Zwischen Hass und Liebe - Emma Marten - E-Book

Zwischen Hass und Liebe E-Book

Emma Marten

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Beschreibung

Gefangen in Dunkelheit, um Rache zu üben. Leben ist gerettet, aber dafür hat Selena einen hohen Preis bezahlt. Verzweifelt sucht sie einen Weg zurück nach Schwarz, um sich an Chaos zu rächen. Dabei erhält sie unerwartet Hilfe von einem Unsterblichen. Loven sieht etwas in Selena, was alles infrage stellt, was sie zu wissen glaubt. Aber kann sie Loven vertrauen? Ist Liebe stärker als Hass?

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Für diejenigen, die wir verloren haben

und gerne noch an unserer Seite hätten

Tod

Tod ist unsterblich.

Aber Dunkelheit ist alles verschlingend.

Dunkelheit.

Alles verschlingende Dunkelheit.

Sie ist allumfassend. Düster. Mächtig. Gewaltig. Sie füllt meine Welt. Sie füllt mich. Sie ist ich.

Ich schlage die Augen auf. Die Dunkelheit weicht wie eine Welle zurück. Schwarzglühende Flammen entzünden sich aus dem Nichts und werfen flackernde Schatten auf die Säulen und Wände meines Thronsaals. Sie schimmern wie verflüssigte Finsternis.

»Bruder?«

Ich wende den Kopf und bemerke, meine Zwillingsschwester Leben am Fuß der Stufen stehen. Ihre blonden Haare schimmern wie Gold und ihre Haut wie Mondlicht. Schnell erhebe ich mich von meinem Thron und eile die Stufen zu ihr hinunter.

»Was tust du hier?«, frage ich. »Schwarz macht dich krank.«

»Ich musste dich sehen.« Das Lächeln erreicht ihre smaragdgrünen Augen nicht. Sie wirken stumpf. »An was erinnerst du dich?«

»An Dunkelheit. Ich bin gekommen, um die Seelen Verstorbener weiterzuführen auf ihrem Weg.«

Das Lächeln fällt in sich zusammen. Liv wendet sich ab.

Ich habe nichts Falsches gesagt. »Das ist meine Aufgabe. Wie es deine ist, Leben zu schenken.«

»Ja«, stimmt sie mir leise zu.

»Sollte ich etwas wissen?« Mich beschleicht das Gefühl, dass sie mir etwas Wichtiges verschweigt.

Leben schüttelt den Kopf. »Deine Untergebenen kommen bald. Du solltest dich vorbereiten.«

»Ich bin vorbereitet, Schwester.« Ich fasse ihre Schulter und drehe sie zu mir herum. »Was verschweigst du mir?«

»Dein Vorgänger wurde ermordet.« Sie spricht so leise, dass ich die Worte kaum vernehme.

»Mein Vorgänger?«

»Du bist gerade wiedergeboren worden, Bruder«, erklärt sie.

»Wer hat es getan?« Wer ist so mächtig, dass er meinen Vorgänger besiegen konnte? Ich bin der Mächtigste!

»Das weiß ich nicht.« Sie löst meine Hand von ihrer Schulter und geht hinüber zum Portal. Der Spiegel, durch den das Portal nach Weiß führt, schwebt in einer Ecke hinter dem Thron. Schwarze Nebelschwaden umschlingen ihn.

Liv wirkt kleiner, als drücke ein Gewicht sie nieder. Ihre Kraftlosigkeit vibriert in meinen Knochen. Ich muss sie beschützen. Sie ist alles, was ich habe.

Kurz davor dreht meine Schwester sich noch einmal zu mir um. Ihren Gesichtsausdruck kann ich nicht lesen.

»In dir steckt sehr viel Gutes, Bruder. Vergiss das nicht.« Sie wendet sich ab, schreitet durch das Portal nach Weiß. Licht rahmt ihre Gestalt ein, dann schwingen grüne Vorhänge auf ihrer Seite zu.

Ich starre noch ein paar Augenblicke auf den Spiegel und überlege, was sie damit gemeint haben könnte. Ich bin Schwarz, ich bin Dunkelheit. Sie ist Weiß, sie ist Licht. Wenn einer von uns die Bezeichnung »gut« verdient, dann ist sie es.

Eine Feuerzunge rast durch mich hindurch. Meine Untergebene Hass hat die erste Stufe zu meinem Reich betreten. Ihre Anhänger folgen ihr wie eine Armee. Sie ist stark. Ihre Loyalität brennt unter meiner Haut.

Ruckartig drehe ich mich um und setze mich auf meinen Thron. Ich lasse den Spiegel in Dunkelheit verschwinden. Die wabernden Schatten umschließen mich, wirbeln hinter mir wie Nebelfetzen.

Lange brauche ich nicht zu warten. An der Stirnseite der Halle öffnen sich geräuschlos die Torflügel, die fast bis zur Decke reichen. Hass marschiert in ihrer menschlichen Gestalt auf mich zu. Sie trägt ein bodenlanges, blutrotes Kleid, das mit Rubinen verziert ist. Ein Schlitz auf der linken Seite entblößt ihr blasses Bein bis zur Hüfte. Vor den Stufen sinkt sie in einen tiefen Knicks und lässt auf ihrer Hand eine Blume aus Flammen entstehen. Meine Dunkelheit greift nach der Blüte und verleibt sie sich ein. Hass erhebt sich lächelnd. »Nennt mich Aina, meine Dunkelheit.«

Ich akzeptiere mit einem Nicken. Sie weicht zur Seite, den Kopf in Ehrerbietung gesenkt.

Krieg betritt als nächster den Thronsaal. Seine Löwenmähne leuchtet im Licht der schwarzen Flammen. Er trägt ein mächtiges Breitschwert auf dem Rücken. Seine goldene Rüstung glänzt frisch poliert. Er wirft Aina einen Blick zu, den ich nicht deuten kann. Als er die Stufen vor dem Thron erreicht, kniet er nieder und präsentiert mir sein Schwert. »Ich bin Euer, Tod. Befehlt, und ich gehorche. Man nennt mich Viktor, weil ich stets siege.«

Aina stößt einen Zischlaut aus und verdreht die Augen. Viktor achtet nicht auf sie und verharrt in seiner Position. Ich greife mit der Dunkelheit nach seinem Schwert und färbe die Klinge mitternachtsschwarz.

»Erhebe dich, Viktor.«

Er gehorcht und weicht wie Aina zur Seite.

Ein Mädchen nimmt den Platz vor den Stufen ein und verbeugt sich so tief, dass seine offenen Haare den Boden berühren. Es trägt ein Kleid aus schimmernder Seide, das es fast wie eine Seele wirken lässt. So kann Angst sich bestimmt auch mit ihrer Gestalt gut verstecken.

»Ruft Vrees, mein Herr, und ich werde kommen.« Sie erhebt sich und ihre großen dunkelbraunen Augen starren mich an, ohne zu blinzeln. Auf ihrer kleinen Hand streckt sie mir einen Spiegel entgegen. Auch ihn fülle ich mit Schwärze. Dann huscht sie neben Viktor.

Rache schreitet zu meinem Thron, als wäre er ihr eigener. Ihre schmalen Augen glühen rot, passend zu ihrem weiten Kleid. Dornenranken winden sich um ihre Hüfte, ihre linke Schulter und den Arm, ohne sie zu verletzen. Auf ihren ebenholzschwarzen Haaren sitzt eine Krone aus Dornen und roten Blüten, die wie Blutstropfen aussehen. Vor den Stufen bleibt sie stehen und neigt lediglich den Kopf.

Ärger wallt in mir auf. Meine Macht überwältigt ihre und beugt ihren Rücken.

