Zwillingsstern - Eran Bar-Gil - E-Book

Zwillingsstern E-Book

Eran Bar-Gil

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Beschreibung

Zwei Männer, zwei Leben, ein Geheimnis Israel 1977. Die Zwillinge Joni und Dan werden von ihrer Mutter zur Adoption freigegeben. Sie wachsen in unterschiedlichen Familien auf, ohne von der Existenz des anderen zu wissen. Und doch empfinden beide eine immer schmerzlichere Leere. Eine Leere, die sie besondere Talente entwickeln lässt, aber auch zu Außenseitern macht. Bis sich Joni und Dan nach Jahrzehnten plötzlich gegenüberstehen …

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Eran Bar-Gil

Zwillingsstern

Aus dem Hebräischen von Beate Esther von Schwarze

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

ZWEI MÄNNER, ZWEI LEBEN, EIN GEHEIMNIS

 

Israel 1977. Die Zwillinge Joni und Dan werden von ihrer Mutter zur Adoption freigegeben.

Sie wachsen in unterschiedlichen Familien auf, ohne von der Existenz des anderen zu wissen.

Und doch empfinden beide eine immer schmerzlichere Leere. Eine Leere, die sie besondere Talente entwickeln lässt, aber auch zu Außenseitern macht. Bis sich Joni und Dan nach Jahrzehnten plötzlich gegenüberstehen …

Über Eran Bar-Gil

Eran Bar-Gil wurde 1969 in Holon, Israel, geboren. Der Autor, der auch als Musiker und Journalist arbeitet, hat weitere Romane, Lyrikbände und Kurzgeschichten veröffentlicht. Sein Debütroman «Zwillingsstern» wurde in der israelischen Presse herausragend besprochen und 2006 mit dem zweijährlich vom Verband Israelischer Verleger verliehenen Bernstein-Preis für den besten hebräischen Roman ausgezeichnet.

Inhaltsübersicht

Regen nach dem ChamsinAllegroFeuerAdagioHungerScherzoLetzter WinterregenPrestoGeigeCoda

Regen nach dem Chamsin

Gestern waren Wahlen, für heute ist Chamsin angesagt, heißer, trockener Wüstenwind. Einundvierzig Grad – so viele Mandate hat der Likud bekommen, neun mehr als die Arbeitspartei. Es ist Mai, fünf vor sieben, mein Fenster rahmt einen schlammfarbenen Himmel und eine trübe Viertelsonne ein, hinter der Scheibe baut sich der Chamsin auf. Am Abend wird die Hitze nachlassen, vielleicht wird es regnen, und vielleicht werden die Bürgerrechtspartei und die Liberalen die Sperrklausel überwinden. Carter hat schon angekündigt, er werde den nächsten israelischen Ministerpräsidenten einladen. Die nationalreligiöse Partei hat zwölf Sitze, die liberale Dasch vierzehn, die Friedenspartei Scheli zwei, Ariel Scharons Schlomzion zwei, Flatto-Scharon hat genug Stimmen für zwei Mandate bekommen, doch da er als Einziger kandidiert, wird er nur ein Mandat erhalten, die übrigen Stimmen gehen verloren. Wie Dokis tote Jahre. Wenn er heute noch lebte, wäre er siebenunddreißig. Und Joni wird heute sieben. Seit Dokis Tod, der ein unglücklicher Zufall war, habe ich vierzehn Kilo zugenommen und mit keinem Mann geschlafen, aber diese beiden oder eigentlich drei Dinge – Dokis Tod, mein Gewicht und mein Sexualtrieb – haben nichts miteinander zu tun. Und das gilt auch für die Tatsache, dass Joni, der nicht mein leiblicher Sohn ist, heute Geburtstag hat.

Sieben Uhr. Ich stehe auf. In Jonis Zimmer ist es noch still. Heute braucht er nicht zur Schule zu gehen. Ich setze mich aufs Klo, pinkele, wische mich ab und prüfe das Klopapier auf Blutspuren. Seit drei Tagen habe ich die üblichen Bauchschmerzen vor der Periode, aber es passiert nichts. Ich dusche trotzdem, spüle das Haar durch, wickle es in ein Handtuch und schlüpfe in den lila Bademantel, der in der Mitte auseinanderklafft, als ich mich vor das Becken stelle, um mein Gesicht einzucremen. Im Spiegel sehe ich meine schweren Brüste, meinen runden Bauch, das dunkle Haardickicht über meiner geschlossenen Vulva. Ich habe schon vergessen, wie es mit Doki im Bett war. Von allen Erinnerungen ist ausgerechnet diese verlorengegangen. Es gelingt mir nicht, mir seinen nackten Körper auf meinem vorzustellen, sein Gesicht an meinem Gesicht, unsere verschlungenen Zungen. Doki ist in meinem Gedächtnis zerronnen, verschwunden, verblasst und verwischt, wie eine Zeichnung auf altem Papier, und geblieben sind nur die Erinnerung an die Leere nach seinem Tod, die Witwenrente und Joni, der zweifach verwaist ist. Ich ziehe den Bademantel über dem Bauch zusammen, zurre den Gürtel fest, creme mir das Gesicht und die Hände ein und gehe ins Kinderzimmer, um nach Joni zu sehen.

 

Er schläft auf der Seite, die Übergangsdecke bis zum Hals hochgezogen, der Mund halb geöffnet, das feine Gesicht fast verdeckt von seinem hellen, glatten Haar, durch die Rollladenritzen fällt mattes gelbes Licht. Ich gehe in die Küche und setze Wasser auf, öffne die Balkontür und atme die trockene Morgenhitze ein. Auf der Waschmaschine steht der Käfig, der mit einem Handtuch abgedeckt ist, ich nehme es ab, betrachte das kleine Meerschweinchen, das ich Joni zum Geburtstag gekauft habe. Ich öffne die Gittertür, das schwarzweiße Meerschweinchen weicht zurück, als ich die Hand hineinstecke und den Wassernapf herausnehme, in dem Sägespäne schwimmen. Ich spüle den Napf im Waschbecken auf dem Balkon, fülle ihn zur Hälfte mit Wasser, bringe ihn zurück, verriegele die Gittertür und stelle den Käfig auf den Küchentisch. Ich mache mir einen Kaffee, hole eine Möhre aus dem Kühlschrank und setze mich vor das Meerschweinchen, das einen verschreckten Eindruck macht. Als ich die Möhrenspitze durch das Gitter schiebe, verkriecht es sich wieder in eine Ecke und atmet schnell. Ich öffne die Käfigtür, lege die Möhre neben den Wassernapf, stelle das Radio an und trinke meinen Kaffee aus.

Dann nehme ich das Meerschweinchen und gehe zu Joni, der immer noch schläft. Ich stelle den Käfig auf den Teppich, ziehe die Rollläden hoch und öffne das Fenster. Die Morgenhitze wälzt sich hinein wie Rauch. Ich setze mich auf die Bettkante, Joni reibt sich die Augen mit seinen kleinen Fäusten, blinzelt mit blauen Augen in seinen Geburtstag. Ich beuge mich über ihn, küsse ihn auf die Stirn und sage: «Herzlichen Glückwunsch, mein Schatz», und als er mir die Arme um den Hals schlingt, ziehe ich ihn an mich und hebe ihn aus dem Bett, als sei er ein Baby und kein Junge von sieben Jahren. Während wir uns umarmen, sieht er den Käfig auf dem Teppich und fragt: «Was ist das, Mama?»

«Ein Meerschweinchen, das ich dir zum Geburtstag gekauft habe», antworte ich, und er lässt mich los und kriecht wie hypnotisiert auf das Meerschweinchen zu, das sich in eine Ecke des Käfigs drängt. «Heute machen wir uns einen schönen Tag, mein Schatz», sage ich zu ihm, er blickt mich an und sagt: «Super!» Ich lächle ihm zu: «Aber erst Pipi und Zähneputzen, und ich mache uns inzwischen ein Geburtstagsfrühstück.» – «Ich möchte ein weiches Ei», ruft er und läuft zum Klo.

 

Das ganze Jahr über vergesse ich es, aber an seinem Geburtstag fällt mir wieder ein, dass ich nicht seine biologische Mutter bin, und dieser Gedanke schmerzt von Jahr zu Jahr mehr, doch ich weiß, dass ich eines Tages diese Last abschütteln und ihm alles erzählen werde, und halte mir vor, dass der Weg zur Wahrheit nicht mit Lügen gepflastert sein muss und dass ich ihn nicht belüge, auch wenn ich ihm nicht alles erzähle, und dass außerdem die Wahrheit mehrere Gesichter hat.

