Zwei wie Pech und Schwefel - Britta Frey - E-Book

Zwei wie Pech und Schwefel E-Book

Britta Frey

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Beschreibung

Die Kinderärztin Dr. Martens ist eine großartige Ärztin aus Berufung, sie hat ein Herz für ihre kleinen Patienten, und mit ihrem besonderen psychologischen Feingefühl geht sie auf deren Sorgen und Wünsche ein. Die Kinderklinik, die sie leitet, hat sie zu einem ausgezeichneten Ansehen verholfen. Kinderärztin Dr. Martens ist eine weibliche Identifikationsfigur von Format. Sie ist ein einzigartiger, ein unbestechlicher Charakter – und sie verfügt über einen liebenswerten Charme. Alle Leserinnen von Arztromanen und Familienromanen sind begeistert! Das Gesicht des kleinen Mädchens zeigte Unsicherheit, die sich langsam in Angst verwandelte. Mit in den Nacken zurückgelegtem Kopf sah Melanie zu Ralf empor, der wie sie sechs Jahre alt war und mit ihr in die Schule ging. Nicht nur das – sie saßen auch noch nebeneinander. Eigentlich war das nicht üblich, aber Melanie hatte wieder einmal die Initiative ergriffen und der Lehrerin klargemacht, daß sie miteinander im Kindergarten gewesen seien, daß sie Nachbarn seien und es sogar eine Lücke in der großen Hecke zwischen ihren Grundstücken gab, durch die sie hindurchschlüpfen konnten, wenn sie einander sehen wollten. Nun, und das wollten sie eigentlich immer, weil sie niemals müde wurden, einander alles zu erzählen, was sie gerade bewegte. Jedenfalls hatte Melanie Frau Häuser, der Lehrerin, klargemacht, daß sie und Ralf Schüller nebeneinander sitzen wollten. Frau Häuser hatte Verständnis gezeigt und nachgegeben. Und es hatte sich erwiesen, daß Ralf Schüller und Melanie Breitner gute Schüler waren, über die man keine Klage führen mußte. Sie waren aufgeweckt und aufmerksam im Unterricht, arbeiteten mit und halfen einander, wenn es bei einem von ihnen mal Schwierigkeiten gab. Ralfs Vater, Richard Schüller, hatte in der Stadt eine große Büroetage. Industrieberatung nannte man das. Ralf hatte sich noch nie so richtig dafür interessiert. Er wußte nur, daß sein Vater, an dem er mit allen Fasern seines Herzens hing, oft sehr viel zu tun und demgemäß sehr wenig Zeit hatte, sich mit seinem kleinen Sohn zu beschäftigen. Ralfs Mutter war vor drei Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Und so kümmerte sich Frau Schmittchen, die Haushälterin, um den Jungen, verwöhnte ihn nach Strich und Faden und wachte eifersüchtig darüber, daß er seine Mahlzeiten pünktlich einhielt und genug Zeit zum Spielen hatte. Ihre Devise hieß: »Das Leben ist so kurz, und manchmal ist es gar nicht schön, erwachsen zu sein. Da soll man wenigstens den Kindern eine möglichst schöne Kindheit geben.« Melanie lebte allein mit ihrer schönen Mutter, die Kinderbücher illustrierte und das daheim besorgen konnte. Melanies Vater hatte sich vor einem Jahr von seiner Frau getrennt, weil er, wie er sich ausdrückte, sich endlich selbst verwirklichen wollte. Das bedeutete aber nur, daß er mit der jungen Frau, die er kennengelernt hatte, zusammenziehen wollte.

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Kinderärztin Dr. Martens Classic – 17 –

Zwei wie Pech und Schwefel

Wenn einer in der Klemme sitzt, ist der andere für ihn da

Britta Frey

Das Gesicht des kleinen Mädchens zeigte Unsicherheit, die sich langsam in Angst verwandelte. Mit in den Nacken zurückgelegtem Kopf sah Melanie zu Ralf empor, der wie sie sechs Jahre alt war und mit ihr in die Schule ging. Nicht nur das – sie saßen auch noch nebeneinander. Eigentlich war das nicht üblich, aber Melanie hatte wieder einmal die Initiative ergriffen und der Lehrerin klargemacht, daß sie miteinander im Kindergarten gewesen seien, daß sie Nachbarn seien und es sogar eine Lücke in der großen Hecke zwischen ihren Grundstücken gab, durch die sie hindurchschlüpfen konnten, wenn sie einander sehen wollten. Nun, und das wollten sie eigentlich immer, weil sie niemals müde wurden, einander alles zu erzählen, was sie gerade bewegte.