Aus der gezwungenen Verbeugung heraus funkelt sie zu mir hoch, die Kiefer angespannt. »Man nennt mich Akame, Tod, und ich fordere mein Recht ein, mein Reich vor Unerwünschten verschließen zu dürfen.«

»Beweise mir deine Loyalität, dann ist dein Recht wirksam.«

Akame streckt den linken Arm aus, ein blutroter Apfel erscheint auf ihrer Handfläche. Meine Magie färbt ihn glänzend schwarz wie Tinte, dann lasse ich Rache sich wieder aufrichten. Sie wirft mir noch einen wütenden Blick zu, bevor sie sich in die Schatten verzieht.

Die nächsten Unsterblichen betreten den Raum zu dritt. Hunger, Krankheit und Trauer schleichen den Gang entlang. Ringe funkeln an Hungers Fingern, Krankheit wirkt neben ihm farblos, aber ein intensiver Duft nach Kräutern geht von ihm aus. Trauers schwarze Haare enden knapp unter ihrem Kinn, auf ihrer blassen Wange glänzt eine schwarze Träne wie ein Regentropfen. Sie verbeugt sich von den Dreien am tiefsten.

Pech stolpert fast über seine Füße, als er sich verbeugt. Scham schaut die ganze Zeit zu Boden und verbirgt ihre Augen hinter ihrem Pony. Torheit grinst dümmlich vor sich hin und begreift den Ernst der Lage nicht.

Ungeduld breitet sich in mir aus, je länger die Zeremonie dauert. Die Magie der niederen Unsterblichen ist so armselig, dass sie kaum den Namen verdienen.

Schließlich betritt der letzte meiner Untertanen den Raum. Chaos trägt einen Mantel, der auf der einen Seite weiß auf der anderen schwarz ist. Sein Kopf ist kahlrasiert. Er sinkt auf ein Knie, nicht ohne den Umhang effektvoll aufzubauschen.

»Wenn Ihr nach Chaos verlangt, ruft Xaoc. Und Euer Leben wird durcheinandergewirbelt.«

Er lässt auf seiner Handfläche einen Wirbelsturm entstehen, der durch meine Magie schwarz wird.

Im Halbkreis stehen nun dreiundzwanzig Unsterbliche vor mir. Sie alle haben mir die Treue geschworen. Aber einer von ihnen ist ein Verräter. Nur Unsterbliche können Unsterbliche töten.

»Wer hat meinen Vorgänger ermordet?«

Totenstille senkt sich über die Halle. Weder ein Scharren von Stiefeln noch das Rascheln von Kleidern ist zu hören.

Schließlich sinkt Aina in einen tiefen Knicks. »Es war Chaos, meine Dunkelheit.«

Mein Blick richtet sich auf den Unsterblichen, der mir direkt gegenübersteht. Erschrocken schaut er von einer zu anderen Seite, als erwarte er Hilfe von den anderen.

»Er hat Euch ermordet«, spricht Aina weiter.

»Stimmt das?«, knurre ich.

Viktor tritt vor. »Es ist wahr. Aber Chaos hat bereits seine Strafe ereilt. Wie Ihr wurde er wiedergeboren.«

»Ich sage, wann er bestraft wurde.«

Meine Dunkelheit schießt vor. Chaos hat meiner Macht nichts entgegenzusetzen. Er kann nicht mal schreien, bevor meine Schwärze ihm den Kopf vom Rumpf trennt. Der Körper sackt in sich zusammen und löst sich im nächsten Augenblick in schwarzweißem Feuer auf.

Angst verbirgt die Augen hinter ihren Händen. Trauer läuft eine Träne über die Wange. Torheit kichert.

Vor meinem Thron lodert eine schwarzweiße Flamme, aus der Chaos erneut geboren wird. Aber meine Wut ist noch nicht erloschen. Ein zweites Mal töte ich ihn binnen Wimpernschlägen.

Als er zum dritten Mal an diesem Tag wiedergeboren wird, tritt Krieg vor. Er starrt mir in die Augen, macht sich ein Stück größer als er ist. Meine Magie prallt auf seine und seine hält stand.

Ich presse die Zähne aufeinander, dass es schmerzt.

»Es ist genug, Tod. Xaoc erinnert sich nicht einmal daran, was er getan hat.«

Ein Knurren dringt aus meiner Kehle, trotzdem zügele ich meine Magie. Ich lehne mich in meinem Thron zurück.

»Erweise mir deine Loyalität, Xaoc. Aber wenn du nur einmal gegen mich aufbegehrst, wirst du erneut sterben. Ich habe nichts übrig für Gesetzesbrecher und Verräter.«

»Ja, ja, Herr«, winselt Xaoc auf Knien.

Wie zuvor beschwört er seinen Wirbelsturm, aber er zittert. Nachdem ich ihn mit meiner Magie schwarz gefärbt habe, schicke ich ihn zurück in die Reihe.

Krieg tritt wieder neben Angst.

Ich erhebe mich von meinem Thron und starre jedem einzelnen in die Augen.

»Schwarz ist Dunkelheit. Schwarz ist Finsternis. Schwarz ist mein Reich. Ich bin Tod. Ihr gehorcht meinen Gesetzen. Ihr seid meine Augen, meine Ohren, meine Münder und meine Hände. Gehorcht mir und euch wird es an nichts mangeln. Widersetzt euch, und ihr werdet meinen Zorn spüren. Ich bin Tod. Mein Wort ist Gesetz.«

Ich lasse meine Macht durch den Thronsaal strömen, flute gegen die Magie meiner Untertanen, fege ihren Schutz beiseite und lasse sie meine Stärke spüren. Die niederen Unsterblichen fallen zuerst. Krachend schlagen ihre Kniescheiben auf den schwarzen Fliesen auf. Hunger, Krankheit und Trauer stürzen im selben Herzschlag. Danach folgt Chaos. Angst. Rache.

Krieg und Hass funkeln sich an. Niemand ist bereit, nachzugeben. Aber meine Magie drischt unaufhörlich auf sie ein. Krieg bricht zusammen, auch wenn ich spüre, dass er mächtiger ist als Hass. Doch er hat sich bei der Verteidigung von Chaos verausgabt. Schließlich sinkt auch Hass zu Boden.

Nur Augenblicke später lasse ich meine Magie verstummen.

»Erhebe dich, Aina. Du wirst meine Stellvertreterin sein.«

Silber

Ich habe keine Furcht.

Vor niemandem.

Meine Armbänder klirren, als sie darüberstreicht. Ihr Zeigefinger wandert meine Schulter hinauf, weicht einer Narbe aus, umrundet meine Brüste und berührt den silbernen Ring an meinem Bauchnabel. Die Lust brennt in meinem Körper, aber ich halte mich zurück. Ihre Rehaugen erkunden fast schüchtern jeden Teil von meinem nackten Körper. Die Narben machen ihr Angst.

Um ihr zu helfen, greife ich ihre Hand, führe sie zu einer wulstigen Narbe an meiner Hüfte.

»Silber«, haucht sie.

»Es tut nicht weh.«

Auf ihrer makellosen Haut finde ich weder Narben noch ausgeprägte Muskeln. Als Tochter eines Arztes hat sie nie um ihr Leben kämpfen müssen. Ihr Vater hat sie offenbar so gut behütet, dass sie keine Einblicke in sein Geschäft bekommen hat. Andererseits hinterlassen Ärzte kaum Narben.

»Sicher? Mein Vater könnte sie verschwinden lassen.«

»Nein!« Jede Narbe ist eine Erinnerung.

Ihre Hand hält zitternd inne.

»Sie gehören zu mir«, füge ich leiser, weniger scharf hinzu.

