Zwischen Ende und Anfang - Emma Marten - E-Book

Zwischen Ende und Anfang E-Book

Emma Marten

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Beschreibung

Der dritte und finale Band der Dazwischen-Trilogie Geeint in Dunkelheit, um den Tod zu überwinden. Wieder eine Gefangene. Diesmal bis in alle Ewigkeit. Selena will sich ihrem Schicksal nicht ergeben und kämpft. Dabei erhält sie auf unerwartete Weise Hilfe - von Raedans Schatten. Aber die müssten wie Raedan tot sein. Ist Raedan womöglich noch am Leben? Um ihn zu finden, riskiert sie alles. Doch nicht nur Selenas und Raedans Leben stehen auf dem Spiel, auch das Überleben von Schwarz und Weiß und das ihrer Freunde. Wie viel ist Selena noch bereit zu opfern, um die zu schützen, die sie liebt?

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Für diejenigen, die ihren Mut gefunden haben.

Und für diejenigen, die ihn sich Stück für Stück erkämpfen.

Ihr könnt alles erreichen, was ihr möchtet.

Denn Mut ist nicht die Abwesenheit von Angst.

Erst durch Angst wird Mut sichtbar.

Inhaltsverzeichnis

RAEDAN

SELENA

RAEDAN

SILBER

SELENA

SILBER

SELENA

SELENA

SILBER

RAEDAN

SELENA

SILBER

LYN

RAEDAN

SELENA

JAERY

SELENA

SILBER

RAEDAN

SELENA

SILBER

SELENA

SELENA

LYN

SELENA

SILBER

SELENA

SILBER

SELENA

RAEDAN

SELENA

SILBER

SELENA

LOVEN

SILBER

SELENA

RAEDAN

LOVEN

SELENA

SILBER

SELENA

VIKTORIA

TOD

SELENA

SELENA

LOVEN

SELENA

SELENA

RAEDAN

EIN OPFER FÜR EIN OPFER.

Ich fühle eine Hand auf meiner Schulter. Hauchzart und gleichzeitig unglaublich stark. Meine Augen kann ich noch nicht öffnen, die Lider wiegen Tonnen. Gedankenbilder treiben in der Dunkelheit. Selenas verängstigtes Gesicht, als ich auf sie zu stürme. Der Thronsaal, der um uns herum zusammenfällt. Chaos‘ Kraft, die gegen meine peitscht. Mich zwingen will, das schwache Mädchen loszulassen.

Ich stürze mich auf Chaos. Unsere rohe Magie prallt aufeinander, reißt eine Schneise, wo das Mädchen steht. Ich darf sie nicht gefährden. Chaos’ Macht ballt sich hinter ihm zusammen. Mit meiner letzten Kraft löse ich sie auf und falle auf die Knie.

Ihre Augen sind weit aufgerissen. Sie betteln mich an, mich zu wehren. Aber ich habe keine Kraft mehr, sie zu beschützen. Die Wahl war einfach und hat mich doch überrascht. Sterblich. Unsterblich. Ich oder sie.

Kurz bevor die Dolchspitze meine Haut berührt, weiß ich den Namen des Mädchens wieder.

»Selena«, flüstere ich.

»Nicht ganz«, antwortet eine fremde Stimme.

Meine Lider fliegen auf. Vor mir hockt eine junge Frau. Ihre Augen glühen wie das Dazwischen, ihre Haare sind ein Kunstwerk aus unterschiedlichen Blautönen. Ihre Haut ist gebräunt, als wäre sie oft in der Sonne. Stammt sie aus Weiß?

Sie erhebt sich und entfernt sich einige Schritte von mir. Schwerfällig setze ich mich auf. Meine Knochen fühlen sich zu schwer an, meine Muskeln brennen. Mein Magen ist ein leeres Loch. Ich versuche, meine Gestalt aufzugeben, mich dadurch zu heilen, aber ich schaffe es nicht. Ich finde nicht einmal den Punkt, wo mein körperliches Ich in mein unsterbliches Ich übergeht.

Wo bin ich? Vielleicht kann ich mich deswegen nicht verwandeln.

Ich sitze auf solidem Stein, der eine orangerötliche Färbung aufweist. Mehrere Säulengänge führen zu einem großen Gebäude, aus demselben Stein. Es ist kein Ort in Schwarz und Weiß, den ich kenne. Wo bin ich?

Mühsam stehe ich auf, wende mich der jungen Frau zu – und zucke zurück. Das Dazwischen glüht nur wenige Handbreit von mir entfernt. Es wölbt sich wie eine Blase nach oben und bildet einen blauglühenden Himmel. Die junge Frau steht auf dem Steg, der vom Dazwischen verschluckt ist. Ihre Haare wirbeln um ihren Kopf.

Wie kann sie …? Sie muss erfrieren? Ersticken?

Die Frau sieht mich an, lächelt traurig und kommt auf mich zu. Sie passiert die Barriere, die das Dazwischen zurückhält, als bestünde sie bloß aus Luft. Ihre Kleidung und ihre Haare sind vollkommen trocken.

Was geht hier vor sich?

»Du musst in die andere Richtung gehen.« Sie schaut über meine Schulter auf die parallel verlaufenden Säulengänge.

»Wo bin ich?« Meine Stimme klingt heiser, als hätte ich sie lange Zeit nicht benutzt.

»Du bist in Anfang.« Sie zuckt die Schultern. »Oder in Ende, so, wie du es sehen möchtest. Vielleicht kannst du aus deinem Ende einen Anfang machen.«

»Was?«, frage ich verwirrt.

Sie lächelt traurig. »Ich bin nicht die Richtige, um dir das zu erklären. Geh zu den großen Türen, sie werden sich für dich öffnen.«

»Was ist dahinter?«

»Antworten.« Sie wendet sich um.

Meine Hand schießt vor und packt ihren nackten Oberarm. Ihre Haut ist eiskalt, erschrocken zucke ich zurück.

Sie dreht mir ihr Gesicht zu, eine nachdenkliche Falte zwischen den Augenbrauen. »Pass auf dich auf, Raedan. Ende und Anfang sind nicht, was sie zu sein scheinen.«

Damit tritt sie ins Dazwischen und löst sich vor meinen Augen auf.

Einen Moment starre ich noch auf den Punkt, an dem sie verschwunden ist, dann drehe ich mich um. Es hat keinen Sinn, meinen nächsten Schritt hinauszuzögern. Obwohl jede Bewegung schmerzt, laufe ich auf die zweiflügeligen Tore, die sich meilenweit in die Höhe erstrecken, zu. Wenn sie sich nicht durch Magie öffnen, werde ich die wohl kaum aufbekommen.

Ich mache nur ein paar Schritte in einem der Säulengänge und stehe unvermittelt vor den Toren. Nur leicht lege ich meine Finger auf das Holz. Sofort öffnet sich der Flügel lautlos nach innen. Dahinter erwartet mich vollkommene Dunkelheit, die selbst das Glühen des Dazwischens nicht erhellen kann. Ein Gefühl fließt wie eiskaltes Wasser durch meine Adern, lässt mich zögern. Angst, begreife ich nach einem Moment. Wann habe ich das letzte Mal Angst empfunden? Als Selenas Zimmer leer war? Als meine Schwester sterben sollte? Als Jaery verletzt wurde? Ich erinnere mich nicht.

Ich atme tief durch und laufe vorsichtig durch die Dunkelheit. Es gibt keine Orientierungspunkte, als bestünde dieser Ort nur aus Boden und vollkommener Schwärze.

»Wir haben dich erwartet«, donnern zwei Stimmen, eine männlich, eine weiblich, durch die Dunkelheit.

