Zwischen Godorf und Gomorrha -  - E-Book

Zwischen Godorf und Gomorrha E-Book

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Beschreibung

Die Abgründe des Rheinlands. Die dunklen Seiten der Kirche. Und schwarzer Humor. Es gibt sie, die finsteren Geschichten um missachtete Gebote, um tödliche Sünden und um gebrochene Gesetze. Einige Stichworte dazu? Mord, Neid, Rebellenblut, Wollust, Hass, Friedhöfe … 23 Krimi-Autoren aus Deutschland haben u.a. die zehn Gebote der Bibel, die sieben Todsünden der katholischen Kirche und die vier Hochfeste des Christentums näher betrachtet und sich ihre ganz eigenen kriminellen Gedanken dazu gemacht. Religion, die – Tochter von Hoffnung und Furcht; erklärt der Unwissenheit das Wesen des Unbegreiflichen. Ambrose Bierce, Des Teufels Wörterbuch

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Seitenzahl: 312

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Autoreninfo

Gitta Edelmann, Jahrgang 1961, früher Übersetzerin in Rio de Janeiro, Freiburg und Edinburgh, Fremdsprachenlehrerin und Stadtführerin in Bonn. Heute Leiterin von Schreibworkshops, Krimiautorin (u. a. Canterbury Requiem und Canterbury Serenade) und Kinderbuchautorin (u.a. Ludwig und die Suche nach dem Geheimcode und Weltreise London – Die Meisterdetektive).

Haupttitel

Gitta Edelmann (Hg.)

Zwischen Godorf und Gomorrha

23 mörderische Geschichten aus Kirche und Unterwelt

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2017 by CMZ-VerlagAn der Glasfachschule 48, 53359 RheinbachTel. 02226-9126-26, Fax 02226-9126-27, [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagfoto (Nächtliche Raffinerie):Mario Voigt, Schwalmtal

Umschlaggestaltung:Lina C. Schwerin, Hamburg

eBook-Erstellung:rübiarts, Reiskirchen

ISBN Paperback 978-3-87062-176-6ISBN epub 978-3-87062-255-8ISBN mobi 978-3-87062-256-5

20160717

www.cmz.de

Inhalt

Vorwort

Gisbert Haefs: Der Trauzeuge

Die zehn Gebote

Gabriele Hamburger: Appartement 08/15, Bonn-Tannenbusch

Arnold Küsters: Ich, der wahre Diener des Herrn

Vera Stegh: Gulasch

Regina Schleheck: Doppelkopf

Andreas Schnurbusch: Im Mittelpunkt der Welt

Regine Kölpin: Der Umschlag

H. P. Karr: Der Herr sieht alles

Gitta Edelmann: Die Schwiegermutter

Hans Helbach: Rebellenblut

Heidi Möhker: Das Original

Andrea Z. Rhein: Game over

Die sieben Todsünden

Andreas J. Schulte: Die blöde Kuh

Günter Detro: Glück und Glas

Rudi Jagusch: Das Geschäft meines Lebens

Alexa Thiesmeyer: Félines Festvorbereitung

Kerstin Brichzin: Herzschmerz

Jutta Wilbertz: Giftgrün

Anne Grießer: Vom verlorenen Sohn

Die vier Hochfeste

Cécile Ziemons: Gänsebraten

Klaus Stickelbroeck: Ein faules Ei für Hartmann

Paul Schaffrath: Tausend Zungen

Jennifer Rendla: Halloween-Party

Autorenverzeichnis

Vorwort

In Kirchen gibt es häufig Feste. Anlässe können Hochzeiten oder Taufen sein. Oder wie kürzlich ein Jubiläum: 200 Jahre evangelische Kirche in Bonn. Weihnachten und Ostern zelebriert man natürlich, und 2017 feiert zumindest ein Teil der Christen 500 Jahre Reformation. Bei solchen Gelegenheiten zeigt man sich im Allgemeinen gut gelaunt, festlich gekleidet und insgesamt von der besten, hellsten Seite.

