Zwiebel - Kind - Andrea Urleben - E-Book

Zwiebel - Kind E-Book

Andrea Urleben

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Beschreibung

Von der Dunkelheit ins Licht: Eine bewegende Autobiografie über Missbrauch, Einsamkeit und den Weg zur Selbstliebe. Hättest du mich doch mehr geschlagen, dann hätte ich dich wenigstens gespürt. Ich lebte das Leben von anderen – nur nicht mein eigenes. Ich könnte kotzen. Vor allem mental schreit meine kranke Seele ganz ungeniert. Lieb war gestern. Emotionaler und sexueller Missbrauch, Vernachlässigung, Angst, Beleidigungen, Diebstahl, Einsamkeit, vom Opfer zur Täterin zu werden, Schweigen – all das war beängstigend, aber völlig normaler Alltag.  Wenn mir jemand vor einem Jahr gesagt hätte, dass ich Auszüge aus meinem Tagebuch veröffentlichen würde, hätte ich die Person wohl für verrückt erklärt. War es doch meine persönliche Lebensgeschichte, die niemandem etwas anging. Warum auch? Was sollte es bringen, mich zu öffnen, und was hatte meine Kindheit schon mit meiner Gegenwart und Zukunft zu tun? Aus Verschwiegenheit wurde irgendwann Angst. Meine Mutter hätte mich zu ihren Lebzeiten für dieses Buch und meine Ehrlichkeit wohl gehasst und zum Teufel gejagt. Sie musste erst sterben, damit ich mich frei fühlen und dieses Tagebuch schreiben konnte, das für mich die versöhnlichste Liebeserklärung ist, die ich ihr und mir selbst je geschrieben habe. Ehrlich, so offen wie noch nie, wütend, verletzt, hassend, entschuldigend, verständnisvoll, traurig, fragend. Liebend. Das Buch „Zwiebel - Kind“ macht Mut, sich zu öffnen und zu hinterfragen.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Zwiebel – Kind, meine Reise beginnt:

Erinnerungen aus den Jahren zwischen 1987 und 1995

Meine Transformation beginnt

Wenn ich schreibe, ist es fast so, als würden mein Herz und meine Seele von einem Pflaster umhüllt werden. Das Aufschreiben tut mir so gut und kommt einem Befreiungsschlag gleich. Anfangs waren es nur kleine Zettel mit meinen Notizen. Dann kaufte ich mir ein schönes Schreibbuch und einen besonders hübschen Kugelschreiber, um meine Gedanken und Gefühle festhalten zu können. Letztlich entschied ich mich für ein elektronisches Tagebuch. Es lässt sich sehr viel leichter umsetzen.

Vorwort

Wenn ich schreibe, ist es fast so, als würden meine Seele und mein Herz sanft von einem Pflaster umhüllt werden.

Ich erlaube mir mit diesem Buch das niederzuschreiben, was ich jahrelang verschwiegen und vor meiner Außenwelt versteckt habe: emotionalen und sexuellen Missbrauch, Vernachlässigung, Angst, Beleidigungen, Diebstahl, Einsamkeit, vom Opfer zur Täterin zu werden – all das waren Erfahrungen, die ich für mich als nicht schön und beängstigend, aber durchaus als normal empfunden hatte. Es war damals so und gut.

Irgendwann fing ich an, zu hinterfragen. Und das gelang mir tatsächlich erst, nachdem meine Mutter verstorben war und ich eine Therapie beginnen konnte.

Ich kann meinen Gefühlen und Wünschen jetzt Raum und Zeit geben, um meine eigene Geschichte aufarbeiten und mich mit ihr versöhnen zu können. Es ist der Versuch einer Hommage an meine Vergangenheit und an mich selbst.

Dieses Buch beschreibt meinen Weg und meine Sicht auf die Dinge, verbunden mit vielen Tränen, neuen Erkenntnissen, Offenbarungen, Einsichten und neu gewonnenen Zusammenhängen. Viele Ereignisse habe ich bewusst verallgemeinert beschrieben, um meine Angehörigen und mich zu schützen.