Gelähmt bleibe ich stehen. Mein Herz hämmert gegen meinen Brustkorb. Ich balle meine Hände zu Fäusten, aber gegen die Panik in meinem Inneren hilft das wenig.

Ich muss keine Angst haben. Ich bin Tod.

Aber eine leise Stimme in meinem Herzen widerspricht. Tod wäre nicht hier. Tod wäre in Schwarz, wo er hingehört.

Die Dunkelheit weicht wie eine Wasserwelle vor mir zurück, hinterlässt reinweißes Licht. Enthüllt mehr und mehr rötlichen Stein und Vertiefungen auf dem Boden, die offenbar ein riesiges Muster darstellen. Dann prallt die Dunkelheit gegen ein Hindernis und löst sich auf. Fackeln entzünden sich an den Wänden. Glühendes blaues Licht scheint durch eine gewölbte Glasdecke. Ich drehe mich, um die Gewaltigkeit dieser Halle in mich aufzunehmen. Dagegen wirkt mein Thronsaal winzig. Breite, runde Säulen ragen aus der Wand hervor, alle im Abstand von etwa vierzig Schritten. An der Decke gehen sie nahtlos in Bögen über, die sich in der Mitte der Glaskuppel treffen.

Mein Blick bleibt an einem Thron hängen, der aus dem gleichen rötlichen Stein gefertigt ist und aussieht, als wäre er vom Dazwischen selbst geformt worden. Darauf sitzt ein Mann mit blassem Gesicht und kahlgeschorenem Schädel. Er trägt wallende Kleidung in der gleichen Farbe wie das Dazwischen. Seinen Gesichtsausdruck kann ich nicht deuten, er ist zu weit entfernt. Aber ich sehe, wie er Zeigefinger und Daumen aneinanderlegt.

Im nächsten Moment stehe ich nur ein paar Schritte von ihm entfernt. Ich bleibe auf den Füßen, obwohl sich der Raum um mich dreht und ein komisches Gefühl in meinem Magen drückt.

»Willkommen in Ende und Anfang, Tod.«

Der Mann fixiert mich mit seinen blauglühenden Augen. Sein Gesicht ist scharf geschnitten, als wäre es aus Stein gemeißelt.

»Oder soll ich dich besser Raedan nennen? Diesen Namen hast du dir selbst gegeben, nicht?«

»Wer bist du?« Er ist zweifellos ein Unsterblicher, aber keiner, den ich kenne.

»Anfang.« Er löst den starren Blick nicht von mir. Blinzelt er je?

Ich straffe die Schultern. »Was ist das hier?«

»Dein Neuanfang«, antwortet er kryptisch. »Durch ein Opfer entsteht ein Riss in Schicksals Gefüge, ein Schlupfloch. All diejenigen, die sich für jemanden opfern, erhalten eine zweite Chance im Leben. Eine Chance auf Erfüllung des sehnsüchtigen Wunsches.« Er legt den Kopf leicht schräg. »Du müsstest die Auswirkungen deines sehnlichsten Wunsches bereits spüren.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest«, sage ich abweisend.

Anfang lächelt, als hätte er es mit einem trotzigen Kind zu tun. »Das Gefühl in deinem Magen nennt man gemeinhin Hunger, deine Erschöpfung ist die Last eines sterblichen Körpers, der sehr lange nicht mehr geschlafen hat, das Brennen deiner Muskeln resultiert aus einer Überanstrengung. Menschlich sein, Raedan. Deinen innersten Wunsch konnten wir dir leicht erfüllen.«

Menschlich. In Gedanken wiederhole ich immer wieder dieses Wort, das für mich unerreichbar war. Menschlich. Unmöglich!

»Wieso bin ich hier? Bring mich sofort zurück!«

»Du bist hier, weil dein Opfer ein Schlupfloch geschaffen hat. Unsterbliche, die sich für Sterbliche opfern.« Anfang schüttelt den Kopf, als halte er es für Schwachsinn.

Wut frisst sich roh und ungebremst durch meine Adern. Selena zu beschützen, war kein Irrsinn. Sie ist geblieben, sie hat meiner Schwester ihre Seele zurückgegeben. Sie hat Jaery gerettet.

Eine Erinnerung drängt sich nach vorne, aber nicht die, die ich erwartet habe. Selena schwebend im Dazwischen, kurz davor, von Seelengeistern verwandelt zu werden. Meinen Namen auf den Lippen. Ihr Schrei raste durch meine Adern, setzte meinen Körper in Brand. Ihr Gewicht in meinen Armen, als ich sie in ihr Zimmer trug. Ihr regloses Gesicht, als sie Livs Seele stahl. Die Hände zerschnitten und blutig. Ihre Schwäche, weil Livs Seele sie von innen aushöhlte. Ihr Kampfgeist, als sie sich bloß mit einer blutigen Scherbe als Waffe auf Chaos stürzte.

»Interessant«, sagt Anfang und reißt mich wieder in die Wirklichkeit zurück. »Also trügt mich meine Vorahnung nicht.«

»Komm zum Punkt!«

Er zuckt mit keiner Wimper. »Unsterbliche fühlen nicht wie Sterbliche. Wenn überhaupt, sind ihre Empfindungen nur eine Ahnung, ein Hauch. Aber jetzt. Jetzt fühlst du. Und hinter deinem Zorn und deiner Angst …«

»Ich habe keine Angst!« Ich balle die Hände zu Fäusten. Mich auf ihn zu stürzen, wäre wahnsinnig. Aber ich hätte nicht übel Lust, ihm diese Geringschätzung aus dem Gesicht zu prügeln. Für wen hält er sich?

»Natürlich hast du Angst. Jeder Sterbliche hat Angst«, sagt eine Frauenstimme, die genauso machtvoll und emotionslos klingt wie Anfangs.

Ich fahre herum, aber hinter mir steht niemand. Ist die Unsterbliche gestaltlos? Langsam drehe ich mich wieder um, versuche, die Wut zu bändigen. Ein Kampf bringt mich nicht zurück zu Selena, und in der Verfassung schneller ins Grab, als mir lieb ist.

»Wer ist noch hier?«

Anfang lächelt, dann erhebt er sich. Eine Welle von Macht brandet gegen mich, aber ich stemme mich mit jedem Fitzelchen Kraft, das ich noch aufbringen kann, dagegen und bleibe auf den Füßen. Anfang dreht sich langsam um. Ich reiße die Augen auf. Ein Frauengesicht ragt aus seinem Hinterkopf. Ihre Haut erinnert mich an die Dunkelheit in meinem Thronsaal, ihre eisblauen Augen sind groß wie die eines Kindes und glühen noch ausgeprägter als die von Anfang. Ihre Lider sind mit goldenem Puder bestäubt, ihre vollen Lippen sind dunkelrot geschminkt. Ihre Schönheit ist makellos und abstoßend. Nicht einmal Rache hat eine solch perfekte Maske der Unsterblichkeit getragen.

»Ende«, höre ich mich sagen, realisiere aber erst, als sie nickt, dass tatsächlich ich ihren Namen ausgesprochen habe.

»Willkommen, Raedan, in Ende und Anfang.«

Ich kann Ende nur anstarren. Ihre perfekte, aber unwirkliche Schönheit. Sie wirkt unnahbar, wie eine Unsterbliche aus Stein.

»Ich verstehe deine Angst. Dein Opfer war ein gewaltiges. Schicksal hat ihre Karten meisterhaft ausgespielt.«

»Schicksal?« Was hat die damit zu tun? Ich bin ihr kein einziges Mal begegnet. Sie kann nur für die Sterblichen ihr Schicksal weben, Unsterbliche sind nicht an ihre Fäden gebunden. Wir haben den Luxus einer freien Entscheidung, zumindest im Rahmen unserer Aufgaben.