Jedenfalls hatte Melanie Frau Häuser, der Lehrerin, klargemacht, daß sie und Ralf Schüller nebeneinander sitzen wollten. Frau Häuser hatte Verständnis gezeigt und nachgegeben. Und es hatte sich erwiesen, daß Ralf Schüller und Melanie Breitner gute Schüler waren, über die man keine Klage führen mußte. Sie waren aufgeweckt und aufmerksam im Unterricht, arbeiteten mit und halfen einander, wenn es bei einem von ihnen mal Schwierigkeiten gab.

Ralfs Vater, Richard Schüller, hatte in der Stadt eine große Büroetage. Industrieberatung nannte man das. Ralf hatte sich noch nie so richtig dafür interessiert. Er wußte nur, daß sein Vater, an dem er mit allen Fasern seines Herzens hing, oft sehr viel zu tun und demgemäß sehr wenig Zeit hatte, sich mit seinem kleinen Sohn zu beschäftigen.

Ralfs Mutter war vor drei Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Und so kümmerte sich Frau Schmittchen, die Haushälterin, um den Jungen, verwöhnte ihn nach Strich und Faden und wachte eifersüchtig darüber, daß er seine Mahlzeiten pünktlich einhielt und genug Zeit zum Spielen hatte. Ihre Devise hieß: »Das Leben ist so kurz, und manchmal ist es gar nicht schön, erwachsen zu sein. Da soll man wenigstens den Kindern eine möglichst schöne Kindheit geben.«

Melanie lebte allein mit ihrer schönen Mutter, die Kinderbücher illustrierte und das daheim besorgen konnte. Melanies Vater hatte sich vor einem Jahr von seiner Frau getrennt, weil er, wie er sich ausdrückte, sich endlich selbst verwirklichen wollte. Das bedeutete aber nur, daß er mit der jungen Frau, die er kennengelernt hatte, zusammenziehen wollte. Heinz Breitner hatte im Leben seiner Tochter keine Lücke hinterlassen, denn er war von Anfang an kein besonders liebevoller oder zärtlicher Vater gewesen. Melanie hatte schon als ganz, ganz kleines Mädchen, das gerade erst laufen konnte, gespürt, daß es besser war, ihrem Vater aus dem Weg zu gehen.

Lena Breitner hatte zuerst geglaubt, schrecklich zu leiden. Aber dann hatte sie festgestellt, daß es eigentlich kein richtiger Kummer war, unter dem sie litt, sondern nichts weiter als verletzte weibliche Eitelkeit. Als sie soweit war, hatte sie Melanie in den Wagen gesetzt und war für vier Wochen mit ihr an die Nordsee gefahren. Es war ein wunderschöner Urlaub gewesen. Und als sie heimkamen, wußte Lena, daß sie ihr Leben auch allein in den Griff bekommen würde.

Maria Hardes, die schon seit ihrer Hochzeit bei Lena war, blieb selbstverständlich bei ihr und umsorgte sie und Melanie hingebungsvoll.

Melanie sah also unsicher und ängstlich zugleich zu Ralf empor, der im Geäst eines Baumes thronte und sie lachend anschaute.

»Wetten, daß ich noch höher klettern kann?« rief er sieghaft herab. Melanie schüttelte den Kopf.