Ich durfte in meiner Aufarbeitungszeit neue Menschen kennenlernen, die mich im übertragenen Sinne an die Hand nehmen, mir zuhören und mich begleiten. Besonderer Dank gilt meinem Mann, meiner Familie, meinen Weggefährten, meiner Therapeutin und all jenen, die mich unterstützen.

Zwiebel – Kind, meine Reise beginnt:

Ein sehr kalter Dezembertag im Jahre 1969 Der Tag meiner Geburt. Meine Mutter formulierte das Ereignis mir gegenüber später so: „Ich wollte dich nicht haben, bin aber froh, dass ich dich habe.“

***

Erinnerungen aus meiner frühen Kindheit

Wir lebten in einer ostdeutschen Stadt in der DDR. Meine Eltern arbeiteten beide in einer Fabrik und hatten sich gemeinsam für das Drei-Schicht-System entschieden. Deshalb war ich größtenteils in einer Wochenkrippe untergebracht, in der die Kinder auch die Nächte verbrachten. Auf dem Weg in die Einrichtung weinte ich immer heftig und sehr laut. Das sei peinlich gewesen, berichtete mir meine Mutter später. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass mir in der Krippe das Kämmen meiner dicken, langen Haare sehr weh getan hatte.

***

Eines Tages erhielt meine Mutter einen Anruf aus der Wochenkrippe. Sie müsse schnell kommen. Die Erzieherinnen meinten, ich hätte Läuse und meine Haare müssten sofort abgeschnitten werden. Die Friseurin fand jedoch keine einzige Laus. Ich bekam trotzdem einen Kurzhaarschnitt. Vor allem wegen der Erzieherinnen, die nun weniger Arbeit mit meiner Haarpflege hatten, erklärte mir meine Mutter.

***

Im späteren Kindesalter durfte ich endlich wieder für immer zu Hause sein. Darüber war ich sehr glücklich. Es war auch nicht schlimm für mich, frühmorgens kurz nach 5 Uhr allein in den Kindergarten zu laufen, weil meine Eltern um diese Uhrzeit zur Arbeit gingen. Die Einrichtung war nicht weit entfernt. Noch heute habe ich ihren Satz im Ohr: Du musst sehr langsam zum Kindergarten laufen und dir viel Zeit lassen! Ich bin auf Bordsteinkanten balanciert, durch Pfützen gesprungen, habe kleine Tiere beobachtet und Blumen gepflückt. Dennoch musste ich oft lange vor der Eingangstür warten, bevor die erste Erzieherin kam. Ich empfand das als völlig normal.

***

Ich habe sehr lange in einem viel zu kleinen Gitterbett geschlafen. Irgendwann passte ich auch in gekrümmter Haltung nicht mehr hinein. Meine Eltern konnten für mich ein größeres Bett organisieren.

***

Meine Eltern und ich besuchten eine Schwimmhalle, um an einem Sportfest mit ihren Arbeitskollegen teilzunehmen. Meine Mutter hockte mit mir am Beckenrand. Ich sah auf die Wasseroberfläche, spürte keine Angst und wollte baden. „Ich möchte ins Wasser springen“, sagte ich sehr selbstsicher. Ich konnte noch nicht schwimmen und trug keine Schwimmhilfen am Körper. Meine Mutter ließ mich ohne Weiteres ins Wasser springen. Ich tauchte unter, schluckte Wasser und hatte Todesangst. Sie saß am Beckenrand und tat einfach gar nichts. Vielleicht war sie auch geschockt. Sie konnte nicht schwimmen. Ein fremder Mann kam mir zu Hilfe und zog mich aus dem Wasser.

***

Im Alter von etwa fünf oder sechs Jahren spielte ich vor unserem Haus, als plötzlich ein dunkel gekleideter Mann auf mich zukam und mir anbot, ihn zu begleiten. „Ich habe auch Bonbons für dich“, meinte er lächelnd. Ich freute mich auf die Süßigkeiten. Meine Schwester, die ein paar Jahre älter ist als ich, hatte das Geschehen beobachtet und meinte: „Nein, wir gehen jetzt lieber nach Hause!“ Als ich meiner Mutter wenig später von dem Vorfall erzählte, kam keinerlei Reaktion von ihr.