Selena. Schicksal konnte sie lenken. Nein! Ich will mir nicht vorstellen, dass jeder Schritt, jedes Wort, jeder Blick von Schicksal gesteuert war. Selena ist dafür zu stark. Sie kann sich widersetzen. Sie hat sich sogar Überfluss widersetzt.

»Faete liegt Selena sehr am Herzen, wenn man bei ihr von so etwas sprechen kann. Gerade jetzt wird die Schlinge um Selenas Hals enger und enger.« Ende senkt in einem bekümmerten Ausdruck die Lider. »Ich wünschte, du hättest dich nicht für sie geopfert. Alles wäre leichter gewesen. Chaos hätte sie getötet und damit Leben. Ein kurzer Schnitt, ohne Leid und Qualen. So …« Sie verstummt.

»So was?«, brülle ich.

»Schicksal hat Selena genau da, wo sie sein soll. Sie wird ihre Aufgabe erfüllen oder daran zerbrechen«, fährt Anfang fort.

Er dreht sich um. Obwohl er nur wenig größer als ich ist, fühle mich winzig klein. Weil ich ihm nicht mehr gleichgestellt bin. Ich bin kein Unsterblicher mehr, nur ein Mensch. Machtlos. Ich kann Selena nicht mehr helfen. Sie ist auf sich alleine gestellt. Eiswasser flutet meine Adern, vertreibt die Hitze der Wut.

Anfang setzt sich auf seinen Thron. »In wenigen Tagen ist es vorbei und ich werde meine Arbeit beginnen.«

»Was ist vorbei?« Selena darf nicht sterben. Nicht nach allem, was sie durchgemacht, was sie geopfert hat.

»Was sie verhinderte«, antwortet Anfang bedeutungsschwer.

Livs Vergiftung. Livs Tod. Die Auslöschung allen Lebens.

»Niemals«, knurre ich.

»Nicht, wie du denkst«, flüstert Ende.

»Für eine Neuordnung muss nicht zwangsläufig Leben sterben.« Ich glaube, eine Spur Freude in Anfangs Stimme zu erkennen. »Tods gewaltsames Ableben erfüllt den Zweck ebenso.«

»Ich habe keine Anhänger!«, widerspreche ich sofort. »Die Lebenden sind nicht an mich gebunden.«

»Da irrst du. Leben und Tod. Tod und Leben. Das eine wird durch das andere definiert. Jeder Sterbliche ist genauso an Tod gebunden wie an Leben. Nur verlangt Tods Untergang einen deutlich gewaltsameren Anfang.«

»Nein!« Selbst in meinen Ohren klingt das Wort kindisch. »Nein«, wiederhole ich knurrend und höre mich diesmal fast wieder wie mein altes, unsterbliches Ich an. »Meine Schwester hätte mir erzählt, wenn der Tod meines Vorgängers …«

»Dein Vorgänger starb, weil ein Seelenbewahrer namens Patros seinen Seelenfetzen zerstörte. Da Patros dadurch einen Teil seiner Selbst opferte, erzeugte er ein Schlupfloch. Dein Vorgänger starb durch dieses Opfer. Wir bekamen Patros, als er sich kurz darauf das Leben nahm. Gleichzeitig verloren wir das Recht auf einen Neubeginn.«

»Wenn Patros also nicht gestorben wäre?«, frage ich verwirrt.

»Niemand ist gänzlich tot, solange ein Seelenbewahrer noch eine Seele nährt.«

»Es ist ein Gesetz, das schon immer besteht«, erklärt Ende. »Schicksal herrscht über die Lebenden, wir über das Dazwischen. Schicksal muss immer wieder Weltuntergänge herbeiführen, damit wir unsere Aufgabe erfüllen können. Telos, Aronvi, Asaja, Patros, Selena.«

Sie nennt die Namen, als wären sie ihr vollkommen gleichgültig. Wut züngelt wieder in mir hoch.

»Gleichzeitig gewähren wir den Menschen, die Schicksal für würdig hält und die sich für einen anderen Menschen opfern, eine zweite Chance. Aber ein Teil von Schicksal sträubt sich. Sie will uns alle vernichten und damit auch sich selbst. Aber das wird ihr nicht gelingen. Es wird kommen, wie es seit jeher geschieht.«

»Wieso Opfer?«, frage ich. An den Rest will ich nicht einmal denken! Schicksal will die Unsterblichen vernichten? Sie ist selbst eine von uns!

»Was ist menschlicher?«, stellt Ende eine Gegenfrage. »Die Welten müssen nach Regeln und Gesetzen funktionieren, ansonsten kommt es zum Chaos. Und ich spreche nicht von dem Unsterblichen, den du kennst. Chaos in seiner reinsten Form.«

»Welten?« Mehrere?

»Schwarz und Weiß sind nur ein Bruchteil des riesigen Kosmos.« Ich höre das Lächeln in Endes Stimme.

»Genug der Geschichtsstunde. Wir haben unsere Schuldigkeit getan. Wenn er nicht begreift, ist es nicht unsere Schuld.« Anfang klatscht in die Hände.

Die Halle verschwimmt vor meinen Augen und ich stehe vor einer kleinen, unscheinbaren Tür, die mir bisher nicht aufgefallen ist. Lautlos schwingt sie nach außen auf.

»Genieße dein neues Leben, Raedan, und bedenke: Nur die wenigsten erhalten das Privileg einer zweiten Chance. Nutze sie sinnvoll.«

Ich will mich zu Anfang herumdrehen, aber seine Magie drückt in meinen Rücken und wirft mich aus dem Raum. Auf der anderen Seite falle ich zu Boden. Schmerz schießt durch meinen Körper. Die Tür kracht mit einem endgültigen Schlag zu. Unsterblich. Sterblich. Schicksal. Gut. Böse. Unsterbliche vernichten. Wie soll das gehen? Was soll danach kommen? Auf wessen Seite steht Schicksal?

»Das hat lange gedauert.«

Ich blinzele in das helle Licht von mehreren Leuchtkugeln, die um eine große Gestalt schweben.

Sie streckt mir eine gebräunte Hand entgegen. Ich lasse mich auf die Füße ziehen und mustere den Mann, den ich auf Anfang zwanzig schätze. Seine dunkelbraunen Haare sind etwas zu lang und fallen ihm in die ernsten Augen.

»Aejuli kam direkt zu mir, nachdem sie dich hergebracht hat. Stimmt es, dass es jemand geschafft hat, Leben zu retten?«

»Jaaa«, antworte ich gedehnt. Heißt das, er kommt aus meiner Welt? Aus Weiß? Nicht aus einer der anderen Welten.

Er packt mich stützend an der Schulter. »Alles ein bisschen viel, ich weiß. Aber das wird wieder. Du musst dich nur etwas ausruhen.«

»Wer bist du?«

»Ich habe versucht, Leben zu retten. Ich war einer ihrer Seelendiebe. Nenn mich Cassian.«

»Ich dachte, weiße Seelendiebe haben keine Namen.«

Misstrauisch verengt Cassian die Augen und lässt meine Schulter los. »Wer bist du?«

Er hat mich für einen normalen Bürger von Weiß gehalten, die solche Details offenbar nicht wissen. »Mein Name ist Raedan. Ich bin … war Tod.«

SELENA

WIEDER EIN GEFÄNGNIS. EINS DUNKLER ALS DAS ANDERE.

»Lass mich raus!« Ich rüttele an den Gitterstäben, werfe mich mit meinem ganzen Gewicht dagegen. »Lass mich raus!«

Jeder Schrei schmerzt in der Kehle, als hätte ich Nägel verschluckt. Wut und Angst graben ihre Krallen in mein Herz. Ich muss hier raus! Ich muss wissen, ob Loven es geschafft hat, ob es ihm gut geht. Ob Lewy und Owen in Sicherheit sind. Ich muss Jaery suchen!

