Zwei Reifen, eine Welt - Jody Rosen - E-Book
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Zwei Reifen, eine Welt E-Book

Jody Rosen

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Beschreibung

     Ein Wunder von einem Buch über eine phänomenale Erfindung: das Fahrrad  Eine einzigartige Liebeserklärung an das Fahrrad:  Der Fahrradkurier und Journalist Jody Rosen erzählt mitreißend,  klug und charmant von  Geschichte und Gegenwart  eines genialen Fortbewegungsmittels ,  das die Welt verändert hat.  Eigentlich müsste ein Fortbewegungsmittel aus dem 19. Jahrhundert in unserer Welt mit ihren Smartphones, Ubers und selbstfahrenden Autos hoffnungslos veraltet sein.  Doch das Gegenteil ist der Fall: W ir leben auf einem Fahrrad-Planeten!  Das  Fahrrad  ist heute  das meistgenutzte Transportmittel weltweit. Jody Rosen  erzählt kenntnisreich und mitreißend  von aristokratischen Jungspunden auf Drahteseln, von Frauen, denen das Fahrradfahren per Gesetz verboten wurde, weil sie ihren Männern davonfuhren, von Fahrrad f riedhöfen bis hin zu den BLM-Protesten.  Eine unvergessliche Lektüre und ein einzigartiges Geschenk! 

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Seitenzahl: 604

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Jody Rosen

Zwei Reifen, eine Welt

Geschichte und Geheimnis des Fahrrads

Aus dem amerikanischen Englisch von Andreas Jandl, Sigrid Schmid und Violeta Topalova

Hoffmann und Campe

Für Lauren, Sasha und Theo

VorwortDie Reise zum Mond

Brillant-Fahrräder. Werbung des Plakatkünstlers Henri Boulanger (alias Henry Gray), 1900.

In den 1890er Jahren zeigten Werbeplakate oft Fahrräder im Weltall. Sie gehören zu den bekanntesten Fahrradbildern überhaupt: Fahrräder prangen am Firmament, Fahrräder ziehen an Kometen und Planeten vorbei, Fahrräder rollen eine Mondsichel hinunter. Gefahren werden sie oft von Frauen – oder besser Göttinnen: barbusig, in wallende griechische Gewänder gehüllt und mit langen, wie ein Jetstream hinter ihnen herziehenden Haaren. Auf einem Plakat des französischen Fahrradherstellers Cycles Sirius fährt eine fast nackte Radlerin im Damensitz mit geschlossenen Augen und ekstatisch hochgerecktem Gesicht durch den bestirnten Himmel. Fahrradfahren wird als Quelle quasi jenseitiger Freuden suggeriert. Sobald wir uns aufs Fahrrad schwingen, katapultiert es uns hinauf zu den Sternen, und Aphrodite könnte vom Radfahren glatt einen Orgasmus bekommen. Die Plakatwerbung eines anderen französischen Herstellers, Cycles Brillant, zeigt 1900 zwei spärlich bekleidete Frauen, die durch die Milchstraße fliegen. Eine der beiden trägt Feenflügel auf dem Rücken und hält einen Olivenzweig in der linken Hand, mit der sie zugleich nach dem Vorderrad eines sonnengleich über ihr schwebenden Fahrrads greift. Das Gefährt glänzt im Schein eines Diamanten, der in seinem Rahmen prangt, und wird in dieser surrealen Szene selbst zur Gottheit, zu einem die Erde beleuchtenden Himmelskörper.

Die Plakate entstammen der Zeit um die Jahrhundertwende, der Blütezeit des Fahrrads, als seine Vorherrschaft noch unangefochten war, kurz vor dem Triumphzug des Automobils. Angesichts des übersättigten Markts bewarben die Hersteller ihre Produkte mit auffälligen Jugendstilpostern. Doch das fliegende Fahrrad war nicht nur das Resultat einer kühnen Marketingidee. Der erste Fahrrad-Prototyp, ein seltsames Zweirad ohne Pedale, Zahnkränze und Kette, wurde von seinen Bewunderern in den späten 1810ern und frühen 1820ern mit Pegasus gleichgesetzt, dem mythischen fliegenden Pferd. Fast fünf Jahrzehnte später beschrieb ein staunender Chronist die Pariser Veloziped-Mode mit den Worten, die Gefährte seien »in puncto Geschwindigkeit und Leichtigkeit derart perfektioniert«[1] worden, dass man glaube auf ihnen »zu fliegen«. Eine Karikatur aus jener Zeit verdeutlicht den Zusammenhang. Sie zeigt einen Mann in Frack und Zylinder auf einem Fahrrad, das vorn und hinten an Heißluftballons hängt, anstelle von Rädern Rotoren besitzt und auf dem Lenker ein Fernrohr hat. Derart ausgestattet, schwebt es über Paris in Richtung Stadtrand. Die Bildunterschrift lautet: Voyage à la lune.[2]

Ein fliegendes Fahrrad. Ein Fahrrad, das zwischen den Sternen Slalom fährt. Eine Fahrradfahrt zum Mond. Die Popkultur hat diese Ideen nie ganz aufgegeben. Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelten die Hersteller Fahrräder mit den eleganten Formen von Jumbojets, deren Namen an die Luft- und Raumfahrt erinnern: Skylark, Skyliner, Starliner, Spaceliner, Spacelander, Jet Fire, Rocket, Airflyte, Astro Flite. Fliegende Fahrräder tauchen in der Kinderliteratur, im Groschenroman und in der Science-Fiction auf. In Bikey the Skicycle and Other Tales of Jimmieboy (1902) des US-amerikanischen Autors John Kendrick Bangs besitzt ein kleiner Junge ein magisches Fahrrad, das sprechen und fliegen kann. Der Junge fährt damit über Kirchtürme, über den Atlantik, über die Alpen und in den Weltraum, wo er und das Fahrrad die Ringe des Saturn entlangradeln – »eine wunderschöne goldene Straße«,[3] auf der sich »Radler aus allen Ecken des Universums« tummeln. Robert A. Heinleins Roman The Rolling Stones (1952) erzählt die Geschichte von Geschwistern, die als Jugendliche in einer Kolonie auf dem Mond leben und mit ihren Rädern zum Mars fahren, um radioaktives Erz zu schürfen. (»Ein solches Bergarbeiter-Fahrrad hätte in Stockholm auf der Straße seltsam ausgesehen[4] … doch auf den Mars oder Mond passte es wie ein Kanu auf einen kanadischen Fluss.«) Und heute verhelfen Geschichten über Weltraumreisen mit dem Fahrrad speziellen Themen des 21. Jahrhunderts aus dem Bereich Politik und Identität zu mehr Aufmerksamkeit. Der 2020 veröffentlichte Sammelband Trans-Galactic Bike Ride[5] ist eine Anthologie »feministischer Fahrrad-Science-Fiction-Geschichten von transgender und nicht-binären Abenteurern«.

Und natürlich gibt es die berühmte Szene aus E.T. – Der Außerirdische, in der am Rande der Vorstadt ein Fahrrad aus dem Kiefernwald aufsteigt und in den Himmel fährt. Ein unvergessliches Kinobild: Ein zehnjähriger Erdling mit seinem BMX-Rad, in dessen Lenkerkorb ein Außerirdischer sitzt, zieht vor einem absurd großen und grellen Vollmond dahin.

Das sind wirkmächtige Phantasien. Sie zeugen von dem uralten Wunsch, die Fesseln der Schwerkraft abzulegen und von der Erde fortzufliegen. Doch sind das lediglich Phantasien? 1883 prognostizierte der britische Arzt und Schriftsteller Benjamin Ward Richardson, das »neue, eigenständige Geschenk des Fortschritts«, das die Menschheit mit dem Fahrrad erhalten habe, werde bald spektakulär vergrößert: »Das grandiose Experiment, an dem wir gegenwärtig teilhaben, läuft praktisch auf die Kunst des Fliegens hinaus.«[6] In den letzten Jahren des Jahrhunderts gab es viele Bestrebungen, Fahrrad und Luftschiff miteinander zu vereinen. Zeitungen und wissenschaftliche Zeitschriften begeisterten sich bereits für Erfindungen wie das »Aerial-Cycle«, »Luftveloziped« oder »Pegasiped«. Es gab Entwürfe zu Fahrrädern mit Rotoren, zischenden Propellern und, heute würden wir sagen, Kite-Segeln, auch Entwürfe zu Luftschiffen, die von ganzen Radler-Schwadronen angetrieben wurden. Zwar schafften es diese Geräte nie hinauf in die Lüfte, doch am 17. Dezember 1903, 20 Jahre nach Richardsons Vorhersage, hob die Flugmaschine der Brüder Wright erfolgreich in Kill Devil Hills bei Kitty Hawk in North Carolina ab. Orville und Wilbur Wright waren Fahrradmechaniker und -hersteller, die sich ihre große Leistung hart erarbeitet hatten. Immer wieder führten sie auf den Straßen von Dayton in Ohio Versuche mit einem Fahrrad durch, auf dessen Vorderachse sie eine seltsame Apparatur befestigt hatten – ein Speichenrad, bestückt mit Holzplättchen und kleinen »Flügeln«, das sich horizontal drehte und ihnen wichtige Erkenntnisse zu Auftrieb und Luftwiderstand lieferte. Bei der Konstruktion ihrer Flugmaschinen nutzten die Brüder natürlich ihr beim Fahrradbau erworbenes Wissen zu Balance, Stabilität und Elastiziät sowie Material und Werkzeug aus ihrer Fahrradwerkstatt. Tatsächlich führte, wie von Richardson vorausgesagt, der Fahrrad-Boom auf direktem Weg ins Zeitalter der Luftfahrt.

Heute gibt es Flugmaschinen, die den Modellen der Rad-Luftschiff-Hybride des 19. Jahrhunderts sehr ähnlich sehen: pedalbetriebene Hubschrauber, Ornithopter und andere Leichtflugzeuge, gebaut in den Luftfahrtlaboren führender Universitäten. Im Vorfeld der Apollo-15-Mission von 1971 spielte die NASA kurzzeitig mit dem Gedanken, Elektrofahrräder für die Astronauten bauen zu lassen. Ein NASA-Foto dokumentiert eine Testfahrt:[7] Ein Fahrer im Raumanzug sitzt rittlings auf einem Prototyp des »Mini-Mondfahrrads« und strampelt über ein Trainingsfeld mit geringer Schwerkraft, das unter Astronauten »the vomit comet« (der »Kotzkomet«) heißt. Doch musste das Minifahrrad letztlich einem vierrädrigen Mondfahrzeug weichen, dem Mondbuggy. Im Weltraum wie auf der Erde wurde das Fahrrad vom Automobil verdrängt.