***

Eines Tages suchte ich etwas in unserem Keller und fand eine Tüte mit Haaren darin. Ich fand das seltsam und fragte meine Mutter, was das sei. Mein Vater hatte meine semmelblonden langen Haare fein säuberlich in einer Tüte aufgehoben, die mir wegen der Wochenkrippe abgeschnitten worden waren. Irgendwann sagte er sehr liebevoll zu mir: „Du bist ab jetzt meine kleine Zwiebel.“

***

Im Kindergartenalter wollte ich meinen Eltern zu Weihnachten eine Freude machen. Ich hatte Kochlöffel bemalt und in meinem Kleiderschrank versteckt. Eines Tages kam meine Mutter, so wie immer, unangemeldet in mein Zimmer gestürmt und fing an, meine Schränke zu durchwühlen. Einfach so. Ich hatte nichts zu verbergen, aber Sorge, dass sie die Weihnachtsgeschenke finden würde. Dann wäre die Überraschung für meine Eltern dahin gewesen. Ich sage zu ihr: „Bitte nicht, da liegen eure Weihnachtsgeschenke!“

Sie hörte mir nicht zu, fand die Kochlöffel, warf sie unsanft zur Seite und wühlte in meinen Sachen weiter, um dann später unverrichteter Dinge und ohne ein Wort rauszugehen.

***

Meine Freizeit verbrachte ich oft draußen. Eines Abends wollten wir als Familie zu einem Fest in der Stadt gehen. Meine Mutter mahnte mich deshalb, pünktlich zu Hause zu sein. Ich freute mich sehr auf den Abend. Zum Abschluss des Nachmittags vergaß ich beim Blumenpflücken die Zeit. Ich wollte meiner Mutter eine Freude machen. Da stand ich nun mit dem bunten Strauß in der Hand vor ihr und wurde heftig ausgeschimpft, weil ich zu spät nach Hause gekommen war. Meine Mutter meinte zornig zu mir, dass sie nun allein zu dem Fest gehen würden und ich allein zu Hause bleiben müsse. Mir war bewusst, dass ich einen Fehler begangen hatte. Ich bat weinend um Entschuldigung und bettelte förmlich darum, dass sie mich nicht allein zurücklassen sollten. Doch meine Mutter blieb hart, ignorierte mich und ließ mich lange Zeit in dem Glauben, dass ich allein zu Hause bleiben müsse. Wie der Tag ausging, weiß ich nicht mehr.

***

Zum Abendbrot gab es zu Hause Mischpilze. Ich war die Einzige, die nur eine bestimmte Sorte gegessen hatte. Im Fernsehen sah ich wenig später ähnliche Pilze, die als sehr giftig beschrieben wurden. Ich dachte, diese Pilze gegessen zu haben, und machte mir große Sorgen. Ich weinte still in mich hinein und hatte Angst, sterben zu müssen. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und sagte mit tränenerstickter Stimme zu meiner Mutter, dass ich bestimmt diese giftigen Pilze gegessen habe. Sie ließ mich weinend und verzweifelt auf der Couch sitzen, ohne mir eine Erklärung zu geben.

***

Es war ein Tag, an dem ich nicht in den Kindergarten musste. Am Morgen wachte ich auf und hörte plötzlich Geräusche in der Wohnung. Wie so oft war ich allein zu Hause und hatte Angst. Ich ging zur Kinderzimmertür, um durch das Schlüsselloch zu schauen. Ich konnte nichts entdecken. Ich ging schnell wieder in mein Bett, wollte mich aber nicht verstecken, weil ich sonst nicht gesehen hätte, was um mich herum passierte. Ich wartete in meinem Bett, bis jemand von meiner Familie nach Hause kam.