Aber wie sieht es mit der anderen Seite aus? Der dunklen, der möglicherweise … kriminellen?

Wir haben einen Blick in düstere Ecken im Umfeld der christlichen Kirche im Rheinland geworfen und sind tatsächlich fündig geworden. Es gibt sie, die finsteren Geschichten um missachtete Gebote, um tödliche Sünden und um gebrochene Gesetze.

Unsere 23 Autorinnen und Autoren haben ihre kriminelle Fantasie spielen lassen und sich an verschiedenen Orten im Großraum Köln / Bonn voller Ernst, aber auch mit schwarzem Humor der wichtigsten kirchlichen Themen angenommen. So entstanden ganz besondere Auslegungen der zehn Gebote und – schließlich sind wir im Rheinland – zusätzlich des elften Gebots »Du sollst dich nicht erwischen lassen«. Die Bibelstellen mit den zehn Geboten – in der sprachmächtigsten deutschen Übersetzung, nämlich der von Martin Luther – leiten die Geschichten ein. Für die Autoren stellten sich weiter die sieben Todsünden als ebenso inspirierend heraus wie die vier Hochfeste: Weihnachten, Ostern, Pfingsten und – Halloween, und so enthält dieses Buch nun eine bunte Kurzkrimi-Mischung.

Neben Storys von bekannten und preisgekrönten Autoren finden Sie hier auch die drei Sieger-Geschichten des Schreibwettbewerbs, der zu Jahresanfang für unsere Anthologie »Zwischen Godorf und Gomorrha« ausgeschrieben wurde.

Wir danken Jennifer Rendla, Vera Stegh und und Günter Detro für ihre ausgezeichneten Kurzkrimis und gratulieren noch einmal herzlich.

Am Anfang unserer Sammlung steht die wunderbare Erzählung »Der Trauzeuge« von Gisbert Haefs, in der auf der Insel Patmos ein Römer dem Evangelisten Johannes entschieden widerspricht …

Wir wünschen beste Unterhaltung und freuen uns, vielleicht auch von Ihnen zu hören: [email protected].

Bonn, im Juni 2016

Gitta Edelmann, Herausgeberin

Winrich C.-W. Clasen, Verleger

Um das schlimme Gerücht aus der Welt zu schaffen, der Brand sei auf seinen Befehl gelegt worden, schob Nero die Schuld auf andere und verhängte über die, die durch ihr schändliches Gebaren verhaßt waren und im Volksmund ›Christianer‹ hießen, die ausgesuchtesten Strafen. Dieser Name leitet sich von Christus ab, der unter der Regierung des Tiberius durch den Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden war. Der für den Augenblick unterdrückte verhängnisvolle Aberglaube griff von neuem um sich, nicht in Judäa, wo dieses Übel entstanden war, sondern auch in Rom, wo alle Scheußlichkeiten und Abscheulichkeiten aus der ganzen Welt zusammenströmen und freudigen Anklang finden.

Tacitus, Annalen XV, 44

Gisbert Haefs: Der Trauzeuge

Die Schiffer aus Miletos machten den einmastigen Frachter fest; der Schatten des Bergs bedeckte den Poller und kroch hinaus in die Bucht. Die Besatzung begann mit dem Ausladen der Waren – Körbe mit Früchten und Gemüse, Amphoren mit Wein, große Krüge mit eingelegtem Fleisch, bastumwickelte Schinken –, wobei Kinder, einige Frauen und ein paar Greise aus dem Dorf eher hinderlich als hilfreich waren.

Zwei alte Legionäre musterten die gestapelten und aufgereihten Güter, machten Stichproben und gaben sie dann frei. Ein dritter betrachtete ohne Interesse den Fahrgast, der mit steifen Bewegungen an Land geklettert war, einen Moment auf dem festen Boden schwankte, die Hände gen Himmel hob und dann zwei Körbe mit Tragriemen über die Bordwand zerrte. Noch ein Verbannter, der elfte oder zwölfte, den sie auf Patmos zu hüten hatten. Der Kapitän des Schiffs reichte dem alten Soldaten die Papyrosrolle, auf der Name, Tat und Urteil verzeichnet waren.