Der Traum vom Radfahren auf dem Mond war damit aber noch nicht ausgeträumt. Ein Vorkämpfer bei dieser Sache war David Gordon Wilson, Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Co-Autor von Bicycling Science, der ingenieurswissenschaftlichen »Bibel« zum Thema. Auch Jahre nachdem die NASA ihr Vorhaben aufgegeben hatte, engagierte sich Wilson weiterhin für den Einsatz pedalbetriebener Astronautenfahrzeuge. Die von Wilson entworfenen Fahrräder sollten von zwei Personen in halb liegender Position gefahren werden.[8] Ihre Räder aus Metallgewebe würden sie sicher über die staubige Mondoberfläche befördern, und anstelle einer herkömmlichen Antriebskette erfolgte die Übertragung mittels zweier parallel verlaufender Riemen aus hochfestem Stahldraht. Wilson erklärte, diese Fahrräder könnten für das im Weltall notwendige Bewegungstraining sorgen und zugleich den Astronauten als Transportmittel bei Expeditionen dienen. Die Mondradfahrer würden neuartige klimatische Bedingungen erleben und könnten das »Freiheitsgefühl einer Fahrt ohne Windwiderstand genießen«.[9] Wilson untermauerte seine Vorschläge mit genauen Berechnungen: »Die mittlere ›Reisegeschwindigkeit‹ eines voll ausgerüsteten Astronauten, der mit einem Zwei-Mann-Gefährt über den unverdichteten Mondboden radelt, betrüge 8,38 Meter pro Sekunde, also 30,17 Stundenkilometer.«[10]

Wilsons Ideen zur Weltraummobilität beschränkten sich nicht aufs Radfahren auf der Mondoberfläche. In einem Artikel von 1979 beschrieb er das Leben in einer »Weltraumkolonie auf einem künstlichen Satelliten«.[11] Er stellte sich »Flugzeuge mit im Liegesitz pedaltretenden Piloten« vor, die über der Skyline der Kolonie ihre Runden drehen. Alle Bewohner der Kolonie hätten kostenlosen Zugang zu diesen Flugzeugen. Wilson orientierte sich dabei an dem »Witte Fietsenplan«, dem »Weiße-Fahrräder-System«, das Anarchisten Mitte der 1960er Jahre in Amsterdam zur gemeinschaftlichen Nutzung von Fahrrädern entwickelt hatten. Jedenfalls stellte er sich eine Fahrradkultur vor, wie es sie auf der Erde nicht gibt. »Das Bild, das ich von menschlich angetriebenen Transportmitteln für die anstehende Monderkundung und den Einsatz in Weltraumkolonien vermitteln wollte, ist ein grundlegend anderes als die langsamen, strapaziösen, zweitklassigen Systeme der offensichtlich bewusst klein gehaltenen Fahrradnutzung hier auf der Erde«, schrieb Wilson.[12] »Flugzeuge könnten akrobatischen Kunststücke vollführen. Ein beliebter Sport wäre die Nachstellung berühmter Schlachten des Ersten Weltkriegs. Fallschirme wären wahrscheinlich überflüssig. Nach einem Zusammenstoß in der Luft würden die Flugzeuge wie auch die Piloten einfach sanft zu Boden schweben.«

 

90 Jahre bevor David Wilson diese Sätze schrieb, ereignete sich in Irland etwas für die Geschichte des Transportwesens Bedeutsames. John Boyd Dunlop war ein 47-jähriger Tierarzt aus Schottland, der nach Belfast gezogen war[13]. Zwar hatte Dunlop noch nie ein Fahrrad benutzt, doch sein neunjähriger Sohn Johnnie und seine Freunde fuhren mit ihren Dreirädern stundenlang Rennen auf den Pflasterwegen einer öffentlichen Parkanlage. Oft beschwerte sich Johnnie bei seinem Vater über die Holprigkeit der Straßen zwischen der Parkanlage und dem Haus der Dunlops. Solange Johnnie auf ebenen Schotterwegen blieb, kam er gut voran, doch die unebenen Strecken, wie sie in der Stadt vorherrschend waren – Straßen mit Granitpflaster und Straßenbahnschienen –, erschwerten das Treten und Vorankommen. Dunlop kannte das Problem auch aus eigener Erfahrung. Auf seinen tierärztlichen Runden durch Belfast spürte Dunlop regelmäßig das unangenehme Vibrieren der Kutschen und Einspänner, in denen er fuhr. Die Fahrzeuge, wie auch Johnnies Dreirad, besaßen Vollgummireifen, weshalb sie auf allen unebenen Strecken ratterten und klapperten.

Dunlop war ein kluger Kopf und ein Tüftler, das verriet schon sein Äußeres. Sein Blick war scharf und skeptisch, und er trug einen langen Professorenbart, dicht und akkurat geschnitten wie eine Formhecke. Praktische Probleme dieser Art weckten seinen Ehrgeiz. Er hatte schon für so manches Problem eine neuartige Lösung gefunden. So entwickelte er verschiedene Instrumente, die in seiner Tierarztpraxis Anwendung fanden. Und er verkaufte selbst entwickelte und patentierte Medikamente für Hunde und Pferde. Nicht zuletzt zeigte er ein »fortdauerndes Interesse an den Problemen des Straßen-, Schienen- und Seeverkehrs«,[14] insbesondere an Rollmechanismen und Rädern – eine Faszination, die, wie er sagte, in seiner Kindheit begonnen hatte, als er zusah, wie auf den Ackerflächen seiner Familie in Ayrshire im Südwesten Schottlands die Furchen mit hölzernen Walzen eingeebnet wurden. Im Herbst 1887 richtete er seine Aufmerksamkeit schließlich auf das Fahrverhalten des Dreirads seines Sohns. Würde er an Johnnies Dreirad Verbesserungen vornehmen können, die dem Jungen das Fahren über holprige Strecken erträglicher machten und ihm bei Rennen mit seinen Freunden im Park vielleicht sogar Vorteile verschafften?

Dunlop besah sich die Vollgummiräder des Dreirads genauer. Für ein ruhiges Fahrverhalten wären Reifen vonnöten, die den Zumutungen der Straße gewachsen waren und sich gleichzeitig den Unebenheiten flexibel anpassten. Ein ruhigeres Fahren, vermutete Dunlop, wäre auch ein schnelleres Fahren. Er beschäftigte sich in der Folge mit physikalischen Fragen nach dem Rollwiderstand und der Stoßdämpfung. »Mir kam in den Sinn«, schrieb er Jahre später, »dass die Lösung für einen schnellen, leichten Vortrieb gegebenenfalls in einem besonderen Konstrukt aus Gewebe, Holz und Gummi liegen könnte.«[15]

Vor allem Gummi war der Schlüssel zum Erfolg. Dunlops Idee bestand darin, ein Stück Gummischlauch mit einer Substanz zu füllen und diesen Schlauch auf der Felge zu befestigen. Zunächst füllte Dunlop den Schlauch mit Wasser. Als dies nicht zu den gewünschten Ergebnissen führte, experimentierte er mit einer anderen Substanz: Druckluft. Dunlop pumpte dazu Luft in einen Kautschukschlauch wie in einen Fußball. Den luftgefüllten Schlauch ummantelte er mit einer Schicht aus Leinen, bevor er ihn auf der hölzernen Felge fixierte. Einige Versuche auf dem Hof von Dunlops Tierarztpraxis bewiesen, dass ein luftgefüllter Reifen tatsächlich weiter und ruhiger rollte als ein herkömmliches Rad.

Dunlop baute daraufhin ausgefeiltere Prototypen: hölzerne Fahrradfelgen, drei Zoll breit und 36 Zoll im Durchmesser, auf denen er prall gepumpte Gummischläuche befestigte und sie mit Segeltuch und einer zusätzlichen Gummischicht ummantelte.

Am Abend des 28. Februar 1888 befestigte Dunlop diese Reifen an der Hinterachse des Dreirads seines Sohnes. Sogleich trat Johnnie in die Pedale, »um die neue Maschine auf ihre Geschwindigkeit zu erproben«.[16] Es war kurz vor zehn Uhr abends und auf Belfasts Straßen erfahrungsgemäß wenig Verkehr. »Der Vollmond schien, der Himmel war klar«, schrieb Dunlop. »Zufälligerweise gab es aber eine Mondfinsternis, also kam Johnnie nach Hause. Sobald der Schatten des Mondes vorübergezogen war, ging er wieder vor die Tür und fuhr noch lange auf den luftgefederten Reifen umher. Am nächsten Morgen zeigte der Gummimantel auch bei sorgfältiger Betrachtung keine Kratzer.«

Wir wissen nicht, was dem Jungen durch den Kopf ging, als er mit seinem leichtgängigen neuen Dreirad über das mondbeschienene Kopfsteinpflaster raste. Obwohl der Vater seine Erinnerungen an das Ereignis oft wiederholt und in einem Buch niedergeschrieben hatte, wurden Johnnies Gedanken nie dokumentiert. Die Bedeutung dieser Dreiradfahrt im Februar 1888 ist jedoch aktenkundig: Es war die weltweit erste Fahrradfahrt auf Luftreifen. Fünf Monate später erhielt John Boyd Dunlop ein Patent für »die Verbesserung der Bereifung bei Fahrrädern, Dreirädern und anderen Straßenfahrzeugen«, ein Durchbruch, der Millionen von Menschen auf zwei Rädern ins letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts sausen ließ.

Heute ist der Name Dunlop dank der gleichnamigen Reifenmarke weltweit bekannt. Zu Dunlops Lebzeiten scheiterte sein Eingang in die Geschichte an einer Fußnote. Im Jahr 1890 verlor Dunlop sein Patent wieder, nachdem bekannt wurde, dass der pneumatische Reifen schon früher erfunden worden war. Knapp 50 Jahre vor Dunlop hatte Robert William Thomson, ein schottischer Landsmann, die gleiche Idee gehabt.[17] Er hatte sich ein Patent für ein neuartiges Kutschrad gesichert, das mit einer luftgefüllten Kammer ausgestattet war, um »die Vibrationen der Straße auszugleichen«,[18] bevor sie an die Radfelge übertragen wurden. Der Name, den Thomson seiner Erfindung gegeben hatte, klang ziemlich poetisch: »aerial wheels« – Lufträder.[19]

 

Die Assoziation von Radfahren mit dem Fliegen ist zunächst einmal metaphorischer Natur. Es geht um ein ausgeprägtes Gefühl der Freiheit, um ein fast spirituelles Hochgefühl, das wir mitunter empfinden, wenn wir Rad fahren. Doch zwischen Radfahren und Fliegen gibt es objektiv physikalische Gemeinsamkeiten. Radfahrer stellen sich vor, dass sie fliegen, weil sie es in gewisser Weise tun.

