«, schlage ich vor. Er könnte mir doch den Scheck oder was auch immer einfach per Post schicken. Denn wenn ich die Alleinerbin bin – was ich immer noch unfassbar finde –, dann sollte das Ganze doch nicht allzu kompliziert sein, oder?

»Miss McCall. Der letzte Wille eines Verstorbenen muss in angemessener Art und Weise verlesen werden und nach den angemessenen Regeln ablaufen. Wir können nicht einfach einen so wichtigen und bedeutsamen Akt wie diesen hier im Garten der Verstorbenen vollziehen!«

Ich schaffe es, keine Miene zu verziehen, während Niall mir diese Standpauke hält. Die witzige Seite all dessen, was er gerade gesagt hat, scheint ihm überhaupt nicht aufzufallen. Sein Gesichtsausdruck bleibt unverändert ernst und feierlich. Als jedoch meine Mundwinkel zu zucken beginnen, wird ihm klar, dass seine Wortwahl, mit der er seinen Standpunkt demonstrieren wollte, recht missverständlich war. Mit einem Mal steigt ihm eine Schamesröte ins Gesicht, die es locker mit der farbigen Brust des freundlich auf uns herabschauenden Rotkehlchens aufnehmen könnte.

»Ich … Es tut mir leid, Miss McCall«, stammelt er. »Ich wollte nicht … Natürlich käme es mir niemals in den Sinn … Und das auch noch bei einer Beerdigung! Nicht, dass Sie keine überaus attraktive Frau wären, aber … Oh Gott.«

»Niall«, erwidere ich und lege beruhigend meine Hand auf seinen Arm. »Bitte, es ist alles in Ordnung. Wirklich. Ich habe schon verstanden, was Sie sagen wollten. Könnte ich einen Vorschlag machen, der unser Problem lösen würde?«

Niall nickt schnell, während sich seine Gesichtsfarbe zu einem Lachsrosa abschwächt.

»Es mag vielleicht nicht der gewohnte, korrekte Ort sein, den Sie für einen angemessenen Ablauf normalerweise gewohnt sind, aber ich schätze, dass hier in Irland an einem bestimmten Ort viele Modalitäten geregelt und Entscheidungen gefällt werden. Wie wäre es also, wenn wir uns später noch im Pub treffen?«

Niall macht einen unentschlossenen Eindruck.

»Ich glaube, uns bleibt kaum eine andere Wahl«, fahre ich fort und lasse Nialls Arm wieder los, um mit beiden Händen mein Haar zurückzukämmen, da der Wind wieder zugenommen hat. »Der Leichenschmaus wird wahrscheinlich noch bis zur Teezeit dauern, und morgen früh fliege ich ja schon wieder nachhause. Alternativ könnten Sie mich aber auch in meinem Hotelzimmer besuchen kommen.« Ich ziehe die Augenbrauen hoch, woraufhin Nialls Gesicht sich schon wieder rot verfärbt. »Aber ich weiß nicht, wie die örtliche Gerüchteküche darauf reagieren wird.«

»Nein.« Bis vor ein paar Minuten noch hat Niall mit seiner Stimme eine gewisse Autorität ausgestrahlt, doch nun ist davon nicht mehr als ein Quietschen übrig geblieben. »Nein. Das Mulligan’s am anderen Ende der Straße ist in Ordnung, Miss McCall. So gegen sieben Uhr?«

Ich nicke. »Sieben ist prima, Niall. Könnte ich Sie noch um einen letzten Gefallen bitten?«

»Natürlich, Miss McCall«, antwortet er und schaut mich besorgt an.

»Könnten Sie mich bitte einfach nur Darcy nennen?«

3

Das Mulligan’s verfügt über bequeme Sitzmöglichkeiten, serviert gutes, gesundes irisches Essen und schenkt neben verschiedenen anderen alkoholischen Getränken das so wichtige wie beliebte Guinness an seine große und stets wechselnde Kundschaft aus. Es ist ein traditioneller Pub, allerdings nicht so, wie manche Bar mit »Schwerpunkt Irland« einem gerne vermitteln möchte, mit Kleeblattgirlanden und grün-weiß-orangen Landesflaggen, wo auch immer man hinschaut. Aber das Mulligan’s ist genauso wenig das Gegenteil davon: Hier geht es so traditionell zu, dass Holzspäne auf dem Fußboden liegen und alte Männer sich auf der Bar abstützen – genau wie in den Pubs, in die mich meine Tante als Kind immer heimlich mitgenommen hat, wenn sie sich an einem Freitagabend ein paar Bierchen genehmigen wollte. Mir hatte das nie etwas ausgemacht; ich bekam eine Cola mit Strohhalm und eine kleine Tüte Salt-and-Vinegar-Chips. In jenen Tagen konnte man mich damit noch für längere Zeit zufriedenstellen. Mit einem Lächeln denke ich daran zurück und erinnere mich wieder an das Gefühl, wie es war, etwas Verbotenes zu tun. Denn ich wusste nur allzu gut, dass meine regelmäßigen Ferien in Irland ein jähes Ende gefunden hätten, hätte meine Mutter auch nur den blassesten Schimmer davon gehabt, wohin meine Tante mich mitnahm.

Ich freue mich darüber, dass ich einigen meiner Kindheitserinnerungen erlaube, wieder an die Oberfläche zu kommen; denn zu viele von ihnen sind in einem Karton mit der Aufschrift »Bitte nicht stören« zu den Akten gelegt. Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich sieben war, und der Großteil meiner Erinnerungen besteht darin, den Schreiwettkämpfen oben im Schlafzimmer zuhören zu müssen oder mitzubekommen, wie die Türen lautstark ins Schloss geknallt wurden, wenn mein Vater nach einem Streit mal wieder aus dem Haus stürmte. Das schlimmste Erlebnis war jedoch, als die Tür ins Schloss fiel und er nicht mehr zurückkehrte. Danach war meine Mutter nie wieder dieselbe. Ich erinnere mich aber sehr wohl noch an einige Erlebnisse mit Tante Molly; diese zählten zu den glücklicheren Zeiten. Ich muss wirklich einmal an diesem inneren Filter arbeiten, damit die Erinnerungen an Molly nicht auch noch mit dem anderen Kram weggeschlossen werden. Denn Tante Molly gehörte zu den wenigen schönen Dingen in meiner Kindheit. Als ich heute in der Kirche saß und dem Priester zuhörte, wie er über ihr Leben erzählte, da traf mich die Erkenntnis – zu spät, um noch etwas daran zu ändern –, dass ich zugelassen hatte, dass sie in diesem Karton verschwindet, obwohl sie an meiner Seite hätte sein sollen.