Der Legionär, der nicht lesen konnte, grinste und hob die Schultern. »Dein Name, exoticus«, sagte er.

Der Verbannte schüttelte den Kopf und versuchte ein Lächeln, aber es endete weit unterhalb der dunkel glimmenden Augen. Der Mann starrte nach den flachen hellen Häusern des Orts, schien die Kinder, Frauen und Greise neben dem Schiff zu zählen, blickte dann hinauf zum Berg und den Sträuchern und Ziegen. Er war ungepflegt, mit zottigem Bart, strähniger Mähne, grauer Wollkleidung, und er stank.

Der alte Legionär knurrte etwas und wiederholte die Frage auf Griechisch. »Dein Name, Barbar?«

»Jochanan«, sagte der Fremde. »Oder Ioannes. Das ist gleich.«

»Mir sowieso.« Der Legionär spuckte aus. »Komm.« Er winkte mit der Papyrosrolle.

Die Soldaten – zwei Dutzend – und der invalide Centurio bezogen etwa ein Drittel ihres früheren Solds, 100 Denare jährlich, der Offizier 150; sie hatten Grundstücke zwischen Bucht und Berghang erhalten, Material für den Bau ihrer Häuser und genaue Anweisungen. Nun lebten sie dort, zum Teil mit Familien, und bewachten die zwei- oder dreihundert Fischer samt ihrem uralten Hang zu Schmuggel und Piraterie und die wechselnde Zahl dauerhaft oder vorübergehend Verbannter. Der Neue mochte vor ein paar Tagen irgendwo König gewesen sein, Prophet, hoher Beamter oder kleiner Unruhestifter; für sie war er nur neu und lästig. Kein Grund, ihm mit den beiden Tragekörben zu helfen. Der eine war mit Wachstuch bespannt und enthielt wahrscheinlich Rollen und Schreibzeug – ein verrückter exoticus.

Jochanan folgte dem Legionär über den Kai, dessen Pflasterung nach ein paar Schritten endete. Er ging unsicher unter der Last, auf dem unebenen Boden, nach der Bootsfahrt. Wieder betrachtete er die weißen Häuser, die wenigen Schiffe – die meisten Fischer waren auf dem Meer –, die Gärten mit Obst- und Ölbäumen, Gemüsebeeten und Kleinvieh, die struppigen Hänge mit Ziegen und Felsen. Dann seufzte er.

Wenig später seufzte auch Marcus Calpurnius. Der alte Centurio hatte die Fischer zu beachten, die Verbannten zu bewachen, den Priester des Orts zu lenken, die emeritierten Legionäre bei Laune zu halten und den Sold zu verwalten, damit die Männer nicht alles auf einmal beim Händler aus Samos ausgaben, der einmal im Monat Patmos anlief; er hatte seine kränkelnde Frau zu versorgen, wobei der allmählich wunderlich werdende Sklave Otho kaum noch half, und bei schlechtem Wetter hatte er Schmerzen im Stumpf des rechten Beins. Nach einer üblen Verletzung mit beginnendem Wundbrand hatte man es ihm unter dem Knie abgeschnitten, vor 21 Jahren. Patmos war ein allzu ruhiger Ort für einen alten Krieger; immerhin hatten er und die emeriti eine Art Aufgabe, für die sie Sold bezogen; also keine Klage. Und manche der Verbannten brachten gute Geschichten mit in diese Einöde, Geschichten, die die Zeit schneller tropfen ließen und die Nächte erhellten. Aber in diesem Fall zerstörte der erste Blick bereits alle Hoffnungen. Marcus hatte das Bein in Jerusalem verloren, bei der Befriedung unter Titus. Jochanan brauchte kein Wort zu sagen; der Centurio wußte sofort, wohin der Mann gehörte und daß der Grund für die Verbannung eine absonderliche Ausprägung religiösen Wahns sein mußte. Deshalb seufzte er.