Wer Fahrrad fährt, befindet sich in der Luft. Die Räder rollen ein endloses Band komprimierter Luft aus, das uns über dem Boden hält. Das Gefühl des Schwebens, von Auftrieb, entsteht durch die Art, wie das Fahrrad unseren Körper bewegt und verstärkt es noch: Unsere Beine kümmern sich um den Antrieb, doch für die Beförderung unseres Körpers mit all seinem Gewicht muss das Fahrrad selbst herhalten. Heute können Sie sich einen luftgepolsterten Sattel auf den Rahmen montieren und können sich, um es bequem zu haben, bei ihrer Fahrt »wie auf Wolken« ein Luftkissen unterlegen. Vielleicht fahren Sie in einer ruhigen Nacht auf einer leeren Straße. Vielleicht fahren Sie wie Johnnie Dunlop, Elliott und E.T. während einer Vollmondnacht. Bis zum Mond wird Ihr Fahrrad Sie höchstwahrscheinlich nicht befördern, doch es bleibt auch nicht gänzlich auf der Erde. Sie befinden sich in einer anderen Welt, einer Zwischenzone, irgendwo zwischen unserer Erde und dem riesigen, endlosen Himmel.

EinleitungDer Fahrradplanet

Frau und Kind auf einem Fahrrad. Mzimba (Distrikt), nordwestlich von Malawi, 2012.

In Utopia wird es reichlich Radwege geben.

H.G. Wells, Ein modernes Utopia (1905)[20]

Die Menschheit hat vier Millionen Jahre danach gestrebt, körperliche Anstrengung zu vermeiden. Jetzt aber möchte eine Gruppe rückwärtsgewandter Atavisten auf zwei pedalbetriebenen Hula-Hoop-Reifen, dass wir kräftig strampeln, die Zähne zusammenbeißen und ins Hecheln kommen, als würden uns Säbelzahntiger durch die Savanne des Pleistozän jagen. Denken Sie daran, wie viele Hoffnungen, Träume, Anstrengungen, Ideen und wie viel Willenskraft es über die Zeitalter bis zur Entwicklung des Cadillac Coupé de Ville gebraucht hat. All das wollen die Fahrradfahrer nun auf den Müllhaufen der Geschichte werfen.

Patrick Jake O’Rourke, »A Cool and Logical Analysis of the Bicycle Menace« (1984)[21]

Zwei Jahrhunderte lang haben die Menschen vom Fahrrad geträumt und die wunderlichsten Dinge herbeiphantasiert. Auch wenn nicht jeder Fahrradtraum bis hinauf zum Mond und den Sternen führte, wurden an den bescheidenen Drahtesel doch immer große Ansprüche gestellt. Das Fahrrad hat utopische Visionen beflügelt und heftige Emotionen geschürt, es hat die Menschen zu verrückten Theorien verleitet und zu einer Unmenge blumiger Prosa. Die Entwicklung des Fahrrads dauerte Jahrzehnte und durchlief verschiedene technische Stadien: von der ursprünglichen »Laufmaschine« von 1817 über die Knochenschüttler und Hochräder der 1860/70er Jahre bis hin zur Erfindung des sogenannten Sicherheitsniederrads in den 1880er Jahren, das zur klassischen, heute bekannten Rahmenform führte und den Fahrradwahn des Fin de Siècle auslöste. Und in jedem neuen Entwicklungsstadium wurde das Fahrrad als Paradigmenwechsel gefeiert, der die Welt revolutionierte.

Das Fahrradfahren verwirklichte einen Menschheitstraum, der so alt wie der vom Fliegen war. Als individuelles Transportgerät erlaubte einem das Fahrrad, sich aus eigener Kraft, also auch unabhängig von Reit- und Zugtieren, schnell über Land zu bewegen. Genau wie die Zuglokomotive – eine weitere revolutionäre Erfindung des 19. Jahrhunderts – konnte das Fahrrad »den Raum tilgen«, Entfernungen verkürzen und die Welt schrumpfen lassen. Doch waren Zugreisende passiv und saßen bequem zurückgelehnt in ihrem Abteil, während Kohle, Dampf und Stahl die Arbeit verrichteten. Radfahrer aber waren ihre eigenen Lokomotiven. »Man reist selbst«, schrieb 1878 ein Radbegeisterter, »und wird nicht gereist.«[22]

Im Laufe der Jahrzehnte, als die Fahrradbegeisterung in Europa und den Vereinigten Staaten um sich griff, konstatierte man weitreichende gesellschaftliche Veränderungen, die damit einhergingen. Das Fahrrad wurde als ein Gleichmacher gepriesen, das Fahrradfahren als Reinigung des Körpers, als Befreiung von Geist und Verstand.

»Ich glaube, das Fahrradfahren hat mehr zur Emanzipation der Frauen beigetragen als alles andere«, schrieb Susan B. Anthony 1896.[23]

»Es wäre überhaupt nicht verwunderlich«, prognostizierte ein Artikel der Detroit Tribune im selben Jahr, »wenn die Geschichte zu dem Schluss käme, das größte Ereignis des 19. Jahrhunderts sei die Vervollkommnung des Fahrrads gewesen.«[24]

Man könnte solche Äußerungen als zeitbedingte Übertreibungen abtun, wie sie für bestimmte Ereignisse dieser Art typisch sind. Doch der Zuspruch, den das Fahrrad im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert bekam, klang ähnlich euphorisch. Auf beiden Seiten des Atlantiks machten sich in den 1970er Jahren Aktivisten für das Fahrrad stark. Es galt als Alternative zur Autokultur, die die Städte verstopfte und die Luft verschmutzte. Es stand ebenso für fortschrittliche Werte, für hehre Ideale wie Gleichheit, für Liebe und Frieden. In einem Manifest der »Pedal Power«-Bewegung aus den 1970ern heißt es: »Vielleicht kann das Fahrrad als gemeinsamer Nenner zwischen Ost und West uns alle zu Brüdern und Schwestern machen.«[25]

Angesichts der Bedrohung unseres bisherigen Lebens durch den Klimawandel ist die Rhetorik heute messianischer. Die Fahrradverfechter unserer Zeit sprechen von einer »erhabenen Erfindung«,[26] von einer »wahrhaft wohltätigen Maschine«,[27] einem »fahrbaren Kunstwerk, das die Welt vielleicht noch retten kann«.[28] Im 19. Jahrhundert sah man das Fahrrad als technisches Wunder, heute als moralische Pflicht. Einst leuchtete es als Stern am Himmel, heute als Fackel der Vernunft.

Fahrräder faszinieren. Doch was noch wichtiger ist: Fahrräder sind gut.

 

Haben die Fahrradverehrer Unrecht? Die zahlenmäßige Überlegenheit des Fahrrads ist unbestreitbar. Es gibt ungefähr eine Milliarde Autos auf der Welt und doppelt so viele Fahrräder.[29] Allein in China werden aktuell pro Jahr mehr Fahrräder produziert als Autos auf der ganzen Welt. Die Städte, in denen wir leben, unsere Wirtschaft und unsere Gesetze sind auf Autos ausgelegt, und wir düsen mit dem Flugzeug von Kontinent zu Kontinent. Und doch wir leben auf einem Fahrradplaneten.

Auf der ganzen Welt fahren mehr Menschen mit dem Fahrrad als mit jedem anderen Verkehrsmittel. Im ländlichen Raum der südlichen Hemisphäre und in den Zentren der nordeuropäischen Metropolen ist das Fahrrad das wichtigste Verkehrsmittel. In den Niederlanden gibt es 23 Millionen Fahrräder – fünf Millionen mehr als es Niederländer gibt. Fast jeder kann lernen, Fahrrad zu fahren. Und fast jeder tut es.

Die Allgegenwart des Fahrrads beweist seine Vielseitigkeit. Fahrräder sind Transportmittel und Sportgerät, Freizeit- und Arbeitsgerät zugleich. Wir nehmen das Rad, um die Post zuzustellen, die Landschaft zu erkunden, Kalorien zu verbrennen und unsere Muskeln zu trainieren. Ein Fahrrad kann das Spielzeug eines Kindes sein und das Transportmittel, mit dem seine Mutter zur Arbeit fährt.

Fahrräder befördern Personen und Lasten. Tausende von Fahrradrikschas verstopfen die Straßen von Singapur und Manila. Kleinbauern in Vietnam, Indien und anderen Ländern nutzen umgebaute Fahrräder zum Pflügen, Grubbern und Eggen. In Peru dienen Fahrräder als mobile Obst- und Gemüsestände. In Sambia bringen Fahrräder Waren zum Markt und Kranke ins Krankenhaus. In weiten Teilen der Welt ist es Pedalkraft, die Städte in Bewegung und den Handel im Fluss hält und das Überleben sichert.

Die anhaltende Bedeutung des Fahrrads stellt Fortschrittsmythen infrage und hinterfragt unser lineares, vom Fortschritt geprägtes Geschichtsbild.[30] Das Fahrrad widerspricht mitunter auch einfacher Logik. In vielerlei Hinsicht ist es unpraktisch. Mit dem Fahrrad kann man nicht Schlagbäume niedermähen oder einen Ozean überqueren. Es hält bei Regen nicht trocken, und das Fahren im Schnee hat seine Tücken. »Kaufen Sie sich ein Fahrrad«, schrieb Mark Twain 1886. »Sie werden es nicht bereuen, wenn Sie dann noch am Leben sind.«[31] Diese mahnenden Worte gelten nach wie vor. Wer, wie ich, in New York täglich Fahrrad fährt, fordert, indem er sich rücksichtslosen Rasern und den aufschwingenden Türen parkender Autos ausliefert, sein Schicksal heraus. Ein Radfahrer verglich einmal das Geräusch einer sich öffnenden Autotür mit dem Spannen einer Schusswaffe. »Radfahrer sind Selbstmordanwärter«, schrieb der mexikanische Essayist Julio Torri.[32] »Seit sich die Anzahl der Autos auf unseren Straßen vervielfacht hat, bewundere ich Radfahrer so, wie ich früher mal Stierkämpfer bewundert habe.«

Andere Erfindungen des 19. Jahrhunderts – die Dampfmaschine, die Schreibmaschine, der Telegraph, die Daguerreotypie – sind veraltet oder wurden bis zur Unkenntlichkeit modernisiert. Das Fahrrad blieb jedoch im Wesentlichen unverändert, ein Fahrzeug von unglaublicher Einfachheit, Eleganz und Genialität: zwei gleich große Räder, zwei Reifen, ein rautenförmiger Rahmen, ein Kettenantrieb für das Hinterrad, zwei Pedale, ein Lenker, ein Sattel – und auf dem Sattel ein Mensch, der Passagier und Motor zugleich ist. So lautete der Entwurf des englischen Erfinders John Kemp Starley zu seinem bahnbrechenden Rover-Fahrrad von 1885. Maurice Garin, der 1903 die erste Tour de France gewann, Albert Einstein, der mit Fahrrad über den Campus von Princeton fuhr, Deng Xiaoping, der die »Fliegende Taube« als Glanzstück des chinesischen Sozialpakts verherrlichte, die Teilnehmer an den X-Games, die Essenslieferanten, die Migranten, die über den Grenzstreifen zwischen den USA und Mexiko fahren,[33] die Angestellten der US-amerikanischen Grenzpolizei, die ebendiesen Grenzstreifen patrouillieren, die in Elastan gehüllten Wochenendkrieger, die »anarcho-feministischen« Fahrradkollektive – mein Fahrrad, dein Fahrrad –, sie alle verwenden mehr oder weniger das gleiche Gefährt, eine kaum abgewandelte Version des bahnbrechenden Rover. Sogar das heutige E-Bike, dessen batteriebetriebener Elektromotor uns beim Tritt in die althergebrachten Pedale unterstützt, ist grundlegend baugleich. Jahrzehnte und Jahrhunderte vergehen, technische und sonstige Revolutionen verändern die Welt. Derweil das Fahrrad rollt und rollt.