***

Auf dem Weg zum Kindergarten entdeckte ich eines Tages mit einem anderen Mädchen an einem Strauch saftige Beeren, von denen wir aßen. Wenig später bekam ich heftige Bauchschmerzen, und meine Mutter musste mich deshalb eher aus dem Kindergarten abholen. Sie ist nicht mit mir zum Arzt gegangen. Ich habe den restlichen Tag zu Hause verbracht. Mir war sehr übel. Am Nachmittag fragten mich meine Eltern: „Oder wolltest du nur eher aus dem Kindergarten nach Hause?“ Ich verstand die Frage nicht.

***

Wegen meiner chronischen Bronchitis bekam ich eine Kur an der Ostsee. Meine Mutter managte es so, dass wir als Familie zusammenfahren durften. Ich erinnere mich an FKK-Strände, die meine Mutter liebte. Ich mochte sie nicht. Einmal verlief ich mich. Ich ging zu einem Leuchtturm, um nach Hilfe zu fragen. Auf dem Weg dahin schämte ich mich sehr und fühlte mich unwohl, weil ich keine Kleidung tragen durfte. Den Geruch nach Strand, Meer, Sand und Sonnencreme sollte ich aber nie wieder vergessen.

***

Meine Mutter erklärte mir lange vor meiner Einschulung, dass ich keine Zuckertüte bekommen würde. Das war nicht spaßig gemeint. Sie sagte es mir mit ernster Stimme immer wieder, und irgendwann glaubte ich ihr. Ich erzählte auch im Kindergarten davon. Dort wollte man mir nicht glauben. Die Erzieherinnen trösteten mich und meinten, dass ich das bestimmt verkehrt verstanden hätte. Letztlich bekam ich doch eine Zuckertüte. Sie war wunderschön und gehörte zu den wenigen, die von einem Warenhaus gefüllt und dekoriert worden waren. Dennoch hatte ich seit diesem Zeitpunkt immer weniger Vertrauen zu meiner Mutter.

Erinnerungen aus den Jahren von 1976 bis 1986

Heiligabend war zu Hause immer sehr schön. Meine Eltern hatten nicht viel Geld, ließen sich aber immer etwas einfallen, damit wir Kinder Geschenke bekamen. Die Wohnung und der Weihnachtsbaum waren geputzt, und es duftete herrlich nach Kaffee. Zum Mittag gab es meist süßen Kakao und herzhafte Käsebrötchen. Am Nachmittag mussten ich und meine Geschwister in unsere Zimmer gehen. Als das Lied „Ihr Kinderlein kommet“ ertönte, durften wir wieder in die Stube kommen. Es war Zeit für die Bescherung. Der Baum leuchtete, und unter ihm lagen unsere Geschenke. Für mich hatte dieser Augenblick immer etwas Magisches, fast schon Wunderbares. Mein Vater wirkte sehr gerührt, kämpfte mit den Tränen und versuchte, seine Emotionen zu verstecken. Das war jeden Heiligabend so. Ich habe nie erlebt, dass sich meine Mutter um die Emotionen meines Vaters kümmerte.

***

Wenn meine Mutter von ihren Erlebnissen mit meinen älteren Geschwistern berichtete, schwang oftmals Schadenfreude und Überheblichkeit mit. Sie erzählte mir von einem Weihnachtsfest, bei dem ich noch sehr klein gewesen sein muss. Meine Geschwister freuten sich am Heiligabend über ihre Geschenke. Ein Präsent war jedoch im Baum versteckt und nicht gleich ersichtlich, sodass eines meiner Geschwister ohne Geschenk blieb. Meine Mutter nutzte die Situation für sich aus und amüsierte sich köstlich über die Reaktion ihres Kindes, bis sie es endlich erlöste. Bei einem anderen Ereignis war es ähnlich. Eines meiner Geschwister hatte als Kind große Angst, eine Blutvergiftung zu haben. Meine Mutter erzählte mir dies mit einem schadenfroh wirkenden Lächeln.

***

Eines Tages bekam ich von meiner Mutter die Aufgabe, mich um den Abwasch zu kümmern. Ich stand als etwa sieben- oder achtjähriges Mädchen in der Küche, versuchte mein Bestes und gab irgendwann verzweifelt auf. Es stapelte sich so viel schmutziges Geschirr, dass ich keinen Überblick gewinnen konnte. Ich begann zu weinen und sagte, dass mir das zu viel sei und ich das nicht schaffe. Es hat dann jemand anderes abgewaschen, und ich fühlte mich sehr erleichtert.