Vom Aussehen schätze ich sie drei Jahre jünger als mich selbst, volljährig, zumindest sah ich sie vor ein paar Tagen ihren Geburtstag in der Schenke feiern und mit ihren Freunden anstoßen. Ich spürte sofort ihren Blick auf mir, die Faszination, die meine Muskeln und meine Waffen auf sie ausübten. Die immerwährende Gefahr, die sie nur am Rande ihres Lebens streift. Gefahr ist verlockend. Heute war sie wieder da. Alleine. Sie gab mir einen Drink aus. Flirtete mit mir, als sei ich eine gewöhnliche junge Frau aus Arztkreisen.

»Woher hast du die?« Sie streicht über eine feine Narbe an meinem Oberschenkel.

»Da hat mich mein bester Freund beim Kampftraining erwischt. Den einzigen Treffer, den er jemals anbringen konnte.«

»Und die?«

Dunkelheit bricht über uns zusammen. Taucht die Welt in Schwärze.

Sie schreit erschrocken auf. Ich springe auf die Füße, greife zielsicher nach meinem Dolch und erwarte den Eindringling. Aber in der Stille ist nichts außer ein paar entfernten Schreien und einem Fluch zu hören. Angst würde niemals ihre Anhänger so erschrecken, die würden dabei eher draufgehen, als dass die Unsterbliche einen Nutzen davon hätte. Ein anderer Unsterblicher? Chaos womöglich, der sich einen blöden Scherz erlaubt? Oder hat Krieg mich gefunden? Aber Dunkelheit ist nicht Kriegs Stil.

»Silber?«, flüstert die Arzttochter.

Ich taste nach meiner Lederkleidung auf dem Boden und ziehe mich geräuschlos an, ohne meinen Dolch aus der Hand zu legen. Nacktheit macht mir zwar nichts aus, aber trotz meiner schnellen Reflexe bin ich nicht unbesiegbar. Die Rüstung verleiht mir Schutz, zusätzlich zu meinen Fertigkeiten. Diese Dunkelheit ist mir nicht geheuer.

»Silber?«, wiederholt sie panisch.

Ich wende mich ihr zu. Da beginnt die Schwärze zu glühen. Es ist eine Art Licht, die ich nie zuvor gesehen habe. Als leuchte die Nacht plötzlich mit einer Intensität von goldgelben Sternen, die es am Nachthimmel von Schwarz seit Urzeiten nicht mehr gegeben hat. Wir sind nicht mal unter freiem Himmel. Sondern in einem Zimmer, das nur von Kerzen erhellt wurde.

Ich presche zum Fenster, reiße die Läden auf und lehne mich hinaus. Draußen ist es pechschwarz. In Angsts Reich ist es niemals vollkommen dunkel. Ich kann weder Menschen noch die gegenüberliegenden Häuser erkennen. Nur dieses pulsierende Licht, wie ein Herzschlag. Licht, das die Schwärze noch dunkler und tiefer wirken lässt.

Es ist gleichzeitig unheimlich und faszinierend. Unwillkürlich passt sich mein Herzschlag dem Flackern an.

»Tod«, raunt entfernt eine Stimme, als schabten Knochen übereinander.

Mir stellen sich die Nackenhaare auf. Wie ein Crescendo werden unsere Herzschläge schneller. Ich wage kaum, zu atmen.

»Tod. Tod. Tod«, fährt die Stimme fort. Sie besitzt nichts Menschliches.

Immer und immer wieder nur dieses eine Wort, als hätten wir je vergessen können, wer Herr über Schwarz ist. Die junge Frau wimmert. Stoff raschelt, wahrscheinlich hat sie sich die Bettdecke über den Kopf gezogen.

Ein Brüllen überlagert für einen Moment die gruselige Stimme und ich erahne eine Straße weiter, dass Angst in ihrer Monstergestalt vorüber stapft. Der Tierkopf mit dem schwarzen Fell glitzert in der Dunkelheit, als seien leuchtende Steinchen in jedes einzelne Haar gewoben worden.

Ich schnappe mir meine Katanas, die ich neben die Tür gelehnt habe, und schnalle mir die Scheiden an die Hüften.

Die Arzttochter wimmert immer noch und bekommt nicht mit, wie ich das Zimmer verlasse.

Ich stolpere fast über den Wirt, der auf dem Boden hockt und sich die Hände auf die Ohren presst. Gäste höre ich keine. Ich eile die gepflasterte Straße hinunter, die bei jedem Schritt ein Klirren verursacht, weil ich nicht zu Angsts Anhängern gehöre. Ihre Paranoia, manchmal hasse ich sie. Gabenlose und Anhänger haben sich zusammengekauert, wo sie gerade standen. Mehrmals remple ich welche an, die nicht einmal protestieren.

Endlich an Angsts Grenze angekommen, bleibe ich stehen. Kriegs Territorium beginnt an meinen Stiefelspitzen. Angst wartet in der Mitte des riesigen Platzes. Eine Treppe flankiert von zwei Kriegerstatuen führt hinunter in Tods Ebene. Sie ist so breit wie mehrere Villen. Die Häuser zu allen Seiten des Platzes sind wuchtig und von der Zeit unberührt, obwohl niemand darin wohnt. Zu nah ist Tods Reich. Krieg stürmt von rechts über den Platz auf Angst zu. Auch sein goldenes Haar und sein Bart leuchten wie mit Diamanten besetzt.

Dann erklingt das Geräusch von Hunderten von Schritten. Unwillkürlich schließe ich meine Hand um den Griff eines Katana. Hass überschreitet auf der gegenüberliegenden Seite die Grenze zu Kriegs Territorium. Ihr folgen ihre Anhänger wie eine Armee. Fackeln erhellen die Dunkelheit.

Sie wartet nicht auf Krieg oder Angst und betritt als erste die Treppe zu Tods Ebene. Ein Regelverstoß. Krieg, als Tods Stellvertreter, gebührt diese Ehre.

Hass Anhänger folgen ihr. Ich zähle. Bei zweihundertvierzehn angekommen, ist die letzte Reihe von Hass Anhängern verschwunden.

Was geht da vor sich? Wieso versammelt Tod seine Getreuen um sich? Hat er womöglich Chaos getötet und will mit ihnen seinen Sieg feiern?

Ich wage es nicht, die Grenze zu überschreiten. Krieg ist so nah. Vielleicht ist er zu abgelenkt, um mich zu spüren. Aber sobald ich sein Reich betrete, weiß er es.

Aber mich wieder in Angsts Reich zu verkriechen, ist keine Lösung. Etwas geht da vor sich. Ich muss es herausfinden. Nur wenn ich weiß, aus welcher Richtung die Gefahr kommt, kann ich mich dagegen wappnen.

Weiße Seelendiebin

Ich bin kein Werkzeug.

Ich bin ein Mensch.

Was ich hier tue, spricht gegen alles, was ich gefordert habe. Es widerstrebt allem, was ich mir gewünscht habe, wonach ich gelebt habe.

Und trotzdem tue ich es.

Weil Menschen dumm und sentimental sind. Und so sehr ich mir wünsche, nicht diese sterblichen Empfindungen zu haben, bin ich doch genau das. Ein Mensch. Ein Mädchen.

Mit Gefühlen.

Mit Ängsten.

Mit Wünschen und Hoffnungen.

Ich wurde nie als Mensch behandelt. Ich war ein Ding, ein Mittel zum Zweck, ein altes Spielzeug, das von Nutzen war, wenn eine bestimmte Aufgabe erledigt werden musste. Wenn Leben sich nicht vom Leben trennen konnte.