Doki war sechs Jahre älter als ich, und als ich ihn kennenlernte, war er schon Arzt. Ich lief barfuß herum, mit Jerusalemer Kleidern und Haaren bis zur Taille, und glaubte, ich sei im Aufbruch zu neuen Wegen. Er trug eine Kippa wegen einer blödsinnigen Ideologie, die mit diesem Land und mit Heiligkeit zu tun hatte, und sprach Hebräisch mit amerikanischem Akzent, und obwohl selbst ich unsere Beziehung ziemlich seltsam fand, heirateten wir nach einem halben Jahr, und er gewöhnte sich die Kippa wieder ab. Seine Eltern kamen zur Hochzeit aus den USA und gaben uns Geld für eine Wohnung. Doki machte Überstunden im Krankenhaus, ich war mit meinen Übersetzungen beschäftigt und glaubte, wir seien glücklich. Wir kamen miteinander aus. Haben uns wohl auch geliebt. Doch ich wurde nicht schwanger. Meine Periode war regelmäßig, die Untersuchungen, denen wir beide uns unterzogen, waren in Ordnung, aber trotzdem blieb das Versagen an mir hängen. Wir stritten uns, worüber weiß ich nicht mehr, und versöhnten uns wieder. Wir müssen auch miteinander geschlafen haben, aber ich kann mich nicht daran erinnern. Ich wollte mich treiben lassen, nichts erzwingen, so weitermachen, aber Doki wollte im Leben weiterkommen. Wir entschieden uns dafür, ein Kind zu adoptieren. Im Grunde meines Herzens wusste ich, dass ich nachgegeben hatte, aber Doki besaß die nötigen Beziehungen und psychischen Kräfte, um sein Ziel zu erreichen.

Es war Ende der sechziger Jahre, in der Zeit zwischen zwei Kriegen, und ich entwickelte einen wachsenden Abscheu gegen diese unerträgliche Situation. Der Siegesrausch des Sechstagekrieges und die Niederlage meiner Fortpflanzungsorgane flossen ineinander. Doki machte Karriere in seiner Abteilung, fuhr zu Kongressen nach Amerika, zog an den richtigen Drähten und witzelte: «Du wirst schon sehen, bis zum nächsten Krieg haben wir ein Kind.»

Ich erinnere mich an seine Worte, sein Lächeln, seine Ledertasche, seine feingliedrigen Hände, seine Art, einen Apfel zu schälen, und verliere mich selbst in diesen Erinnerungen. Wo war ich? Was wollte ich wirklich? Was erwartete ich vom Leben? Was bewegte mich, was trieb mich an? Ich erinnere mich an die Art und Weise, wie wir unser Leben lebten und die im Grunde unverzeihlich war, an die Wende, die Joni bewirkte, an Dokis Tod, der alldem ein Ende machte.

 

Joni kommt vom Klo zurück, ich stehe von seinem Bett auf und hole ihm ein weißes Hemd und eine kurze blaue Hose aus dem Schrank, doch er möchte sich noch nicht anziehen, und ich erlaube ihm, im Schlafanzug zu bleiben. Er beugt sich über das Meerschweinchen, öffnet die Käfigtür und steckt die Hand hinein. «Nimm dich in Acht, Joni», warne ich, doch er antwortet nicht, streckt seine kleine Hand nach dem Meerschweinchen aus, das sich entrollt, zu ihm hintrippelt und auf seine Hand klettert. Joni holt es ganz vorsichtig aus dem Käfig und nimmt es auf den Schoß, Schwarzweiß auf dem Hellblau seines Schlafanzugs.

«Es hat noch schreckliche Angst», sagt er, ohne mich anzusehen, und ich lege seine Kleider aufs Bett, bücke mich, streichle seinen Kopf und drücke ihm einen kleinen Kuss auf die Backe. Er entzieht sich mir kichernd und sagt: «Nicht, Mama», und ich sage: «Aber ich möchte dich am liebsten auffressen», und überschütte ihn mit Küssen. Er wehrt sich lachend, doch ich halte ihn mit beiden Armen fest und drücke ihn auf den Teppich hinab, und das Meerschweinchen entschlüpft ihm und läuft unters Bett.

«Mach die Tür zu, mach die Tür zu», ruft Joni, und ich stehe schwerfällig auf und schließe die Tür. Der viereckige Fensterausschnitt des Chamsinhimmels färbt sich gelb, und ein trockener, böiger Wind weht staubfeinen Sand in weite Fernen. Joni kriecht unters Bett, nur seine kleinen Füße schauen heraus, und ich kann nicht an mich halten, bin mit einem Satz bei ihm und kitzle seine Fußspitzen, er bricht in Gelächter aus, tritt nach mir und ruft: «Och, Mama, fast hätte ich es erwischt.»

«Also gut, mein Schatz, ich mache uns was zu essen», sage ich in munterem Ton, gehe aus dem Zimmer, schließe die Tür, lehne mich mit dem Rücken dagegen und denke: «Da, jetzt, in diesem Zimmer warst du eben einen Augenblick lang sehr glücklich.»

 

Manchmal habe ich das Gefühl, dass man sich für das Glück selber entscheiden muss und dass niemand anders einen glücklich machen kann, doch dann denke ich wieder, dass Glück ein Mythos ist wie Religion, etwas Amorphes, Nichtvorhandenes, wie Gott im brennenden Dornbusch.

Dokis Leben endete durch einen dummen Zufall. Im Allgemeinen lasse ich diesen Augenblick nicht in mir aufleben. Er ruht abgekapselt, versiegelt, voll mit Geschehen in mir. Doki starb zu Beginn des Jom-Kippur-Krieges im Krankenhaus an einem Schlaganfall. Um fünf Uhr einundzwanzig, nach neununddreißig Stunden Tag- und Nachtdienst, ganze dreiunddreißig Jahre alt. Ich wurde als Kriegerwitwe anerkannt, weil Doki aufgrund eines Notstandsbefehls für Ärzte einberufen worden war, und beziehe seitdem eine Rente, von der Joni und ich bis heute leben. Wenn ich wieder heirate, verliere ich die Rente, und mir kommt ab und zu der Gedanke, wie unsinnig dieses Gesetz ist und was für eine beschissene Ideologie dahintersteckt. Abgesehen davon berührt mich dieses Thema nicht. Es ist für mich abgeschlossen. Ich hatte keine Kontrolle über das Geschehen, und für mich ist es am besten, gar nicht darüber nachzudenken.

Ich habe nicht wirklich um Doki getrauert. Joni war schon drei, und die Tatsache, dass Doki plötzlich aus unserem Leben verschwand, verwirrte ihn und zwang mich, ganz für ihn da zu sein. Er fing an, sein Bett nass zu machen, und weigerte sich, auch als der Krieg vorbei war, in den Kindergarten zu gehen. Dokis Eltern, die wussten, dass Joni nicht ihr leiblicher Enkel war, brachen binnen eines Jahres nach seinem Tod jeden Kontakt mit mir ab, und ich wollte keinen Totenkult betreiben, um Joni die Trauer um einen Menschen zu ersparen, den er kaum gekannt hatte. Wenn er fragte, wo sein Vater sei, verschwieg ich ihm nichts: «Dein Papa ist tot. Er wird nicht mehr zurückkommen.» Die Leere, die Doki hinterlassen hatte, wurde zur Tatsache, Joni fand sich damit ab und vergaß ihn. Und ich gehe in die Küche, zünde das Gas an und setze ein Ei auf. Und warte. Der Wind weht jetzt stärker, die Luft ist schwer und staubig, und ich weiß, dass ich im Grunde meines Herzens nichts bereue. Obwohl ich mich damals, als alles geschah, innerlich verzehrte.

 

Als der Tisch gedeckt ist, rufe ich Joni in die Küche. Er ist noch immer im Schlafanzug und erzählt aufgeregt, das Meerschweinchen habe die Möhre gefressen und auf den Teppich gepinkelt. «Iss, bevor es kalt wird», sage ich, helfe ihm, das spitze Ende des weichen Eis abzuschneiden, und frage ihn, ob ich ihm einen Toast mit Quark machen soll, wie er es gern hat.

«Au ja», sagt er mit vollem Mund, und ich freue mich, dass er solchen Appetit hat. Ich esse Gemüsesalat mit zwei Löffeln Hüttenkäse und trinke noch einen Kaffee.

«Was möchtest du an deinem Geburtstag machen?», frage ich ihn nach dem Frühstück.

«Zu Hause bleiben und mit dem Meerschweinchen spielen», sagt er, «und am Nachmittag möchte ich in den Lunapark, das hast du mir schon lange versprochen.»

«Einverstanden, Jojo», sage ich, und er lächelt. «Ich bin froh, dass ich Geburtstag habe», sagt er, läuft in sein Zimmer und macht die Tür zu, wie er es manchmal tut, wenn er allein sein möchte. Ich räume den Tisch ab, stelle das Geschirr ins Spülbecken und streife mir die gelben Gummihandschuhe über.

Nach dem Geschirrspülen schalte ich die Waschmaschine ein und ziehe mich an. Joni ist immer noch in seinem Zimmer. «Jojo, ich gehe einkaufen», rufe ich ihm durch die geschlossene Tür zu und mache mich auf den Weg.