Zu allem anderen kam das Problem der Unterbringung. Stumm betrachtete er den bärtigen, strähnigen Mann im schweißigen Wollgewand (Wenn er sich wenigstens wüsche! dachte er und fragte sich, warum so viele, die am Mund eines Gottes hingen, die Nasen der Menschen vergaßen); dann musterte er den Korb, der vermutlich die mehr oder weniger unheiligen Schriften enthielt. Die emeriti und ihre Angehörigen nahmen einmal täglich gemeinsam ein warmes Mahl zu sich; die Verbannten bewohnten ein großes Haus und hatten sich selbst zu versorgen. Wohin mit dem Neuen? Marcus sah bereits den Ärger – Reden, Streitgespräche, Predigten, der Neue und sein grimmiger Ein-Gott gegen die anderen und ihre vielen verträglichen Götter. Dann schob er das Kinn vor und wies auf eine Biegung des Ziegenpfads am Berghang, nördlich der Siedlung.

»Da oben, siehst du? Die Büsche wie eine Pyramide? Dahinter ist eine kleine Höhle, in der Nähe eine Quelle. Sieh zu, daß du allein zurechtkommst. Kein Streit; ich will keine Göttergespräche; nichts. Du wirst dich selbst versorgen. Vorräte kriegst du von uns. Geh.«

Abends ließ Marcus sich vom milesischen Schiffer den neuesten Klatsch erzählen. Sie saßen auf der Terrasse aus gestampftem Lehm, unter dem Spalier, wo Efeu den Wein längst erwürgt hatte, tranken und sahen zu, wie die Fischer in den Hafen liefen. Der Mileter erzählte, Kaiser Domitianus, dominus et deus, habe aus Furcht vor weiteren Verschwörungen fast alle Philosophen und Schriftsteller aus Rom verbannt. »Als ob man besonders gebildet sein müßte, um diesen Kaiser loswerden zu wollen.« Der Provinzgouverneur habe einige Prediger einer neuen Sekte hinrichten lassen, weil sie durch ihre Unduldsamkeit den öffentlichen Frieden störten. Ein Buchhändler aus Miletos habe ihn gebeten, diese Rollen mitzunehmen; er habe elf Denare vorgelegt.

Der Centurio gab dem Schiffer das Geld am nächsten Morgen. Als das Boot in die Bucht glitt, klemmte er sich die Rollen unter den linken Arm, nahm den Stock in die rechte Hand, verfluchte sein Holzbein und machte sich auf den steilen Weg.

Sextus Pomponius Albus war weit über achtzig Jahre alt; vor zehn Jahren hatte er der Welt freiwillig den Rücken zugewandt und sich auf dem flachen Gipfel des Bergs über der Bucht ein Haus errichten lassen. Er kannte das für Bürger gesperrte Patmos und die für Sondergenehmigungen zuständigen Leute. Von der Terrasse sah man im Osten und Westen das Meer, im Norden und Süden die kargen Hügel. Der ehemalige Kavallerieoffizier, später hoher Beamter der Provinzverwaltung in Numidien, lebte dort mit drei Sklaven und vielen Buchrollen. Er kam nur noch selten herab; für den Greis war der steinige, gewundene Pfad allzu beschwerlich. Marcus hätte die Rollen einem der Sklaven geben können, wenn sie Fisch oder Früchte im Dorf kauften, aber er sprach gern mit dem alten Mann – zwei greise Krieger am Ende der Welt und der Jahre.

Pomponius begrüßte den Centurio mit einem Knurren. Der alte Mann lag auf einem leichten lederbespannten Gestell, trank verdünnten Wein und starrte nach Westen übers Meer. Marcus Calpurnius zog einen Scherenstuhl neben das Bettgestell, setzte sich und legte sein Holzbein auf die Bettkante.