Ich trete gegen die eisigen Gitterstäbe und lehne dann mein Gesicht dagegen, obwohl die Kälte sich bis auf meine Knochen frisst. Tods Magie. Eine andere Erklärung habe ich nicht.

Genauso wenig dafür, dass ich trotz der tintenschwarzen Dunkelheit dutzende, identische Zellen ausmachen kann. Alle leer.

Ich ziehe mein Gesicht ein Stück zurück und trete erneut zu. Die Kälte schießt wie ein Peitschenhieb bis in meinen Unterschenkel. Mit zitternden Fingern streiche ich mir durch die verknoteten Locken, laufe in der Zelle auf und ab. Hier ist nichts außer den Gitterstäben und drei Wänden aus spiegelndem Obsidian. Es gibt nicht mal ein Bett. Die Zellen sind nicht für Menschen gedacht. Nicht, dass ich die Ruhe hätte, mich hinzulegen. Ich trage noch immer meine Rüstung. Im Gegensatz zu der Kleidung meiner Freunde ist sie frei von Blut, obwohl ich genauso viele Menschen getötet habe. Wenn nicht mehr. Ich schließe meine Hände wieder um die Gitterstäbe, ignoriere das eiskalte Brennen und werfe einen weiteren Blick auf den Gang. Verlassen.

Ich knurre frustriert.

Wie lange will Tod mich hier unten einsperren?

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, aber es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Wut und Schmerz fräsen sich durch mein Herz. Raedan ist fort. Nichts von ihm ist übriggeblieben. Er wurde ersetzt. Von dem Monster, das er so fürchtete.

Ich habe versagt!

Ich konnte mich nicht an Chaos rächen. Ich konnte Tod nicht vernichten. Ich habe vielleicht Loven verloren. Dass er ebenfalls neuentstehen wird, tröstet mich kein bisschen. Er wird nicht mehr derselbe sein. Genauso wie Tod nicht Raedan ist.

Ich atme zittrig aus. Konzentriere mich auf den Schmerz in meiner Brust und fühle ihn das erste Mal bewusst.

Ich habe Raedan verloren. Raedan ist tot.

Aber ich bin es nicht. Ich kann noch kämpfen.

»Lass mich raus!«, brülle ich. Das Geräusch meiner Tritte verliert sich in der Finsternis. »Du kannst mich nicht ewig einsperren!«

Ich werde mich nicht mehr von irgendwelchen Unsterblichen herumschubsen lassen. Ich bin nicht mehr schwach! Leben war schwach. Sie konnte Chaos nicht abwehren, als er sie vergiftete. Als er dadurch mein Leben zu einem anderen machte. Mich zu jemand anderem.

Ich hasse es, eingesperrt zu sein. Erst mein Vater, dann Raedan, dann Dameks Seelensplitter, jetzt Tod.

Meine Chance ist nicht viel größer, hier raus zu kommen, als Dameks Seelensplitter alleine loszuwerden. Bei Letzterem hat mir Lyn geholfen, die weiße Seelendiebin, die mir offenbart hat, was ich bin, wozu ich imstande bin.

Ein winziger Teil von mir wünscht sich, ich hätte es nie erfahren. Ich wäre mit Raedan in Lebens Thronsaal gestorben. Aber ich wäre nie dort gewesen. Ich wäre längst tot gewesen, weil Liv gestorben wäre.

Ich fluche und schlage gegen die Gitterstäbe. Die Vergangenheit umzuwälzen, nach Wenn und Falls zu fragen, bringt mich nicht weiter. Ich bin hier. Es gibt kein Zurück, nur ein nach vorne.

Ich weiß nicht, ob Lyn mir dieses Mal helfen kann. Tods Palast ist eine Festung. Und wenn die Geschichten stimmen, hat dieses Verlies keinen Ausgang.

Ich werde nie erfahren, was Lyn mir noch sagen wollte.

Nein! So darf ich nicht denken. Dann kann ich direkt kapitulieren.

Ich komme hier raus. Alleine oder mit Hilfe.

Ich komme hier raus!

RAEDAN

MENSCHLICHKEIT - EIN ERFÜLLTER WUNSCH UND JETZT MEIN GRÖSSTES HINDERNIS.

Blaues Licht umschließt mich. Reißt mich mit sich wie eine Flutwelle. Ich kann nicht denken. Nicht atmen. Herzschläge fühlen sich wie Ewigkeiten an. Ewigkeiten wie wenige Wimpernschläge.

Das Licht spuckt mich aus.

Ich taumele nach vorne. Meine Beine tragen mich kaum. Entfernt höre ich eine vertraute Stimme meinen Namen rufen. Ich schlage auf den Knien auf, der Schmerz fährt mir bis in die Hüfte.

»Raedan, bist du in Ordnung?« Cassian kniet sich zu mir und legt mir eine Hand auf die Schulter.

Ich nicke. Noch sind meine Gedanken ein durcheinanderwirbelndes Chaos, das kein klares Wort hervorbringt. Die schmucklose Holztür ist geschlossen, also haben uns die Wachen noch nicht aufgespürt. Das Licht reicht kaum, um die Jahreszahlen und Namen auf den Weinfässern zu lesen, die an allen vier Wänden gelagert werden. Die Illusion von Normalität. Als wäre irgendetwas in Ende und Anfang normal!

»Konntest du Selena erreichen?«

Ich richte mich auf und zucke vor Schmerz zusammen.

»Verflucht«, stoße ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Cassians dunkle Augen fixieren mich voller Sorge und seine braunen Haare wirken zerzaust, als wäre er mehrmals mit den Händen hindurchgefahren. Dutzende Male hat er sich schon über die Grenzen von Ende und Anfang katapultiert. Kein einziges Mal gestand er, wie verdammt weh das tut.

Ich atme schwer und lasse es zu, dass Cassian mich stützt. »Ich konnte Selena nicht finden. Sie muss schon in Tods Thronsaal sein.«

»Verdammtes Schicksal!«, flucht Cassian.

»Ich habe Lyn getroffen.« Ich streiche mir die schwarzen Haare aus den Augen. »Ich habe ihr von Ende und Anfang erzählt. Und was sie tun muss, um uns zu finden.«

»Was?« Cassian weicht zurück, wischt sich fahrig über die Lippen, sein Gesicht verdunkelt sich vor Wut und er ballt die Hände zu Fäusten. »Genau das sollten wir nicht!«

»Sie wird das richtige tun.«

Er schnaubt. »Das letzte Mal, als du sie gesehen hast, wollte sie sterben.«

»Ich habe ihr erklärt, was auf dem Spiel steht. Wir brauchen ihre Hilfe.« Meine Stimme wird lauter. »Ich vertraue ihr. Lyn …«

»Ich aber nicht«, unterbricht Cassian mich. »Sie hat nie gegen eine Regel verstoßen. Sie hat alles getan, um Leben zu schützen. Wir sollten es nur Selena erzählen! Wir dürfen sie da nicht mit reinziehen!«

»Das haben wir doch längst! Sie hat sich einen Namen gegeben, bevor du sie aufgesucht hast. Sie hat Selena schon geholfen. Lyn will dich finden! Sie kann Selena hierherbringen, damit dieser Albtraum endlich endet!«

Wochen sind seit dem Gespräch mit Anfang und Ende vergangen. Wochen, in denen ich nichts anderes getan habe, als zu schlafen, zu essen und einen Plan zu schmieden, wie wir hier rauskommen, ohne unsere Erinnerungen zu opfern. Mit einer zweiten Chance hat Anfangs Neuanfang wenig zu tun. Wir erhalten ein neues Leben, friedlich und ruhig, aber ohne jegliche Erinnerung an unser altes.