 

Wo das Fahrrad auftaucht, entbrennen Kontroversen und Kulturkriege. Es mag überraschen, dass das Fahrrad im Zentrum heftiger Debatten über einige der wichtigsten Themen unserer Zeit steht – nicht nur bei Fragen der Verkehrspolitik, wie vielleicht erwartbar wäre, sondern auch bei weitreichenden Fragen zur sozialen Ungleichheit, zu Rassismus, zur Nachhaltigkeit und der Zukunft des Lebens auf der Erde. Die Aufregung rund um das Fahrrad scheint im Widerspruch zu dem Gegenstand selbst zu stehen, einem harmlosen, fast niedlichen Relikt der viktorianischen Welt. Doch das Fahrrad fungierte schon immer als Blitzableiter. Die Hasstiraden flogen in beide Richtungen: Nach jedem Loblied auf das Fahrrad folgte Widerspruch in Worten voller Wut.

Einen Aufschrei gab es bereits im Jahr 1819, als die ersten einfachen Zweiräder auf drei Kontinenten gleichzeitig Kritik und gesetzliche Reglementierung erfuhren. Die bei Wohlhabenden und Modebewussten sehr beliebten Gefährte wurden prompt zur Zielscheibe populistischer Häme. (»Es gibt jetzt ein seltsames zweirädriges Fahrzeug namens Veloziped, das nicht Pferde antreiben, sondern Esel.«)[34] Kutscher und Fußgänger protestierten gegen die Anwesenheit von Velozipeden auf Straßen und Gehwegen. Es folgten Verbote. Im März 1819 wurde in London das Fahren mit dem Veloziped unter Strafe gestellt. Andere Städte und Länder erließen ähnliche Beschränkungen. Der Leitartikel einer US-amerikanischen Zeitung rief zur »Zerstörung«[35] des Velozipeds auf, wobei sich die Gewalt des Mobs sowohl gegen die Fahrzeuge als auch gegen die Fahrer richtete.

Diese frühen Reaktionen auf das Fahrrad ähneln in auffälliger Weise den folgenden. Es entbrannte eine Streit um das Nutzungsrecht der Straßen. Für die Gegner war klar: Fahrräder waren per se lächerlich und illegitim, verdienten Spott und Herablassung und sollten bestenfalls ganz verschwinden. Auf dem Höhepunkt des Fahrradbooms, in den 1890er Jahren, wurde die Kritik immer hysterischer. Fahrräder wurden als Bedrohung der traditionellen Werte, der öffentlichen Ordnung, der wirtschaftlichen Stabilität und der Keuschheit der Frauen dargestellt. Die Boulevardpresse zeigte Kriminelle, die das Fahrrad als Fluchtfahrzeug verwendeten. Medizinische Fachzeitschriften diagnostizierten eigene Fahrradkrankheiten: das Fahrradgesicht, den Fahrradhals, Fahrradfuß, Fahrradbuckel und die Zyklomanie (»Kyphosis bicyclistarum«).[36] Auf Kirchenkanzeln und in moralistischen Manifesten prägte man fahrradfeindliche Schlagworte. »Das Fahrrad fährt für Satan«, verkündete die Women’s Rescue League 1896 in den USA. »Das Fahrrad ist ein Agent des Teufels, geistig wie leiblich.«[37]

Man mag über die damaligen Übertreibungen lächeln, aber vergleichen wir sie mit der heutigen Rhetorik, müssen wir feststellen: Die Inhalte der Beschimpfungen haben sich geändert, doch die Inbrunst ist geblieben. Während Kritiker um die Jahrhundertwende das Fahrrad als den Inbegriff einer bedrohlichen Moderne ansahen, ist es bei P.J. O’Rourke nur mehr ein Affront gegen den Fortschritt, ein Gefährt für »rückwärtsgewandte Atavisten«. Eine australische Studie von 2019untersuchte die negative Einstellung gegenüber Radfahrern, die »in vielen Ländern« vorherrsche und die sich in Form »spöttischer öffentlicher Äußerungen zu Gewalttaten gegen Radfahrer« und in realen körperlichen Übergriffen auf Radfahrer äußere.[38] Die Forscher untersuchten die Hypothese, ob in Gesellschaften, die auf Kraftfahrzeuge ausgerichtet sind, Radfahrer der Gefahr unterliegen, entmenschlicht zu werden: »Radler auf der Straße sehen anders aus und verhalten sich anders als ›normale Menschen‹. Sie bewegten sich roboterhaft, und Autofahrer könnten ihre Gesichter oft nicht sehen, was empathischen Reaktionen, die sie humanisieren würden, entgegenstünde.« Für Autofahrer, die den öffentlichen Straßenraum als ihr »Revier« betrachten, erscheinen Radfahrer als Eindringlinge, als Störenfriede, die am besten aus dem Weg geräumt werden sollten. Die Studie kam zu dem erschreckenden Ergebnis, dass in 49 Prozent der Autofahrer Radfahrer nicht als »vollwertige Menschen« ansah.

 

Dieses Buch erzählt von Fahrradliebe und Fahrradverachtung. Es untersucht die starke Zuneigung und Abneigung, die Fahrräder hervorrufen, und wie diese Haltungen in Geschichte und Kultur sowie in den Köpfen und im Leben der Leute ein Echo finden. Es zeigt das Drama, das sich derzeit in großem Ausmaß auf unseren Straßen abspielt. Wir beobachten heute eine explosionsartige Zunahme des Radverkehrs in Städten und einen enormen Anstieg des Radverkehrs weltweit. Der globale Fahrradmarkt ist in den letzten zehn Jahren um Milliardensummen angewachsen. Analysten sagen voraus, dass sein Volumen bis 2027 gut 80 Milliarden Dollar erreichen wird.[39] In diesen Zahlen spiegelt sich das Ausmaß der aktuellen Fahrradbegeisterung, die zu keinem Moment der Geschichte größer und sozial breiter war als heute. 200 Jahre nach seiner Erfindung feiert das Fahrrad gerade den größten Boom aller Zeiten.

Der Boom bricht sich fast gewaltsam Bahn. Auf den Straßen der Städte entsteht neue Infrastruktur für Räder, es gibt mehr und mehr Angebote von kostenlosen Leihfahrrädern, auch E-Bikes mischen sich in den dichten Strom des Zweiradverkehrs – und wieder wird der Streit zwischen Fahrradfans und -verächtern laut und schrill. Die Heftigkeit der Auseinandersetzung zeigt uns den Stellenwert des Fahrrads, zeigt bei Befürwortern wie Kritikern gleichermaßen, dass es wieder einmal unseren Lebensort und unsere Lebensart verändert. Ein Fahrradboom in früherer Zeit ließ sich meist auf technische Veränderungen oder neue Fahrradtypen zurückführen. Doch der aktuelle Hype verdankt sich offenbar anderen Kräften. Er ist nicht zuletzt eine Reaktion auf die Probleme und Krisen, die den Globus im dritten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends heimsuchen. In diesem ökologisch gefährdeten, sich rasant urbanisierenden, verkehrsverstopften, sozial turbulenten, pandemiegeplagten 21. Jahrhundert ist das Zweirad aus dem 19. Jahrhundert ein Relikt, dessen Zeit offenbar gekommen ist.

In den folgenden Kapiteln geht es um die Debatten und die Kämpfe, die in der Vergangenheit im Namen des Fahrrads geführt wurden und noch immer geführt werden. Die Politik rund ums Rad mag uns allzu evident erscheinen. In den Vereinigten Staaten verbinden wir Fahrräder mit progressiven Ansichten und Werten, mit dem Blau der Demokraten und mit grüner Politik, mit Hipstern und Bobos, mit den rebellischen Radlern der Critical-Mass-Bewegung, deren kollektive Guerillafahrten die Rechte von Radfahrern stärken sollen, und mit anderen links orientierten Gruppen. Natürlich sind das Stereotype. Auf zahlreiche Radfahrer treffen die Klischees nicht zu. Doch die Beziehungen des Fahrrads zu progressiven und radikalen Ideen sind historisch begründet.

Zu den ersten großen Fahrradorganisationen gehörten in den 1890er Jahren sozialistische Fahrradklubs in Großbritannien, die das Fahrrad als »people’s nag«, als »Gaul fürs Volk« anpriesen. Seitdem gehört das Fahrrad in vieler Hinsicht zur Gegenkultur. Ein Manifest der niederländischen Anarchistengruppe Provo, die in den 1960er Jahren den »Witte Fietsplan« entwarf, beschrieb programmatisch den revolutionären Zusammenschluss von »Mods, Studenten, Künstlern, Rockern, Kriminellen, Ban-The-Bombers, Außenseitern … Leuten, die keine Karriere machen wollen, die unstete Leben führen, die sich wie Radfahrer auf einer Autobahn fühlen«.[40] Regierungen haben das Fahrrad schon lange als Protestmittel erkannt. Nach Adolf Hitlers Machtergreifung 1933 war eine seiner ersten Amtshandlungen, den Bund Deutscher Radfahrer zu zerschlagen, der mit antifaschistischen Parteien in Verbindung stand und Zehntausende Radfahrer auf den Straßen versammeln konnte.[41] Später beschlagnahmten deutsche Soldaten in Dänemark, den Niederlanden, Frankreich und anderen Ländern die Fahrräder der Bevölkerung.[42] Für repressive Regime oder Besatzungsarmeen war das Fahrrad eine Bedrohung, ein Gerät, mit dem sich feindliche Subjekte anschleichen, sich organisieren, mobilisieren und entziehen konnten.