Pomponius richtete sich mühevoll auf, klatschte in die Hände, stützte sich auf die Ellenbogen. Der schwarze Sklave aus dem südlichen Mauretanien erschien.

»Wein«, sagte Pomponius. »Wasser. Und Kissen.«

Als der Sklave alles gebracht hatte, half Calpurnius dem Älteren dabei, die Kissen halbwegs behaglich in den Rücken zu stopfen. Dann reichte er ihm die Rollen.

Pomponius deutete auf die Amphore und den Krug, dann entrollte er die Bücher und hielt sie mit ausgestreckten Armen vor sich, eines nach dem anderen. Er kniff die Augen zusammen; dennoch bereitete es ihm Mühe, die Titel zu lesen.

»Ein Thukydides – Ersatz für den verbrannten Text«, sagte Calpurnius. Er schielte hinüber, identifizierte die nächste Rolle. »Xenophons Schrift über die Staatsfinanzen. Das dritte Dings könnte ganz interessant sein. Die lateinische Fassung vom Bericht eines karthagischen Händlers über die Goldlande am westlichen Ozean und einige Reisen dorthin.«

Pomponius lächelte, legte die Rollen beiseite. »Ich danke dir sehr, Freund. Es wird mühsames Lesen; der Britannier macht nur langsam Fortschritte, und der Inder?« Er hob die Schultern.

Calpurnius kratzte sich den Kopf. »Noch immer nichts von dem Sklavenhändler, der dir einen Schreiber besorgen soll. Und ich verstehe zu wenig davon, außerdem …«

Pomponius winkte ab. »Ich weiß, du hast andere Sorgen. Und gute Schreiber kommen selten auf den Markt. Es wird noch dauern. Gibt’s was Neues? Da war doch gestern ein Boot …«

Calpurnius nickte und berichtete von den Klatschgeschichten des Kapitäns. Schließlich sagte er: »Ach ja, und ein neuer exoticus. Ah, überhaupt – er hat Rollen, müßte lesen können. Könnte sich nützlich machen. Ich weiß nicht, ob er auch schreiben kann. Soll ich ihn zu dir schicken?«

Pomponius stülpte die Lippen vor. »Tja. Weshalb ist er verbannt? Du weißt, ich kann mich nicht mehr wehren …«

Calpurnius keckerte leise. »Brauchst du nicht.« Er berichtete von Jochanan, beschrieb ihn kurz und sagte schließlich: »Und er stinkt.«

Pomponius deutete aufs Meer. »Hier ist genug frische Luft. Also Jude, wegen religiösen Wahns und Anzettelung von Aufruhr hierher verbannt?«

Calpurnius zögerte. »Ijaaa – sieht aber alles seltsam aus.«

»Inwiefern?«

»Für einen großen Aufruhr hätte man ihn gekreuzigt oder gesteinigt. Und für einen kleinen wird man aus der Stadt geschickt, nicht auf die Insel verbannt. Der Mileter sagt, diese Wahnsinnigen, wie heißen sie, Nazoräer? Christianer? Egal, also die Leute, zu denen Jochanan gehört, hätten inzwischen auch Leute in den höheren Ämtern der Provinz. Er weiß nichts Genaues; sieht aber so aus, sagt er, als ob jemand dafür gesorgt hat, daß Jochanan hierher geschickt wird.«

Pomponius rieb sich die tiefliegenden Augen. »Kommt mir seltsam vor. Wenn da jemand die Hand über ihn hält, dann doch wohl eher, um ihn freizukriegen, oder?«

Der Centurio schwieg. Eine fette, schillernde Fliege krabbelte sein heiles Bein entlang. Als sie den Oberschenkel erreicht hatte, kurz unter dem Saum des Chitons, schlug er zu.