Schnell nippe ich an meinem Glas und merke, dass ich einiges mehr zu schlucken habe als nur einen kräftigen dunklen Schluck Guinness. Nach einem weiteren Zug setze ich das Glas auf dem Bierdeckel ab und atme ein paarmal tief durch.

Nein, ein Pub ist nicht gerade der geeignete Ort, um zu weinen, ermahne ich mich streng. Wenn du weinen willst, warum hast du es denn nicht eben in der Kirche getan?

In der Kirche hatte ich wirklich weinen wollen, ganz ehrlich. Als ich in einer der hinteren Kirchbänke saß und die gebeugten Schultern der Leute vor mir sah, die schluchzten und sich die Tränen aus den Augen wischten, empfand ich große Trauer. Trauer um den Tod meiner Tante und den Gram der Leute um mich herum – aber auch das tiefe Bedauern, dass ich mir nicht mehr Mühe gegeben hatte, mit dieser Frau in Kontakt zu bleiben, die mir als Kind so viel bedeutet hat. Aber aus irgendeinem Grund wollten die Tränen einfach nicht fließen.

Aber jetzt. Ausgerechnet in einem Pub merke ich, wie die Tränen geradezu verzweifelt darauf drängen, mir über das Gesicht zu laufen. Und während ich mich bemühe, das nicht zuzulassen, habe ich plötzlich die schrille Stimme meiner Mutter im Ohr: »Wir zeigen unsere Gefühle nicht in der Öffentlichkeit, Darcy!«

In der Tat habe ich keine Lust, dabei gesehen zu werden, wie ich heulend wie eine Betrunkene in der Ecke des Dorfpubs sitze. Deswegen lasse ich den Blick durch den Raum schweifen auf der Suche nach einer Ablenkung und entdecke voller Erleichterung Niall, der gerade zur Tür hereinkommt. Im Rahmen der massiven Holztür bleibt er stehen und schaut sich nervös um.

»Niall, hier drüben!« Ich winke ihm zu und lotse ihn so zu meinem Tisch am Kaminfeuer.

Während er sich schnellen Schrittes auf den Weg zu mir macht, fällt mir auf, dass er sich im Gegensatz zu mir nicht umgezogen hat und immer noch die förmliche Trauerkleidung trägt. Ich dagegen habe mich für eine hübsche schwarze Diesel-Jeans im Used-Look entschieden, zusammen mit einem babyrosafarbenen, weichen Wollpulli von French Connection und schwarzen Lederstiefeln von Jimmy Choo, deren Absätze so hoch sind, dass man schon Flugstunden nehmen muss, um sie tragen zu können (ein Hoch auf Schlussverkäufe und Kreditkarten!). Schade – ich hätte gern gesehen, was er als Freizeitdress gewählt hätte. Doch dann fällt mir auf, dass er nun einen großen ledernen Aktenkoffer bei sich hat, der seinem Anwaltslook den letzten Schliff verleiht – und er nun mit einem Mal einen deutlich interessanteren Anblick bietet.

»Miss McCall«, begrüßt er mich und neigt den Kopf.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch.

»Oh, Entschuldigung – Darcy. Das hatte ich vollkommen vergessen.«

»Schon viel besser.« Lächelnd deute ich auf meinen Tisch und bitte ihn, Platz zu nehmen. »Darf ich Ihnen einen Drink bestellen, bevor wir anfangen, Niall?«

»Nein danke, ich trinke nie im Dienst.« Niall schiebt einen Stuhl zurück und stellt seinen Aktenkoffer darauf ab.

»Aber ich wette, Sie sind auch noch nie in einem Pub Ihren Pflichten nachgekommen, oder? Es gibt für alles ein erstes Mal. Sie sollten wirklich etwas trinken – ein Guinness vielleicht?«

Niall mustert entsetzt mein halbleeres Pint. »Vielleicht einen kleinen Gin Tonic, um nicht unhöflich zu sein. Nein, nein, ich hole die Getränke«, beharrt er und hebt abwehrend die Hand, als ich aufstehen will. »Darf ich Ihnen noch ein Guinness mitbringen, Darcy? Oder möchten Sie lieber etwas anderes trinken?«

»Ein Guinness wäre toll, Niall, vielen Dank.«

Nervös gibt Niall seine Bestellung bei Michael an der Bar ab. Dann spielt er angespannt mit einem Bierdeckel, während er ungeduldig wartet, bis das Guinness eingeschenkt ist und sich in seine zwei unverwechselbaren Farben teilt, bevor Michael ihm erlaubt, es zu mir zurück an den Tisch zu tragen.

»Hier.« Niall nimmt mir gegenüber Platz und beäugt argwöhnisch die kräftige dunkle Flüssigkeit. »Guinness war noch nie mein Fall.«

»Meiner auch nicht, wenn ich in England bin«, gebe ich zu. »Dort schmeckt es vollkommen anders. Aber wenn ich schon einmal in Irland bin, muss ich immer ein Pint trinken – das ist beinahe so etwas wie eine Tradition.«

In Wahrheit würde man mich in London nur über meine Leiche mit einem Pint Bier in der Hand zu sehen bekommen. Normalerweise klammere ich mich nämlich an ein elegantes Glas, in dem sich meistens ein angesagter Cocktail befindet.

»In der Tat.« Niall trinkt einen Schluck seines Gin Tonic. »Wir sollten jetzt aber auf das Geschäftliche zurückkommen.« Er beugt sich zu seinem Aktenkoffer hinunter, lässt das Schloss aufschnappen und holt einige wichtig aussehende Dokumente hervor. Dann schaut er sich um, wie er es schon vorher im Haus und im Garten getan hat.