Der Ruf des Fahrrads als Katalysator sozialen Wandels rührt vor allem von seiner Bedeutung in der Frauenbewegung. Um die Jahrhundertwende nutzten feministische Reformerinnen in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien und auf dem europäischen Kontinent das Fahrrad als Protestmittel und als Symbol des Wertewandels. (In Elizabeth Cady Stantons Worten: »Frauen fahren auf dem Rad zu ihrem Wahlrecht.«)[43] Das Radfahren bot den Frauen neue Unabhängigkeit und räumte gleichzeitig mit dem Mythos ihrer körperlichen Schwäche auf. Außerdem half es den Frauen bei einer weiteren Befreiung, nämlich von den Zwängen der viktorianischen Mode, den starren Korsagen und den Reifröcken aus Fischbein, mit denen man unmöglich ein Fahrrad besteigen, geschweige denn darauf fahren konnte. Die Radfahrerinnen besorgten sich »vernünftige Kleidung« – etwa die allseits bekannten Bloomerhosen, die zusammen mit dem Fahrrad fortan selbst zum Symbol emanzipierter Weiblichkeit wurden.

Auch heute spielt das Fahrrad beim Kampf um Frauenrechte eine zentrale Rolle. Autoritäre Regime in Asien und im Nahen Osten erlassen regelmäßig Fahrradfahrverbote für Frauen.[44]2016 erließ der oberste Führer des Iran, Ali Khamenei, eine Fatwa gegen das Radfahren von Frauen in der Öffentlichkeit[45] mit der Begründung, »sie zögen die Aufmerksamkeit fremder Männer auf sich und setzten die Gesellschaft dem Sittenverfall aus«.[46] Einige Iranerinnen reagierten darauf in den sozialen Medien mit Fotos, die sie mit Slogans wie »Ich will nicht verführen, ich fahre nur Rad«[47] beim Fahrradfahren zeigen. Das Verbot wurde zwar weitgehend missachtet und nicht konsequent durchgesetzt, doch haben Strenggläubige in mehreren iranischen Provinzen immer wieder Erlasse gegen Fahrrad fahrende Frauen verhängt. In den letzten Jahren wurden im Iran die Fahrräder von Frauen beschlagnahmt, Frauen wurden verhaftet oder mit anderen Formen »islamischer Bestrafung«[48] behelligt, ebenso gab es Berichte über tätliche Angriffe und sexuelle Gewalt.[49] Für Millionen von Frauen auf der ganzen Welt ist das Fahrradfahren nach wie vor eine politische Handlung, ein Akt des Widerstands und Behauptung der eigenen Freiheit, und das unter hohem persönlichen Risiko.

In der Geschichte des Fahrrads nehmen diese Geschichten einen großen Stellenwert ein. Zahlreiche Bericht zur Historie des Fahrrads betonen dessen befreiende Kraft und stellen Radfahrer als heldenhafte Außenseiter dar. All diesen Berichten liegt eine romantische Vorstellung vom rebellischen Fahrrad zugrunde, von einer Radkultur als »Punk«, als Rebellion gegen Konservatismus, Korporatismus und Autokultur.

Doch die Politik rund ums Rad ist komplex. Die Fakten decken sich nicht immer mit den Vorstellungen. Seit kurzem bemüht sich die Wissenschaft um eine weniger verklärende Darstellung der Geschichte.[50]

Vielerorts kam das Fahrrad erstmals als Transportmittel für Soldaten, Siedler, Goldgräber, Missionare und sonstige Suchende auf der Jagd nach Ländereien, Schätzen und Seelen zum Einsatz. Die zur Fahrradherstellung benötigten Rohstoffe – Stahl für den diamantförmigen Rahmen, Gummi für Dunlops berühmte Reifen und Schläuche – beschaffte man auf Kosten der Umwelt und durch blutige Ausbeutung der Bevölkerung von Kolonialstaaten.

Die herzerhebende Darstellung der Geschichte des Fahrrads, wie sie uns in so vielen Publikationen begegnet – vom »grünen Gefährt«, das dem Menschen Erfüllung und Frieden schenkt –, ist deshalb mit Vorsicht zu genießen. Infanteristen, Gendarme, Steuereintreiber und andere Kolonialbeamte auf ihren Fahrrädern in Britisch-Malaya, Deutsch-Togo und Französisch-Nordafrika. Schwarze Diener auf den Westindischen Inseln, die mit Fahrradrikschas Plantagenbesitzer chauffieren. Fahrrad fahrende europäische Missionare in Malawi, Indien und auf den Philippinen. Weiße Glücksjäger, die auf Fahrrädern zu nigerianischen Ölfeldern und Goldfeldern im australischen Outback fahren. Die Fahrradbataillone der britischen Armee und der Armee des Oranje-Freistaats, die im Zweiten Burenkrieg beim »Wettlauf um Afrika« gegeneinander ins Feld rollten. Millionen von Kongolesen, die in den Wäldern des Kongo-Freistaats unter der Regentschaft Leopolds II. Kautschuk ernten mussten – Zwangsarbeit in einem mörderischen System, das eingeführt wurde, als während des Fahrradwahns der Kautschukmarkt boomte.

Natürlich geht es nicht darum, das Fahrrad als Übeltäter hinzustellen. Doch ich möchte zeigen, dass seine Geschichte komplexer ist, als man zunächst meinen könnte. Werfen wir zum Beispiel einen Blick auf die Verwandtschaft zwischen Fahrrad und Auto, die viel enger ist, als die meisten Menschen ahnen. 20 Jahre bevor das Model T in Detroit vom Band lief, stellte Henry Ford sein erstes Automobil her, das Ford Quadricycle.[51] Wie der Name schon andeutet, war es ein vierrädriger Cousin des Fahrrads, mit einem kleinen Rahmen, einer Sitzbank für zwei Passagiere und einem ethanolbetriebenen Zweizylinder-Reihenmotor, der wie bei einem Fahrrad die Hinterräder antrieb. Teile, die für die Entwicklung des Automobils bedeutsam werden sollten, vom Kugellager bis zum Bremsbelag, wurden zunächst fürs Fahrrad entwickelt. Eckpfeiler der Automobilindustrie – Fließband, Händlernetz, geplante Obsoleszenz – wurden ebenfalls von Fahrradmagnaten entwickelt und erdacht, die häufig vom Fahrradhandel zum Autohandel wechselten.

Schließlich sind da noch die Straßen selbst. In den USA sind sie ein Erbe der um die Jahrhundertwende aktiven »Good Roads«-Bewegung, die mit missionarischem Eifer von Radfahrern angeführt wurde. Das Netz der Interstate Highways, die Zersiedelung der Vorstädte, die Einkaufszentren – all diese Merkmale der amerikanischen Landschaft werden üblicherweise der Autokultur zugeschrieben, doch haben sie ihren Ursprung in der Vision einer »Makadamisierung«[52] von Küste zu Küste, für die sich erstmals in den 1890er Jahren der damals mächtige »bicycle bloc«[53] eingesetzt hatte. Der Fahrradaktivismus ebnete dem Auto im wortwörtlichen Sinne den Weg. »Es ist die Aufgabe kritischer Fahrradhistoriker, die Geschichte der komplexen materiellen Beziehungen zwischen dem Fahrrad, dem Auto und den gemeinsam genutzten Straßen aufzuarbeiten«, schreibt der Sozialhistoriker Iain Boal.[54] »Fahrradpuristen, die glauben, sie bildeten einen klaren Gegenpol zu den Autofahrern, müssen ihre Sicht überdenken.«

Nicht nur die Zeugnisse aus der Vergangenheit machen die Zusammenhänge so komplex. Am gegenwärtigen Fahrradboom entzünden sich auch soziale Konflikte. In etlichen amerikanischen und europäischen Städten wird für Angebote kostenloser Leihfahrräder und andere fahrradfreundliche Maßnahmen gesorgt, allerdings überwiegend in der Absicht, globales Kapital anzuziehen. Die bestehende soziale und wirtschaftliche Ungleichheit wird auf diese Weise natürlich noch verschärft. Soziologen haben Korrelationen zwischen dem Bau neuer Fahrradinfrastruktur und den Beutezügen von Immobilienhändlern untersucht und gezeigt, dass Fahrradwege oft als »Straßenkarten der Gentrifizierung«[55] dienen. Gentrifizierung ist auch ein Thema in Kreisen der von weißen Männern dominierten Fahrradlobby. Von »unsichtbare Radfahrern«[56] reden Kritiker, wenn es um die Ausgrenzung von Schwarzen, Latinos, Frauen und Radfahrern aus der Arbeiterklasse durch weiße Aktivisten geht. Die politische Wut mancher privilegierter Aktivisten ist wohl Ausdruck eines Anspruchsdenkens: Weiße können als Radfahrer strukturelle Ungerechtigkeiten erleben, die sie sonst nirgendwo im Leben erfahren.

Tatsächlich ist die Politik rund ums Rad immer auch Austragungsort anderer Konflikte. Im pandemiegeprägten Sommer 2020 demonstrierten im Rahmen der Black-Lives-Matter-Bewegung Millionen von Menschen in US-amerikanischen Städten, viele auf Fahrrädern. Empfangen wurden sie dabei von einer anderen Rad fahrenden Gruppe: schwer gepanzerten Fahrradpolizisten, die zur Kontrolle der Menge auch Gewalt anwandten und sogar ihre Fahrräder als Schlagwaffe einsetzten. Mag sein, dass das Fahrrad eine »erhabene Erfindung« und eine »wohltätige Maschine« ist, aber manchmal ist es mit der Erhabenheit und der Wohltätigkeit nicht weit her. Das Ideal des Fahrrads ist an einen steten Kampf geknüpft, genau wie das Ideal von Gerechtigkeit und Gleichheit.

 

Ich habe beim Schreiben dieses Buchs versucht, all diese widersprüchlichen Aspekte im Auge zu behalten. In den folgenden Kapiteln geht es viel um Geschichtliches, aber eine enzyklopädische Gesamtschau ist nicht intendiert. Dem Radsport widme ich beispielsweise wenig Aufmerksamkeit, ein Thema, das bereits in unzähligen Regalmetern zur Geschichte des Fahrrads abgehandelt wurde.