Auf der Straße riecht es nach Chamsin und politischer Wende, ich zupfe an meinem Rock, damit sich meine Scham nicht so deutlich im Wind abzeichnet, und gehe zum Lebensmittelgeschäft am Ende der Straße.

Noch etwa achtzig Seiten zu übersetzen, dann bin ich mit dem Buch fertig. Nachdem ich die Lebensmittel eingeräumt habe, gehe ich in mein Arbeitszimmer, schließe die Tür und schalte den Ventilator ein. Draußen vor dem Fenster blühen Geranien im Blumenkasten. «Die hängenden Gärten», flüstere ich vor mich hin, schlage das Buch an der Seite auf, die ich gestern zuletzt übersetzt habe, lege den Finger auf die Stelle, wo es weitergeht, formuliere den Satz im Kopf und tippe ihn in die Schreibmaschine. Aber heute schweifen meine Gedanken zu Doki, der als Arzt Beziehungen im Krankenhaus hatte und die Idee mit der Adoption aufbrachte und in die Tat umsetzte. Nachdem wir die verschiedenen Ausschüsse durchlaufen hatten und für würdig befunden wurden, ein Kind zu adoptieren, begann eine zermürbende Wartezeit. Die Warteliste war lang, aber Doki versicherte mir, es werde in Ordnung gehen, bis zum nächsten Krieg würden wir ein Kind haben. Ich merkte, dass ein Schatten auf unsere Beziehung gefallen war, doch anscheinend lernten wir, damit umzugehen. Wir machten weiter, hofften, arbeiteten viel. Weder er noch ich brachten uns den Schmerz des anderen zu Bewusstsein.

Als er eines Abends aus dem Krankenhaus kam, war er sehr unruhig. Wir aßen lustlos, lasen ein bisschen und gingen ins Bett. In die Dunkelheit hinein fragte ich: «Doki, was ist los?», und er sagte: «Ich möchte nicht, dass wir wieder enttäuscht werden, aber ich glaube, unsere Chance ist da.» – «Was für eine Chance, Doki?», fragte ich leise, und er sagte: «Die Chance, ein Kind zu bekommen.»

Ich weiß noch, dass wir lange schwiegen. Doki lag auf dem Rücken. Als er endlich sprach, drang seine Stimme, auf der Dunkelheit gleitend, müde und freudlos zu mir hinüber. «Im Krankenhaus wurden zwei Etagen unter meiner Abteilung Zwillinge geboren, Frühgeburten, zwei Jungen, die anderthalb Kilo wiegen. Ihre Mutter hat sie verlassen. Sie hatten Atemprobleme und liegen im Inkubator. Sie sind zur Adoption freigegeben.» Dann drehte er sich zu mir und sagte: «Du weißt, dass ich Beziehungen im Krankenhaus habe und auch in der Sozialabteilung, ich kenne die richtigen Leute, und weil es zwei sind, können wir vielleicht die Warteschlange umgehen und einen von ihnen adoptieren.» Ich schloss die Augen und sagte: «Ich glaube, das wird nicht gehen.» Dann trat ein lastendes Schweigen ein.

 

Schon Mittag. Ich bin nur wenig mit der Übersetzung vorangekommen, und die Wäsche ist noch nicht aufgehängt. In dem heißen Wüstenwind sieht alles gelb und verwischt aus. Müdigkeit überkommt mich, ich stehe auf, um die Glieder zu strecken, als Joni an die Tür klopft. Er klopft immer an und kommt nie unaufgefordert herein. Ich finde das beachtlich für einen Jungen von sieben Jahren.

«Komm rein, Jojo», rufe ich. Er hat immer noch den hellblauen Schlafanzug an, der mit Meerschweinchenhaaren übersät ist. «Mama, ich habe Hunger», sagt er. Wir gehen in die Küche, ich wärme uns Reis von gestern auf, Joni holt das Ketchup aus dem Kühlschrank und stellt zwei Gläser auf den Tisch. Ich verteile den Reis auf zwei Teller und stelle aufgeschnittene Tomaten- und Gurkenscheiben dazu, und Joni dreht die Flasche um und schreibt seinen Namen mit Ketchup auf den Reis, vermischt alles mit der Gabel und fängt gierig an zu essen.

«Bist du müde?», frage ich ihn nach dem Essen, als er anfängt, sich die Augen zu reiben. «Nein», behauptet er und reißt die Augen auf, und ich frage: «Was willst du bis vier Uhr machen?» – «Das Meerschweinchen dressieren», sagt er, und ich fahre ihm mit der Hand durchs Haar und sage: «Zieh aber einen frischen Schlafanzug an, dieser ist schon ganz schmutzig.» – «Okay, Mama», sagt er, entzieht sich meiner Liebkosung und läuft in sein Zimmer. Ich stelle das Geschirr ins Spülbecken und hole die Wäsche zum Aufhängen. Glühende, staubige Luft schlägt mir ins Gesicht, als ich die Jalousien auf dem Balkon zurückschiebe, und ich überlege, ob ich bei diesem Wetter die Wäsche wirklich draußen aufhängen soll. Schließlich hänge ich sie trotzdem auf, große Büstenhalter und kleine Unterhosen, und mir fällt eine Zeile aus einem Gedicht ein, das vom Wäscheaufhängen am Vortag des Neujahrsfestes handelt. Ich gehe zurück in mein Arbeitszimmer und suche zwischen großen Büchern den schmalen Gedichtband heraus, der diese Zeile enthält. Ich blättere, bis ich das Gedicht finde: Am Vortag des Neujahrsfestes / habe ich deine Unterhosen und Büstenhalter / auf die Leine gehängt / ein zaghafter Regen fiel / wie eine Babyhand / die über das Gesicht eines Fremden streicht. // Und ich war die Leine / und die Unterhosen, die fahnengleich flattern / und der zaghafte Regen / die Babyhand / und das Gesicht des Fremden.

 

Ich weiß noch, wie Joni mein Gesicht berührte, als er mir in die Arme gelegt wurde, und ich flüsterte Doki zu: «Komm, lass uns hier verschwinden», und Joni streckte seine winzige Frühchenhand aus und legte sie auf meine Wange, und ich stand da, verwirrt, hingerissen, verloren mit diesem Baby im Arm.

Seit dem Augenblick, als wir das Krankenhaus betreten hatten, spürte ich Dokis Hand auf meinem Rücken. Sie führte mich mit dem sanften Nachdruck eines Arztes durch die Irrgänge des Krankenhauses, stützte mich, als ich die letzten Formulare unterschrieb, glitt zu meinem Nacken und massierte ihn, drückte meine Schulter, öffnete die Tür der Frühgeburtenabteilung.

Die Zwillinge lagen in zwei aneinandergrenzenden Bettchen und waren nur durch die Farbe ihrer Mützen zu unterscheiden. Zwei unausgereifte Menschenwesen, die zwei Monate darum gekämpft hatten, ein Gewicht von zweieinviertel Kilo zu erreichen, die lächelnde Krankenschwester, das Babygeschrei in der Station, die blendenden Neonleuchten, Dokis Hand auf meinem Rücken und sein Mund, der mir ins Ohr flüsterte: «Alles in Ordnung, Schuli?»

Ich antwortete nicht, und er sagte: «Der ist es», und zeigte auf einen von beiden, und die lächelnde Schwester ging auf die am nächsten stehende Krippe zu und nahm eines der hilflosen Würmchen heraus, und Doki sagte: «Nicht der, der andere, mit der blauen Mütze.» Die Schwester legte das Baby mit der rosa Mütze wieder in die Krippe und lächelte schuldbewusst, und ich war mir plötzlich der Grausamkeit des Schicksals bewusst, glaubte, sein bitteres Gelächter zu hören, sah durch einen düsteren Schleier hindurch, wie die Schwester den anderen Säugling heraushob und ihn mir in die Arme legte, und ich flüsterte Doki zu: «Lass uns hier verschwinden», und spürte das Händchen des Neugeborenen auf meiner Wange.

 

Es ist still im Haus. Ich wälze mich im Bett hin und her. Heute ist Joni sieben, doch in meiner Erinnerung an jenen Tag wird er immer der neugeborene Säugling bleiben. Drei Jahre später war Doki tot. Sein Anteil an dem, was war, ist nicht mehr relevant. Gestern hatten wir Wahlen, aber auch das ist nicht relevant für meine Probleme. Ich schlage den Gedichtband noch einmal auf und ersetze den «Vortag des Neujahrsfestes» durch «Geburtstag»: An deinem Geburtstag / habe ich meine Büstenhalter und deine Unterhosen / auf die Leine gehängt / ein zaghafter Regen fiel / wie eine Babyhand / die über das Gesicht eines Fremden streicht. // Und ich war die Leine / und die Unterhosen, die fahnengleich flattern / und der zaghafte Regen / die Babyhand / und das Gesicht des Fremden. // Dein Geburtstag / und wir suchen das Symbol / auf der Wäscheleine / und Regen, nüchtern wie Abels Gedanken / als er dem Herrn seine Erstlinge opferte / fällt senkrecht zur Erde. // Und du warst das Symbol und der Festtag und Abel / dem der Himmel gnädig war. Und du warst / senkrecht in der Erde / und ich werde immer die gewundene Leine sein. // An deinem Geburtstag / wie zwei Bäume am Rande des Hügels / sind wir hartnäckige Liebe / und Schande.