Ich beneide keine von den blassen Gestalten, die wir im Speiseraum sehen und die irgendwann ganz verschwinden. Ich will mich erinnern! Ich will Jaery und Selena nicht vergessen. Nicht meine Welt. Nicht meine Schwester. Ich muss so viele Fehler wieder gutmachen.

»Ich werde mit Lyn reden.« Cassian reißt mich aus meinen Gedanken.

»Nein! Du weißt, was das letzte Mal passiert ist, als du es kurz hintereinander versucht hast. Die Wächter hätten dich fast umgebracht.« Wie aus dem Nichts waren sie aufgetaucht, Gestalten aus schwarzweißen Wirbeln, annähernd menschlich, erschaffen durch die Magie von Ende und Anfang. Sie hätten Cassian umgebracht, wenn die junge Frau mit den blauen Haaren sie nicht aufgehalten hätte.

»Also sollen wir warten?«, faucht er. »Lyn könnte weiß sonst was anstellen. Ich kenne sie deutlich besser als du. Sie ist unberechenbar, wenn sie sich an keine Regeln halten kann.«

»Ich habe Jahrhunderte gelebt, mein ganzes Leben bestand aus warten. Auf diesen Moment! Meinst du, mir fällt es leicht? Selena ist bei Tod! Ich weiß nicht mal, ob sie überhaupt noch lebt!« Ich trete von Cassian zurück. Meine Augen brennen und mein Herz schmerzt. Diese Gefühle, so stark, so unvertraut. Wie sehr habe ich mich nach ihnen gesehnt, aber im Moment beeinflussen sie jede meiner Entscheidungen und lassen mich kaum einen klaren Gedanken fassen. »Wir können im Moment nichts tun.«

»Selena kann nicht tot sein, das hätten Ende und Anfang sofort verkündet.« Cassian läuft auf und ab, soweit der kleine Raum dies zulässt. »Dann wäre ihr ach so schöner Plan ruiniert.«

»Selena könnte den Palast noch nicht erreicht haben.« Wem mache ich hier etwas vor? Wenn es so wäre, hätte ich sie gefunden. Nur die Bauwerke von Unsterblichen stellen ein unüberwindbares Hindernis dar. Cassian hatte viel Zeit, unsere Grenzen auszuloten.

»Glaubst du das? Wie lange wird Hass’ Armee Kriegs standhalten? Zwei Stunden? Drei?«

Ich wünschte, ich wüsste, wie lange Hass schon gegen mich intrigiert. Sie hat Chaos gelenkt. Sie hat den Angriff auf Leben befohlen. Sie hat einen Meuchelmörder ausgeschickt, mich zu töten.

Ich war blind. Ich wollte blind sein.

Hass hatte Jahrhunderte Zeit sich darauf vorzubereiten. Und ich bin ihr und Chaos in die Falle gegangen.

Der Schmerz durchzuckt mich, wo die Anhängerin von Hass mich getroffen hat. Ich presse die Hand auf die Seite. Livs Heilerin Sahar hat die Wunde sofort geheilt, trotzdem spüre ich sie noch, wie eine Warnung, was Sterblichkeit bedeutet. Sahar konnte ich im Thronsaal nicht beschützen. Ich will glauben, dass sie überlebt hat, aber ein großer Teil von mir weiß es besser.

Cassian bemerkt meine Schuldgefühle nicht, in einem matschigen Boden hätte er längst einen Graben hinterlassen. »Du hättest nicht mitbekommen, wenn sie ihre Anhänger im Kampf ausbildet?«

Ich atme bewusst tief ein und halte ihn an. Meine Gedanken gleiten in meine Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die ich lieber vergessen würde. Ich war … Nichts. Die Zeit ist unbemerkt verstrichen, die Toten mit ihren halben Seelen. Ich war wütend und konnte doch nichts tun. Ich war einsam und wollte es mir nicht eingestehen. Herrscher des Todes? Ich hatte nicht einen einzigen Faden in der Hand, habe keine Kontrolle ausgeübt.

Hass? Ich habe keinen Gedanken an meine untergebenen Unsterblichen verschwendet. Sie hätten alles tun können.

»Nein«, flüstere ich.

Cassian seufzt. »Dann können wir nur warten.«

Ich starre auf den Fußboden. Ich habe zu lange gezögert. Wenn ich nur nicht auf Cassian gehört hätte. Früher die Grenzen von Ende und Anfang überwunden hätte. Aber damals erschien es mir einleuchtend, Lyn zu besuchen. Ich habe mich vor Selenas Reaktion gefürchtet. Nie hätte ich erwartet, dass sie meinetwegen Rache übt.

Wenn sie in der Schlacht getötet wurde, werde ich mir das niemals verzeihen.

Erst hier, in Ende und Anfang, verstehe ich langsam, wieso. Die Seelendiebin, die keine sein wollte. Die Geflüchtete, die mich mit ihrer Neugier zur Weißglut trieb. Die Lügnerin, die ihr Wort brach. Die Ängstliche, die lieber sterben als leben wollte. Die Geschwächte, der ich von meiner eigenen Lebensmagie gab und damit alles erst wirklich ins Rollen brachte. Die Seelenbewahrerin, die über sich selbst hinauswuchs. Die junge Frau, die meine Einsamkeit zerschlagen hat.

Das Mädchen, das die dunkelste Dunkelheit nicht mehr fürchtet.

SILBER

RACHE IST BLUTIG.

Regen läuft von meiner Rüstung. Tropft mir von den Haaren in die Augen. Vermischt sich mit Blut, sodass rote Spuren zurückbleiben. Ein notdürftiger Verband bedeckt die Pfeilwunde, die ich mir in der Schlacht zugezogen habe. Sie blutet nicht mehr, aber der Schmerz ist wie ein pulsierender Herzschlag. Der Kratzer unter meinem Auge brennt, heilt aber bereits. Eine Narbe werde ich nicht zurückbehalten, obwohl ich sie verdient hätte. Für Selenas Scheitern. Für meine bescheuerte Hoffnung, sie könnte vielleicht etwas ändern.

Ich möchte mich gerne lautlos nähern, aber der Matsch macht das unmöglich. Schatten laufen vor mir davon, nicht mehr als Gerippe. Vor mir ragt Hungers Schlund in die Höhe, noch gewaltiger und furchteinflößender, als bei meinem letzten Besuch. Die Feuergruben in den obersten Stockwerken durchdringen sogar die Regenwolken und wirken wie Augen, die mich zu Asche verbrennen wollen.

Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass Hunger mir Angst machen will. Ich schnaube verächtlich.

Die Straße wird breiter, die Häuser sind nicht mehr ganz so zerfallen. Meine Schritte und der Regen sind die einzigen Geräusche. Alle Bittsteller sind entweder vor dem Wasser oder vor mir geflüchtet. Vor mir ist wahrscheinlicher.

Ich erreiche das riesige offenstehende Tor, das zu Hunger führt. Lautlos ziehe ich mein Katana aus der Scheide. Der Regen weicht das getrocknete Blut an der Klinge auf und hinterlässt eine weitere Spur im Matsch. Ich hätte sie reinigen sollen, andererseits konnte ich meine Wut gerade genug zügeln, um meine Wunden zu versorgen, und jetzt lohnt es sich sowieso nicht mehr.

Vier Wachposten stellen sich mir entgegen. Sie sind keine solch dürren Klappergestelle wie Hungers sonstige Anhänger.

»Wollt ihr das wirklich?«, frage ich und marschiere auf sie zu.

Sie heben ihre provisorischen Waffen: Besenstiele, die einen Hungernden vielleicht einschüchtern. Mein Blut singt noch immer. Eine zweite Chance gebe ich ihnen nicht.