Weniger um Geschichtliches als um Geschichten soll es gehen. Traditionell konzentrieren Fahrradhistoriker sich in ihren Darstellungen auf Europa und die USA. Ein ähnlicher »Provinzialismus« zeigt sich bei den Fahrradaktivisten. Der einflussreiche Stadtplaner und Aktivist Mikael Colville-Andersen prägte den Begriff der »Kopenhagenisierung«[57] als Schlagwort für die Umgestaltung heutiger Städte in fahrradfreundliche Metropolen und erklärte salbungsvoll die dänische Hauptstadt zum geistigen Zentrum des Fahrraduniversums.

Doch die große Mehrheit der Fahrräder und Radfahrer rollt nicht durch Kopenhagen oder eine andere europäische oder nordamerikanische Großstadt. Statistisch gesehen ist im 21. Jahrhundert ein Radfahrer viel wahrscheinlicher ein Wanderarbeiter in einer asiatischen, afrikanischen oder lateinamerikanischen Metropole als ein weißer europäischer Vertreter des »Cycle Chic« ein weiterer von Colville-Andersen geprägter Begriff).[58] Die Themen der Fahrradbefürworter im Westen – Radfahren als gewählter »Lebensstil« und bewusste Option – decken sich wenig mit den Realitäten von mehreren Hundert Millionen Menschen, für die das Fahrrad als einziges verfügbares und erschwingliches Verkehrsmittel alternativlos ist.

Sowohl in den Industrie- als auch in den Entwicklungsländern ist das Fahrrad ein städtisches Verkehrsmittel, und ein Großteil dieses Buchs widmet sich urbanen Geschichten. Natürlich gibt es auch Millionen von Radfahrern auf dem Land. Quasi seit seiner Erfindung pries man das Fahrrad als Fluchtmittel, mit dem gestresste Städter dorthin gelangen können, wo das Gras grüner und die Luft sauberer ist. Und doch wurde das Fahrrad von Städtern vor allem für Städter entwickelt. Egal was die Zukunft des Fahrrads bringt, sie wird sich in jedem Fall auf den Straßen der großen Städte abspielen.

Anders herum könnte das Schicksal der Städte sogar vom Fahrrad abhängen. Demographen schätzen, dass bis 2030 etwa 60 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben werden. Im Zeitalter der Klimakrise zeigt sich auf einem Planeten mit ständig wachsenden Megalopolen das Problem des städtischen Nahverkehrs nicht mehr nur als Frage von Lebensqualität. Denn unsere Art der Fortbewegung entscheidet womöglich nicht nur darüber, wie wir leben, sondern auch, ob wir leben.

Die öffentliche Meinung kommt zunehmend zu der Ansicht, die Fahrradbefürworter schon lange vertreten: Die Autos bringen uns um. Laut verschiedener Studien tragen Kraftfahrzeuge den größten Nettobeitrag zum Klimawandel bei.[59] Hybrid- oder Elektroautos seien dabei auch keine Lösung, da der Reifenverschleiß und die Freisetzung von Schadstoffen, die nicht aus dem Auspuff kommen, ebenfalls gewichtigen Anteil an den Fahrzeugemissionen haben.[60]

Die von der Autokultur hervorgerufenen Klimaschäden sind nur ein Aspekt des Problems. Das Autozeitalter ist ein Zeitalter des Metzelns und Mordens. Weltweit sterben jährlich etwa 1,25 Millionen Menschen bei Autounfällen,[61] im Durchschnitt also über 3400 Tote täglich. Die weltweit häufigste Todesursache bei jungen Erwachsenen zwischen 15 und 29 Jahren sind Autounfälle. Pro Jahr werden weitere 20 bis 30 Millionen Menschen auf den Straßen weltweit verletzt oder tragen bleibende Schäden davon.

Dazu kommen weitreichende geopolitische Folgen: Die Autokultur führt zu zweifelhaften Allianzen, zu Korruption, zu Kriegen, damit der Benzinfluss nicht versiegt.

Vor diesem schrecklichen Hintergrund erscheint das Fahrrad in tugendhaftem Glanz. »Das Fahrrad ist das zivilisierteste Fortbewegungsmittel, das wir kennen. Andere Transportmittel werden täglich albtraumhafter. Nur das Fahrrad bewahrt ein reines Herz.«[62] Als Iris Murdoch 1965 diese Worte schrieb, konnte sie kaum ahnen, wie unsere Welt aussehen würde, in der Plutokraten sich Hubschrauber mieten, um über die verstopften Straßen der Metropolen hinwegzufliegen.

Doch gibt es Anzeichen, dass die Geschichte eine Wende nehmen könnte. Als im Frühjahr 2020 die Coronapandemie begann, nutzten Millionen Menschen das Fahrrad, um von A nach B zu kommen und gleichzeitig Abstand zu halten. Die Radfahrer strampelten durch eine Welt im Lockdown, über gespenstisch leere Straßen. Plötzlich waren die Großstädte rund um den Globus Fahrradstädte. Es war eine seltsame Mischung aus Utopie und Apokalypse. Die leeren Städte wirkten wie Szenen aus einem Katastrophenfilm, boten gleichzeitig aber einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft, in eine Zeit, in der Fahrräder auf ruhigen Straßen unter einem nicht mehr smogverhangenen Himmel fahren. Egal ob Fahrräder die Welt retten werden oder nicht, zweifellos ist eine Stadt mit vielen Fahrrädern und wenigen Autos sicherer, gesünderer, bewohnbarer und menschlicherer.

Ein gern verwendeter Slogan von Fahrradaktivisten lautet: »Zwei Räder gut, vier Räder schlecht«. Diese freche Anleihe bei Orwell (»Vier Beine gut, zwei Beine schlecht«) hat etwas Scheinheiliges. Man möchte sich als Fahrradfahrer den Autofahrern moralisch überlegen fühlen. Radfahrer als die besseren Menschen.

Gleichzeit entspricht »Zwei Räder gut« einer unleugbaren Tatsache. In einer Welt schlechter Deals bietet das Fahrrad eine erstaunliche Investitionsrendite. Fahrräder sind billig, langlebig, beweglich und brauchen wenig Platz. Ein Fahrrad kann uns fünf, zehn oder auch 200 Kilometer weit transportieren, und wenn wir zu Hause angekommen sind, tragen wir es mit einer Hand in unsere Wohnung. Versuchen Sie das mal mit einem Sportwagen oder SUV.

Radfahrer erhalten mehr von ihrem Fahrrad zurück, als sie investiert haben. Ein Fahrrad ist bemerkenswert effizient darin, menschlichen Kraftaufwand in Bewegung umzusetzen. Auf einem Fahrrad bewegen wir uns viermal schneller als zu Fuß und verbrauchen dabei nur ein Fünftel der Energie. »Das Fahrrad ist der perfekte Überträger von menschlicher Stoffwechselenergie in Bewegung. Mit diesem Hilfsmittel übertrifft der Mensch nicht nur die Wirksamkeit aller Maschinen, sondern auch die aller anderen Tiere«, schrieb vor zwei Generationen der Philosoph und Sozialkritiker Ivan Illich.[63] Sogar die digitalen Utopisten, die glauben, alles auf der Welt sei durch Technik optimierbar, müssen vor der unübertrefflichen Wirksamkeit des Steampunk-Vehikels den Hut ziehen. Kein Geringerer als Steve Jobs nannte den Personal Computer »das Fahrrad für unseren Verstand«.[64]

Vielleicht ist das Fahrrad ja andersherum auch die Maschine für unseren Verstand. Viele von uns wissen, dass, wenn wir in die Pedale treten, sich unser Gehirn belebt, sich unser Sehvermögen verbessert und unsere Sinne sich schärfen. Fahrradfahren bietet eine hervorragende Möglichkeit zur Bewusstseinserweiterung – es macht uns nicht unbedingt zu besseren Menschen oder bringt die Erleuchtung, aber belebt zweifellos. Radfahren ist besser als Yoga, Wein oder Gras. Es liegt gleichauf mit Sex und Kaffee. Nach meiner Erfahrung ist es auch ein Mittel gegen Schreibblockaden. Wer nicht weiterkommt, wer die Synapsen entknoten und die Hirnrinde enteisen möchte, der bewege sich auf zwei Rädern fort, bis die Wörter wieder sprudeln. Und irgendwann ist ein ganzes Buch zusammengekommen.

1Das Fahrradfenster

Das sogenannte Fahrradfenster. St. Giles’ Church, in Stoke Poges im englischen Buckinghamshire.

St. Giles ist eine kleine Pfarrkirche auf einem angenehm schattigen Grundstück in der Ortschaft Stoke Poges in Buckinghamshire, 40 Kilometer westlich von London. Seit sächsischer Zeit befindet sich ein Gotteshaus an dieser Stelle. Der älteste Teil des Gebäudes, der Turm aus behauenem Naturstein, stammt aus der Zeit der normannischen Eroberung Englands.

Der Gottesbau ist auch eine heilige Stätte für Literaten eines bestimmten Alters und einer bestimmten Neigung. In St. Giles verfasste Thomas Gray 1742 die »Elegie auf einem Dorfkirchhofe geschrieben«, eine Meditation über Tod und Verlust, die einmal zu den berühmtesten Gedichten der englischen Sprache gehörte und fester Bestandteil der Lehrpläne war, bis sich der Geschmack auf weniger pompöse Verse verlegte. Heute liegt Gray selbst auf dem Kirchhof, in einem Grab mit altarförmigem Grabstein, der sich direkt vor einem Kirchfenster an der Ostseite des Gebäudes befindet. St. Giles ist wunderschön, ruhig und malerisch gelegen, ein idealer Ort, um hier zu ruhen – kurzfristig oder auch für immer. An milden Abenden findet man dort ein Ambiente vor, das sehr an die von Gray verewigte Szenerie erinnert:

Der Landschaft zitternd Bild sinkt in der Dämmerung Hülle,

Und durch die ganze Luft herrscht feierliche Stille,

Nur dass ein Käfer hier mit trägem Fluge schwirrt,

Und schläfrig um mein Ohr ein fernes Läuten irrt …[65]

Ich besuchte St. Giles im Frühling, an einem Tag mit warmer Brise und strahlendem Sonnenschein. Der Anblick – die Kirche, der grün bewachsene Kirchhof und die umliegende Landschaft – war verboten schön, und als ich mich auf dem schmalen Spazierweg dem Kirchengrund näherte, sangen die Vögel so unbändig, dass ich mein iPhone zückte und eine Tonaufnahme machte. 100 Meter südlich der Kirche liegt Manor House, ein Anwesen aus dem 16. Jahrhundert, das einst Königin Elisabeth I. und später Sir Thomas Penn gehört hat, einem Sohn von William Penn, dem Gründer des US-Staates Pennsylvania. Für einen Amerikaner, der nur wenig Zeit in Englands grünen Grafschaften, dafür aber umso mehr in der Gesellschaft von Romanen des 19. Jahrhunderts und deren Verfilmungen verbracht hatte, war die Szenerie exotisch und doch vertraut. Ich wäre nicht überrascht gewesen, wenn Dame Maggie Smith in historischer Kleidung aus der Kirche geeilt wäre.