»Patsch. Mieses Viehzeug. Also, dieser Jude – könnte er deinetwegen hergekommen sein?«

Pomponius fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Nase. »Hm. Meinst du? Bloß weil ich damals mit diesem Sha’ul geredet habe? Oder weshalb?«

Marcus schnaubte. »Was weiß ich! Vielleicht will er dich fragen, weil du dabeigewesen bist, aber nach Patmos kommt man nur als Verbannter.«

»Schick ihn rauf. Vielleicht hat er ja eine erträgliche Stimme und kann lesen. Weniger Langeweile für beide.«

Calpurnius runzelte die Stirn. »Und du meinst nicht, daß er dich mit seinem Unfug behelligen wird?«

Pomponius lachte hohl. »Ich bin unzugänglich für allgemeine oder spezifische Formen jüdischen Aberglaubens.«

Pomponius lehnte am Geländer der Terrasse, als Jochanan erschien – mit gestutzten Haaren, gestutztem Bart und sauberer, heller Kleidung. Etwas an den Augen des Mannes mißfiel dem Römer, aber dann war der Verbannte schon zu nah, und Pomponius sah nur noch verschwommene Züge.

»Du brauchst einen Vorleser, Herr?« Jochanans Griechisch war fast akzentfrei. »Der Centurio sagt es. Er sagt auch, daß Verbannte einem alten römischen Offizier zu gehorchen haben.«

Pomponius ging mit langsam schleifenden Schrittchen zu seiner Liege und ließ sich sinken. »Die Augen eines Greises gehen in die Ferne und in die Vergangenheit. Meine Sklaven stammen aus Mauretanien, Britannien und Indien, und was sie laut lesen, ist meinen Ohren unzuträglich. Ja, ich wäre dankbar, wenn du gelegentlich für mich lesen könntest. Du bist Jude?«

Jochanan setzte sich erst, als Pomponius auf den Scherenstuhl deutete. »So ist es, Herr – und dann auch wieder nicht.«

»Wie kann etwas sein und auch nicht sein?«

»Ich stamme von Juden ab, habe aber nie Judäa oder Galiläa betreten. Und mein Glaube ist nicht mehr der meiner Ahnen.«

Pomponius schloß einen Moment die Augen. »Ich weiß. Du bist einer von diesen Fisch-Leuten, die dem gekreuzigten Aufrührer Jehoschua anhängen, nicht wahr? Deshalb hat man dich verbannt.« Er öffnete die Augen wieder. »Nein, natürlich nicht deshalb. Rom kümmert sich nicht um deinen oder einen anderen Glauben. Du hast einen Aufruhr verursacht, deswegen.«

Jochanan schwieg, senkte nur den Kopf.

Pomponius wartete; schließlich sagte er: »Nun, wie auch immer, es ist nicht mein Geschäft … Nimm die oberste Rolle und laß mich deine Stimme hören.«

Jochanan gehorchte. Er las Xenophons absurde Finanzlehre mit einer kräftigen, offenbar geschulten Stimme, die für Pomponius weder angenehm noch unangenehm war, sondern einfach gut zu hören. Er hatte Ausdauer, bat nur irgendwann um Wasser. Da er von sich aus nichts zu seiner Person und seinem Glauben sagte, erschien er Pomponius erträglich genug, so daß er ihm befahl, am nächsten Tag wiederzukommen. Den Sklaven sagte er, sie sollten bis auf weiteres die Mahlzeiten für einen zusätzlichen Esser einrichten.

Das Wetter blieb ruhig; Pomponius und sein Vorleser konnten tagelang auf der Terrasse sitzen, lesen, bisweilen über das Gelesene reden. Jochanan behauptete zwar, kein Latein zu verstehen, aber nach einigem Zögern und Stocken konnte er sogar den karthagischen Reisebericht lesen. Pomponius hatte zwar nicht das Gefühl, der Vorleser verstünde, was er las, aber es war hinnehmbar.

Als sie mit der dritten Rolle fertig waren und Pomponius vorschlug, am folgenden Tag zu Homer zu greifen, bat Jochanan darum, einige Minuten etwas anderes tun zu dürfen.