Sie fallen, sterben. Ohne einen Moment innezuhalten, laufe ich den Tunnel entlang. Es ist stockdunkel, doch ich finde mich blind zurecht. Zähle jeden einzelnen Schritt und fluche. Der Tunnel ist wieder ein Stück länger geworden.

In der riesigen Halle, in der ich sonst immer auf Hungers Anhänger treffe, die den Boden schrubben, wartet die zweite Armee des Tages auf mich. Unzählige Fackeln an den Wänden und in gewaltigen Schalen über ihren Köpfen hängend zeichnen harte Schatten auf schmale, ängstliche Gesichter. Die meisten Hungernden haben nur ihre Fäuste als Waffen und kaum Muskelmasse.

»Ich werde Hunger nicht töten. Aber wer sich mir in den Weg stellt, stirbt.«

Zwei Männer mit hervorquellenden Augen und leichenblasser Haut stürmen auf mich zu. Zwei schnelle Streiche und ihre Köpfe rollen über den Boden. Die im Weg stehenden Hungernden weichen erschrocken nach hinten.

»Tretet beiseite!«

Ich drohe ihnen nicht. Ich könnte jeden Einzelnen von ihnen töten. Zwar könnten sie mich allein durch ihre Übermacht ernsthaft verletzen, aber ich habe heute viel Schlimmeres überlebt.

Eine Frau weicht mit Tränen auf den Wangen zur Seite. Andere folgen ihr, bis sie ein Spalier zu Hungers Thronsaal bilden. Ich halte mein Katana in der Hand, erwarte aber keinen Angriff aus dem Hinterhalt. Dafür folgen sie dem falschen Unsterblichen.

Hunger wird sie bestrafen. Aber er wird sie nicht töten. Er braucht sie.

Energisch schreite ich die Gasse entlang, schaue keinem Hungernden länger in die Augen. Die meisten blicken sowieso beschämt zu Boden, klammern sich an andere, verstecken sich. Aber keiner flüchtet. Sie können ihrem Unsterblichen nicht entkommen.

Die Torflügel sind geschlossen. Ich drücke dagegen, ächze, schaffe es aber, sie aufzuschieben. Der Thronsaal ist verlassen. Wenn er keine Gestalt trägt, kann ich ihn nicht töten. Aber Hunger ist nicht verschlagen wie Rache, er glaubt an seine Überlegenheit.

»Du weißt, wieso ich hier bin!«

Ich schiebe meine Klinge zurück in die Scheide und sehe mich in dem riesigen Thronsaal um. Seit meinem letzten Besuch hat sich nichts verändert. Die Knochen liegen verstreut auf dem Boden. Ein Tisch beladen mit Speisen, dahinter ein pompöser Stuhl. Hungers Präsenz spüre ich zwar, kann ihn aber nicht orten. Er könnte direkt neben mir stehen oder in der entferntesten Ecke.

»Ich gebe dir mein Wort, ich werde dich nicht töten.«

»Leg deine Waffen weg!« Hungers Stimme klingt leicht hysterisch.

Ungewohnt. Vielleicht spürt der Unsterbliche tatsächlich ein Fünkchen Angst.

Mit einem Grinsen öffne ich zuerst den Gürtel, lege ihn mit der Scheide zu Boden und trete ihn aus meiner Reichweite. Dann folgen diverse Messer, die ich in den Stiefeln, an der Hose und den Unterarmen trage. Als ich fertig bin, sehe ich auf.

Hunger steht tatsächlich einige Schritte von mir entfernt. Er trägt eine neue Gestalt, die ich nicht kenne. Großgewachsen, Muskeln, schwarze Haare. Eine dunkle Version meines Vaters. Wenn er mich damit einschüchtern oder irgendwelche mitfühlenden Emotionen wecken will, ist er auf der falschen Fährte.

»Ich ließ ihm genug Energie, um zu überleben.« Hunger verschränkt wie ein trotziges Kind die Arme vor dem Brustkorb.

»Du hast ihn leer gesaugt!« Meine Stimme ist scharf wie eine Klinge.

»Du hast ihn hergebracht.«

»Ich habe viele hergebracht, keiner ist …«

»Alle sind gestorben«, unterbricht er mich. »Ich hätte dich nicht für so naiv gehalten, Silber.«

Alle sind gestorben, echot es in meinem Kopf. Ich dachte, ich gebe ihnen eine zweite Chance sich zu ihrem Unsterblichen zu bekennen, nach den Regeln von Schwarz zu leben. Aber genauso gut hätte ich sie hinrichten können. Ich bin nicht besser als der Rest des Kopfgeldjägerabschaums. Ich bin schlimmer. Denn ihr Tod war nicht schnell, er kam langsam und grausam.

»Sie haben mich verraten, Silber! Das kann eine Kopfgeldjägerin wie du nicht verstehen. Loyalität bedeutet dir gar nichts. Sie sind mein Eigentum.«

Nein, sie sind Menschen.

Ich stehe wieder im Thronsaal. Töte Hass. Draußen sterben ihre Anhänger, lösen sich auf, verschwinden, als hätten sie nie existiert. Damit habe ich die Schlacht beendet. Meinem Vater den Sieg gebracht. Selena den Sieg gebracht. Nur ist sie dann nicht mutig genug gewesen, den letzten Schritt zu tun. Sie hat alle Opfer bedeutungslos werden lassen.

»Dein Letzter war mein Eigentum!«

Er kennt nicht einmal Jaerys Namen. Hass schießt durch meine Adern. Kriegs Lied hämmert im Gleichklang meines Herzens. Ich bewege mich innerhalb eines Wimpernschlags. Meine Hacken schlagen zusammen, Klingen schießen aus meinen Stiefelspitzen und der Rüstung an meinem linken Unterarm. Mit drei großen Schritten bin ich bei Hunger. Blut spritzt. Der Unsterbliche schreit im Fallen. Ich lande hart auf ihm, drücke ihn mit meinem Gewicht zu Boden. Zwei der vier rasiermesserscharfen, gebogenen Klingen an meinem Unterarm ritzen seinen Hals, zwei dünne Blutsfäden rinnen langsam zu der Kuhle zwischen seinen Schlüsselbeinen.

Mit panisch geweiteten Augen starrt Hunger mich an. Schweiß glänzt auf seiner Stirn, die Ader an seinem Hals pocht.

Ich ziehe eine Klinge aus seinem Mantel. Sie ist kaum länger als mein Mittelfinger, wird ihren Zweck aber erfüllen.

»Du hast es versprochen!« Seine Stimme zittert.

»Oh, ich werde dich nicht töten.« Ich grinse.

Ich bohre ihm die eigene Klinge in die Schulter. Hunger schreit auf vor Schmerz. Aber er wagt es nicht, seine Gestalt aufzugeben. Er weiß, dass ich ihm vorher noch die Kehle aufschlitzen könnte.

»Aber du wirst leiden.«

SELENA

STERBLICH UNSTERBLICH. VERBUNDEN BIS IN DEN TOD.

Ewigkeit.

Dieses Wort brennt sich tiefer und tiefer in meine Gedanken. Ich friere nicht, obwohl ich mich aus der Rüstung befreit habe und nur in Unterkleidung in der düsteren Zelle sitze. Ich fühle keine Schmerzen, dabei sollte ich mich von der Schlacht wie erschlagen fühlen. Ich fühle gar nichts.

Aber ich sollte etwas fühlen! Müdigkeit. Hunger. Durst. Irgendetwas.

Ich bin ein Mensch!

Aber an diesem Ort spielt das offensichtlich keine Rolle. In Tods Palast, in Tods Kerker gehören keine Sterblichen. Nur Seelen. Und selbst von diesen ist niemand hier eingesperrt.