»Ich denke, wir sind hier in Sicherheit, Niall. Ich bin überzeugt, dass nicht viele der Gäste von Tante Mollys Beerdigung in diesem Pub zur Stammkundschaft gehören.«

Niall lächelt. »Wahrscheinlich nicht. Obwohl mich der Barkeeper gefragt hat, ob ich eine Kirsche in meinem Gin Tonic haben möchte. Vielleicht verkehrt hier gelegentlich doch die etwas anspruchsvollere Kundschaft.«

Unter der Tischplatte muss ich mir in den Arm kneifen, um nicht laut loszuprusten. Ich beschließe, dass es nicht nur eine Zeitverschwendung, sondern auch ein bisschen gemein wäre, Niall zu erklären, dass die einzigen Kirschen, die Michael hier drinnen je gesehen hat, die auf der Spielautomatenanzeige sind und dass er eindeutig einen Witz auf Nialls Kosten gemacht hat. Wahrscheinlich geht Niall sonst nur in trendige Weinbars in Dublin mit Chromstühlen und blauer Beleuchtung. Bei genauerem Nachdenken also genau solche Bars, die ich mit meinen Kolleginnen vom Magazin in London frequentiere. Am besten behalte ich also meine Gedanken für mich.

»Also«, fährt Niall fort. »Wie verlief der restliche Leichenschmaus? Es tut mir leid, dass ich gehen musste, aber ich war gezwungen, mich um ein paar andere Angelegenheiten zu kümmern. Außerdem fingen einige der Gäste an, mir unangenehme und ziemlich bohrende Fragen zu stellen.«

»Für einen Leichenschmaus war es ganz okay, denke ich.« Ich halte inne in der Hoffnung, dass er fortfährt. »Also …?« Ich werfe ihm einen aufmunternden Blick zu.

Niall starrt mich ausdruckslos an. »Ach ja, natürlich, Sie wollen etwas über das Testament wissen.« Er sortiert die Dokumente, die vor ihm liegen, nimmt dann eines in die Hand, als wolle er etwas vorlesen, hält dann inne, sieht mich an und lässt das Blatt wieder sinken. »Bevor ich anfange, Darcy, möchte ich Ihnen versichern, wie sehr wir alle in der Kanzlei Ihre Tante dafür bewundern, wie gründlich sie vor ihrem Ableben ihre Angelegenheiten geregelt hat. Das hat sowohl die Organisation der Bestattung als auch die Veranlassung dieses recht ungewöhnlichen Vermächtnisses sehr erleichtert und, wenn ich es einmal so ausdrücken darf, war uns persönlich damit ein Vergnügen.«

Ich gebe mir Mühe, angesichts dieses Kompliments über meine Tante einen zufriedenen Eindruck zu machen, während mein Verstand jedoch schon auf Hochtouren läuft. Was soll das heißen, »ungewöhnliches« Vermächtnis? Da ich die Alleinerbin bin, müsste das den ganzen Prozess doch deutlich vereinfachen? Heute Nachmittag habe ich weder Zeit noch Lust gehabt, mir über das Testament meiner Tante Gedanken zu machen. Immerhin haben wir gerade erst den Tag damit verbracht, uns von ihr zu verabschieden. Aber da ich hier nun mit Niall sitze, werde ich doch ein bisschen neugierig. Vielleicht ist ihr Besitz das kleine Cottage, in dem wir heute waren – aber was sollte daran ungewöhnlich sein? Das ergibt einfach keinen Sinn.

»Ich fange einfach mal an und lese vor, wenn es Ihnen recht ist.« Niall hebt das Dokument wieder an und schiebt sich die Brille auf der Nase zurecht, bevor er loslegt. »Ich, Emmeline Ava Aisling McCall, vermache im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte …«, beginnt er in feierlichem Ton.

»Niall«, unterbreche ich ihn. »Ich wäre Ihnen nicht böse, wenn Sie heute Abend den Anwalt mal zuhause lassen würden. Außerdem erscheint mir das hier nicht gerade passend«, erkläre ich und deute auf unsere Umgebung.

Einen Augenblick lang starrt Niall mich an, bevor er dann die anderen Pubbesucher mustert, die sich heute Abend in Mulligan’s Bar amüsieren.

»Vielleicht könnten Sie einfach nur die wichtigen Teile vorlesen, wenn das einfacher wäre, und die juristischen Dinge überspringen?« Ich beuge mich über den Tisch und lege meine Hand auf seine. »Erklären Sie mir es so, dass ich es auch als Laie verstehe.« Kurz ziehe ich es in Betracht, mit den Wimpern zu klimpern, entscheide dann jedoch, dass das vielleicht doch ein wenig zu viel des Guten sein könnte.

Niall zögert, schaut dann auf meine Hand und nickt schließlich. »Na gut. Ich denke, dieses eine Mal wird es nicht weiter schlimm sein.«

»Fantastisch, vielen Dank!« Ich ziehe meine Hand zurück. »Dann mal los!«

Einen Augenblick lang mustert Niall mich argwöhnisch. »Wie es aussieht, Darcy, war Ihre Tante eine sehr reiche Frau.«

»War sie das?« Das ist mir neu. »Wie reich?«

»Sehr. Das bescheidene Leben, das sie nach außen hin in dem kleinen Cottage geführt hat, in dem wir heute waren, hat über ein riesiges Vermögen hinweggetäuscht, das sie über Jahre hinweg gut angelegt hatte.«

»Angelegt? Wie hat sie das Geld angelegt?«

»Hauptsächlich in Form von Grundstücken und Immobilien. Soweit ich weiß, gehörte ihr ein ziemlich großes Anwesen im County Kerry.« Niall sucht nach einem bestimmten Dokument auf dem Tisch.

»Ja, ich habe als Kind bei ihr gewohnt. Aber das war nur ein großes Haus. Sie hat es nach dem Tod meines Onkels gekauft.«

Nachdem Niall die entsprechenden Unterlagen gefunden hat und in seine komfortable Rolle als Anwalt zurückgekehrt ist, übernimmt er wieder die Regie. »Oh nein. Ihr gehörten außerdem noch große Stücke Land in der Umgebung. Einige davon waren landwirtschaftlich nutzbar, für mehrere bestand sogar eine Baugenehmigung für eine große Anzahl Häuser. Vor fünf Jahren musste sie dann zurück nach Dublin ziehen.« Er wirft einen prüfenden Blick in die Unterlagen. »Ich glaube, sie brauchte die medizinische Hilfe eines Spezialisten?« Er hält inne und schaut zu mir auf.

Ich nicke, schäme mich aber insgeheim, denn ich habe keine Ahnung, wovon er spricht. Ich hätte mir wirklich mehr Mühe geben sollen … geht es mir zum hundertsten Mal heute durch den Kopf.