 

Allmählich schlafe ich ein. Ich träume und weiß, dass ich träume. Träume im Wachen. Reinige mich innerlich. Gerade an seinem Geburtstag – wie er in der Geburtsurkunde steht –, und nur an diesem Tag, versinke ich bis zum Hals in Erinnerungen und zerfleische mich. Wie wir die Warteliste umgingen, wie willkürlich wir unsere Wahl trafen, wie distanziert das alles ablief, und trotzdem wuchs aus alledem ein Kind heran. Es lernte gehen. Seinen Schmerz ausdrücken. Und ihn verbergen. Dieser Junge ist mein. Nach Fug und Recht. Nach Gesetz und Gefühl. Er hat keine Wurzeln in der Vergangenheit außer mir, er hat keinen Menschen in der Welt außer mir, und ich bin seine Mutter, obwohl ich ihn nicht aus meinem Schoß geboren habe. Doch ich habe ihn in meinem Schoß geborgen, ihn in mein Leben einbezogen, ihm ein eigenes Leben geschenkt, und ich habe ihm ein großes Geheimnis genommen und es für ihn bewahrt und bewahre es immer noch, und vielleicht werde ich es ihm eines Tages erzählen, oder ich werde alles so weiterlaufen lassen wie bisher.

Ich träume im Wachen. In meinem Traum sehe ich uns im Lunapark, unter vielen Menschen, wir bahnen uns einen Weg durch das Gedränge, ringsum Karusselle, Drehorgeln, rot glasierte Äpfel, Zuckerwatte, Autoscooter, Schießbuden, heiße Würstchen, Zerrspiegel, in denen man sich kleiner und größer, dicker und dünner, doppelt und vierfach und tausendfach sieht. Wir gehen Hand in Hand an dem Stand mit den Wasserpistolen vorbei. Aus dem Augenwinkel sehe ich plötzlich einen Jungen, der eine tropfende Wasserpistole in der rechten Hand hält und einen Wasserstrahl in den Mund eines Plastikclowns schießt, aus dessen Kopf ein großer Ballon herauswächst und schließlich platzt, und der Junge bekommt einen großen Teddybären und wendet uns das Gesicht zu, und ich sehe Jonis Spiegelbild – das gleiche glatte hellbraune Haar, das ihm in die Stirn fällt, die gleichen meerblauen Augen, die Stupsnase und die dünnen Lippen. Ich halte Joni die Augen zu, und er fragt: «Mama, was machst du?», doch ich antworte nicht und wache auf und weiß, dass ich wach bin, und höre ein leises Klopfen an der Tür.

«Bist du wach?», fragt Joni beim Eintreten, der Schweiß auf meiner Haut brennt, ich bitte ihn, das Fenster zu öffnen. Er zieht den Rollladen hoch, und ich sehe, dass er angezogen und fertig zum Ausgehen ist.

«Wie spät ist es?», frage ich, und er sagt: «Schon sechs.»

«Ich habe Kopfweh, kannst du mir bitte ein Glas Wasser bringen, mein Schatz?»

Er läuft ins Bad und bringt mir Wasser und Paracetamol, und ich lächle ihn liebevoll an, schlucke die Tablette und sage: «Ich mache mich nur eben fertig, dann gehen wir.»

Mit der Dusche spüle ich die Beklemmung weg, die mich immer an seinem Geburtstag befällt, und ich merke, dass die Tablette zu wirken beginnt. Joni ist in der Küche und macht mir einen Kaffee, was er gerade erst gelernt hat, und als ich im Bademantel herauskomme, bringt er den Kaffee und stellt ihn auf den Nachttisch.

«Komm her, du Heinzelmännchen», rufe ich, und er läuft zu mir und umschlingt meine Hüften, und ich frage: «Warum hast du mich nicht schon um vier geweckt?» – «Weil du geschlafen hast.» Ich sage: «Stimmt, genau deshalb hättest du mich wecken sollen», und er sagt: «Wenn jemand schläft, darf man ihn nicht stören, weil man ihm dann im Traum erscheinen kann», und ich frage: «Wo hast du das denn her, Jojo?» – «Das haben wir in der Schule gelernt», und ich sage: «So ein Unsinn, mein Häschen, wenn ich nächstes Mal bis zum Abend schlafe, kannst du mich ruhig wecken», und streiche ihm übers Haar und drehe ihn so, dass er mir den Rücken zukehrt, während ich meine Unterhose anziehe, und er sagt: «Trink deinen Kaffee, sonst wird er kalt.»

Ich setze mich aufs Bett und nehme einen Schluck, werfe ihm ein Küsschen zu und sage: «Das ist der beste Kaffee, den ich je getrunken habe», und Joni lacht aus vollem Hals und fragt: «Soll ich dir zeigen, wie ich das Meerschweinchen dressiert habe?», und ich sage ja.

Er läuft in sein Zimmer und kommt mit dem schwarzweißen Meerschweinchen auf dem Arm zurück. Ich sage: «Setz es nur nicht auf mein Bett», und Joni setzt das Tier auf den Teppich, geht zwei Schritte zurück und sagt: «Schau mal, Mama», legt seine kleine Hand auf den Boden, und das Meerschweinchen läuft zu ihm und klettert auf seine Hand, und ich sage: «Du bist klasse, Joni», und er sagt: «Wir müssen nicht weggehen, wenn du müde bist.»

«Wieso», wehre ich ab, «ich bin überhaupt nicht müde, setz das Meerschweinchen wieder in den Käfig und lass uns gehen.»

Auf der Straße weht der Chamsin, und während wir zur Bushaltestelle gehen, frage ich ihn: «Wie war dein Geburtstag bisher?» Er sagt: «Genau so, wie ich es mir gewünscht habe», und ich denke, dass es so wenig braucht, um ihn glücklich zu machen. Oder auch gar nichts. Ich brauche nur da zu sein. Einfach da sein. Der Geburtstag ist schon fast überstanden. An der Haltestelle beuge ich mich zu ihm herab, umarme ihn fest und sage: «Herzlichen Glückwunsch, mein Kleiner», und er sagt mit seiner hellen Kinderstimme: «Danke für das Meerschweinchen, Mama», und auf meinen Kopf fällt der erste sandverschmutzte Regentropfen, der Chamsin ist gebrochen, es fängt an zu regnen, zaghaft, wie eine Babyhand, die über das Gesicht eines Fremden streicht.

Allegro

Zuerst war es der Wind, der leicht, kalt, farblos ins Zimmer wehte, das gesättigt ist mit Gilis Atemdunst, ihren Seufzern und grauer, bleischwerer Verzweiflung.

Nur nicht die Augen aufmachen. Auf dem Rücken liegen bleiben und dahindämmern. Das Gestern und seine Sorgen und Spuren und Folgen vergessen, vergessen und nichts sein als dieser durchdringende, einsame, bebende Ton, der singende, anschwellende Ton, der Mendelssohns Violinkonzert einleitet.

Musik. Winter. Durch den Fensterspalt streicht der Wind dieses verwünschten Morgens, an dem der Klassiksender in seiner Frühmatinee Mendelssohn bringt. Im zweiten Satz des Konzerts, als die Violine sich über alle anderen Saiteninstrumente hinweg in die Höhe schwingt und in sich selbst bricht, während die Bläser in die Tiefe tauchen, tragen die Klänge mich über die Noten empor, die ich auswendig kann, die lastende Übelkeit fällt von mir ab, und mir ist, als schwebte ich im Zimmer. Dann lande ich in dem Pfeifsignal, das die Nachrichten ankündigt, öffne die Augen und bin da. Und wach.

 

Gili war vor mir aufgewacht. Ich hörte, wie sie den Wecker abstellte und die Decke bis zum Hals hochzog. Sie blieb noch eine Weile im Bett liegen. Ein tiefes Gähnen, ein Rekeln und Knacken von Gelenken. Und dann war sie sofort hellwach, stürzte sich in den neuen Tag. Pinkelte, putzte die Zähne, duschte, zog sich an, betrachtete sich im Spiegel, ihre schlanke Figur, ihr schmales Gesicht, von vorn und im Profil, zog die Lippen nach, betonte mit einem fast gewalttätigen Strich das untere Augenlid, und dann der Duft von Kaffee und ein leichter Parfümhauch, der die stickige Luft im Schlafzimmer auffrischte.