»Wie du wohl weißt, Herr, denn der Centurio wird es dir gesagt haben, besitze auch ich einige Rollen. Nun wäre ich dir dankbar, wenn ich an einem deiner Tische ein wenig damit arbeiten dürfte. In meiner Höhle ist es beschwerlich.«

Pomponius stimmte zu, mit einem leicht spöttischen Lächeln.

Am folgenden Tag las Jochanan ihm den ersten Gesang der Odyssee vor; danach aßen sie. Pomponius schleppte sich zu seiner Liege und dämmerte in den Nachmittag, während Jochanan an einem Tisch saß und Schriften entrollte, murmelte, hin und wieder ein wenig kritzelte, eine andere Rolle befragte, seufzte, wieder schrieb. Schließlich bat er darum, die Rollen im Haus lassen zu dürfen, wo sie besser und trockener aufgehoben seien als in der Höhle am Berghang. Pomponius gestattete es ihm; in den großen offenen Regalen des Hauses lagen viele Tonröhren mit Papyrosrollen, aber noch war genug Platz. Abends, lange nachdem Jochanan ihn verlassen hatte, kam der alte Centurio.

»Es geht gut mit ihm«, sagte Pomponius. Dann kicherte er. »Zuerst hat er vorgelesen. Dann hat er gebeten, mit seinen eigenen Rollen arbeiten zu dürfen, an einem Tisch, statt auf den Steinen seiner Höhle. Ich bin gespannt, wie er es anstellt, mich für sie zu interessieren.«

Calpurnius grinste. »Wahrscheinlich wird er, statt zu murmeln, irgendwann beim Lesen seiner Rollen lauter werden, ächzen, was auch immer. Bis du nicht mehr weghören kannst.«

Am nächsten Morgen kam Jochanan später als gewöhnlich. Er wirkte ein wenig verstört.

»Herr, verzeih die Verspätung. Ich hatte einen schlimmen Traum und fürchte, daß mein Gott mir entsetzliche Dinge gezeigt hat. Deshalb …«

Pomponius lächelte verhalten. »Eine gute Eröffnung«, murmelte er. Dann sagte er: »Was hat dein Gott dir gezeigt?«

Jochanan sprudelte einiges an wirren, bildhaften Sätzen hervor, unterbrach sich aber bald. »Ich fürchte, ich werde darüber erst lange denken müssen.« Er seufzte. »Es ist wie feurige Räder … alles wirbelt in meinem Kopf herum. Dabei begann es so klar, mit einer Leiter, fast wie bei Jakob.«

»Was ist das für eine Geschichte?«

Jochanan holte tief Luft. »Du warst doch in unserem Land, Herr – du wirst sicher von Moses gehört haben.«

Pomponius blinzelte. »Einer eurer Propheten, ja.«

»Er schrieb die Erlebnisse der großen Männer meines Volkes im Umgang mit dem Gott auf. Darunter war einer namens Jakob; diesem zeigte der Herr im Traum ein Gesicht – eine Offenbarung. Eine Leiter reichte vom Himmel bis zur Erde, und die Engel des Herrn stiegen daran herab …«

Pomponius klackte mit der Zunge. »Engel? Boten? Haben die nicht in euren Märchen Flügel?«

Jochanan nickte heftig. »Natürlich. Es gibt solche mit vier Flügeln, solche mit sechs Flügeln …«

Pomponius unterbrach ihn. »Wozu dann eine Leiter?«

Jochanan öffnete den Mund, schloß ihn wieder, sagte schließlich schwach: »Hah.«

Pomponius lächelte. »Es ist mir immer so vorgekommen, als ob die Religionen und Philosophien der Völker viel phantastischere Dichtwerke seien als alle Epen und Tragödien zusammen.«

Jochanan widersprach, zunächst heftig, dann gleich wieder beherrscht, mit einem seltsam lauernden Unterton. Es sei unstatthaft, heilige Offenbarungen des Herrn als menschliche Phantasien abzutun. Er zitierte eine Vielzahl von Schriftstellern; Pomponius betrachtete das Meer und hörte nicht hin.