»Den Großteil ihrer Ländereien hat sie verkauft, um damit den Umzug und die Kosten ihrer Behandlung zu finanzieren«, fährt Niall fort. »Den Rest des Geldes hat sie dann sehr klug angelegt.«

Jetzt bin ich wirklich sprachlos. Ich hatte absolut keine Ahnung, dass Molly ein solches Finanzgenie war; ich habe sie immer nur als leicht exzentrische Tante in Erinnerung.

»Ihr Finanzberater hat sie wirklich sehr klug beraten.« Niall nimmt einen weiteren Packen Unterlagen zur Hand. Dieses Mal fällt mir gleich auf, dass sie von oben bis unten mit Zahlenreihen bedruckt sind.

»Also«, ermuntere ich ihn und nehme einen kräftigen Schluck aus meinem Glas. »Über wie viel Geld reden wir hier, Niall?« Ich hoffe inständig, ruhig und gelassen zu wirken angesichts der Informationen, mit denen Niall mich hier scheibchenweise füttert, obwohl ich eigentlich einen starken Drink bräuchte, um meine Nerven zu beruhigen. Hoffentlich sieht er nicht, wie meine Hand zittert, als ich das Glas zum Mund führe.

»Ich bin nicht in der Lage, Ihnen im Augenblick die exakte Summe zu nennen.« Niall rutscht nervös auf seinem Sitz herum. »Was ich Ihnen aber sagen kann: Der Wert des gesamten Besitzes«, wieder lässt er den Blick um sich schweifen wie zuvor im Garten, beugt sich über den Tisch und senkt die Stimme, »beläuft sich auf eine hübsche siebenstellige Summe.«

Wie ich Mathe in der Schule gehasst habe! Sogar jetzt noch hasse ich Zahlen jeglicher Art. Was bedeuten sieben Stellen? Schnell versuche ich, mir die Summe vorzustellen, während ich äußerlich ruhig an meinem Getränk nippe. Hunderttausend Pfund, das ist eine sechsstellige Zahl. Was ist demnach die höchste sechsstellige Zahl, die es gibt? Neunhundertneunundneunzigtausend Pfund – dann ist der nächste Schritt danach …

»Oh mein Gott! Das sind eine Million Pfund oder mehr!«, pruste ich und benetze dabei Niall mit einer cremefarbenen Guinnesssalve. Ein wenig davon bleibt auf seinem weißen Hemd kleben, doch der Großteil landet auf seiner bordeauxroten Seidenkrawatte, die sich vollsaugt und auf der sich sofort ein großes abstraktes Guinnessmuster bildet.

»Niall, das tut mir leid!« Ich springe auf und schnappe mir einen Spüllappen von der Theke. Danach packe ich seine Krawatte und tupfe verzweifelt mit dem Lappen darauf herum. »Es bleiben bestimmt keine Flecken zurück, wenn wir es gleich auswaschen.«

Zeitweilig hängt Nialls Kopf wie in einer Schlinge, weil ich an einem Ende seiner Krawatte ziehe. Während ich also wie verrückt auf der bordeauxfarbenen Brücke zwischen uns herumtupfe, bleibt ihm nichts anderes übrig, als entsetzt nach unten zu starren und mir dabei zuzusehen. Dann merke ich, wie sich sein Blick langsam hebt. »Stopp!«, keucht er mit kaum hörbarer Stimme. Abwehrend hebt er die Hand. »Aufhören! Darcy, bitte!«

Sofort höre ich auf, an dem Stoff herumzurubbeln, und schaue ihn an.

Mittlerweile hängt die Krawatte wie eine Seilbrücke zwischen uns, bis Niall sie mir in aller Seelenruhe aus der Hand nimmt. Genauso ruhig nimmt er mir den Spüllappen aus der anderen Hand und legt ihn auf die Theke zurück, bevor er sich wieder zu mir umdreht. Vollkommen emotionslos blinzelt er mich durch seine mit Bierspritzern verschmierte Brille an. »Ich schätze mal, dass ich nun einen guten Grund habe, um dieses verdammte Ding auszuziehen«, erklärt er und grinst mit einem Mal.

Glücklicherweise kann er es von der lustigen Seite betrachten. »Und Gott sei Dank war es keine teure Krawatte«, plappere ich ohne nachzudenken los und wünsche mir unverzüglich, lieber den Mund gehalten zu haben. »Ich … Ich meine, immerhin war es kein Designerstück.« Ich merke, dass ich so rot wie das Feuer werde, das neben uns im Kamin prasselt.

Zwar zieht Niall eine Augenbraue hoch, scheint aber keineswegs beleidigt zu sein. »Nein, für gewöhnlich trage ich keine Designerkrawatten.« Als er dann angesichts meiner Verlegenheit noch breiter grinst, setze ich mich flugs wieder auf meinen Stuhl, bevor ich mich noch tiefer in die Sache hineinreite.

Während Niall vorsichtig die Krawatte auszieht und mit seinem Taschentuch die restlichen Guinnessspritzer von seiner Brille wischt, würde ich mich vor Glück am liebsten selbst umarmen. Ich brauche nie wieder Angst zu haben, mein Konto zu überziehen!, jubele ich innerlich immer wieder, als sich ein warmes, angenehmes Gefühl der Sicherheit in mir auszubreiten beginnt. Danke, Tante Molly. Danke! Dennoch versuche ich, Ruhe zu bewahren, bis Niall wieder fortfährt.

»Wo waren wir?«, fragt er und setzt die Brille wieder auf. »Ach ja, wie ich gerade schon sagte, hat Ihnen Ihre Tante einen sehr großen Besitz hinterlassen, der in ihrem Testament jedoch an gewisse Bedingungen geknüpft ist. Und wenn diese Bedingungen umfassend erfüllt werden, können Sie, Darcy, in der Tat eine sehr reiche Frau werden.«

Mit einem zufriedenen Lächeln lehne ich mich zurück; meine am Limit angelangten Kreditkartenabrechnungen können endlich bezahlt werden, und ich muss mir auch keine Sorgen mehr darum machen, genügend Geld für die nächste Miete zusammenzukratzen. Stattdessen werde ich mir eine hübsche kleine Wohnung kaufen und muss mir die dann mit niemandem mehr teilen. Obwohl ich nicht allzu weit entfernt von meiner Mitbewohnerin, Roxi, wohnen möchte – vielleicht kann ich ihr ja eine Wohnung direkt neben meiner kaufen? Nie mehr werde ich beim Schlussverkauf die Kleiderstangen nach einem Schnäppchen abklappern müssen. Nein, von nun an wird es direkt in die Showrooms der Designer gehen, wo schleimige Verkäufer auf mich warten und sich darum reißen werden, mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen und nach meiner Pfeife zu tanzen …

»Moment mal.« Ich richte mich wieder auf. »Was soll das heißen – Bedingungen?«

»Ah.« Niall schiebt sich die Brille bis zur Nasenwurzel hinauf. »Hier kommt der wirklich interessante Teil ins Spiel.« Er lächelt mich nervös an und trommelt die Fingerspitzen beider Hände gegeneinander.