Vielleicht wollte sie mir etwas sagen, bevor sie aus dem Zimmer ging, vielleicht bereute sie ihren Entschluss. Doch ich drehte mich im Bett um, stellte mich schlafend, lauschte ihrem nahen und doch fernen Atem, vermischt mit der Stimme der Geige in der zweiten Exposition des Allegros, die sich durch den offenen Fensterspalt ins Zimmer stahl.

Jeden Tag wache ich mit dem Morgenkonzert auf, das aus dem krächzenden Transistorradio meiner alten Nachbarin dringt. Hinter der Wand meines Schlafzimmers beginnt ihre Welt, die Küche, die Diele, ihr trockener Husten, das Radio, der Fernseher, das Schlurfen der Hausschuhe.

Die dünnen Wände dieser Stadt. Die atmenden Wände. Die nahen Fenster der Nachbarn. Die Aufzugschächte. Die Treppenhäuser. Die Regenrinnen. Die verzweifelten Schreie rolliger Katzen. Ein Wasserfall von Geräuschen. Eine Kakophonie von fernem Sirenengeheul und menschlichen Stimmen. Das Surren eines Mixers aus einem offenen Fenster. Die ersten Klänge einer Bach-Fuge auf einem Handy. Türen, die geöffnet und geschlossen werden. Und über alldem das Crescendo der Flugzeugmotoren beim Landeanflug auf den Ben-Gurion-Flughafen.

Ich muss aufstehen. Aber es fällt mir schwer. Etwas lastet auf mir. Ich habe keine Lust. Das Telefon klingelt, aber ich gehe nicht dran. Das ist sicher Gili. Sie ruft von unterwegs an, um zu sehen, ob ich aufgewacht bin. Vielleicht will sie mir sagen, dass sie sich anders besonnen hat und mich doch nicht verlässt. Oder sie will Einzelheiten der Trennung besprechen. Ich bin jetzt, um diese Tageszeit, nicht in der Lage, solche Gespräche zu führen. Ich muss aufstehen, Kaffee machen, etwas essen, um die Übelkeit zu bekämpfen, die mir den Magen umdreht. Das Telefon schrillt in regelmäßigen Abständen, bis es verstummt und nur das Echo nachklingt.

In der Wohnung meiner alten Nachbarin wird ein Stuhl oder ein Tisch verrückt. Ein gedämpftes Scharren von Holzbeinen auf den Fliesen. Ich stehe auf und gehe ins Badezimmer. Gilis grüne Zahnbürste steckt in dem blauen Glas, ich putze mir damit die Zähne, spucke den weißen, von roten Blutfäden durchzogenen Schaum ins Waschbecken, wasche mir das Gesicht mit kaltem Wasser. Das Geräusch des fließenden Wassers regt meine Blase an.

Ich stehe vor der Kloschüssel und schieße meinen Strahl mit geschlossenen Augen hinein. Ganz still ist es nie. Eine vollkommene Stille gibt es nicht. Eine absolute Stille, in der man keinen Laut hört. In meiner Wohnung brummt der Kühlschrank, ächzt das Sofa, summt der Computer, plätschert der Urin, rauscht die Wasserspülung des Nachbarn über mir. Auch die scheinbar stummen Dinge haben eine Stimme, die ihre Existenz offenbart. Eine beharrliche Existenz, die sich der Realität durch Stille mitteilt. Ich stehe im Badezimmer und lausche dem quadratischen Spiegel, der Zahnbürste, dem feuchten Handtuch. Und dann höre ich ein Klirren und gleich darauf einen gedämpften Schrei.

In der Wohnung der Alten ist etwas hingefallen. Kein Glas, es muss etwas Schweres gewesen sein. Ein Blumentopf oder eine Servierplatte. Ich gehe ins Schlafzimmer, lege das Ohr an die kühle Wand und höre, wie sie die Scherben zusammenkehrt und in den Mülleimer wirft.

Wir wohnen schon drei Jahre Wand an Wand, haben aber kaum je ein Wort gewechselt. «Schalom, schalom» im Treppenhaus, mehr nicht. Sie sieht immer grimmig und mürrisch aus, wie ein eingeschrumpfter grauer Vogel schnauft sie die Treppe herauf zu ihrer kleinen Wohnung. Morgens hört sie die Matinee im Klassiksender mit all den Nebengeräuschen ihres alten Transistorradios, und die Musik umspült unsere gemeinsame Wand, flutet durchs Fenster in mein Schlafzimmer und weckt mich. Einmal am Tag geht sie aus dem Haus, um einzukaufen oder Besorgungen zu machen, und dann höre ich, wie sie die Tür abschließt und mit dem Müllbeutel raschelt. Das sind ihre Geräusche. Sie machen ihre Existenz für mich aus. Das Scharren eines Stuhls, das Rascheln eines Müllbeutels, das Klicken des Türschlosses, die Musikmatinee.

Das Telefon klingelt wieder, und ich gehe aus dem Schlafzimmer in die Diele, doch bevor ich den Hörer abnehme, sehe ich den Zettel, den Gili mir hingelegt hat: «Guten Morgen, ich habe es nicht übers Herz gebracht, dich zu wecken. Ich komme nach der Arbeit, um meine Sachen abzuholen.» Das Klingeln des Telefons begleitet diese einfachen Worte des Abschieds, des Verzichts, der Zurückweisung in perfekter Orchestrierung, und ich hebe die Arme, dirigiere mit einem fiktiven Taktstock die Klangsymphonie, die mit einem Mal die Diele erfüllt und das Telefon auf dem kleinen Bambustisch, den Rivka und Ascher mir zum Einzug in meine Wohnung in der Schmarjahu-Levin-Straße gekauft haben, in Vibrationen versetzt.

 

Es ist schon spät, und dieser graue, zähflüssige Tag zerrinnt mir unter den Fingern, bevor ich mit Üben begonnen habe. Ich gehe wieder ins Schlafzimmer und hole einen schwarzen Pullover aus dem Schrank. Als ich in die Ärmel schlüpfe, höre ich die statische Elektrizität in den dünnen Fasern knistern. Ich setze mich aufs Bett, die Matratzenfedern ächzen leise, ich lasse den Kopf auf das fleckige Laken sinken und schließe die Augen.

Trotz allem haben wir gestern miteinander geschlafen, nach dem Omelett, dem Salat und dem Nachtisch, den sie aus dem Feinkostladen neben dem Reisebüro, wo sie arbeitet, mitgebracht hat. Ich stand mit dem Rücken zu ihr am Spülbecken, scheuerte mit wütender Energie das schmutzige Geschirr und erzählte aufgeregt, dass der japanische Solist, der Beethovens Violinkonzert mit den Israelischen Philharmonikern spielen sollte, wegen der Sicherheitslage abgesagt hat. Gili saß auf dem kleinen Stuhl am Küchentisch und faltete eine Papierserviette doppelt, vierfach und achtfach. Obwohl ich ihr den Rücken zuwandte, spürte ich, wie wenig meine Aufregung sie berührte, wie fremd und distanziert sie war. Was hätte es für einen Sinn? Würde es etwas ändern, wenn ich ihr dieses grausame Zusammentreffen widriger Umstände erklärte, die Absage des japanischen Solisten, die Leistenoperation des Konzertmeisters Schlomo Babajow, der sonst für ihn eingesprungen wäre, und die Tatsache, dass niemand außer mir den Solopart übernehmen kann? Doch sie war ganz woanders. Faltete Papierservietten doppelt, vierfach und achtfach. Saß auf dem kleinen Stuhl, schlug die Beine übereinander, spielte mit den Händen und schwieg. Sie schwieg nicht, um mich zu ärgern, sondern weil sie mir nichts zu sagen hatte, und ich hatte ihr auch nichts zu sagen, was sie nicht schon gehört hätte. Das war’s. Ein Kurzschluss. Es ging schnell zu Ende. Wie jede Geschichte, die eine Moral hat. Aus der ich auch diesmal etwas lernen kann. Durch die das Leben mir hier und jetzt Signale sendet: Halt! Denk nach! Hör zu!

«Hör mal, Dani», sagte sie nach langem Schweigen, und ihre kühle, belegte Stimme, die von weit her zu kommen schien, brach sich im Raum. Es regnete, und ich scheuerte und spülte und wischte und trocknete ab, und sie sagte: «Hör mal, Dani», und: «Komm, lass uns kein großes Theater machen, und kehr mir bitte nicht den Rücken zu, wenn ich mit dir rede.»