Stattdessen trat der Pfarrer von St. Giles aus der Tür – Harry Latham. Mit nur wenigen Anpassungen seiner Garderobe hätte Latham durchaus einem Roman von Jane Austen entstiegen sein können. Er war das Abbild eines gut aussehenden Landpfarrers, ungefähr 45, aber mit dem faltenlosen Gesicht und den vollen Haar eines zehn Jahre Jüngeren. Des weiteren trug er eine Brille mit Drahtgestell und ein Streifenhemd mit römischem Kragen. Er sprach mit einem leichten Singsang in der Stimme, der sehr beruhigend wirkte. Latham war noch in einer weiteren Kirche tätig, gut anderthalb Kilometer die Straße hinauf, in St. Andrew, die Schwesterkirche von St. Giles mit einer jüngeren Gemeinde, in der die Gottesdienste zwangloser ablaufen und Predigten von Gitarren, Trommeln und Gesang begleitet werden. Ich kann mir Latham gut in beiden Rollen vorstellen: wie er im mittelalterlichen Gewölbe von St. Giles die Seligpreisungen psalmodiert oder wie er am Altar von St. Andrew die Gitarre zupft und mit den Sandalen im Takt wippt.

Ich hatte ihn einige Monate zuvor angerufen, um ein Treffen zu verabreden, und hatte E-Mails geschrieben, die letzte am Abend vor meiner Ankunft. Doch als ich Latham an dem Nachmittag auf dem Kirchhof gegenüberstand, wurde offensichtlich, dass er keine Ahnung hatte, wer ich war und was ich von ihm wollte. Ich musterte ihn, wie er mich musterte, von der Basecap bis zu den Sneakers, und wie er eins und eins zusammenzählte: Ich war ein Fremder, mein Akzent war amerikanisch, ich suchte eindeutig weder Seelsorge noch die geistige Gesellschaft von Thomas Gray. Latham kam zu dem naheliegenden Schluss: »Sie suchen das Fahrradfenster.«

 

Das Fahrrad verdankt sich der exakten Wissenschaft, den technischen Möglichkeiten des Maschinenzeitalters sowie dem globalen Handel, und ist damit durch und durch ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Sein Erfolg rührt aus der viktorianischen Handelskultur, die es mit Reklametafeln, Zeitungsanzeigen und Volksliedern populär machte und so zu seinem massenhaften Absatz beitrug. Das Fahrrad stand für Modernität und Fortschritt. »Lady Progress« war die Schutzheilige der ersten Fahrradzeitschrift, Le vélocipède illustré, die ab 1869 in Paris erschien: Auf der ersten Seite, gleich über dem Titelkopf, prangte die Zeichnung einer Radfahrerin in heroischer Pose. Sie wirbelt im Fahren eine Staubwolke auf, hält in der einen Hand ein Banner und in der anderen eine Laterne, die ihr den Weg leuchtet. Die Zeichnung verweist augenzwinkernd auf Delacroix’ Gemälde Die Freiheit führt das Volk an und bringt das Fahrrad in Verbindung mit Merkmalen der sich wandelnden Zeit: Emanzipation der Frau, neue Technologien, Geschwindigkeit, Freiheit. Noch Jahrzehnte später dient für Picasso, Duchamp und andere Maler und Schriftsteller das Fahrrad als Symbol für die Avantgarde.

Unbestreitbare Tatsache ist aber auch, dass das Fahrrad als historisches Phänomen überraschend spät auftauchte. Bei seiner Geburt war es im Grunde bereits ein Anachronismus – 15 Jahre nach der Erfindung der Dampflok. Als das Fahrrad zu seiner mustergültigen Form gefunden hatte, tobte bereits die automobile Revolution. Das bahnbrechende Rover-Fahrrad kam 1885 in den Verkauf. Im selben Jahr stellte Gottlieb Daimler seinen »Reitwagen« vor, ein erstes Motorrad, und Karl Benz baute den »Patent-Motorwagen Nummer 1«. Das Wissen und die zum Fahrradbau erforderlichen Materialien gab es bereits im Mittelalter, doch es sollte Jahrhunderte dauern, bis die Idee schließlich konkrete Gestalt annahm.

Vielleicht finden sich deshalb in der Bibliothek des Fahrradfahrens so viele Apokryphen: Herkunftsgeschichten aller Art, eine phantastischer als die andere. Die Viktorianer erträumten sich Fahrräder in der Antike, römische Velozipede oder vergoldete Tretmühlen, die in den Gräbern der Pharaonen zu entdecken wären. Sogar die damalige Werbung griff das Hirngespinst auf und zeigte Figuren aus der klassischen Mythologie mit ihrem fahrbaren Untersatz. Den Vater des absurden Theaters, Alfred Jarry, mag dies vielleicht zu seiner Parodie des Leidenswegs Jesu angeregt haben, die er 1903 verfasste: »Die Passion als Rad-Bergrennen«, in der Jesus mit seiner Dornenkrone einen Reifen ansticht und sein Fahrrad den Hügel von Golgatha hinauftragen muss:

Der heute übliche Fahrradrahmen ist eine recht junge Erfindung. Er datiert von etwa 1890. Davor bestand die Grundstruktur des Gefährts aus zwei im rechten Winkel verschweißten Rohren. Man nannte es allgemein das Winkel- oder Kreuzrad. Nach der Reifenpanne stieg Jesus nun zu Fuß den Hang hinauf und trug den Rahmen seines Fahrrads, oder, wenn man so will, das Kreuz, auf der Schulter.[66]

Jarrys Scherze wird niemand für bare Münze nehmen. Doch so mancher Mythos hat sich in Geschichtsbücher eingeschlichen oder ist in seriösen Veröffentlichungen aufgetaucht. »In den Flachreliefs aus Babylon, Ägypten und Pompeji sind Fahrräder erkennbar«, behauptete die New York Times1974[67] und verschob die Geburtsstunde des Fahrrads mal eben um Tausende Jahre nach hinten. Unter Gelehrten währt weiterhin die Suche nach dem verschollenen Urfahrrad. In Forscherkreisen greift man nach jedem Strohhalm: eine Schnitzerei aus dem 15. Jahrhundert, die möglicherweise ein Dreirad für Kinder darstellt, ein pedalbetriebener »Invalidenwagen« aus dem 17. Jahrhundert und weitere von Menschen angetriebene Fahrzeuge, die sich durch das Drehen von Kurbeln oder das Hin- und Herdrücken von Hebeln fortbewegen.

Die Suche nach Fahrradvorläufern kann lustig sein, auch wenn sie abwegig sind. Auf mindestens zwei Gemälden von Hieronymus Bosch sieht man vermeintliche Urfahrräder, heißt es. Dass der berühmte verschrobene Mann auch das Fahrrad erfunden habe, ist ein unterhaltsamer Gedanke. Seine Zeichnung Hexen (ca. 1500) zeigt eine Art primitives Einrad: Eine Frau sitzt rittlings auf einem großen Holzrad, an dem Bänder pedalartig ihre Füße fixieren. Sie rollt durch eine für Bosch typische groteske Umgebung, und es droht ihr ein Zusammenstoß mit einer nackten Person, bei der ein Vogel mit langem Schnabel den Hintern begutachtet.

Ein weiterer Renaissancemaler stand im Zentrum einer viel beachteten Fahrradfalschmeldung. Im September 1974 lasen aufgeschreckte Leser auf der ganzen Welt in der Zeitung, dass in Leonardo da Vincis Codex Atlanticus, einer bis dahin unveröffentlichten Sammlung von Zeichnungen und Schriften des Künstlers, die Skizze eines Fahrrads entdeckt worden sei. Die Zeichnung könnte, ausgehend von einem Entwurf Leonardos, von dessen Schüler und Gehilfen Salai angefertigt worden sein. Die Fachwelt nahm die Behauptung allerdings mit Skepsis auf. Die Skizze zeigt verdächtig viele Details und wirkte modern. Das gezeichnete Fahrrad besitzt eine Tretkurbel, Pedale, ein Kettenblatt, eine Antriebskette und ein Schutzblech. Anhand einiger Details wurde inzwischen bestätigt, dass es sich bei der Zeichnung um eine Fälschung handelt, die wahrscheinlich zwischen 1966 und 1969 eher in humorvoller als in betrügerischer Absicht in den Kodex hineingezeichnet wurde. Ein Kunsthistoriker der University of California, Los Angeles (UCLA), fand heraus, dass auf der Kodexseite, die heute das Fahrrad zeigt, zuvor nur abstrakte geometrische Figuren zu finden waren, zwei von Bögen durchschnittene Kreise. Diese könnten den Täter an die Form eines Fahrrads erinnert und zu einer flinken Fahrradzeichnung verleitet haben.[68]

Zudem gab es Spekulationen, die Zeichnung von »Leonardos Fahrrad« sei das Werk eines pikarischen Mönchs aus der Abtei Santa Maria di Grottaferrata nahe Rom gewesen, wo der Kodex während seiner Restaurierung über viele Jahre aufbewahrt worden war. Möglicherweise wird der Täter nie gefunden werden. Interessant ist auch vielmehr die Frage, warum die zuständigen Behörden und die breite Öffentlichkeit eine offensichtliche Fälschung so bereitwillig, ja begeistert für echt erklärt haben. Die Technikhistoriker und Fahrradexperten Tony Hadland und Hans-Erhard Lessing bemerkten dazu: »Die italienische Kulturbürokratie hält immer noch an ›Leonardos Fahrrad‹ fest.«[69] Der ironische Kommentar des Schriftstellers Curzio Malaparte trifft die Sache wohl am besten: »In Italien gehört das Fahrrad zum nationalen Kulturerbe wie Leonardos Mona Lisa, die Kuppel des Petersdoms oder Dantes Göttliche Komödie. Würde man in Italien sagen, das Fahrrad sei nicht von einem Italiener erfunden worden, liefe der Halbinsel ein kalter Schauer den Rücken hinunter, von den Alpen bis zum Ätna.«[70]

Italien ist jedoch bei weitem nicht die einzige Bastion eines ausgeprägten Fahrradnationalismus. Die Geschichte des Fahrrads ist von konkurrierenden Ansprüchen und widersprüchlichen Entstehungsgeschichten geprägt, in denen sich ein Ringen um nationale Geltung und Vorherrschaft widerspiegelt. Paul Smethurst, der Autor von The Bicycle: Towards a Global History, hat die politischen Hintergründe der Rangeleien untersucht: »Sobald bedeutsame Erfindungen, Ideen oder Kunstwerke Einzelpersonen – und damit Nationen – zugeschrieben werden, entstehen Konstrukte von mitunter mythologischem Ausmaß. Im chauvinistischen Europa des 19. Jahrhunderts stärkten solche Konstrukte das Prestige einer Nation, und in der Moderne wurde technischer Fortschritt ganz besonders geschätzt.«[71]

Wenigstens einer der Schöpfungsmythen des Fahrrads stammte nicht aus Europa. 1897 erklärte der Diplomat und Politiker Li Hongzhang, das Fahrrad sei eine alte chinesische Erfindung. Li erzählte einigen amerikanischen Journalisten, das Fahrrad sei zur Zeit der Yao-Dynastie, also um 2300 v. Chr., entwickelt worden. Das Gefährt habe »glücklicher Drache« geheißen und sei so beliebt gewesen, dass es die gesellschaftliche Ordnung Chinas vollkommen auf den Kopf gestellt habe: Frauen seien ihren häuslichen Pflichten nicht mehr nachgekommen, um lieber Fahrrad zu fahren. Daher habe der Kaiser ein entsprechendes Verbot erlassen.