Währenddessen macht sich ein ganz ungutes Gefühl in meiner Magengrube breit.

»Schießen Sie schon los, Niall!«

»Als Ihre Tante den Großteil ihres Besitzes im County Kerry verkauft hat, hat sie offenbar ein ziemlich großes Gebiet behalten – wie es scheint, besaß es für sie einen recht hohen sentimentalen Wert, und deswegen weigerte sie sich, es zu verkaufen.« Niall hält inne, um zu sehen, ob ich ihm auch folgen kann. Dann fährt er fröhlich fort: »Darum hat sie in ihrem Testament verfügt, dass Sie, Darcy, dort hinziehen und leben, bevor Sie auch nur einen Penny ihres Vermögens erben. Wie ich es verstehe, will sie, dass Sie …«, er nimmt einige der Unterlagen in die Hand, die immer noch auf dem Tisch verstreut liegen, und blättert sie mit dem Daumen durch, bevor er direkt von einem Dokument abliest, »erleben, was ich als Kind erlebt habe, als ich dort aufwuchs. Vielleicht kannst du einen Bruchteil des Zaubers, den wir beide in meinem Haus im County Kerry erlebt haben, wieder zum Leben erwecken, möglicherweise sogar deinen eigenen Zauber schaffen.«

Ich bin gerührt, die Worte meiner Tante aus Nialls Mund zu hören. Mir war gar nicht klar gewesen, wie viel ihr unsere gemeinsame Zeit tatsächlich bedeutet hat. Da sie mir aber alles vermacht hat, nehme ich an, dass es so gewesen sein muss. Schon wieder überkommt mich dieses Gefühl der Schuld und der Trauer. Aber dennoch: Irgendetwas ergibt hier keinen Sinn.

»Ich muss also einen Sommerurlaub lang in ihrem alten Haus wohnen, wollen Sie das damit sagen?« Eigentlich ist das sogar eine recht hübsche Idee, und es ist doch das Mindeste, was ich tun kann, um all die Zeit wiedergutzumachen, die ich in ihrem Leben verpasst habe. Außerdem könnte ein ausgedehnter Urlaub in Irland echt lustig sein. Es gibt hier einige größere Städte, und entsprechend würde es nicht nur ums Leben auf dem Land gehen. Damit käme ich klar. Fürs Erste jedenfalls sind Dublin und Cork schon einmal ziemlich weltoffen und großstädtisch.

»Ähm, nein, das trifft die Sache nicht ganz. Der Zeitraum ist ein wenig länger als ein Sommerurlaub.«

»Wie lang denn?«

Mir fällt auf, wie Nialls Blick zu meinem Glas schwenkt, das zu seiner großen Erleichterung dieses Mal sicher auf dem Tisch steht. »Ein Jahr«, antwortet er leise.

»Ein Jahr?«, keuche ich. »Wie soll ich denn bitte in meinem Leben eine einjährige Pause einlegen, um hier in einem Haus zu leben? Was ist denn mit meinem Leben in London – mit meinen Freunden, meinem Job, meiner Wohnung? Das kann ich doch nicht einfach so stehen und liegen lassen.«

»Es tut mir leid, aber die spezifische Zeitangabe im Testament beträgt ein Jahr, Darcy, und es geht auch nicht um ein Haus.« Niall nestelt dort herum, wo sich normalerweise die Krawatte befunden hätte. Doch dort trifft er nur auf den obersten Hemdknopf, den er dann stattdessen öffnet.

»Wo soll ich denn dann ein Jahr lang wohnen, wenn nicht in ihrem alten Haus?«, frage ich hitzig.

Niall blättert in seinen Unterlagen.

»Niall?«

»Auf einer Insel«, murmelt er schließlich so leise, dass ich ihn kaum verstehen kann.

»Ja, schon klar, ich weiß, dass Irland eine Insel ist, aber wo genau?«

»Nein«, erwidert er und sieht mir in die Augen. »Auf einer echten Insel, direkt vor der irischen Westküste.«

Ich lehne mich zurück und schüttele langsam den Kopf. »Tut mir wirklich leid – aber ich habe gerade wirklich gedacht, Sie hätten gesagt, ich soll ein Jahr lang auf einer Insel leben. Niall?«

Nickend hält Niall ein neues Blatt Papier in die Höhe. »Ja. Ich bedaure, aber das steht alles hier, Darcy.« Er tippt auf das Dokument, um auf den entsprechenden Abschnitt hinzuweisen. »Wie es scheint, ist Ihre Tante als Mitglied einer kleinen Gemeinde auf dieser Insel aufgewachsen. Als sich diese Gemeinde dann nach und nach aufgelöst hat und die Bewohner die Insel verließen, ist die Familie Ihrer Tante, wie so viele andere, aufs irische Festland zurückgekehrt. Ihre Tante hat jedoch nie aufgehört, diese Insel zu lieben, und als sie dann in den Achtzigerjahren zum Verkauf stand, kaufte sie sie und zog in die Gegend zurück. Seitdem ist sie die Besitzerin dieser Insel.«

»Ich glaube, sie hat mich ein paarmal zu Besuch dorthin mitgenommen.« Eine verschwommene Erinnerung an einen Bootsausflug zu einer Insel taucht plötzlich in meinem Gedächtnis auf, verschwindet jedoch auch genauso schnell wieder. »Aber ich kann doch nicht einfach dahin reisen und dann ein Jahr dort allein wie ein Einsiedler wohnen.«

»Oh nein, sie will gar nicht, dass Sie dort allein leben«, erwidert Niall schnell, als ich den Rest meines Getränks herunterkippe und mich verzweifelt nach einem neuen umschaue. »Sie wünscht, dass Sie eine neue Gemeinde aufbauen und mit dieser dann dort leben.«

»Wie bitte? Oha, einen Moment mal.« Das war jetzt alles ein bisschen viel auf einmal. »Niall, lassen Sie mich das alles kurz noch einmal wiederholen, damit ich weiß, ob ich alles richtig verstanden habe.«

»Natürlich. Ich kann mir vorstellen, dass das alles für Sie ein ziemlicher Schock sein muss.«

Das ist ja wohl die Untertreibung des Jahres. »Sie haben mir erklärt, dass meine Tante Molly mir und nur mir allein in ihrem Testament einen großen Besitz vermacht hat?«, wiederhole ich langsam.