»Komm wieder herunter«, sagte sie bebend. »Ich find es gar nicht schön, wenn du im Baum umherkletterst und ich unten stehen muß. Mir tut schon der Nacken weh vom Hinaufschauen.«

»Komm doch auch herauf. Ich helfe dir«, sagte er großmütig und nickte ihr auffordernd zu, um dann lockend fortzufahren: »Von hier aus kannst du fast ganz Ögela sehen.«

»Ach bitte, Ralf, komm doch wieder herunter«, flehte Melanie nachdrücklich. »Wir wollten doch hinüber zum Tümpel und Kaulquappen holen. Deshalb sind wir doch nur hinausgegangen. Wir wollten sie in unserem Gartenteich aussetzen und sie beobachten, bis sie zu Fröschen geworden sind. Und nun kletterst du auf einmal auf einen hohen Baum und willst nicht wieder herunterkommen.«

»Du tust, als wenn ich ewig hier oben bleiben wollte.« Es war Ralf nicht recht, daß Melanie ihm Vorwürfe machte, wo er es doch so aufregend fand, immer höher und höher zu klettern, bis sich die Äste bedenklich unter seinem Gewicht bogen und auch dann und wann zu knacken begannen. Aber das hörte Melanie bis unten nicht. Sie wäre vielleicht noch ängstlicher gewesen.

»Jetzt komm endlich.« Melanie wurde energisch. »Ich habe keine Lust, noch länger hier zu stehen und zu warten. Wenn du eben auf dem Baum bleiben willst, gehe ich allein zum Tümpel. Aber dann gehören die Kaulquappen, die ich hole, auch mir allein, und du darfst nicht mitmachen, wenn ich sie in den Gartenteich setze.«

»Nun sei doch nicht so ein schrecklicher Spielverderber, Melanie. Ich will ja nur noch auf den Ast über mir, dann komme ich sofort wieder runter. Und dann gehen wir auch zum Tümpel.«

»Das schaffst du doch nie im Leben«, rief Melanie angstvoll. »Der Ast ist viel zu dünn, er wird abbrechen, und dann wirst du fallen und…«

Aber es war schon zu spät.

Ralf hatte kurz Luft geholt, sprang hoch und ergriff mit beiden Händen den nächsten Ast. Er hielt sich fest. Und dann schrie er triumphierend: »Was willst du denn? Klappt doch prima. Kannst du doch selbst sehen, oder?«

Melanie erwiderte nichts. Sie starrte nur voller Furcht zu ihm empor und wünschte sich, er möge nun endlich wieder auf die Erde zurückkommen, damit sie zum Tümpel gehen konnten, die Kaulquappen holen.

»Ich finde es gar nicht schön, daß du… O nein, halt dich fest, Ralf, halt dich fest!«

Diesmal war es für ihre Warnung zu spät. Zuerst knisterte es nur, aber nachhaltig und unüberhörbar. Ralf hörte es auch und wollte seinen Ast verlassen, der sich unter seinem Gewicht bedrohlich gebogen hatte. Das Knistern verwandelte sich in ein splitterndes Krachen.

Dann hörte Melanie, wie Ralf schrie und wie es krachte. Wenig später prallte er auf den Boden auf. Mit zwei, drei Sprüngen war Melanie bei ihm und beugte sich über ihn. Man konnte nichts sehen. Er blutete nicht und hatte keinerlei äußere Verletzungen.

Melanies Aufatmen klang wie ein Stöhnen. Sie wollte erleichtert aufatmen, aber dann sah sie in Ralfs Gesicht. Es war ganz blaß. Da griff die Angst wieder nach dem kleinen Mädchen. Melanie beugte sich über Ralf und sagte mit einer Munterkeit, die sie eigentlich gar nicht wirklich empfand: »Komm, Ralf, mach keinen Quatsch. Du hast ja noch mal Glück gehabt. Wenn dir was weh tut und du nun keine Lust mehr hast, Kaulquappen zu fangen, dann können wir ja heimgehen und… Ralf, nun sag doch schon endlich was!«

Melanie brach ab. Sie wußte nicht, was mit Ralf geschehen war. Aber eines wußte sie ganz sicher: Er machte gar keinen Quatsch! Ihm war tatsächlich etwas zugestoßen!

Ralf lag lang auf dem Boden ausgesteckt und stöhnte ganz schrecklich. Er schien gar nicht zu begreifen, daß Melanie da war und ihn fragte, ob ihm etwas weh tue.