Ich sitze an der Wand, die Knie an den Oberkörper gezogen, und starre die Gitterstäbe an, als könnte ich sie dadurch zum Verschwinden bringen. Wie lange will Tod mich warten lassen?

Ich habe keinen Wert für ihn. Zumindest keinen, der mir einfällt. Wenn es ihm wie Raedan nach Gesellschaft verlangt, bin ich dafür die schlechteste Wahl.

Aber ich verstehe auch nicht, welchen Wert Loven für Tod gehabt hätte. Wieso er ihm eiskalt beim Sterben zusah, anstatt ihm zu helfen. Ihn direkt durch das Portal zu schicken. Tod ist nicht grausam.

Wenn Loven gestorben ist … dann war alles umsonst. Dann habe ich versagt. Der Schmerz ist nur ein ferner Hauch, wie eine Erinnerung an ein Gefühl, das ich mal empfunden habe.

Jetzt verstehe ich Raedans Sehnsucht nach Menschlichkeit. Wie lange bin ich hier? Stunden? Tage? Ich weiß es nicht. Aber es macht mir Angst. Ich kann nicht hierbleiben. Wenn ich hierbleibe, werde ich … mich selbst verlieren. Meine Gefühle sind doch das, was mich ausmacht! Was mich von den Unsterblichen unterscheidet.

Mit neuem Elan stehe ich auf und trete an die Gitterstäbe. Raedan hat Chaos hier eingesperrt, nachdem Chaos Jaery verwundet hatte. Gerecht, hätte ich damals gesagt, wenn mich jemand nach meiner Meinung gefragt hätte. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Niemand verdient diese grausige Kälte der Gitterstäbe, die nur durch Magie erschaffen worden sein kann. Genauso wie die Aschetür im Thronsaal, wie die Leiter, die ich vor einer Ewigkeit in Hungers Reich hinaufgestiegen bin. Tods Magie … der eiskalte Hauch des Todes.

Chaos hatte Jahrzehnte Zeit, seine Rache an Raedan zu planen. Alleine in der Dunkelheit, eingesperrt mit seinen Gedanken. Unwillkürlich stelle ich mir Loven vor. Verloren, blass, entmutigt hinter diesen Gitterstäben.

Nein, Loven wäre tot.

Schwarz hat ihm die Lebenskraft ausgesaugt. Er wäre im Thronsaal, in meinen Armen qualvoll gestorben, wenn ich nicht eingegriffen hätte. Er wusste, was mit ihm geschehen würde. Schon einmal war er mit mir in Schwarz, um nach Jaery zu suchen. Deswegen hatten wir so schnell flüchten müssen. Nicht, weil ich in Gefahr war. Sondern weil er gestorben wäre und es mir nicht einmal sagen wollte.

Er hätte sich für mich geopfert.

So wie Raedan sich für mich geopfert hat.

Wer bin ich, dass ich das verdiene?

Frustriert schlage ich gegen die Gitterstäbe. Die Kälte sticht wie Nadelspitzen durch meine Haut. Einen Moment schließe ich die Augen, atme tief durch. Meine Gedanken reisen in die Vergangenheit, in einen anderen Thronsaal. Voller Licht, Leben und Blut. So viel Blut. Die Anhänger von Chaos kreisen Raedan ein. Kämpfen, sterben, begraben Raedan durch ihre schiere Anzahl. Seine Dunkelheit gewinnt. Eine Ahnung von Furcht ballt sich in meinem Magen zusammen, als ich Raedan in die nachtschwarzen Augen blicke. Bodenlose Löcher. Seine Schatten töten ohne Anstrengung die letzten Chaosanhänger, Köpfe rollen, Blut spritzt. Dann rast er auf mich zu.

Dunkelheit umschließt mich. Hände berühren mich, drücken mich an eine muskulöse Brust und ziehen mich in die Knie. Die Schwärze kribbelt auf meiner Haut, als wolle sie in meinen Körper vorstoßen. Ich presse die Augen zusammen und wage es nicht, zu atmen. Neben meinem wild pochenden Herzen vernehme ich ein gleichmäßiges Schlagen an meinem Ohr, das jede Panik vertreibt.

Selena.

Mein Name vibriert durch mich hindurch, streichelt mich und versetzt jeden Nerv in Erregung. Es ist nicht Raedans Stimme, oder irgendwie doch.

Als ich die Augen öffne, wabern um mich die lebendigen Schatten. Vorsichtig hebe ich den Kopf und schaue hoch in Raedans Gesicht, das immer noch dominiert wird von abgrundtief schwarzen Augen. Trotzdem erkannte ich den Menschen unter der Maske des Unsterblichen.

Selena.

Seine Stimme dröhnt in meinem Kopf.

Ich reiße die Augen auf. Meine Hände brennen vor Hitze, umklammern die Gitterstäbe, die eigentlich eiskalt sein sollten. Plötzlich stürze ich vorwärts, direkt durch sie hindurch, als wären sie nicht da. Bevor ich zu Boden gehen kann, finde ich mein Gleichgewicht wieder. Langsam drehe ich den Kopf und starre die Gitterstäbe an, die genauso massiv aussehen wie vorher.

Dann meine Hände, die immer noch leicht kribbeln. Schatten wirbeln wie Nebelfetzen um meine Fingerspitzen. Ich blinzle mehrmals, aber sie verschwinden nicht. Der seltsam magischen Düsternis kann ich es auch nicht zuschreiben. Schatten.

»Erstaunlich«, erklingt eine vertraute und gleichzeitig unvertraute Stimme hinter mir.

Ich wirbele herum, hebe die Fäuste, weil ich keine andere Waffe habe. Die Schatten sind weg, genauso wie die Hitze. Vielleicht doch Einbildung?

Tod steht ein paar Schritte entfernt in Raedans Gestalt. Ein gruseliges Lächeln liegt auf seinen Lippen, das seine Augen glänzen lässt. Raedan hat nie so gelächelt.

»Ich habe nicht erwartet, dass du dich so schnell befreien würdest.« Falsche Tonlage. Zu viel Überheblichkeit.

»Was war das?«, frage ich und halte ihm meine Handfläche entgegen.

»Pure Dunkelheit«, antwortet Tod. »Schatten.«

Chaos Anhänger, die Feuer aus ihren Händen schleudern. Chaos’ Magie. Tods Magie.

»Tod hat keine Anhänger!« Ich presse die Lippen zusammen. Sonst hätte er Jaery längst zu seinem Anhänger gemacht, oder?

Ich schaue auf meine immer noch ausgestreckte Hand, sehe aber den Thronsaal vor mir. Lebens Thronsaal. Raedan, schwer verletzt, blutüberströmt. Sein Körper lebendige Schatten, seine Augen schwärzer als schwarz. Wie er auf mich zu rast, mein klopfendes Herz, seine Dunkelheit, die mich festhält, mich vor den Trümmern schützt. Sein schwacher Herzschlag, der durch mich hindurch vibriert. Das Gefühl, nirgends so sicher zu sein wie in seinen Armen.

Tod sagt etwas, aber ich höre ihm nicht zu.

Die Szene vor meinen Augen ändert sich. Angst vibriert durch meine Glieder. Raedans helle Augen mit den dunklen Schlieren schweben vor mir. Schwäche lässt mich kaum atmen. Ich spüre seine Finger unter meinem Kinn, die Kraft und Sicherheit, die leise wie tröpfelnder Regen in meine Adern sickert. Sein Versprechen hallt in meinen Ohren wider. Du wirst nicht sterben.

»Knie nieder!«

Was? Ich starre Tod an. Kann nicht glauben, was er gesagt hat. Hitze flackert in meinem Magen.

»Knie nieder!«, wiederholt Tod mit einer solchen Intensität, dass mir ein Schauder über den Körper läuft.