Niall nickt. »Ja. Einen sehr, sehr großen Besitz.«

Mit weit aufgerissenen Augen fahre ich fort: »Und um den zu erben, muss ich auf eine Insel ziehen und dort ein Jahr lang mit einer Gruppe von Fremden leben?«

»Sie müssen eine kleine Gemeinde gründen, die ein Jahr lang wachsen und gedeihen soll. Aber ja, im Grunde genommen haben Sie Recht.«

»Wenn ich all das tue – was passiert dann am Ende des Jahres?«

»Den Bedingungen des Testaments entsprechend, werden Sie den gesamten Besitz Ihrer Tante erben, solange Sie zwölf Monate lang auf der Insel leben mit einer Gemeinde, die zu keinem Zeitpunkt weniger als fünfzehn Leute umfassen darf.«

»Und danach dann kann ich sowohl mit der Insel als auch mit dem Geld anstellen, was ich will?«

»Ja, ich denke schon. Das Testament setzt diese Anweisung nur für das erste Jahr voraus.«

»Aber was, wenn ich mich entscheiden sollte, all das nicht zu tun … Wenn ich mich weigern sollte, auf dieser Insel zu leben?«

»Dann, Darcy, muss ich Ihnen leider mitteilen, dass Sie nichts bekommen werden. Die Insel wird in diesem Fall Heritage Ireland überschrieben, und der Rest des Geldes wird an eine gemeinnützige Organisation gespendet, die Ihre Tante ausgewählt hat.«

Ich lehne mich wieder zurück und bin zu sprachlos, um nachzudenken.

»Ich möchte mitnichten Ihre Entscheidung beeinflussen, Darcy«, höre ich Niall mit sanfter Stimme erklären, während ich verzweifelt sämtliche Möglichkeiten im Kopf durchspiele. »Aber da sich Ihre Tante offensichtlich so viele Gedanken um ihren letzten Willen gemacht hat, muss das wirklich ihr aufrichtiger Wunsch gewesen sein. In der Kanzlei kommt uns so etwas nicht oft unter. Tatsächlich hat wohl mein Vater Ihrer Tante bei der Formulierung ihres Testaments geholfen, und deshalb fühle ich mich verantwortlich dafür, ihren Willen auch wirklich zu vollstrecken.«

Ich reiße mich von meinen Gedanken los und richte meine Aufmerksamkeit wieder auf Niall.

»Ich weiß, und ich danke Ihnen, Niall. Sie haben alles sehr ausführlich und korrekt ausgeführt. Ich hätte mir keinen besseren Anwalt wünschen können, um mir diese verrückte Situation zu erklären.«

Niall lächelt stolz.

»Ich verspreche Ihnen, das im Hinterkopf zu behalten, wenn ich eine Entscheidung fälle, was ich tun will.«

Niall hat Recht. Während Bilder von großen Villen, protzigen Autos, Designermode und bezahlten Kreditkartenabrechnungen vor meinem geistigen Auge auftauchen, kehrt ein einziger Gedanke immer wieder und wird immer deutlicher – Molly.

4

Für die nächste Monatsausgabe brauchen wir Leute, um die folgenden Features zu behandeln«, verkündet meine Redakteurin am Ende unserer wöchentlichen Redaktionskonferenz von ihrem gemütlichen Schreibtischsessel aus, während wir anderen alle dichtgedrängt in ihrem Büro stehen. »Die Top Ten der angesagtesten Haarschnitte des Frühjahrs – Jeder Schnitt ein Hit. Der neuste Schönheitssalon, in dem auch das Designerhündchen verhätschelt und gepflegt wird – Tollen für tolle Tölen. Und zu guter Letzt noch unser regelmäßiges Feature, der Vergleich von Billig- und Designerprodukten. Nächsten Monat geht es dabei um Selbstbräuner – In der Sonne gelegen oder völlig daneben.«

»Und ich dachte, der Artikel liefe unter dem Titel Knackbraun oder in die Tonne haun«, flüstert mir meine Kollegin Sophie zu, während wir Jemima lauschen, wie sie die Heilsbotschaft des Goddess-Magazins predigt.

Ich grinse sie an.

»Hast du etwas, das du allen mitteilen möchtest, Sophie?«, fragt Jemima und schaut uns über den Rand ihrer riesengroßen Schildpattbrille an.

»Nein, Jemima«, ruft Sophie unschuldig aus dem hinteren Teil des Büros zurück.

»Dann solltest du, Sophie, den Artikel über die Top-Haarschnitte des Frühjahres übernehmen.« Jemima kneift die Augen zusammen. »Du siehst nämlich aus, als könntest du mit deinem Mopp in dieser Hinsicht selbst etwas Hilfe brauchen.«

»Ich habe neunzig Piepen für den Schnitt hingeblättert«, beschwert sich Sophie im Flüsterton bei mir und fährt sich glättend mit der Hand über das Haar. »Vielen Dank, Jemima, ich werde gleich heute damit anfangen«, ruft sie laut und lächelt zuckersüß quer durchs Bürozimmer.

»Lucy, du kümmerst dich um den Artikel über die Selbstbräuner. Ein bisschen Farbe für deine leichenblasse Haut kann sicherlich nicht schaden. Blässe ist nicht interessant, meine Liebe, sondern sterbenslangweilig.«

Ich drehe mich zu Sophie um, die verblüfft die Augenbrauen hochzieht. Jemima hat sicherlich vergessen, dass Lucy nach der Reha gerade erst wieder zur Arbeit gekommen ist, nachdem sie ihrer Schwester eine Niere gespendet hat!