Mit einem Satz sprang sie aus der kauernden Stellung empor und rief: »Ich hole Hilfe. Rühr dich nicht vom Fleck, Ralf. Ich hole Mami. Sie weiß schon, was wir tun müssen.«

Und dann rannte Melanie schon los. Sie flog nur so über die breite Wiese, auf der die Baumgruppe stand, und kam atemlos bei Lena an, die sie alarmiert anschaute. Wenn Melanie so aus dem Häuschen war und so laut nach ihr schrie, mußte etwas ganz Schlimmes geschehen sein.

»Was ist denn, Liebling? Du bist ja naßgeschwitzt«, sagte sie und wollte Melanie über das Haar streichen, aber da wandte sich das Mädchen schon um und rief voller Panik: »Du mußt mitkommen, Mami, ganz schnell. Ralf ist auf einen Baum geklettert und abgestürzt. Jetzt liegt er auf der Erde und stöhnt ganz schrecklich und sagt kein Wort.«

»Ich komme sofort mit dir. Aber wenn es so ist, wie du sagst, dann könnte es schlimm sein. Und deshalb ist es vielleicht besser, wenn ich auch gleich den Rettungswagen der Kinderklinik Birkenhain alarmiere.«

»Es ist wirklich schlimm, Mami, ganz furchtbar schlimm. So habe ich Ralf noch nie gesehen. Ich habe es ihm gesagt. Aber er wollte ja nicht auf mich hören.«

Lena Breitner hatte schon den Telefonhörer in der Hand und wählte die Nummer der Klinik.

Sie gab kurz an, was sie von Melanie erfahren hatte, und legte auf, nachdem man ihr versichert hatte, daß der Rettungswagen sofort komme. Da erst griff sie nach Melanies nicht mehr ganz sauberer Hand und lief mit ihr los.

*

Zwanzig Minuten später raste der rote Rettungswagen mit Blaulicht quer durch Ögela zur Kinderklinik Birkenhain.

Lena Breitner hatte mitfahren wollen, aber Dr. Frerichs, der mit dem Rettungswagen gekommen war, sagte nur: »Das wird sich nicht machen lassen. Ich muß mich während der Fahrt um den Buben kümmern. Da wären Sie mir nur im Wege.«

Lena hatte das sofort eingesehen und war zurückgetreten, hatte die verstört weinende Melanie an die Hand genommen und war mit ihr ins große, helle Wohnzimmer mit den weit geöffneten Terrassentüren gegangen. Dort hatte sie sich auf die Couch gesetzt, Melanie neben sich gezogen und sie ganz fest in die Arme genommen, bis sie merkte, daß Melanie sich ein wenig beruhigt hatte und wieder richtig durchatmen konnte.

»Meinst du, du könntest mir jetzt erzählen, was eigentlich wirklich los war, Liebling? Oder nein, warte! Ich sollte vielleicht Ralfs Vater in seinem Büro anrufen und ihm sagen, daß Ralf in der Klinik ist. Und dann fahren wir beide auch in die Klinik, damit wir Ralfs Vater dort treffen können. Vielleicht hilft es auch den Ärzten ein wenig, wenn du schilderst, was passiert ist.«

Lena lebte, seit Heinz sie verlassen hatte, sehr zurückgezogen. Natürlich kannte sie Ralfs Vater. Aber er war nichts weiter als ein Nachbar, eben Ralfs Vater für sie. Dann und wann, wenn sie einander zufällig trafen, blieben sie auch wohl einmal stehen und hielten einen kleinen Plausch. Aber sonst hielt sich Lena für sich allein, weil sie nach dem Erlebnis mit Heinz eine neue Enttäuschung fürchtete, die sie vielleicht nicht so gut verkraftet hätte.

Sie suchte die Nummer heraus und wählte schon. Es meldete sich eine sympathisch klingende weibliche Stimme. Lena holte tief Luft, um einigermaßen normal sprechen zu können, und verlangte Herrn Schüller. Es knackte, und dann meldete sich Ri­chard Schüller. Seine Stimme klang warm und tief. Lena wunderte sich, daß sie das bisher noch nicht bemerkt hatte. Aber bisher hatten sie ja auch noch nicht miteinander telefoniert. Dazu hatte es nie einen Grund gegeben… bis heute.