***

Ich weiß nicht mehr, wie alt ich damals war. Ich schätze, dass es zwischen dem sechsten und achten Lebensjahr passiert sein muss: Ich übernachtete bei einem Ehepaar und wurde plötzlich wach, als der Mann des Hauses in das Zimmer kam, in dem ich schlief. Er roch nach Alkohol und hatte diesen lüsternen Gesichtsausdruck, den ich nur schwer beschreiben kann, aber nie vergessen werde. Ich legte mich wieder hin und wollte weiterschlafen, als er sich mir plötzlich näherte und ich seine Finger in mir spürte. Ich war geschockt, zuckte erschrocken zurück und konnte das Geschehen und auch das, was danach passierte, nicht einordnen, geschweige denn, verstehen. Wie es weiterging, weiß ich nicht mehr. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Ich vergrub das Erlebte in meinem Kopf und lebte einfach für mich ganz normal weiter.

***

An einem Nachmittag musste ich, fast nackt, nur mir kurzem Hemdchen bekleidet, zu Hause auf der Couch Mittagschlaf machen. Ich wollte das nicht, habe verschämt versucht, meinen Körper zu verstecken. Das funktionierte aber nicht, weil meine Mutter neben mir auf der Couch saß und strickte. Was sie anordnete, war für mich nahezu immer Gesetz. Als mein Vater nach Hause kam, berichtete meine Mutter mit sichtlichem Stolz, dass ich nackt auf dem Sofa geschlafen hätte. Ich habe die gesamte Situation und ihre Notwendigkeit nie verstanden, aber auch nie hinterfragt.

***

Meine Mutter war zu Hause oftmals freizügig gekleidet und spielte mit den Gefühlen meines Vaters.

***

Die Fieberthermometer bestanden aus Glas. Im Inneren befand sich eine Quecksilberkugel. Eines Tages ging das Thermometer kaputt. Ich war fasziniert davon, wie sich das „flüssige Silber“ bewegte. Ich fragte mich, was wohl passieren würde, wenn ich das Quecksilber schlucken würde. Dann würde man sich um mich kümmern müssen. Ich müsste vielleicht sogar ins Krankenhaus, hätte dort ein sauberes und kuschliges Bett. Die Vorstellung gefiel mir. Letztlich entschied ich mich dagegen, weil ich nicht wusste, was mit mir passieren würde.

***

Ich wollte nie andere Kinder zu mir nach Hause einladen, weil ich mich für die Unsauberkeit und das Chaos schämte. Als ich zu einem meiner Geburtstage ein paar Kinder eingeladen hatte, versuchte ich, vorher etwas Ordnung zu schaffen. Ich bestand darauf, dass in unserer Stube nur die Kerzen von der Pyramide leuchten sollten, damit der Schmutz für meine Gäste nicht allzu offensichtlich war.

***

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mich meine Mutter jemals in den Arm genommen, mir eine Liebkosung geschenkt oder mich getröstet hätte. Mit den meisten Gefühlen wurde ich allein gelassen. Es sei denn, meiner Mutter waren meine Gefühle vor irgendjemandem peinlich. Dann reagierte sie mit Ermahnungen, Schimpfen oder Strafen, damit ich funktionierte. Sie hat mich nie gelobt, mir nie etwas zugetraut und mir oftmals das Gefühl gegeben, dass ich es nicht weit bringen würde. Was ich sehr an ihr mochte: Wenn sie mir hin und wieder beim Mittagsschlaf aus einem Buch vorlas, in dem die Geschichte eines Dackels im Mittelpunkt stand.