»Nun zu dir, Samantha.« Jemima wendet sich der Person zu, nach der unser Magazin benannt sein könnte, da sie mit ihren ein Meter achtzig hinter uns steht und blendend aussieht. Samantha sieht makellos aus wie immer, und ihre kühle, selbstsichere Aura umhüllt sie wie die Wolke eines teuren Parfüms. Fast könnte sie mit ihrem engelsgleichen Glanz der Perfektion über dem Boden schweben, wären da nicht die atemberaubend schönen rot-schwarzen High Heels von Miu Miu, die sie heute trägt. Als sie eben auf dem Weg zum Trinkwasserkühler an mir vorbeigeglitten ist, habe ich die nämlich schon insgeheim bewundert. Sofort habe ich die Seite des Internetversandhauses Net-A-Porter geöffnet, um vielleicht herauszufinden, wo sie sie gekauft haben mag. Direkt fragen wollen würde ich sie das nämlich im Leben nicht.

»Du, Samantha«, fährt Jemima fort, »wirst dich um das Feature über den Schönheitssalon der Showgrößen kümmern. Du wirst dich dort ohne größere Probleme integrieren.«

Ein geheimnisvolles Lächeln umspielt Samanthas perfekt aufgetragenen MAC-Lippenstift, als sie Jemimas Kommentar als zutreffend anerkennt.

Na prima, denke ich, während Jemima sämtliche weniger wichtigen Aufgaben für den kommenden Monat verteilt. Wie es aussieht, bin ich dieses Mal vollkommen übergangen worden. Nicht in einer Million Jahre hätte ich natürlich erwartet, die Schönheitssalonstory zu bekommen. Schließlich bekommt Samantha immer die besten Jobs – einer der vielen Vorteile, wenn man die Nichte eines der Besitzer des multinationalen Konzerns ist, bei dem Goddess verlegt wird. Wenigstens die Selbstbräuner hätte ich erwartet. Das ist so unfair!

Während ich in meinem eigenen Elend schmore, wird mir plötzlich klar, dass Jemima mit mir redet. »Darcy, bist du bei uns?«, fragt sie mit ihrem typischen zuckersüßen Tonfall, der allerdings von einem eiskalten Blick begleitet wird.

Schnell nicke ich.

»Gut. Ich hatte mich schon gewundert. Nun, Darcy, für dich habe ich etwas ganz Besonderes vorgesehen.« Jemima lächelt und lässt kurz ihre neuen und sehr teuren, perfekten Zähne aufblitzen.

Wenn Jemima lächelt, verheißt das normalerweise nichts Gutes. An der Krümmung ihres Mundwinkels versuche ich abzulesen, ob dieses Lächeln gute oder schlechte Nachrichten für mich bedeutet.

Jemima schiebt ihren ergonomisch geformten Schreibtischsessel zurück und steht auf.

Definitiv schlechte Nachrichten.

»Ich würde gern mit einem neuen monatlichen Feature beginnen.« Hinter der Brille blitzen ihre Augen gefährlich auf. »Mit einem Thema, an das wir uns bislang noch nicht herangewagt haben, das sich aber immer größerer Beliebtheit erfreut.« Um den dramatischen Effekt zu erhöhen, legt sie eine Pause ein, während ich in Erwartung ihrer Schnapsidee, mit welchem Anti-Aging- und Erreichen-Sie-Ihre-Topfigur-in-drei-Tagen-Thema sie ankommen wird, die Luft anhalte. Denn eines kann ich garantieren: Wenn sie will, dass ich etwas ausprobiere, dann wird das ganz bestimmt nicht eine Woche im luxuriösen Champneys-Kurhotel sein.

»Ganzheitliche Heilverfahren«, verkündet sie und wedelt dramatisch mit der Hand.

Regungslos starren wir sie an.

»Ganzheitliche Heilverfahren«, wiederholt sie, als hätten wir alle ein Hörproblem. »Ich dachte daran, zuerst mit einigen der bekannteren Therapien wie zum Beispiel Reiki, Akupunktur und Homöopathie anzufangen, um danach dann mit Steinheilkunde/Lithotherapie und dergleichen weiterzumachen. Wir könnten eine Realberichterstattung bringen über Leute, die sich spirituell damit auseinandersetzen, und vielleicht sogar etwas über Engelheilung schreiben, wenn wir einige Freiwillige finden, die bereit sind, sich mit uns darüber zu unterhalten.«

Mit weit aufgerissenen Augen drehe ich mich zu Sophie um.

Mitfühlend verzieht sie das Gesicht.

»Was sagst du dazu, Darcy?«, fragt Jemima und bringt mich ganz schön in Verlegenheit.

Ich spüre, wie die Blicke meiner Kolleginnen mich geradezu durchbohren, während auch sie auf eine Antwort von mir warten. Samanthas Lippenstift wirkt jetzt nicht mehr ganz so geheimnisvoll, dafür aber umso selbstgefälliger, als sie mich mit gesenkten Lidern mustert, deren Wimpern definitiv künstlich verlängert worden sind. Die meisten anderen dagegen zucken angesichts meines Unbehagens zusammen und sind froh, nicht in meiner Lage zu sein.

»Das ist auf jeden Fall mal etwas anderes, Jemima«, antworte ich diplomatisch. »Aber bist du sicher, dass das in der Goddess funktionieren wird?« Die normalen Themen unserer Artikel, zum Beispiel die Frage, ob ein Lippenstift tatsächlich vierundzwanzig Stunden hält, ohne noch einmal aufgetragen zu werden, oder ob man tatsächlich beim Verzehr eines Stangenselleries mehr Kalorien verbrennt, als sich in dem Gemüse selbst befinden, kann man kaum als provokant bezeichnen. »Was ich sagen will: Sind das Dinge, die unsere Leser interessieren?«

»Darcy.« Jemima setzt ihre Brille ab, was immer ein Zeichen dafür ist, dass sie es wirklich bitterernst meint. »Ganzheitliche Heilverfahren sind ganz groß im Kommen, man hört nichts anderes mehr. Kürzlich hat hier in London ein riesiges Event stattgefunden, wie es überall im Land jedes Wochenende stattfindet, bei dem es um Körper, Geist und Seele ging. Eines unserer Schwestermagazine, Soul Sister, besitzt eine immer weiter wachsende Leserschaft, und ich finde, es wird höchste Zeit, dass wir diese Ideen für die breite Masse anbieten.«