Die findige Geschichte erklärte einleuchtend das Verschwinden des »glücklichen Drachens« und spielt gleichzeitig auf aktuelle Ereignisse an: die Fahrrad fahrende Frauenbewegung und die kurz darauf einsetzende Reaktion.

Der berühmte Geschichtenerzähler Li dürfte sein Märchen aus dem Stegreif entwickelt haben. Andere Anspruchsbehauptungen scheinen von vornherein der Staatspropaganda gedient zu haben. In einem Artikel aus dem Jahr 1949, der in der sowjetischen Zeitschrift Fizkultura i sport (»Körperkultur und Sport«) stand, erfahren wir von der Heldentat des Jefim Artamonow, ein russischer Leibeigener, der 1801 ein Hochrad erfand, und zwar fast 70 Jahre bevor in Westeuropa ähnliche Gefährte auftauchten. Laut diesem Artikel baute Artamonow das Fahrrad ohne die Hilfe von Maschinen und fuhr dann gute 1770 Kilometer von seinem Wohnort in Werchoturje im Ural nach Moskau, wo er dem Zar Alexander I. das Fahrrad als Geschenk zu dessen Hochzeit überreichte. (Zum Lohn entließ der Zar den Erfinder aus der Leibeigenschaft.) Ein Jahr nach der Veröffentlichung in Fizkultura i sport ging die Mär von Artamonow mit einem Eintrag in der Großen Sowjetischen Enzyklopädie offiziell in die Geschichte ein, und schon wenig später stand eine Nachbildung des revolutionären Zweirads im Polytechnischen Museum in Moskau. Der Versuch, die Sowjetunion in der Geschichte des Fahrrads als Vorreiter hinzustellen und zugleich die Leistungen der russischen Arbeiterschaft zu rühmen, war zweifellos ein Produkt des Kalten Krieges.[72] (»Artamonow, der mit seiner Erfindung das moderne Fahrrad bereits viele Jahre vorwegnahm, glänzt als Beispiel für den Geist und die Erfindungsgabe der einfachen Leute.«)[73] Die Behauptung wurde von Wissenschaftlern, die nach dem Zusammenbruch der UDSSR die Archive durchsucht hatten, als Schwindel entlarvt. Dennoch steht in der Uralstadt Jekaterinburg weiterhin ein Bronzedenkmal, dessen Inschrift Artamonow zum Erfinder des Fahrrads erklärt.

Der Artamonow-Schwindel hat etwas von Jorge Luis Borges, von Geschichtsstudenten, die durch Bibliothekslabyrinthe irren, auf der Suche nach Fußnoten, die sie nur in Sackgassen führen. Ein ähnlicher literarischer Betrug aus dem 19. Jahrhundert versuchte das Fahrrad zum Kulturerbe Frankreichs zu machen. Dahinter stand ein Pariser Journalist: Louis Baudry, der sich durch den Namenszusatz »de Saunier« (von Saunier) kurzerhand in den Adelsstand erhoben hatte – ein geschickter Schachzug, der einem Borges sicher gefallen hätte. Unter seinem adeligen Pseudonym veröffentlichte Baudry 1891 eine Histoire générale de la vélocipédie[74], also eine »Allgemeine Geschichte des Velozipeds«, in der die Erfindung des Fahrrads praktischerweise um genau 100 Jahre vorverlegt wurde, sodass die Veröffentlichung seiner Histoire mit dem 100-jährigen Jubiläum des Fahrrads zusammenfiel. Baudry zufolge war das erste Fahrrad ein »starres« Zweirad (ohne Pedale und Lenkung), das zum Schmuck mit einem Pferde- oder Löwenkopf versehen war. Das Fahrzeug nannte sich »Celerifer« und war laut Baudry vom Grafen Dédé de Sivrac erfunden worden. Weder das »starre Zweirad« noch den Grafen de Sivrac hat es jemals gegeben, aber der illustre Name findet sich seitdem immer wieder in Artikeln und Büchern. Fahrradmuseen in Europa und den Vereinigten Staaten haben Nachbildungen eines Celerifers ausgestellt. Baudry machte aus seinem Patriotismus keinen Hehl und beschrieb die ersten 25 Jahre der Geschichte des Fahrrads als rein französisch, vom Beginn der Französischen Revolution, der Terrorherrschaft bis zur Restauration der Bourbonen mit einigen beschwörenden Szenen: der Enthüllung eines Celerifers im Palais-Royal, Postboten auf Celeriferen, die durch die Pariser Straßen rollten. Doch Baudry war rhetorisch gewitzt, indem er das Celerifer als ganz unspektakulär abtat und es in großer falscher Bescheidenheit zugleich als das Erste seiner Art anpries. »Monsieur de Sivracs Erfindung war nur ein kümmerliches, nacktes Samenkorn«, schrieb er.[75] »Und wie viel Schweiß, Tränen, Geld und Lebenszeit es brauchte, um aus dem primitiven Celerifer des 18. Jahrhunderts gute Fahrräder zu machen!«

Besonders aufschlussreich waren die Stellen in Baudrys Traktat, in denen er sich über nichtfranzösische Erfinder des Fahrrads ausließ. Seine Feindseligkeit richtete sich insbesondere gegen den Nachbarn im Osten. »Könnte auf der anderen Rheinseite irgendein Kopf das Fahrrad ersonnen haben?«, fragte er rhetorisch und fuhr fort: »Wie wäre solches denkbar?«[76]

Baudry hatte dabei gewiss einen ganz bestimmten Rheinländer im Sinn: Karl Freiherr von Drais, einen Kleinadeligen aus Karlsruhe im Großherzogtum Baden am westlichen Rand des Deutschen Bundes. Baudrys Abscheu gegenüber Drais war groß. An manchen Stellen seiner Histoire scheint es, als fiele es Baudry schwer, Drais’ Namen auch nur niederzuschreiben. (»Der Badener war nur ein Ideendieb.«)[77] Doch die Quellenlage ist eindeutig. Die entscheidende Idee zur Erfindung des Fahrrads stammt von Karl von Drais. Drais konzipierte und baute das erste Fahrrad, das im späten Frühjahr 1817 hinaus in die Welt rollte, in Mannheim, auf der östlichen Seite des Rheins.

 

Die Eckdaten der Geschichte sind bekannt.[78] Am 12. Juni 1817 präsentierte Drais der Öffentlichkeit seine »Laufmaschine«. Er unternahm eine kurze Demonstrationsfahrt aus der Mannheimer Innenstadt über die Chaussee ins südlich gelegene Schwetzingen und brauchte für die Strecke von 12,8 Kilometern knapp eine Stunde. Wir wissen nicht, wie viele Schaulustige der ersten öffentlichen Laufmaschinenfahrt beigewohnt haben, aber die Anwesenden sind von der Neuheit beeindruckt – und vielleicht auch amüsiert. Das Gefährt hatte zwei hintereinander angeordnete Räder mit einem Durchmesser von etwa 27 Zoll. Ein hölzerner Rahmen mit gepolstertem Sattel darauf verband die beiden. Der Fahrer beschleunigte das Fahrzeug durch abwechselndes Abstoßen mit den Beinen – die Laufbewegung, die der Laufmaschine zu ihrem Namen verhalf. Gelenkt wurde mit einer Art Deichsel, einer langen schwenkbaren Stange, die mit der Vorderachse verbunden war. An steilen Hängen oder in unwegsamem Gelände konnte die Lenkstange nach vorne gedreht und die Laufmaschine damit gezogen werden. Das Fahrzeug besaß auch eine Seilzugbremse. Um Nachahmungstätern die Arbeit zu erschweren, brachte Drais die Bremse am vorderen Teil des Rahmens an, wo die Beine des Fahrers sie verdeckten.

Die Konstruktion war in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Der Sattel befand sich im hinteren Teil des Rahmens, sodass die Beine des Fahrers den Boden eben noch berührten. Vor dem Sattel installierte Drais eine gepolsterte Auflage für die Unterarme. Diese Anordnung hielt den Körper des Fahrers in optimaler Position – leicht vorgebeugt bei geradem Rücken – und ermöglichte bequemes Sitzen sowie effiziente Bewegungen. »Die Maschine und der Reisende werden dabei im Gleichgewicht gehalten«, erklärte Drais in einer ersten Veröffentlichung, in der er seine Erfindung beschrieb.[79] Er brachte die Besonderheit der Fahrradmechanik damit auf den Punkt: die Symbiose von Mensch und Maschine, von Fahrzeug und Fahrer, der gleichzeitig dessen Antrieb war. Drais’ Gespür für Ergonomie ging Hand in Hand mit einem Sinn für Ästhetik. Im Vergleich zum heutigen Fahrrad war die Laufmaschine primitiv, und es fehlten noch entscheidende Details, allem voran natürlich die Pedale. Aber die Kontur – der schlanke Rahmen, an dessen Enden zwei gleich große Räder befestigt sind – ist bereits die eines Fahrrads. Das Erscheinungsbild der Laufmaschine von 1817 war ein Blick in die Zukunft.

Dennoch dürften jene, die Drais’ Erstfahrt beigewohnt haben, dies kaum geahnt haben. Für Beobachter im frühen 19