Ich schnaube in die Nachtluft und muss direkt husten. Der Rauch kratzt in der Kehle. Wie ein Nebelschleier hängt er über Lebens zerstörtem Palast. Auf dem Platz davor, der geschwärzten Wiese und den Blumenbeeten, die die Chaosanhänger angezündet haben, stehen Menschen. Gabenlose und Anhänger aller weißen Unsterblichen. Jeder trägt eine Kerze.

Rundum regnet es. Nur auf sie fällt kein Tropfen.

Ich streiche mir die klitschnassen Haare aus der Stirn. Das Buch habe ich sicher versteckt, bevor ich zurückgekommen bin. Niemand wird es finden, bis ich es holen gehe. Vielleicht werde ich das auch nie und kehre meinem bisherigen Leben endgültig den Rücken.

Niemand weiß, dass ich überlebt habe.

Ich wende mich vom Palast ab, der einmal vor Leben gesprüht hat und jetzt nur noch aus Erinnerungen und Asche besteht.

Der Baumstamm ist schwarz verkohlt, aber noch nicht auseinandergefallen, so massiv ist er gewesen. Ich habe ihn nicht oft von außen gesehen. In den wenigen gestohlenen Nächten war der Nachthimmel faszinierender für mich.

Trauer wallt auf, ich dränge sie zurück. Später werde ich Zeit dafür haben.

Die Falltür ist weggesprengt worden. Ich beginne den langen Abstieg. Teste jede Sprosse, bevor ich mein ganzes Gewicht darauf verlagere. Nur zwei brechen weg. Es erschreckt mich nicht. Die Panik des Abends hat mich losgelassen und eine Ruhe zurückgelassen, die gruselig sein könnte, wäre ich nicht gerade dankbar für sie.

Ruhe ist Vernunft. Vernunft hilft bei Entscheidungen.

Trotzdem kraxele ich in die Tiefe. Vernünftig würde Cassian es nicht nennen. Eher abenteuerlustig, selbstmörderisch.

Der Rauch konnte zwar abziehen, aber alles riecht nach Ruß und Asche. Die Wände sind kohlrabenschwarz.

Unten angekommen, stöhne ich auf. Ich steige durch den Eisenrahmen, der von der Tür übrig geblieben ist, und betrete den Gang der Unterkünfte. Die Wände sind schwarzverkohlt. Ein kurzer Blick verrät mir, was ich sowieso weiß: das Feuer hat nichts übrig gelassen. Keine Überreste meines Lebens, keine der wenigen Besitztümer, nichts.

Ich schlucke, huste und gehe weiter. An Cassians Unterkunft laufe ich vorbei, ohne hochzuschauen. Im Seelenraum bleibe ich das erste Mal wieder stehen. Die Seelen! Die Glasgefäße haben das Feuer einigermaßen unbeschadet überstanden, aber kein einziges leuchtet mehr. Ich strecke meine Magie aus, taste über jeden Diamanten. Leer. Alle leer.

Seelen sind so leicht zu zerstören. Manchmal reichen Worte.

Ein Schluchzen ballt sich in meinem Inneren zusammen, gepaart mit Wut und Verzweiflung. All diese Menschen. Auch wenn viele nur als Hülle gelebt haben, haben sie gelebt. Sie haben Emotionen verspürt, haben Menschen geliebt. Zweihundertachtunddreißig Seelen, einundvierzig davon habe ich selbst gestohlen.

Ausgelöscht.

Ein Schrei löst sich von meinen Lippen. Ein Schrei gegen die Ungerechtigkeit der Welt, der Unsterblichen, des Lebens.

Opfer, die ihre Lieben zurücklassen.

Opfer, die wehrlos waren.

Ich will irgendetwas werfen, zertrümmern, zerschlagen. Aber hier ist nichts außer Asche.

Ich sacke auf die Knie und grabe meine Finger hinein. Die Bibliothek kann und werde ich mir nicht ansehen. Von den Büchern wird auch nichts weiter übrig geblieben sein.

Tränen laufen mir über die Wangen.

Was bin ich, wenn alle Seelendiebe tot sind?

Wenn unser Zufluchtsort zerstört wurde?

Wenn es keine Seelenfetzen mehr gibt, um die wir uns kümmern können?

Langsam verstehe ich die Seelenbewahrerin. Sie wusste so wenig über ihre Fähigkeit und hat sie doch verabscheut.

Ich fühlte mich durch sie besonders. In ein Wissen eingeweiht, das selbst Leben nicht kannte.

Aber wir, alle weißen Seelendiebe, waren nichts Besonderes, nur Mittel zum Zweck. Wir durften sterben. Einer nach dem anderen, obwohl es keinen Unterschied machte. Leben hätte sich nach dem ersten Misserfolg weigern können, aber sie hat alle Volljährigen geopfert. Ausnahmslos. Zwölf Leben umsonst. Zwölf Opfer umsonst.

Dreizehn.

Denn meines ist seither auch zerstört.

Energisch stehe ich auf. An meiner Kleidung und an meiner Haut klebt Asche.

Ich werde nie wieder eine Seele stehlen. Im Gegensatz zu der Seelenbewahrerin werde ich mich an diesen Schwur halten. Soll Leben doch zusehen, wie sie ohne uns klarkommt.

Sie wird schon merken, was sie davon hat.

Ich gehe zu dem Regal, an dem ich meine zuletzt gestohlene Seele verwahrt habe. Der Diamantbehälter ist leer, das metallene Namensschild geschmolzen. In den Staub schreibe ich drei Buchstaben. So wollte die Frau ihre ungeborene Tochter nennen. Ein weiteres Leben, das nicht die Chance erhält, zu wachsen.

Ich betrachte meine krakelige Handschrift. Cassian hätte mich deswegen aufgezogen. Aber ich habe es nie eingesehen, die Lesbarkeit meiner Schrift zu verbessern, ihr Schnörkel und runde Bögen zu verpassen. Lesen wird es niemand.

Drei Buchstaben, die aus mir mehr machen, als ich bin.

Die aus mir einen beliebigen Menschen machen.

Lyn.

Jetzt muss ich nur die weißen Haare loswerden.

Selena

Sterben ist leicht.

Zurückbleiben ist schwer.

Ich habe keine Schmerzen.

Jede Zelle meines Körpers weiß, dass ich Schmerzen fühlen sollte. Alles verschlingende Qualen.

Aber da ist nichts. Nicht der leiseste Druck, als schwebe ich auf Wolken. Ich atme, höre meinen Herzschlag und das Blut in meinen Ohren rauschen. Alles sagt mir, dass ich am Leben bin. Aber das ist nicht möglich.

Ich hätte sterben sollen. Wenn ich die Augen öffne, bin ich in Raedans Palast und er wartet nur darauf, dass ich erwache. Ich wünsche mir so fest, seinen Blick auf mir zu spüren, dass ich die Augen vor Konzentration zusammenkneife.

Nein, es kann nicht wahr sein. Raedan ist tot. Chaos hat ihm einen Dolch ins Herz gestoßen. Ich habe gesehen, wie er in Dunkelheit explodiert und mit seinem Feind verschwunden ist. Ausgelöscht. Weggebrannt.

Aber Raedan war Tod. Da kann er doch nicht sterben?

Doch kann er, raunt die übermächtige Stimme in meinem Kopf. Unsterbliche sterben in ihrer menschlichen Form wie Menschen.

»Gut, du bist wach«, erklingt eine fremde Männerstimme. Sie klingt leicht spöttisch, überlegen, aber nicht unhöflich, sondern eher freundlich, vielleicht sogar warmherzig.

Die Stimme gehört nicht Raedan. Nicht mal jemandem, den ich kenne. Wo bin ich? Was macht er hier? Wieso wartet er darauf, dass ich aufwache? Woher weiß er, dass ich nicht mehr schlafe?