«Wie du meinst», sagte ich und drehte mich um, warf ihr einen munteren Blick zu, als sei nichts geschehen. Als geschehe auch in jenem Augenblick nichts. Sie lächelte verlegen und sagte, sie könne solche Momente nicht ausstehen, und fragte, ob ich Lust hätte, einen trinken zu gehen oder vielleicht ins Kino im Dizengoff-Center, und ich stürzte mich auf diesen Vorschlag, klatschte in die Hände, sagte, das sei eine glänzende Idee, trinken wir doch einen, holte schnell eine Flasche Wodka aus dem Gefrierfach, nahm heimlich einen Eiswürfel, und als ich die Flasche auf den Tisch stellte und Gili sich vorbeugte, ließ ich den Eiswürfel in den Schlitz zwischen ihrem Nacken und der Bluse gleiten. Gili fuhr wie von einer Feder geschnellt hoch, drehte sich um sich selbst, und einen Augenblick lang glich ihr sich windender, biegsamer Körper in der trüben Beleuchtung einem Violinschlüssel, der von ihren schwarzen Haaren, die über den im Schreck verkrampften Hals mit den hervorspringenden Sehnen herabfielen, der Länge nach durchschnitten wurde.

«Du mit deinen Spielchen», lachte sie einen Augenblick später, während ich den Orangensaft aus dem Kühlschrank holte und den Pappkarton schüttelte wie eine Rassel. Ich stellte zwei Gläser auf den Tisch und zog meinen ganzen Körper zu einem Lächeln zusammen. Es gab nichts mehr zu sagen. Draußen glänzten die Straßen zwischen zwei Gewitterschauern. Zuckende Blitze tauchten die Bäume, Autos und Fassaden in ein blendendes Röntgenlicht, das die Essenz, das Skelett, die Armseligkeit der Dinge bloßlegte, und dann kam der Donner wie ein ferner Paukenschlag, gefolgt von einem zweiten, noch stärkeren Donnerschlag, der wie eine Explosion klang und die Fensterscheiben zum Klirren brachte, als spielte er auf ihnen Xylophon.

Wir tranken. Gili trug einen dünnen gestreiften Pulli, ihre Brustwarzen zeichneten sich zwischen den Streifen ab wie zwei Noten auf einer Linie, die beiden ersten Töne einer Partitur, die im Entstehen begriffen war. «Guck mich nicht so an», bat sie, wurde plötzlich rot, senkte den Kopf, ihr Haar fiel über ihr Gesicht und stand zwischen uns auf dem Tisch wie ein erstarrter Wasserfall. Ich legte ihr eine Hand auf die Wange, sie wich zurück, ließ den Kopf um den Hals kreisen, sagte: «Ich muss noch duschen», und stand auf. «Das Wasser ist kochend heiß», sagte ich, und der Regen fiel in schrägen Bahnen und trommelte verbissen auf die Blechplatte der Klimaanlage und die Fensterscheiben. Und wieder ein Blitz, der die Straße bis auf die Knochen durchleuchtete. Gili glitt auf Strümpfen ins Bad, ich hörte das Wasser laufen, setzte die Wodkaflasche an den Mund, verschluckte mich und hustete, bis mir die Augen tränten. Ich stand auf, um mir das Gesicht zu waschen, doch kaum hatte ich das kalte Wasser aufgedreht, als Gili aufschrie.

Ich riss die Badezimmertür auf. Sie stand nackt in der Wanne mit der abgeplatzten Emailleschicht, fuhr erschrocken zusammen und verbarg mit einer Hand ihre Scham, mit der anderen ihre Brüste, während der Duschkopf, den sie unter den Arm geklemmt hatte, den Boden vollspritzte. «Ist schon okay», murmelte sie, und ich schloss hastig die Tür und fragte von draußen: «Was war denn?», und sie sagte, das Wasser sei plötzlich so heiß geworden, dass sie sich fast verbrüht hätte, außerdem sei ihr ein bisschen schwindlig von dem Wodka.

Trotzdem haben wir gestern miteinander geschlafen, nach dem Omelett und dem Salat und der Käsetorte, die sie zum Nachtisch mitgebracht hatte, nachdem ich in ihre Intimität eingebrochen war, sie in ihrer Nacktheit überrascht hatte, die sie zu verbergen suchte, nachdem ich das Licht im Schlafzimmer ausgemacht und die Klimaanlage wärmer gestellt und die Wohnzimmerbeleuchtung gedämpft und mich aufs Sofa gesetzt hatte, um auf sie zu warten. Nach alldem haben wir miteinander geschlafen. Sie kam aus dem Bad und ging ins Schlafzimmer, und ich hörte vom Sofa aus, wie sie in ihrer Tasche wühlte und das CD-Fach der kleinen Stereoanlage im Schlafzimmer aufspringen ließ und eine CD einlegte, und als weiche Flötenklänge, verwoben mit Walfischstimmen, ertönten, rief sie: «Dani, du kannst kommen.»

 

Ich schlief ein. Dass ich eingeschlafen bin, weiß ich nur, weil ich mit einem Mal aufwache. In der Stille des Zimmers höre ich meine regelmäßigen, tiefen Atemzüge. Ein leichtes Kopfweh tickt wie ein Metronom in meinen Schläfen. Gerade jetzt, da ich meine Kräfte brauche, fühle ich eine Schwere auf mir lasten.

Trotzdem stehe ich mit einem Schwung auf, reiße entschlossen das Fenster auf, lasse mich vom Morgenwind, den mikroskopisch kleinen Regentropfen, dem Piepsignal des rückwärtsfahrenden Lastwagens einhüllen. Ich ziehe mit raschen Bewegungen das Bett ab, umarme das Wäschebündel und stopfe es in den Korb neben dem Fenster. Dann breite ich ein frisches Laken über die nackte Matratze, beziehe die Decke und das Kissen, hebe meine Unterhose vom Boden auf und werfe sie zielsicher mitten in den Korb. Auf der Kommode ruht schweigend die Stradivari in ihrem rechteckigen Kasten. Doch ich bin noch nicht in der Stimmung, um mit dem Üben zu beginnen. Ich gehe in die Küche, spüle die Gläser von gestern, ziehe im Wohnzimmer die Rollläden hoch, öffne die Glastür und trete auf den Balkon hinaus.

Kalt heute. Der Regen lässt nach, doch alles tropft und rieselt. Ich könnte den ganzen Tag so dastehen und auf die Straße sehen, wo sich alles wie in weiter Ferne, gedämpft, fast heimlich abzuspielen scheint. Aber die Zeit drängt, und ich habe immer noch nicht zu üben begonnen.

Also los. Ich schließe die Balkontür, gehe ins Schlafzimmer, fühle, wie etwas in mir aufflammt und erglüht, plötzlich huste ich, ich stehe in der Diele, konzentriere mich, spüre, wie mein Gesicht sich spannt und streckt, ich schwinge die Arme empor, schließe die Augen, lausche der Musik vor der Musik, dem ewig stummen Rhythmus, der in mir pulsiert, bevor die erste Note ertönt. Dann senke ich die Arme bis in Augenhöhe, zeichne zwei symmetrische Kreise in die Luft, wie ein Dirigent, bevor er den Einsatz gibt, bevor das Ta-ta-ta-tam der Fünften von Beethoven ertönt, lausche dem präzisen, diskreten Timing der Pausen zwischen einer Note und der nächsten, das viele Dirigenten nicht richtig beherrschen und deshalb die Symphonie gleich zu Anfang verhunzen – und gehe federnden Schrittes, einen imaginären Taktstock schwingend, ins Schlafzimmer, öffne den Geigenkasten und nehme die Geige heraus.

 

Ich übe im Wohnzimmer. Auf dem Notenständer liegt das Skalensystem von Carl Flesch, und ich blättere, bis ich eine D-Dur-Tonleiter finde, die Tonleiter von Beethovens Violinkonzert, das ich schon heute Nachmittag in Angriff nehmen will. Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich weiter Tonleitern üben, um den Klang zu läutern und mich an den Fingersatz zu gewöhnen. Doch ich habe nicht viel Zeit, es ist jetzt schon zu spät. Das Konzert ist am Schabbat, und ich habe noch nicht einmal begonnen, meinen Einsatz nach den fünf langen Minuten zu üben, in denen das Orchester die Themen anspielt und verklingen lässt, bis die Geige allein, ohne Aufwärmen, transparent von Anbeginn, die erste Note spielt und danach die ersten zwölf Takte des Soloparts, die Heifetz «den Schrecken jedes Geigers» genannt hat. Dieses Konzert hat symphonischen Charakter, im Gegensatz zu Beethovens Klavierkonzerten, in denen das Klavier als unabhängiges Instrument dominiert. Hier wächst die Geige aus dem Orchester heraus, «wie Fleisch von seinem Fleische», pflegte Frau Schiller zu sagen, die einzige Geigenlehrerin, die ich je hatte.