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Irgendwann fing ich als Kind damit an, unsere Wohnung zu putzen. Ich wollte es sauber und ordentlich haben und fühlte mich dafür zuständig. Meine Bemühungen wurden nicht geachtet, und es dauerte nicht lange, bis alles wieder chaotisch und unordentlich war. Meine Mutter sagte immer, dass es zu Hause aussehen könne, wie es wolle, aber auf ihrer Arbeitsstelle müsse immer alles stimmen.

***

In der Regel legte mir meine Mutter meine Sachen für den nächsten Tag zurecht. Ich trug am liebsten Hosen. Eines Tages musste ich einen Rock tragen. Ich fühlte mich in der Schule damit sehr unwohl, weil ich ihn zu kurz fand. Ich war nur damit beschäftigt, meinen Körper vor anderen zu verstecken.

***

Ich wusch des Öfteren meine Wäsche selbst, denn ich wollte saubere und ordentliche Kleidung tragen. Ich fing an, immer mehr meine eigene Ordnung zu kreieren und mir meinen eigenen Rückzugsort in der Küche zu schaffen. Ich befreite das Geschirr zuerst von grobem Schmutz, um es dann fein säuberlich auf dem Tisch zu sortieren. Teller zu Teller, Tassen zu Tassen ... Erst dann begann ich mit dem Abwasch und fing an, eine Wissenschaft daraus zu machen. Ich wollte es fast schon klinisch rein haben. Auch die Anordnung des Geschirrs zum Trocknen kam einem System gleich, das niemand durcheinanderbringen durfte. Sonst war mein Tag gelaufen. Ich begann, mir im Alltag selbst gesunde Grenzen zu setzen, die ich von meinen Eltern nicht bekam.

***

Ich „qualifizierte“ mich unbewusst zur Familienmanagerin, die sich Harmonie, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Fairness, Frieden und Glück wünschte und das auch durchsetzen wollte. Streiten war für mich okay, aber es sollte dabei fair und sachlich zugehen. Denn irgendwann wollte ich mich zu Hause nicht mehr in das Badezimmer zurückziehen und die Klospülung betätigen, wenn mal wieder heftige Auseinandersetzungen in der Familie stattfanden, die ich nicht mehr ertragen und aushalten konnte. Ich war müde und kaputt von all dem. Ich fing an, zwischen meinen Eltern zu vermitteln, wenn sie sich mal wieder gestritten hatten, was fast täglich an der Tagesordnung war.

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Ich wollte in der Schule viel lernen und gute Leistungen erzielen. Ich wurde Mitglied in einem Spielmannszug und fragte meine Eltern, ob sie zu meinen Auftritten kommen würden. Meine Mutter meinte, dass sie erst einmal wegen ihrer Arbeit schauen müsse. Manchmal hatten sie aber auch einfach keine Lust. Genau wie bei Elternabenden oder anderen Veranstaltungen, an denen meine Mutter und mein Vater nahezu nie teilnahmen.

***

Zu Arztbesuchen mussten wir Kinder häufig allein gehen. Durch die unregelmäßige Vorstellung wurde erst spät festgestellt, dass meine Augen immer schlechter geworden waren. Ein Arzt meinte irgendwann zu mir, dass mein Sehfehler dringend behandelt werden müsse, weil sonst Blindheit drohe. Er sollte recht behalten.

***

Ich erfand immer häufiger Ausreden, um meine Eltern zu schützen.

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Meine Mutter sagte vor Schulsportfesten oft zu mir, dass sie es schön finden würde, wenn ich auch mal eine Medaille mit nach Hause bringe. Das würde sie stolz machen. Das wollte ich auch und gab immer mein Bestes. Für eine Auszeichnung reichte es jedoch nie.

***

Meine Geschwister und ich sind nicht verhungert. Ich werde nie den saftig-süßen Kartoffelkuchen vergessen, den meine Mutter regelmäßig backte. Er schmeckte himmlisch. Dennoch mangelte es des Öfteren an vernünftigem Essen und Getränken. Für Zigaretten und Kaffee reichte es aber fast immer. Eines Tages hatte meine Mutter, wohl aus der Not heraus, etwas gekocht. Wir saßen alle stumm am Tisch. Nur das langsame Stochern mit den Löffeln auf den Tellern war zu hören. Ich empfand die Stille als fast schon gespenstisch. Die anderen aßen, und ich sagte, dass mir das Essen nicht schmecke. Daraufhin knallte es heftig auf dem Tisch. Ich zuckte erschrocken zusammen. Meine Mutter brüllte mich an und fragte mich, was das soll. Es werde das gegessen, was auf den Tisch kommt. Ich fing an zu weinen, was die Sache nur noch schlimmer machte. Sie zwang mich, die Suppe aufzuessen.