»Mach die Augen auf, dann wird’s gleich heller.«

In meinem Leben war es niemals hell und ich weiß nicht, ob ich das überhaupt will. Mein Kopf und mein Körper erinnern sich an Raedans Dunkelheit.

Ich will die Augen nicht öffnen. Will nicht in einer Welt aufwachen, in der ich in einer Schuld stehe, die ich nicht begleichen kann. In der Raedan nicht mehr existiert und Chaos seinen Platz als Tod eingenommen hat.

»Du musst keine Angst haben.«

Ich habe vor nichts und vor allem Angst. Aber die Worte regen Trotz in mir. Ich öffne die Augen und schaue in ein Gesicht. Ein Lächeln liegt auf seinen schmalen Lippen und in seinen braungrünen Augen. Eine dunkelbraune Locke fällt ihm in die Stirn und lässt die Seitenscheitelfrisur etwas lockerer und ungeordneter wirken. Sein Gesicht ist schmal, die Hautfarbe blass, die Augen etwas kleiner, als sie sein sollten, die Nase dafür etwas größer. Überaus menschlich in seiner Unperfektheit.

»Habe ich zu viel versprochen?«

Ich setze mich auf. Auf den ersten Blick erkenne ich, dass ich nicht mehr in Livs Palast bin, selbst nicht in einem Teil, der vom Feuer verschont geblieben sein könnte. Rosenblüten bedecken meine nackten Beine, kleben an meiner Haut, ohne dass ich sie spüre. Sie bilden eine seltsame Decke. Das Bett ist so groß, dass drei Leute bequem darin Platz finden würden. Über mir spannt sich ein weinroter Samtbezug und in die Bettpfosten sind verschnörkelte Figuren eingeschnitzt. Durch ein großes Fenster auf der linken Seite fällt warmes Licht herein. Ansonsten ist das Zimmer leer, abgesehen von dem Fremden und dem einfachen Holzstuhl, auf dem er sitzt.

»Wer bist du?«

»Ich?« Er sieht sich um, als könne ich noch jemand anderen meinen.

Komisch, er muss doch wissen, dass wir alleine sind. Misstrauisch verenge ich die Augen.

Er schaut mich wieder an, jetzt mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen. »Ich bin Loven.«

Die weiße Tapete ist wie mit Silber bestäubt und die Tür ein Rundbogen aus weißem Holz, in das verschlungene Symbole eingraviert sind, die wie Spiralen aussehen. Im Schloss steckt kein Schlüssel. Ich könnte jederzeit aufspringen und weglaufen. Der Mann sieht nicht aus, als könnte er mich aufhalten.

»Wo bin ich?«

»Im Nest.«

Noch eine seltsame Antwort. Trotz seines offenen Gesichts sieht er nicht so aus, als würde er das weiter ausführen.

Ich straffe meine Schultern und nehme meinen ganzen Mut zusammen.

»War es ein Traum?« Ich kann nicht anders fragen. Ich brauche den winzigen Funken Hoffnung.

Die Heiterkeit weicht aus seinen Gesichtszügen und seine Schultern sinken herab. »Unglücklicherweise nicht.«

Schmerz schneidet rasiermesserscharf in meine Brust, mit Widerhaken, die sich in mein Fleisch bohren. Mein Kopf ist wie leer gefegt. Da ist nur Schmerz.

Ich habe Leben gerettet, aber Tod verloren.

»Raedan?«, hauche ich.

Ich kenne die Antwort, bevor Loven sie ausspricht. Tränen steigen mir in die Augen. Ich bohre meine Zähne in die Unterlippe, um dem Schmerz entgegenzuwirken, der seine Klauen tief in meinen Körper gräbt. Ich habe versagt.

»Er ist fort«, antwortet Loven bedauernd.

Seine Hand scheint sich wie von selbst zu heben, um mir eine Locke hinters Ohr zu streichen. Meine schießt vor. Er zieht sie zurück, starrt einige Augenblicke darauf und dann mich mit großen Augen an, wie überrascht.

Meine Hand schmerzt, wo ich seine getroffen habe. Fass mich nicht an, brennt mir auf den Lippen.

Raedan ist fort. Weg. Ausgelöscht.

Ich werde immer in seiner Schuld stehen. Er hat sich für mich geopfert. Er hätte gewinnen können, wenn ich nicht bei ihm gewesen wäre. Wenn ich mit Jaery gegangen wäre.

Dann wäre Liv gestorben, raunt eine leise Stimme in meinem Innern.

Die winzig kleine Tatsache, die mich nicht zusammenbrechen lässt: Jaery, Lewy, Owen am Leben. Meinetwegen. Was sind wenige Leben im Vergleich zu tausenden?

Nichts, würde Leben sagen.

»Ich verspreche dir, ich werde dir nie etwas antun.«

Ich nehme die Stimme des Fremden wie aus weiter Ferne wahr.

Ich hielt mich für unbesiegbar. Deswegen war ich in diesem Thronsaal. Deswegen stellte ich mich Chaos entgegen.

Ich habe mich geirrt. Ich war dumm!

Ich bin bloß eine Sterbliche, die vor wenigen Wochen das Kämpfen erlernt hat. Eine Sterbliche, die sich für stark genug hielt, es mit Unsterblichen aufzunehmen.

»Wo ist Liv? Geht es ihr gut?«

Sie ist am Leben, sonst wären wir nicht hier. Aber ihre Seele könnte in Mitleidenschaft gezogen worden sein. Alles Mögliche könnte passiert sein.

»Es geht ihr gut.«

Ich atme zittrig aus. Wenigstens das. Wenigstens eines habe ich geschafft. »Wo bin ich hier?«

»Im Nest.«

Wieder diese seltsame Bezeichnung.

»Ich habe dich hergebracht.« Ein warmes Lächeln spielt um seine Mundwinkel.

»Wieso?«

»Weil du hier sicher bist.«

Ich bin nirgends sicher. Das hat Chaos’ Angriff gezeigt.

»Oh doch.« Loven zwinkert mir tatsächlich zu. »Du kannst mir vertrauen!«

Vertrauen?

»Wo ist Liv?« Ich muss mit ihr reden. Muss sie bitten, dass sie Chaos besiegt. Krieg könnte das. Er ist ein meisterhafter Kämpfer.

»Nicht hier.«

»Wo ist meine Kleidung?«

»Ich habe sie entsorgt. Man konnte sie nicht mehr wirklich Kleidung nennen.«

»Wer hat mich umgezogen?« Scham und Wut bilden, sich in meinem Magen.

»Eine Freundin. Ich kann dir andere Kleidung bringen lassen. Aber ich dachte, du würdest gerne sehen, dass nicht eine Narbe zurückgeblieben ist.«

Meine linke Hand schnellt zu meinem Rücken. Erleichterung flutet mich, als ich die wulstigen Narben spüre. Seltsam. Früher waren sie ein Zeichen meiner Schwäche, ein Symbol der Demütigung durch meinen Vater, aber sie sind ein Teil von mir. Ich habe durchgehalten, ich habe überlebt.

»Ich meinte, keine neuen Narben. Dass diese eine Bedeutung haben, habe ich mir gedacht.« Der Mann sieht mich aufmerksam an, als könnte er direkt in mein Inneres schauen.

Eine Gänsehaut jagt über meinen Körper. »Ich möchte mich gerne anziehen.«

»Selbstverständlich.« Er lehnt sich an mir vorbei zum Bett und ich weiche unwillkürlich zurück.

Lächelnd hält Loven mir einen Kleiderstapel entgegen. Eine dunkelblaue Hose und ein weißes Hemd. Wo hat er die denn hergezaubert? Kaum habe ich sie entgegengenommen, dreht er sich um.

Ich warte noch einen Moment, dann schlüpfe ich schnell in die Sachen, die wie angegossen passen.