Sie wohnte in Holon, im zweiten Stock, in einer Wohnung, die auf die Ussischkinstraße hinausging. An der Ecke gab es einen Taxistand, wo die Fahrer herumstanden und rauchten und lachten oder über einen niedrigen Tisch gebeugt Backgammon spielten. Nach der Geigenstunde ging ich von Frau Schillers Wohnung zur Straßenecke und wartete geduldig, bis jemand auf mich aufmerksam wurde, und fragte: «Wer bringt die Geige nach Ramat-Gan?» Dann meldete sich einer der Fahrer und ging zu seinem Taxi, und ich setzte mich auf den Rücksitz, und als ich nach einigen Monaten schon alle Fahrer beim Namen kannte, setzte ich mich nach vorn neben Itzik oder Menasche oder Sasson, die mir immer frei und ungezwungen und lustig und selbstzufrieden erschienen – Menschen ohne Geige.

Als ich das erste Mal zu Frau Schiller fuhr, versuchte Ascher, den blauen Opel zwischen zwei parkende Wagen zu quetschen, fuhrwerkte mit dem Lenkrad herum, kämpfte mit den Pedalen, stöhnte, murmelte vor sich hin, wurde immer nervöser und fuhr schließlich das Auto an, das hinter uns stand. Ich hörte das Zersplittern des Scheinwerfers, als explodierte er in meinem Kopf, Ascher erschrak und trat auf alle Pedale zugleich, die Umdrehungsanzeige sprang auf Rot, der Motor heulte auf, gab die ersten Takte des «Bienentanzes» von sich und verstummte. Die Taxifahrer wurden aufmerksam, Ascher befahl mir, im Auto sitzen zu bleiben, und stieg aus, um den Schaden zu begutachten. Ich saß angeschnallt auf der Rückbank, umarmte meine Geige und hoffte, dass unser Treffen mit Frau Schiller, deren Namen Ascher mit ehrfürchtig gesenkter Stimme und einem unwillkürlichen Augenzucken aussprach, weil sie alle berühmten Geiger unterrichtet hatte, wegen des kleinen Unfalls ausfallen würde.

Er bückte sich, um den kaputten Scheinwerfer zu untersuchen, die Taxifahrer kamen beängstigend langsam auf uns zu, Ascher lächelte mich an, spreizte seine Hände wie zwei Halteschilder und gab mir einen Wink, im Auto zu bleiben. Er stand da wie ein konfuser Clown, lachte mit den Taxifahrern, die sich um die Scherben des Scheinwerfers scharten, schrieb seine Daten auf ein Stück Papier und steckte es feierlich und stolz als erwiesen anständiger Bürger unter den Scheibenwischer des beschädigten Wagens, öffnete mir die Autotür und sagte: «Siehst du, Dani, ist gar nichts passiert», schloss die Tür, drückte den Taxifahrern die Hand, wartete noch ein Weilchen, bis sie weg waren, und als sein Atem ruhiger ging, barg er einen Moment das Gesicht in den Händen, streckte sich, als ob er gerade aus einem langen Schlaf erwacht sei, wandte sich zu mir und lächelte erleichtert, als sei wirklich nichts passiert.

Während wir die Treppe hinaufgingen, hielt er meine rechte Hand, schnaufte wie ein schweres Tier, war aufgeregt, verwirrt, um vierzig Lebensjahre von mir entfernt. Frau Schiller öffnete die Tür, Ascher verbeugte sich linkisch, sagte zu mir: «Geh nur hinein, genier dich nicht», ich trat ein, und er strich mir übers Haar, und als Frau Schiller fragte, ob wir etwas trinken wollten, lehnte er ab: «Nein danke, wir haben etwas getrunken, bevor wir losgefahren sind», obwohl wir beide vor Aufregung durstig waren.

Wir nahmen im Wohnzimmer Platz, ich senkte den Blick auf Frau Schillers rötlich leuchtenden Teppich, um nicht auf die Miniaturensammlung zu starren, die mir gegenüber auf der Kommode stand, lauschte dem unaufhaltsamen Wortschwall, der Aschers Mund entströmte, während er, auf der Sofakante sitzend, meine Begabung, meine Liebe zum Instrument, meine Disziplin und die große Zukunft pries, die mir seiner Meinung nach beschieden war. Frau Schiller hörte geduldig zu und bot uns nochmals etwas zu trinken an, Ascher ließ sich umstimmen und bat um Wasser, ich sagte, dass mir Saft lieber wäre, und als sie in die Küche ging, fuhr er mir wieder durchs Haar und sah hochzufrieden aus, obwohl noch gar nichts passiert war.

Wir tranken, und Frau Schiller schob mit einer müden, routinierten Bewegung die dicke Brille hoch, die ihr bis zur Nasenmitte heruntergerutscht war, schlug ein zerfleddertes Heft auf, blätterte darin, sah erst mich und dann Ascher an und sagte: «Nächsten Mittwoch, den achtzehnten, von vier bis sechs, passt Ihnen das?» Ascher stammelte: «Aber sicher passt uns das», Frau Schiller erhob sich mit einem matten Lächeln, worauf Ascher vom Sofa aufsprang und sie mit höflichen Abschiedsworten überschüttete, bis die Tür hinter uns ins Schloss fiel. Wir gingen hinunter und stiegen ins Auto, und nachdem er es aus der Parklücke manövriert hatte, fing er an zu reden und konnte sich gar nicht beruhigen, weil sie mich nicht einmal aufgefordert hatte, ihr etwas vorzuspielen. Während der Fahrt nach Ramat-Gan entwickelte er verschiedene Theorien über diesen Punkt, die sich zunehmend in seinem Kopf verwirrten. Am Abend hörte ich, wie er Rivka die Einzelheiten seines kleinen Unfalls «bei dem verflixten Einparkmanöver genau unter dem Fenster dieser komischen Frau Schiller» schilderte und die Selbstbeteiligung überschlug, die ihn dieser Spaß kosten würde, und den Aufschlag auf die Versicherungsprämie und so weiter und so fort, und wie Rivka ihn drängte, alles zu berechnen und nachzuprüfen, weil das Geld nicht auf Bäumen wachse, und wie sie darüber diskutierten, ob sie um diese Zeit noch die Versicherung anrufen sollten, die vielleicht so etwas wie einen Bereitschaftsdienst hatte, oder ob es ratsam sei, bis zum nächsten Morgen zu warten und die Sache ordnungsgemäß abzuwickeln, wie Ascher vorschlug. Dann klingelte das Telefon, und Ascher murmelte besorgt: «Das ist sicher der Autobesitzer», und nahm schnell ab und sagte in erstauntem Ton: «Guten Abend, Frau Schiller», und ich sah im Geiste Rivka vor mir, die sich in Momenten der Spannung immer ihre Hand mit den bläulich hervortretenden Adern vor den Mund hält. Ich lag mit offenen Augen im Bett und bemühte mich nach Kräften, die Gesprächsfetzen aus der Küche zu verstehen, die sich mit anderen Stimmen und Geräuschen mischten, und schloss aus Aschers Ausruf «Du lieber Gott!», den ich deutlich verstanden hatte, und dem Schwall seiner Entschuldigungen, der in der Küche verebbte und schwerer wog als die übrigen Worte, dass er das Auto der Geigenlehrerin angefahren hatte, und ich spürte, wie aus den Tiefen seiner Seele eine trübe Flut in ihm emporschwappte, die der ersten Welle einer Überschwemmung glich.

 

Trotzdem sitzen wir am Mittwoch alle drei wie geplant in dem reparierten Opel und fahren zu Frau Schiller nach Holon. Ich gucke aus dem Fenster und versuche, mir bestimmte Wegmerkmale einzuprägen, um mich von der Prüfung abzulenken, die mir bevorsteht, und doch stehlen sich durch ein Hintertürchen meines Gehirns immer wieder die Etüden, die Ascher für mich ausgesucht hat und die ich eine Woche lang wie besessen geübt habe, was sich nachher als völliger Unsinn herausstellte, weil mein Repertoire Frau Schiller gar nicht interessierte – und als ich endlich vor ihr stand, nachdem Rivka und Ascher mich an der Haustür abgesetzt hatten und weitergefahren waren, um in einem Café auf mich zu warten, weil Frau Schiller mir «ungestört» zuhören wollte, ließ sie mich gar nicht spielen, sondern interessierte sich für mich, nur für mich, ohne die Geige, solo, und fragte mich, warum ich spiele und warum ich ausgerechnet Geige spiele und ob noch jemand in der Familie ein Instrument spielt und was ich gern spiele und was nicht, mit welchem Violinisten ich mich identifiziere und warum. Ich beantwortete alle Fragen, doch ich wich ihren Augen aus, die durch die Brillengläser in dem weißen Rahmen größer erschienen. Sie ging in die Küche, um uns einen Saft mit Sprudelwasser zu mixen, und ich hörte ihren Siphon zischen und dann ihre klare, durch ihren Akzent leicht entstellte Stimme, die aus der Küche rief: «Dani, du kannst schon anfangen, Tonleitern zu üben.» Ich holte die Geige hervor und fing an, eine Tonleiter auf einer Saite zu spielen, meine kalten, schweißfeuchten Finger schmierten die Töne über ihr ganzes Wohnzimmer, und als sie aus der Küche kam, spielte ich gebrochene Terzen und gleich danach gebrochene Akkorde, und sie stellte die Gläser mit dem Saft auf den Tisch und sagte: «Nu, warum so eilig, du zerdrejter, trink erst mal deinen Saft.»