Ich habe noch nie einem Unsterblichen gedient. Loven hätte so etwas nie zu seinen Anhängern gesagt, aber Krieg, Hunger … vielleicht schon. Müssen sie dann gehorchen? Ans Wort gebunden? Jaery wüsste es.

Aber wenn seine Macht bei mir nicht wirkt. Wenn ich ihm nicht gehorchen muss, dann … heißt das?

Nein, Raedan ist tot. Ich sah ihn sterben.

»Interessant«, murmelt Tod, wie zu sich selbst.

»Was willst du von mir?«, zische ich.

»Ich will verstehen«, sagt er leise und mustert mich intensiv, »wieso du noch am Leben bist.«

Ich presse die Lippen zusammen. Der winzige Funke Hoffnung in mir wird größer. Wenn es Tods Schatten gewesen wären, die mir gerade die Flucht ermöglicht haben, würde er nicht solche Fragen stellen. Er wüsste die Antwort.

»Anhänger sterben, wenn ihr Unsterblicher stirbt.«

Er fixiert mich, als wolle er mich aufschneiden und herausfinden, was in meinem Inneren ist.

Hätte ich Leben nicht gerettet, wären alle gestorben. Ich wusste, was auf dem Spiel stand. Aber ich hatte es nicht wirklich verstanden. Nicht verstanden, dass es für alle gilt.

Silbers Klinge, die Hass den Hals aufschneidet. Tot.

Ein Messergriff in meiner Hand. Er fliegt von mir weg. Meine Beine geben unter mir nach, wie sie es bei Amaris getan haben. Übelkeit drängt gegen meine Kehle. All ihre Sachen, die vor meinen Augen verschwanden. Lewy, den ich festhielt. Was habe ich getan?

Mein Herz wummert laut und schnell in meiner Brust. Ich bekomme keine Luft mehr. Schwärze tanzt vor meinen Augen, die nichts mit der Dunkelheit um uns zu tun hat.

Loven. Wenn Loven tot ist, sind auch seine Anhänger tot. Die vielen Menschen beim Fest, die Frau, die mich Vögelchen nannte, die Heilerin. Meine Schuld. Ich bin verantwortlich. Er war meinetwegen in Schwarz. Er ist gekommen, um mir zu helfen. Wie Raedan.

Was habe ich getan?

SILBER

DIE TOTEN SIND TOT. UND BLEIBEN ES AUCH.

Ich erhebe mich. Blut glänzt dunkel auf meinen Händen. Ich schiebe das Messer wieder in sein Versteck, schlage die Hacken zusammen, sodass die Klingen an meinen Stiefelspitzen und am linken Unterarm einfahren. Hunger liegt vor mir, übersät von Schnitten. Zitternd und wimmernd.

Ein Letzter durch Haut und Gewebe und die Rache wäre meine. Nur würde ich damit nichts ändern. Jaery bliebe tot. Und vor diesen Toren stürben noch viele mehr. Zu viele Unschuldige sind heute gefallen. Ich werde keinen Einzigen hinzufügen.

»Du wirst niemandem mehr die Lebenskraft aussaugen. Du wirst keinen deiner Anhänger mehr töten.« Meine Stimme ist leise, aber so scharf, dass sie Stahl schneiden könnte.

Hunger nickt schnell. Unterwürfig sieht er mich an. Jede Ähnlichkeit zu meinem Vater ist verschwunden. Er ist kein stolzer Krieger, nur ein Weichei, ein Schwächling.

»Wo ist Jaerys Leiche?«

»Bei Trauer.«

Ich knirsche mit den Zähnen. Was habe ich anderes erwartet?

»Verschwinde. Wenn du auch nur einem Anhänger befiehlst, mich anzugreifen, werde ich jeden einzelnen töten.«

»Es sind zu viele!« Hungers Augen glänzen verräterisch. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er genau dies beabsichtigt.

»Nicht für mich«, erwidere ich, lächle und trete mit dem Stiefel auf sein Handgelenk.

Er ächzt vor Schmerz.

»Mein Name ist Viktoria.« Ich beuge mich zu ihm hinunter, bis ich die Schweißperlen auf seinem kalkweißen Gesicht zählen könnte. »Tochter von Krieg. Ich kann und werde sie alle töten. Und wenn ich erfahre, dass du dein Wort nicht hältst, trifft dich Kriegs Zorn!«

Hunger schaut mich aus schreckgeweiteten Augen an. Ein Blutstropfen bildet sich an seiner Schläfe.

Ich weiche zurück, gebe sein Handgelenk frei. Ohne ihm einen weiteren Blick zu zuwerfen, drehe ich mich um und marschiere auf die geöffneten Torflügel zu. Meine Schritte dröhnen laut in der verlassenen Halle wider. In verdächtiger Rekordgeschwindigkeit erreiche ich den Ausgang.

Der Himmel ist rabenschwarz, der Regen fällt so dicht, dass ich kaum drei Schritte weit sehen kann. Matsch spritzt bei jedem Schritt auf meinen Mantel und die Rüstung. Wasser klebt mir die Haare ins Gesicht und rinnt es in kleinen Sturzbächen entlang. Ich stapfe an den Leichen vorbei die Straße hinunter. Der Weg zu Trauer ist weit. Außer Grabsteinen, Mausoleen und einer gewaltigen Gruft, in der sie ihre Anhänger versammelt, gibt es dort nicht viel. Trotzdem ist ihre Anhängerschaft ziemlich groß. In Schwarz gibt es viele Gründe, um zu trauern.

Vor der Grenze zu Trauers Reich bleibe ich stehen. Es beginnt so plötzlich, als hätte jemand mit einem Schwert eine schnurgerade Linie gezogen. Eine graue Steinmauer ragt vor mir in die Höhe, die zerfallenen Häuser zu beiden Seiten der Straße sind nicht bis an sie herangebaut. Sie ist uneben und von Rissen durchzogen, gleicht eher einem Werk der Menschen als dem von Unsterblichen. Ein schmiedeeisernes Tor aus schwarzen Metallstreben steht offen. Der Schlamm der Straße wird zu einem Kiesweg aus ebenfalls schwarzen Steinen, der in eine nebelverhangene Düsternis führt. Ich war noch nie hier, obwohl alle menschlichen Überreste auf dem Friedhof zur letzten Ruhe gebettet werden. Jeder kann Trauers Reich betreten, kommen und gehen, wann er oder sie möchte, ihre Anhänger ausgenommen, aber ich kenne keinen Krieger, der es jemals getan hätte. Die Toten sind tot.

Ich überschreite die unsichtbare Grenze. An dem verdammten Regen ändert sich kein bisschen was. Inzwischen bin ich bis auf die Knochen durchnässt und durchgefroren. Jaery hat knapp dreißig Jahre in diesem Mistwetter verbracht.

So oft war ich in Hungers Territorium, erledigte Aufträge für den Mistkerl, brachte seine Anhänger zurück. Kein einziges Mal bin ich Jaery begegnet. Verdammtes Schicksal!

Der Kiesweg führt stur geradeaus, links und rechts erahne ich die Silhouetten von Grabsteinen, im gleichen Abstand führen Wege in die Düsternis. Ich folge keinem. Gehe einfach weiter. Irgendwann werde ich schon auf einen Anhänger von Trauer treffen.

Als hätte ich sie mit dem Gedanken herbeigerufen, schält sich eine Gestalt aus dem Regen. Der Mann ist einen guten Kopf kleiner als ich und trägt eine dunkelgraue, knochentrockene Robe, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Verdammte Magie!

»Wie kann ich Euch helfen, Suchende?«

»Jaery«, knurre ich bloß.

Der Mann nickt, dreht sich wortlos um und läuft zielgerichtet los. Kennt er jeden verdammten Grabstein?