»Sie hat Recht, wisst ihr?«, meldet sich Maggie zu Wort, Jemimas Sekretärin, die für gewöhnlich bei diesen Redaktionskonferenzen schweigend Steno schreibt. »Neulich war ich bei Selfridges, da saßen Hellseher, die ihre Dienste angeboten haben. Mitten im Kaufhaus, nicht versteckt irgendwo in einer Ecke.«

Jemima nickt Maggie zu. »Genau, vielen Dank, Maggie. Nun …«

»Sämtliche Stars fahren jetzt auf das sogenannte Cosmic Ordering ab«, wagt Daisy, eine unserer Praktikantinnen, hinzuzufügen. Sie ist allerdings noch nicht lange genug hier, um zu wissen, dass man Jemima nicht unterbricht, wenn sie gerade richtig in Fahrt ist. »Das habe ich gerade kürzlich noch in einer meiner Zeitschriften gelesen. Tom Cruise, John Travolta, ja sogar Noel Edmonds – er behauptet sogar, nur deswegen im Fernsehen sein Comeback erlebt zu haben.«

»Und das soll jetzt ein positiver Aspekt sein?«, flüstert Sophie mir zu.

»Ja, vielen Dank für diese Beiträge«, unterbricht Jemima sie und hebt die Hand, bevor noch irgendjemand anders das Wort ergreifen kann. Sie wendet sich wieder mir zu. »Du siehst also, Darcy, ganzheitliche Heilverfahren sind derzeit total in. Überall spricht man davon.« Ihr Blick schweift zu Sophie. »Sogar tagsüber im Fernsehen, wie es scheint. Wir müssen unbedingt das erste Mainstream-Magazin sein, das auf diesen Zug aufspringt, bevor alle anderen es tun. Ich habe dir darum für nächste Woche einen Termin für eine Akupunktursitzung besorgt, Darcy, um mit diesem Thema deine Beitragsserie zu beginnen.«

»Super, vielen Dank, Jemima.« Beim Gedanken daran verziehe ich das Gesicht. Keine Ahnung, was im Augenblick schmerzhafter für mich ist – die Aussicht darauf, meinen Körper von Kopf bis Fuß mit Nadeln durchlöchern zu lassen, oder monatelang spirituellen, mit Perlenketten behangenen Gurus in Kleidern aus Baumwollleinen und mit Sandalen dabei zuhören zu müssen, wie sie singen und predigen, um mich von meinen innersten Gefühlen zu befreien und das pure Licht zu atmen. »Ich bin sicher, das wird eine … aufschlussreiche Erfahrung.«

Während die anderen nach der Redaktionskonferenz der Reihe nach ihr Büro verlassen, bittet mich Jemima zu warten, damit sie mir einige Kontaktpersonen nennen kann, die für meine Artikel hilfreich sein könnten. Ich bin ziemlich beeindruckt, als sie mir die Namen aus ihrem kleinen schwarzen Buch vorliest – sie muss diese neue Richtung für die Goddess sehr ernst nehmen, denke ich, als ich zu meinem Schreibtisch zurückkehre und dabei die wertvollen Informationen fest umklammert halte. Bevor ich mich allerdings hinsetzen kann, muss ich zuerst noch eine alte Ausgabe unseres Magazins wegräumen, die jemand auf meinen Sessel gelegt hat. Das Fotomodell im Bikini auf der Titelseite ist mit bunten Heftzwecken dekoriert. Mit einem schwarzen Edding hat ihr jemand eine Sprechblase an den Mund gemalt, in der »Autsch!« steht.

Ich sehe mich im Büroraum um, in der Hoffnung, die Schuldige zu ertappen, die sich irgendwo hinter einem Aktenschrank versteckt und kichert. Wie nicht anders zu erwarten, sind natürlich alle plötzlich sehr beschäftigt – alle Augen scheinen an den Bildschirmen zu kleben. Hmmm … diese Scherze sind immer lustig, wenn sie auf Kosten anderer gehen.

Nachdem ich das Magazin beiseitegelegt habe, lasse ich mich mit einem Plumps am Schreibtisch nieder. Als ich dabei mit der Hand an die Maus komme, verschwindet der Bildschirmschoner mit meiner derzeitigen Lieblings-Mulberry-Tasche, und ich starre auf ein weiteres Foto der irischen Insel, von der ich bei Google Bilder gesucht habe. Akupunktur, spirituelle Heilung? Im Vergleich dazu wirkt ein Jahr auf dieser Insel immer mehr wie ein Vergnügen.

Was ist bloß in Jemima gefahren? Unsere Leserinnen interessiert es nicht zu erfahren, wie sie sich von innen selbst heilen können – äußerliche Schönheit ist für die Leserinnen von Goddess alles, was zählt. Damit bin ich schon zum Scheitern verdammt, bevor ich überhaupt mit der Artikelreihe angefangen habe.

Offen gestanden hatte ich etwas anderes erwartet, als mir die Stelle hier angeboten wurde. Dabei war ich zunächst so begeistert gewesen, endlich die Chance zu bekommen, für ein Frauenmagazin zu schreiben, nachdem ich jahrelang nur Artikel für eine Fachzeitschrift über Werkzeuge für Heimwerker verfasst hatte. Das war so sterbenslangweilig, dass ich eines Tages tatsächlich an meinem Schreibtisch eingeschlafen bin – denn mal ehrlich, wie viele Worte kann man über einen Schraubenzieher schon schreiben? Danach hatte ich mir dann einen Job bei einer Mädchenzeitung an Land gezogen, was ganz lustig war, bis man dort beschloss, dass ich zu alt sei, um weiter für sie zu schreiben. Zu alt! Darüber muss man erst einmal hinwegkommen, wenn man davon in Kenntnis gesetzt wird, man sei mit sechsundzwanzig zu alt, um irgendetwas anderes zu tun, als sich einer Pfadfinderinnengruppe anzuschließen. Vor fast einem Jahr bekam ich dann den Job bei Goddess, und es hatte sich erst wie Weihnachten und Ostern zusammen angefühlt. Endlich öffnete sich mir damit der Weg in die aufregende Welt der Mode, nach der ich mich so gesehnt hatte. Wen interessierte es da, dass es in der Goddess