***

In der Schule freute ich mich immer, wenn volle Milchflaschen mit Kakao oder Erdbeergeschmack übrigblieben, die ich austrinken durfte. Ich habe das in der Regel immer sehr schnell getan. Genau wie an jenem Tag, als ich hungrig aus der Schule kam und der fertige Eintopf auf dem Herd stand und meine Mutter sinngemäß zu mir meinte, ich solle die Finger davon lassen, das Essen gäbe es erst am Abend. Ich holte den Staubsauger, um die Küche zu säubern, und aß dabei heimlich von der Suppe. Der Staubsauger übertönte das Geräusch des klappernden Topfdeckels. Ich aß schnell und hastig. Das Gefühl danach war herrlich. In diesem Moment fühlte ich mich satt und zufrieden.

***

Ich flüchtete mich immer mehr in meine eigene Welt. Diese bestand aus Büchern, Natur und Hunden. Kaum war ich von der Schule nach Hause gekommen, zog ich mich in mein Zimmer zurück, um zu lesen, in den Wald zu gehen oder mich mit unseren Hunden zu beschäftigen.

***

Ich war als Kind nicht gern bei meiner Oma. Sie wirkte sehr kalt und unnahbar auf mich und machte keinen Hehl daraus, dass sie ihre anderen Enkel mehr mochte als meine Geschwister und mich. Meine Mutter hatte immer wieder davon berichtet, wie unfair sie das Verhalten ihrer Mutter fand. Hin und wieder fuhr ich allein zu meiner Großmutter. Die 200 Kilometer lange Zugfahrt bis zu ihr fand ich toll. Selbst das Umsteigen und die Taxifahrt bis zu ihrem Zuhause hatten mir als Kind nichts ausgemacht. Wenn wir gemeinsam gespielt hatten und meine Oma kurz davor war, zu verlieren, änderte sie plötzlich die Spielregeln, um zu gewinnen. Das war kein Spaß. Sie wurde richtig böse, wenn ich mal gewann. Das habe ich nie verstanden. Ich fand ihr gesamtes Verhalten oftmals unfair, egoistisch und nicht richtig. Irgendwann fuhr ich nicht mehr gern zu ihr.

***

Im Alter von etwa elf Jahren sollte ich für unsere Familie etwas einkaufen gehen. Ich lief Richtung Konsum, als mich plötzlich zwei Jugendliche in eine Telefonzelle zerrten, mir den Ausgang versperrten und Geld von mir verlangten. Es ihnen zu geben, sei besser für mich, meinten sie zu mir. Ich hatte Angst und zitterte am ganzen Körper. Ich kramte in meinen Taschen und holte das Einkaufsgeld heraus. Sie nahmen es und liefen davon.

Da stand ich nun und machte mir Sorgen wegen des Geldes. Es war weg. Unserer Familie ging es finanziell noch nie gut. Ich musste oft zu Verwandten und Bekannten gehen, um Geld zu borgen. Wie sollte ich meiner Mutter das Geschehene erklären? Sie würde mir mit Sicherheit nicht glauben. Denn man sah mir nicht an, dass ich soeben eingesperrt und bestohlen worden war. Ich hatte Angst vor ihrer Reaktion und fasste den Entschluss, mich schmutzig zu machen, um damit die Dramatik und Wahrhaftigkeit des Vorfalls zu erhöhen. Ich wollte nur, dass meine Eltern mir glauben. Zu Hause angekommen, erzählte ich, was in Wahrheit passiert war. Den Rest log ich mir zusammen. Ich weiß nicht mehr, ob mir meine Eltern glaubten. Wir