»Hier spricht Lena Breitner. Herr Schüller, es…«, begann sie, wurde aber sofort von seiner erregt klingenden Stimme unterbrochen: »Was ist passiert? Es ist doch etwas passiert, oder?«

»Ja – Ralf ist von einem Baum gestürzt und…«

»Himmel. Aber das mußte ja mal kommen, so wild, wie er ist. Was ist ihm zugestoßen? Ist er schwer verletzt?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe, als Melanie zu mir gelaufen kam, sofort den Rettungswagen angerufen und bin auch mit hinausgelaufen. Aber Ralf war nicht ansprechbar.«

»Ich komme sofort heim.«

»Vielleicht fahren Sie gleich zur Kinderklinik Birkenhain, Herr Schüller. Melanie und ich wollten auch gerade dorthin aufbrechen.«

»Gut. Ich bin schon so gut wie unterwegs.«

Das Gespräch war abgebrochen. Richard Schüller mußte den Hörer auf die Gabel geworfen haben.

Lena wandte sich Melanie zu, die sie wie schuldbewußt betrachtete.

»So«, sagte sie und holte tief Luft. »Und nun erzähl mir, wie es zu diesem Unfall eigentlich hat kommen können, ja?«

»Ich weiß nicht, was ich dir da erzählen soll, Mami. Es ging alles so verrückt schnell, daß ich gar nicht weiß, wie ich es beschreiben soll. Eigentlich wollten wir doch Froschlaich oder ein paar Kaulquappen für unseren Gartenteich holen.«

»Ich weiß«, sagte Lena freundlich. »Ich habe es gehört, als du Frau Hardes um ein großes Einmachglas gebeten hast. Kaulquappen findet man jedoch nicht auf einem Baum, Liebes.«

»Wir waren ja auch auf dem Weg zum Tümpel. Da fand Ralf, als wir bei der großen Baumgruppe angelangt waren, er sollte hinaufklettern, um festzustellen, ob man von droben eine gute Aussicht hat.«

»Und wie kam es, daß er abstürzte? Hat er den Halt verloren, oder…?«

»Ach, Mami!« klagte Melanie, deren Lippen wieder verängstigt zu zucken begannen, als wollte sie gleich in Tränen ausbrechen. »Plötzlich stieg er höher und höher. Er wollte immer noch einen Ast weiter hinaufklettern und hat nicht auf mich gehört. Ich hatte schreckliche Angst, daß ihm etwas zustoßen könnte. Und dann hing er am letzten Ast und wollte schon wieder auf die Erde zurückklettern, da ist der Ast, an dem er hing, abgebrochen. Und Ralf ist wie ein großer Stein durch die Äste auf die Erde gefallen. Ja, und dann lag er da und hat nur noch gestöhnt.«

Lena seufzte tief auf. Aber sie war auch erleichtert, daß Melanie nichts zugestoßen war. Als habe das Kind ihre Gedanken geahnt, sagte es wei­nerlich: »Kann sein, daß Ralf mich jetzt für einen ausgemachten Feigling hält, Mami, weil ich Angst hatte, auch auf den Baum zu klettern.«

»Dazu hat er keinen Grund. Ich glaube auch nicht, daß er dich feige nennen wird. Immerhin hast du doch sofort dafür gesorgt, daß er Hilfe bekam. Ich finde, da hat er dir eine ganze Menge zu verdanken. Wollen wir jetzt in die Klinik fahren?«

Melanie nickte, lief ins Bad, wusch sich die Hände, fuhr sich über das erhitzte Gesicht, strich sich die vorwitzigen hellen Locken zurück, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, und war schnell bei ihrer Mutter, die grade eben die Garage aufschloß und das Tor hochzog.

»Komm, Liebling, steig ein, damit wir gleich losfahren können«, sagte Lena und setzte sich schon hinter das Steuer. »Vielleicht kann man uns schon sagen, was mit Ralf ist und welche Verletzungen er hat. Wenn er Glück hat, ist er noch mal mit einem ordentlich Schock davongekommen.«

»Kann er dann bald wieder nach Hause?« fragte Melanie hoffnungsvoll von hinten. Lena hob die Schultern.

»Wie kann ich das sagen? Warten wir es erst einmal ab. Könnte ja sein, daß Ralf noch einmal Glück im Unglück gehabt hat.«

Aber Lena Breitner glaubte nicht an das, was sie da sagte. Ralf hatte nicht so ausgesehen, als sei er noch einmal mit einem Schock davongekommen.