»Was bist du?«, frage ich misstrauisch.

Noch immer lächelnd, dreht er sich zu mir um. »Ich bin Loven.«

Das ist nicht die Antwort, die ich hören will. Er kann nur ein Unsterblicher sein.

»Mensch oder Unsterblicher?«

»Spielt das eine Rolle?«

»Natürlich!«

Er zuckt mit den Schultern. »Habe ich gefragt, wer du bist?«

Seine Augen erscheinen viel älter als die dreißig Jahre, auf die ich ihn geschätzt hätte.

»Habe ich nicht«, beantwortet er sich seine Frage selbst. »Ich habe dich aus den Trümmern geholt, ich habe meine Freundin gebeten, dich zu heilen, und dich hier aufgenommen. In Sicherheit.«

»Nirgends ist es sicher«, flüstere ich. Erinnerungen versuchen, an die Oberfläche zu dringen, aber ich kämpfe sie zurück. Ich kann mich ihnen jetzt nicht stellen.

Er verengt die Augen. »Da könntest du recht haben.«

»Lass mich gehen.« Ich muss zu Liv. Auch wenn ihr Palast der letzte Ort ist, wo ich hin will.

»Weißt du, wohin du gehen möchtest?« Abwartend zieht er die Brauen hoch.

Schwarz, raunt eine leise Stimme.

Erschrocken weiche ich zurück. Sehe mich um, aber niemand ist hier. Loven kann es nicht gesagt haben, seine Klangfarbe ist eine ganz andere. Warm, nicht bedrohlich. Etwas überheblich, aber nicht hypnotisch.

»Dann kannst du genauso gut bleiben.« Loven klatscht triumphierend in die Hände.

Ich weiche noch einen Schritt zurück und stoße mit den Kniekehlen gegen das Bett.

Loven legt den Kopf schräg. »Vor mir brauchst du keine Angst zu haben, Selena.«

Er sagt noch etwas, aber ich höre es nicht mehr. Das Blut rauscht in meinen Ohren. Er kennt meinen Namen. Er weiß, wer ich bin.

Schmerz schießt durch meine Faust den Arm hinauf, als meine Knöchel auf seinen Kiefer prallen. Überrumpelt taumelt er zurück und stürzt beinahe über den Stuhl. Ich renne barfuß zur Tür, ziehe am Griff, aber sie geht nicht auf. Ich rüttle, stemme mich dann dagegen.

»Au«, stöhnt Loven und rappelt sich auf.

Er dreht sich zu mir um, hält sich den Kiefer. Ich lasse ihn keinen Moment aus den Augen und zerre gleichzeitig am Griff.

»Ich will hier raus!« Panik lässt meine Stimme schrill klingen.

Woher kennt er meinen Namen? Wer ist Loven? Wieso hat er mich eingesperrt? Er kennt meinen Namen. Er weiß, wer ich bin.

»Ich fürchte, das kann ich dir nicht gestatten.«

»Lass mich raus!«, fordere ich.

Wut sammelt sich in meinem Magen, verdrängt die Angst. Ich bin nicht wehrlos. Ich muss nicht davonlaufen. Ruhe flutet meine Sinne. Ich höre auf, am Griff zu ziehen, lasse ihn aber noch nicht los.

»Das kann ich nicht.« Loven kommt mit erhobenen Händen auf mich zu. »Das hier ist kein Gefängnis, Selena.«

»Was ist es dann?«, schreie ich. »Lass mich raus!«

Er ist nah genug. Ich lasse den Griff los, sprinte vorwärts. Im Geiste sehe ich schon vor mir, wie ich ihn von den Füßen schleudere, ihn bewusstlos schlage und seine Taschen nach dem Schlüssel durchsuche.

Keinen weiteren Augenblick in meinem Leben lasse ich mich von irgendwem einsperren.

»Hör auf!«

Liv taucht so unvermittelt zwischen uns auf, dass ich zurückspringe und die Fäuste hebe. »Loven handelt auf meinen Befehl!«, herrscht sie mich an. »Wenn du jemanden hassen willst, dann mich.«

Ich hasse sie nicht.

Ich hasse Loven nicht.

Ich will nur nicht eingesperrt und belogen werden. Wieso geht das nicht in die Köpfe der Unsterblichen?

Liv sollte es besser wissen. Sie hat schon einmal meine Kerkermeisterin gespielt. Damals habe ich mich nur nicht gewehrt, um niemanden in Gefahr zu bringen. Aber jetzt trage ich Livs Seelenfetzen nicht mehr in mir. Schwarz und Weiß sind in Sicherheit – oder zumindest nicht kurz davor, ausgelöscht zu werden.

Chaos ist noch eine Gefahr.

Er hätte mich fast getötet. Nur Raedan …

Ich suche in Livs Blick nach dem gleichen Schmerz, den ich empfinde. Raedan war ihr Bruder. Ihr Zwillingsbruder. Er hat alles für sie aufs Spiel gesetzt. Aber weder in ihren Augen noch in ihrer Seele spüre ich Schmerz. Ich spüre gar nichts, weil sie nichts spürt. Da ist nur ihre Seele. Ganz und rein, voller pulsierendem Leben und Macht.

Gier springt in mir hoch, so plötzlich, dass ich zurückweiche. Alles kribbelt. Drängt mich, ihre Seele wieder an meine zu binden.

Nein!

Schnell reiße ich mich vom Anblick ihrer Seele los. Übelkeit drückt gegen meine Kehle. Was ist nur los mit mir?

Ich balle meine Hände zu Fäusten, nicht, um Liv zu schlagen, sondern, um mich wieder Schmerz fühlen zu lassen.

Ich bin am Leben.

Ich habe eine Seele zurückgegeben. Ihre Seele. Und sie verfolgt mich immer noch.

Raedan ist tot.

»Schlag zu. Das willst du doch!«

In diesem Moment erinnert mich Liv an Amaris. Die hungernde, völlig durchgedrehte Unsterbliche, die Abscheu und Angst in mir geweckt hat.

Ich weiche einen Schritt zurück, bohre meine Nägel ins Fleisch. Ich hatte recht, Weiß ist genauso verdorben wie Schwarz. Und ich habe den Verfallsprozess nur vorangetrieben. Die Angst geschürt.

Loven tritt zwischen mich und die Unsterbliche. Er legt Liv die Hände auf die Oberarme und schaut ihr eindringlich ins Gesicht, als kenne er sie schon ewig. Ihre stumme Kommunikation dauert nur Augenblicke, bevor er sich zu mir umdreht.

Gänsehaut jagt über meinen Körper und vertreibt die Wut. Er sieht mich an, als sei ich eine Gefahr, ein Monster. Er sieht mich an, wie ich meinen Vater angesehen habe.

»Ich gebe dir nicht die Schuld«, sagt er leise. »Ich habe dich bedrängt.«

Ich habe ihn angegriffen, obwohl er wehrlos war. Wie kann er so etwas Freundliches sagen, obwohl sein Gesicht eine andere Sprache spricht. Ich wende mich von ihm ab. Kann meinem eigenen Fehler nicht standhalten. Ich darf nicht zusammenbrechen.

»Ihr könnt mich nicht einsperren!« Ich presse die Lippen zusammen, damit sie nicht zittern.

»Es ist zu deinem eigenen Besten. Was du erlebt hast …«

»Nein!«, unterbreche ich ihn. Ich starre Liv an. Sie weiß, was es für mich bedeutet, eingesperrt zu sein.

»Sobald du dich beruhigt hast, kannst du überall hingehen. Aber ich rate dir, dich unauffällig zu verhalten. Wenn ich von Schwierigkeiten höre …« Ihre Drohung bleibt schwer in der Luft hängen.