Doch ich verzichtete auf den Saft und fragte, ob ich gleich mit dem Vorspielen anfangen könnte, und sie sagte lachend: «Hier gibt es kein Vorspielen», und forderte mich auf, weiter Tonleitern zu spielen, und nach zehn Minuten Tonleitern sagte sie wie zu sich selbst: «Du hast spät angefangen mit dem Geigespielen», legte ihre fast durchsichtige Hand auf meine Linke, die das Griffbrett nicht losließ, korrigierte meine Fingerhaltung und bat mich, die Tonleiter noch einmal zu spielen, und unterbrach mich mittendrin und machte mich wieder auf die Fingerhaltung aufmerksam, und so ging es drei Monate lang, ich liebte diese Stunden, ich zählte die Tage bis zum ersehnten Mittwoch, an dem ich allein mit dem Taxi zu Frau Schiller fahren durfte, um Tonleitern zu spielen. Tonleitern, Tonleitern und nochmal Tonleitern, das war das Rezept, das war die Methode, und sie lässt sich nicht abkürzen, auch wenn man ein Genie ist. Der Körper muss sich an die Positionen gewöhnen, die Finger treffen die Saiten da, wo das Denken aufhört, sie gehen in den Fingersätzen auf, finden den richtigen Platz auf der Saite automatisch, unbewusst, aus sich heraus, und ebenso die richtige Haltung des Bogens, den Druck, den die Hand auf ihn ausübt, die Stelle, wo der Bogen die Saite berührt, die Geläufigkeit, mit der der Bogen über die Saiten springt, all das muss achtlos, fließend, wie von selbst geschehen, wie das An- und Ausziehen oder der Liebesakt, natürlich und selbstverständlich, um die Basis zu schaffen, auf der die Interpretation sich entfalten kann. «Geigespielen ist in erster Linie Technik und erst in zweiter Linie Kolorit, die Geige muss zuerst ein Teil deines Körpers werden und erst dann ein Teil des Orchesterkörpers», sagte Frau Schiller mit ernster Miene und paukte mir ihr Credo ein, noch einmal und noch einmal, bis die Armmuskeln schmerzten und die Finger sich verkrampften. Und wenn ich heute in meinem Wohnzimmer stehe und die Stradivari hervorhole, die das Orchester mir für dieses Konzert geliehen hat, denke ich dankbaren Herzens an Frau Schiller, die mir mit ihren Tonleitern die Technik eingebläut hat, denn die Technik ist alles, was ich vorzuweisen habe, wenn ich morgen um halb elf zur Orchesterprobe antrete.

 

Viel Zeit habe ich nicht. Oder eigentlich gar keine. Genau das sagte ich Baruch Talmor, dem Vorsitzenden des Orchesterbetriebsrats, als er mich am Sonntag anrief und mir berichtete, der japanische Solist habe wegen der Sicherheitslage seinen Auftritt abgesagt, und Babajow, der Konzertmeister, müsse sich am Donnerstag einer Leistenbruchoperation unterziehen, sodass niemand übrig bliebe, um den Solopart zu übernehmen, und dann entschuldigte er sich und hustete zweimal heftig, so unvermeidlich wie das Husten des Publikums, und fragte: «Bist du noch dran, Schulmann?»

Elf Jahre spiele ich mit den Philharmonikern, aber ich bin noch nie als Solist aufgetreten. Ich habe mich nie intern beworben, und auch als ich etwa ein Jahr nach meiner Aufnahme ins Orchester zum Ersten Geiger avancierte, musste ich mich keiner Prüfung unterziehen. Man schlug mir einfach vor, Erste Geige zu spielen, und ich nahm an. Als man mir anbot, Solo zu spielen, weigerte ich mich. Und ich blieb bei meiner Weigerung. Ab und zu kam man wieder darauf zurück, doch ich war nicht bereit, dieses Thema weiter zu erörtern, geschweige denn, meine Entscheidung zu begründen, ich sagte nur: «Ich verzichte», und tat es dann auch. Es gab Kollegen, die das nicht gerne sahen, und andere, die froh waren, dass ich ihnen keine Konkurrenz machte, und wieder andere, die mich beneideten, weil ich offenbar kein Bedürfnis hatte, Solist zu werden. Und dann plötzlich dieser Anruf. Und die Absage. Und Babajows Operation. Und vom anderen Ende der Leitung irgendwo in seinem schäbigen Büro im Mann-Auditorium Baruch Talmors üppige, saftige Stimme: «Bist du noch dran, Schulmann?», und ich fasste mich schnell und sagte mechanisch: «Aber Talmor, so kurzfristig geht das nicht.»

«Ich weiß, Schulmann, aber ich bitte dich trotzdem, das Solo zu übernehmen», sagte Baruch Talmor leise, wobei er das «trotzdem» betonte, und ich hielt den Hörer zwischen Kinn und Schulter, faltete die Hände und presste sie fest gegeneinander, und er spürte das Zögern in meinem Schweigen und sagte rasch: «Gib dir einen Ruck, Schulmann, nur dieses eine Mal, was kann schon passieren, du kriegst auch die Stradivari vom Orchester, und ich helfe dir, einen konzentrierten Übungsplan zu erstellen, ich habe mich sogar mit Zubin Mehta beraten, und er findet die Idee ausgezeichnet, und wenn du noch heute, sofort, nach diesem Gespräch zu üben beginnst, ist nicht einzusehen, warum du am Schabbat nicht fit sein solltest, trotz der kurzen Zeit, und übrigens, wenn du den Part nicht übernimmst, habe ich keine Alternative, Schulmann, du weißt doch, dass ich dich sonst nicht anrufen würde», und während dieser Wortschwall aus dem Hörer auf mich einströmte, ertönten in meinem Kopf vier dumpfe, rhythmische, schmerzhaft vibrierende Paukenschläge, bum, bum, bum, bum, die ersten vier Noten des Beethoven-Violinkonzerts, und danach baute sich, vom ersten Ton an vollendet, das Thema auf, das Baruch Talmor mit seinem hartnäckigen Husten und der Frage unterbrach, ob ich noch am Apparat sei, und ich antwortete: «Weißt du was, Baruch, ich werd’s versuchen.»

Und jetzt stehe ich im Wohnzimmer vor dem Notenständer und den verdammten Tonleitern, draußen regnet es wieder, und ich wische die Stradivari mit einem trockenen Lappen ab, lege sie ans Kinn, probiere sie an wie ein Kleidungsstück und beginne, darauf zu spielen, mich im Einklang mit ihr zu bewegen, um sie dann völlig zu vergessen. Und dazu der gleichgültige Regen, ein dräuender Himmel, graues, dunstiges Licht. Auf der Straße Hupen, Motorenbrummen, das Poltern von Steinen, die beim Umbau einer Wohnung in der Sapirstraße durch eine Schuttrutsche in den Container fallen. Zwei heftige Windstöße, der Regen prasselt gegen die Scheiben, aus den Dachrinnen strömt das Wasser, und es ist Zeit, mit dem Üben zu beginnen. Ich spanne den Bogen, atme tief, lausche der Stille, die sich in der Wohnung ausbreitet, der abgekapselten, alles ausblendenden Stille, und höre wie aus weiter Ferne, erst allmählich in mein Bewusstsein vordringend, die Türklingel.

Und dann habe ich das Gefühl, dass alles gleichzeitig auf mich einstürzt. Ich packe schnell die Geige in den Kasten, lege sie vorsichtig aufs Sofa, klappe das Skalensystem zu, gehe zur Tür, werfe einen Blick auf die grün blinkende Digitaluhr neben dem Telefon und bin beruhigt, weil ich einen Augenblick lang dachte, es sei schon Mittag und Gili stehe vor der Tür.

Erst zwanzig nach zehn. Eigentlich wollte ich um diese Zeit schon so weit sein, dass meine Hände mühelos die Geige meistern, dass mein ganzer Körper auf die Kadenz eingestimmt ist, die ich mir für den Nachmittag vorgenommen habe. Dieser Gedanke erschreckt mich so, dass ich beinahe vergessen hätte, durchs Guckloch zu spähen, bevor ich die Tür öffne.

Aber der Instinkt ist stärker, wie bei den Fingergriffen auf der Geige. Ich gucke durch den Spion, und als ich meine verhutzelte alte Nachbarin als optisch verzerrte Miniatur vor dem gelblichen Hintergrund des Treppenhauses stehen sehe, mache ich die Tür weit auf, ohne vorher die Sicherheitskette einzuhängen.