*

Ralf wurde von Dr. Hanna Martens, die Dienst hatte, untersucht und notdürftig versorgt.

Ralf bekam eine Infusion gegen den Schock und Kreislaufversagen. Puls, Atmung und Blutdruck wurden kontrolliert.

In der Notaufnahmestelle der Kinderklinik war heute der Teufel los gewesen. Oberschwester Elli ließ sich gerade von Operationsschwester Christina von dem kleinen Jungen erzählen, der sich geschnitten hatte. Es war ein ziemlich tiefer Schnitt, er hatte genäht werden müssen. Der Kleine hatte eine Menge Blut verloren, so daß man sich zu einer Transfusion entschließen mußte.

»Ja, Oberschwester«, sagte Christina, während sie schnell und geschickt hantierte, »was soll ich Ihnen sagen – nach fünf Stunden blutete der Junge immer noch. Es war höchste Zeit, daß etwas unternommen wurde. Ja, und dann fiel die Mutter um, als Dr. Martens ihr erklärte, ihr Junge sei ein Bluter. Nun liegen sie beide in einem Zimmer.«

»Und den nächsten haben wir hier«, sagte Oberschwester Elli und deutete mit dem Kopf auf Ralf, der immer noch nicht ansprechbar war.

Er lag auf dem Untersuchungstisch.

»Der Kleine ist vom Baum gefallen«, berichtete Frerichs sachlich. »Er hat starke Schmerzen im linken Oberbauch und im linken Arm. Blutdruck ist niedrig, achtzig zu fünfzig, Puls hundertzwanzig, Atmung vierzig.«

»Alsdann«, war alles, was Hanna Martens darauf zu erwidern hatte. Sie beugte sich über den Jungen.

»Also Ralf heißt du«, sagte sie freundlich und fuhr schon fort: »Sagst du mir, wie alt du bist?«

»Sechs, fast sieben.« Ralfs Stimme war schwach, aber immerhin – er reagierte wieder. Er war also wieder ansprechbar, das war ein gutes Zeichen.

Schwester Christina und Schwester Trude begannen, ihn auszuziehen. Als sie ihm das zerrissene T-Shirt ausziehen wollten, stöhnte Ralf laut auf.

»Gib mir mal die Schere«, forderte Schwester Christina die Kollegin auf und schnitt kurzerhand das Vorderteil und die Ärmel des T-Shirts, auf das Ralf einmal so stolz gewesen war, auf.

Hanna Martens legte die Hand auf die Bauchdecke des Jungen. Sie war hart und gespannt wie das Fell einer Trommel. Man sah, wie Ralf die Zähne zusammenbiß, um nicht aufzuschreien.

Hanna Martens richtete sich auf. »Das Ultraschallgerät, Christina«, sagte sie nur ruhig. Dann wies sie auf die merkwürdige Stellung des linken Arms und sagte: »Den stellen wir erst einmal ruhig bis nachher.«

Schwester Christina schob ein strumpfähnliches Gebilde über den Arm Ralfs, der unterhalb des Ellbogens anzuschwellen begann.

»Der ist bestimmt gebrochen«, sagte sie, während sie das strumpfähnliche Gebilde mit Luft vollpumpte. Jetzt lag der Arm fürs erste ruhig. Später konnte er gerichtet und geschient oder gegipst werden. Jetzt war anderes erst einmal wichtiger als ein gebrochener Arm.

Hanna nahm dem Jungen bereits Blut ab und gab Schwester Trude das Röhrchen, das sie sofort ins Labor bringen sollte.

»Sagen Sie, daß ich eine Kreuzprobe haben will!« sagte Hanna noch und beugte sich schon wieder über Ralf. Sie wußte, daß sie sich auf das Labor verlassen konnte. Dort wurde jetzt erst einmal Ralfs Blutgruppe bestimmt und dann mit verschiedenem Spenderblut »gekreuzt«, um sicher zu sein, daß es sich damit vertrug. Es war jetzt schon klar, daß Ralf mehr als nur eine Transfusion benötigte.