Schwarz. Ich stöhne frustriert auf. Schüttele den Kopf.

»Du bist in Weiß willkommen.«

»Ich muss nach Schwarz. Chaos hat …«

»Nein!« Ihre Wut lässt mich zusammenzucken. Zorn funkelt in ihren smaragdfarbenen Augen. »Du wirst nie nach Schwarz zurückkehren. Weiß ist jetzt deine Heimat.«

»Raedan …«

»Er ist fort! Was geschehen ist, ist geschehen. Finde dich damit ab!« Ihre Stimme klingt wieder emotionslos.

Diese verdammten Unsterblichen!

Feuer rast durch meine Adern, setzt sie in Brand. Es versenkt jeden meiner Gedanken und hinterlässt nur Asche.

»Was geschehen ist, ist geschehen?«, schreie ich. »Raedan hat alles getan, um dich zu retten. Und du betrauerst nicht mal seinen Tod? Was bist du für ein Mensch?«

»Ich bin kein Mensch«, erwidert sie vollkommen ruhig. Sie sieht mich an und bei aller Lebendigkeit in ihrem Blick liegt nicht eine Spur Menschlichkeit darin.

»Ihr seid Monster.«

»Wir sind anders«, korrigiert mich Liv. »Wenn du Jahrhunderte gelebt hättest …«

»Habe ich nicht. Aber Raedan schon und er hat gefühlt!« Vielleicht nicht so intensiv wie Menschen, aber genug, um Jaery zu schützen, mich zu schützen, wütend auf mich zu sein und mir wieder zu verzeihen. Meinetwegen zu sterben. »Er war dein Bruder! Empfindest du gar nichts?«

»Nein«, flüstert sie.

»Er ist meinetwegen gestorben.« Tränen brennen in meinen Augen. Die Wut ist plötzlich fort. Da ist nur Schmerz. Viel zu viel Schmerz.

Leben schnaubt. »Nicht für dich persönlich, sondern um die Menschen zu schützen. Das ist seine Aufgabe.«

Ich kann sie nur anstarren. Zitternd. Ausgelaugt. »Er hätte nicht sterben müssen. Du warst in Sicherheit. Er hätte einfach verschwinden können.«

Meine Beine geben nach und ich sinke zu Boden. Die Tränen quellen über und ich vergrabe mein Gesicht in den Armen, um Leben und Loven auszublenden. Ich versuche, mich an Raedans Umarmung zu erinnern. An die Dunkelheit, die sich so vertraut, so gut angefühlt hat. Aber ich schaffe es nicht.

Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll.

Ich hatte Pläne für mein Leben.

Freiheit, Selbstbestimmung, Unabhängigkeit. Ein Ort im Licht und voller Abenteuer.

Aber ich habe die pure Dunkelheit gesehen, und sie hat mir alles andere als Angst gemacht. Sie hatte etwas Vertrautes. Etwas zum Festhalten. Etwas Stärkendes.

Alle meine Pläne erscheinen kindisch angesichts von Raedans Tod. Ich habe zwar die Menschheit gerettet, aber nicht ihn. Dabei hätte er es verdient gehabt.

Ich bin viel zu früh erwachsen geworden. So oft war ich mit meinen Gefühlen alleine. Niemand half mir, niemand stand für mich ein, niemand riskierte für mich sein Leben. Aber erst jetzt begreife ich, was es bedeutet, wirklich und wahrhaftig alleine zu sein.

Denn ich habe gespürt, wie es ist, nicht alleine zu sein.

Loven

Unsterbliche sind nicht unfehlbar.

Und die Fehler sind gewaltiger.

»Es tut mir leid, Loven«, entschuldigt sich Liv, sobald wir den Raum verlassen haben.

Wir bleiben vor der einzigen Tür in diesem Abschnitt des Ganges stehen. Leicht gewunden führt er in einem Bogen um mein Zuhause herum. Der Hintereingang liegt nur ein paar Schritte entfernt. Hinter Liv hängt ein Bild eines rosafarbenen Sonnenuntergangs. Wie Blutbahnen verlaufen goldene Adern durch die Wände, sie pulsieren im Gleichtakt meines Herzschlags. Das Sonnenlicht, das durch das gläserne, gewölbte Dach fällt, lässt Livs Haare glitzern. Sie wirkt, als hätte sie sich von ihrem Beinahe-Tod wieder vollständig erholt. Das erleichtert mich. Natürlich hängt auch mein Leben an ihr, aber ihr Aufgeben hat unsere Freundschaft auf die Waagschale gestellt. Ich war so wütend auf sie gewesen, und wenn ich ehrlich bin, ist sie immer noch da. Aber das ist eine Sache zwischen Liv und mir. Hier geht es um Selena.

»Wofür entschuldigst du dich?«, frage ich. »Selena ist aufgewühlt. Ihre Reaktion ist nur natürlich.«

Liv schüttelt den Kopf und entfernt sich einige Schritte von mir. Ihre bloßen Füße erzeugen keinen Laut auf dem hellen, von goldenen Adern durchzogenem Stein. An ihren hängenden Schultern und den Augenringen erkenne ich, wie niedergedrückt sie ist von Schuldgefühlen. Sie hat Selena angelogen, als sie behauptete, sie fühle keinen Schmerz. Wahrscheinlich fühlt sie ihn anders, aber er ist da.

»Obwohl mein Seelenfetzen sie umgebracht hätte, wollte sie ihn wiederhaben. Die Gier in ihren Augen …« Liv strafft ihre schmale Gestalt und dreht sich zu mir um. »Ich hätte es wissen müssen. Schließlich habe ich die Veränderung bei Patros gesehen.«

»Mach dir keine Vorwürfe. Was für eine andere Wahl hattest du denn noch?« Ich mache zwei Schritte auf sie zu, das Geräusch ist das einzige in der Stille. »Dass alle sterben, wäre nie eine Alternative gewesen. Oder? Ich irre mich nie.«

»Selten«, korrigiert sie mich, was mir ein Lächeln entlockt. »Nein, es wäre keine Option gewesen. Aber Chaos hat noch nie die Zusammenhänge unserer Welten begriffen. Er war blind vor Rache, wozu mein Bruder ihn all die Jahre getrieben hat.«

»Wir sind eben nicht bloß Schwarz und Weiß, wie du es gerne hättest.« Ich schiebe die Hände in die Hosentaschen und verlagere meinen Schwerpunkt, um harmloser zu wirken. Sie weiß, welche Macht ich besitze. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich vor mir fürchtet. Oder ich mich vor ihr.

»Manchmal wünsche ich bloß, wir wären es«, seufzt sie.

Eine bekannte Schwermut legt sich über mich. Ich trete zu ihr und lege ihr die Hand auf die Schulter. Ihr Herzschlag, der in jeder Zelle ihres Körpers vibriert und unser aller Leben verkörpert, ist wie ein eigener Rhythmus beider Welten. Langsam und stetig, wie eine Blume, die sich dem Sonnenlicht öffnet. Es beruhigt uns beide.

»Darf ich fragen, wieso du Selena angelogen hast?«

»Weil es besser für sie ist«, antwortet Liv sofort. »Wie soll ich es ihr erklären? Raedan ist fort. Der Gedanke an Rache ist das Einzige, was sie aufrecht hält.«

Diese Worte aus Livs Mund zu hören, macht mir Sorgen. Selenas Gefühlswelt ist wie ein offenes Buch, sie schreit es jedem ins Gesicht. Aber dass Liv ihren Zorn unterstützt, ist beunruhigend. So kenne ich sie nicht.

»Das ist nicht alles«, sage ich und stelle mich vor sie, damit sie mein zuversichtliches Grinsen sehen kann.

»Wenn wir doch nur alle so optimistisch wären.« Sie seufzt erneut.

»Optimistisch zu sein, ist nicht schwierig«, erwidere ich. »Man muss nur die richtige Balance finden.«

»Deine Balance ist nur keine.«

»Wenn man nicht aus dem Gleichgewicht gebracht wird, ist das Leben doch langweilig, oder?«

Sie nickt wortlos, aber eher, um einer weiteren Diskussion aus dem Weg zu gehen. Es ist nicht das erste Mal, das sie sich geschlagen gibt und ausweicht.

Obwohl sie ihre perfekte Gestalt trägt, sehe ich ihr die unsterbliche Müdigkeit an. Eine Müdigkeit, die ich wohl nie gänzlich begreifen werde. Im Gegensatz zu ihr bin ich für jede neue Erfahrung dankbar, ersehne das Ungewisse und Faszinierende, lasse mich berauschen von neuen Möglichkeiten, neuen Menschen, neuen Gefühlen. Liv scheut diese, weil sie, genau wie alle anderen, ihre Unsterblichkeit nicht vollständig akzeptiert hat. Unter ihrer Maske leidet sie.

Vielleicht hat sie Chaos deswegen erlaubt, sie zu vergiften, ohne sich groß zu wehren. Affekthandlungen sind nicht untypisch für uns.

»Woran denkst du?«, fragt sie verwirrt.

»Nichts.« Ich zeige ein breites, wenig überzeugendes Grinsen.

Ich bin wohl der Einzige in ganz Weiß und Schwarz, dem Liv die Wahrheit verraten hat. Dem sie in einer unsicheren Stunde alles beichtete, was für einen kurzen Moment sogar mich überraschte. Ich hatte geglaubt, Liv in- und auswendig zu kennen. Wir machen alle Fehler, die Auswirkungen sind bei uns nur fataler. Livs letzter Fehler hätte uns alle das Leben gekostet, wäre dieses Mädchen nicht so mutig gewesen und hätte ihre Fähigkeit benutzt, um uns zu retten.

Deswegen finde ich es nicht gut, dass Liv sie anlügt. Selena ist stark. Verletzlich und voller Schmerzen, aber stark.

Liv lächelt mich nachsichtig an. »Falls Selena dir Schwierigkeiten macht, übergebe ich sie an Joy oder Alsiha.«

Wie eine Blume, die sich weigert, zu blühen. Sieht sie in Selena überhaupt einen Menschen oder nur den Schatten der Vergangenheit, den Patros unweigerlich auf sie wirft?

»Sie macht mir keinerlei Schwierigkeiten«, lüge ich erneut.

Ich spüre, wie die Wellen ihrer Trauer sich verbreiten. Wie Schatten schieben sie sich durch die Gänge, verdunkeln das Licht, legen sich schwer auf Gemüter. Aber Selena ist nicht die Erste, deren Tränen und Schmerz von meinem Reich aufgesogen werden. Und sie wird auch nicht die Letzte sein. Ich werde meinen Freunden niemals verbieten, Gefühle jeglicher Art zu unterdrücken oder nicht mehr fühlen zu wollen. Denn all diese Schattierungen machen das Leben interessant. Und schwer, das muss ich zugeben.

Außerdem bin ich es Selena schuldig. Ich habe sie in den Trümmern gefunden und in ihrer Aura gelesen. Bei mir ist sie am besten aufgehoben. Alsiha würde sie nur in Watte packen, mit Tees und Kräutern ihre Gefühle unterdrücken und sie in einen nichtssagenden Kokon hüllen. Joy hingegen würde sie abfüllen und wilde Partys feiern, um alles schön mit Alkohol oder Stärkerem zu ertränken.

Nein, das kann ich weder meinem Gewissen noch dem Mädchen antun. Ich habe das starke Gefühl, dass Schicksal mich zu ihr geführt hat, damit ich sie wieder aufpäppele. Auch wenn ich nicht viel von Schicksal halte, manchmal hat die Unsterbliche ihre guten Momente.

»Sei in diesem einen Punkt bitte ehrlich zu mir«, bittet mich Liv. »Sie hat Chaosloyalisten getötet, ohne zu zögern. Sie trägt Schwarz in sich.«

»Glaub mir, sie hat Schuldgefühle. Mehr, als du dir vorstellen kannst.« Die Szene drinnen sollte Liv gezeigt haben, dass das Mädchen kurz vor einem Zusammenbruch steht. Es braucht nur ein klein wenig mehr, damit sie fällt. Ich werde da sein und sie auffangen.

»Trotzdem. Sei vorsichtig.«

»Bin ich das nicht immer?«, frage ich schalkhaft.

»Du kennst die Antwort darauf«, erwidert sie mit einem zögerlichen Lächeln.

Ich schürze die Lippen und grinse dann noch breiter. Sie kennt mich zu gut. Vorsicht zählt nicht zu meinen Stärken. Ich renne lieber offenen Auges in die Gefahr, mit mehreren Plänen, die dann sowieso der Improvisation weichen. Das liegt nun mal in meinem Wesen.

Liv nickt mir zu und verschwindet vor meinen Augen. Ich spüre, wie ihre Präsenz mein Reich verlässt und in ihren Palast zurückkehrt, den sie nicht verlassen will, obwohl er größtenteils zerstört wurde.

Ich drehe mich zur Zimmertür um. Ich habe Selena im entlegensten Gebäudeteil untergebracht, damit sie nicht der Neugier der anderen ausgesetzt ist. Zu schätzen wird sie es nicht wissen. Ob und wann sie das Zimmer verlassen wird, ist fragwürdig, wenn ihr nicht jemand auf die Sprünge hilft. Zwar bin ich in den meisten Fällen zu ungeduldig für diese Aufgabe, erledige sie aber mit umso größerem Gefallen.

Ich will gerade wieder klopfen, als ich Schritte höre.

Meyla kommt mit gehetztem Blick in mein Sichtfeld. Sofort nimmt ihr herzförmiges Gesicht einen erleichterten Ausdruck an. Ich wende mich von der Tür ab und ihr zu.

»Was ist geschehen?«, rufe ich ihr entgegen.

»Zo«, keucht sie. »Sie hat einen Albtraum.«

Ich eile ihr entgegen, ohne einen Blick zurück. »Wie lange schon?«

»Nicht lange.« Sie stützt die Hände auf die Hüften und ringt nach Atem.

Ich nicke knapp und beschleunige meine Schritte. Als ich die belebteren Korridore erreiche, weichen mir Nestbewohner aus, die Mienen besorgt. Ich biege in den Gang ein, an dessen Ende Zos Zimmer liegt. Die Holztür, aus der fratzenhafte Monster wie lebendige Wesen herausragen, reiße ich auf und betrete den düsteren Raum. Zos Vater hat mehrere Kerzen entzündet, die kaum die Dunkelheit in Schach halten können, die sich wie ein schwerer Umhang über den sonst sonnendurchfluteten Raum gelegt hat. Sie flackern unruhig. Auf einer Matratze wälzt sich ein neunjähriges Mädchen hin und her. Ein Mischmasch aus schwarzen und sonnengelben Strähnen ergießt sich über das Kopfkissen.

»Loven.« Schweißperlen stehen Ulien auf der Stirn.

»Geh zur Seite«, weise ich ihn an und knie mich neben das kleine Mädchen.

Ihre Lider sind geöffnet, die milchigen Augen starren an die Decke, als könne sie die schaurigen Monster sehen, die ihre Hände gierig herabstrecken.

»Scht, Zo«, flüstere ich und lege ihr eine Hand auf die Schulter.

Das Mädchen atmet heftig, ihre Finger spannen und entspannen sich wie im Krampf.