In den folgenden Tagen befaßten sie sich wieder mit Homer, dazwischen mit den heiligen Schriften, die Jochanan so wichtig fand. Pomponius ließ ihn gewähren, weniger aus Interesse als aus Gleichgültigkeit. Jochanan begann, zunächst nach fast unterwürfigen Fragen, später immer emphatischer aus Schriften zu lesen, in denen sich verschiedene Männer in unterschiedlich schäbigem Griechisch – mit Ausnahme dessen, den Jochanan Loukas nannte – über das Leben und die Lehre und das Leiden eines Iesos Christos äußerten.

»Das ist alles Unsinn«, sagte Pomponius schließlich verärgert. »Sie haben keine Ahnung, sind nicht dabeigewesen, und was sie an wichtigen Sätzen oder Worten dieses Mannes zitieren, ist fast ausnahmslos falsch übersetzt.«

Jochanans Stimme klang ein wenig belegt. »Hast – bist du denn dort gewesen, Herr?« Es war nicht eine Belegtheit von Heiserkeit oder Ermüdung, sondern von Gier.

Pomponius hob die Schultern. »Ach, was soll es denn? Ja, ich war in Jerusalem, in Kana, an vielen anderen Orten. Ich habe Jehoschua gesehen und mit ihm geredet, und später, in Rom, habe ich Sha’ul gesprochen, ehe er hingerichtet wurde.« Er richtete sich auf. »Wie ich viele andere Männer und Frauen in anderen Teilen des Reichs gesehen habe. Und glaub mir, Jochanan, es waren sehr viele dabei, die weitaus interessanter waren als diese Aufrührer aus Galiläa.«

Jochanan schwieg lange; sein Atem war sehr deutlich zu hören.

Pomponius sah das Gesicht nur verschwommen und konnte nicht feststellen, ob der Mann Pein oder Zorn litt.

Schließlich sagte er, mit sehr flacher Stimme: »Herr, wenn ich dich nun bäte, mir zu sagen, was du weißt? Sieh, es haben drei Männer über ihn geschrieben, die ihn nicht gesehen haben. Es sind Berichte, zusammengestellt aus Geschichten, die andere erzählt haben. Dann gibt es Sha’ul, der ihn auch nicht sah, aber viele Briefe zur Auslegung der Lehre geschrieben hat. Wenn du nun …« Er brach ab, hustete mehrmals.

Pomponius verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin es müde, die Segel auf dem Meer zu zählen«, sagte er leise. »Warum nicht etwas Neues tun?«

»Wie konntest du an diese Männer herankommen?« sagte Jochanan. Alle Unterwürfigkeit war verschwunden; er wollte nur noch wissen. »Du bist doch Römer – Feind, Besatzer. Wieso haben sie …«

»Sie haben nicht.« Pomponius entblößte die wenigen Zähne, die ihm verblieben waren. »Sie wußten nicht, daß ich Römer bin. Ein Fehler, den fast alle Gegner des Reichs machen, ist die Unterschätzung. Rom ist weit stärker, sicherer und klüger, als deine Leute angenommen haben. Ein Aufstand in einer Provinz soll das Reich erschüttern? Ah, Jochanan, wie verträumt kann man sein. Das Reich wird erst dann erschüttert sein, wenn es Aufstände in der ersten Provinz nicht mehr niederschlägt und zuläßt, daß auch die zweite und die dritte Provinz sich erheben.«

Jochanan fuchtelte mit den Händen in der Luft. »Aber die Kaiser, die Morde, die Wirren in Rom!«

Pomponius lachte. »Ein paar Familien, ein paar Köpfe. Vielleicht sogar ein kleiner Bürgerkrieg zur Ermittlung des neuen Kaisers. Und? Die Legionen bleiben – selbst wenn sie vorübergehend abgezogen werden müssen, sie kehren zurück. Und das Rückgrat des Imperiums, die Verwaltung, die Beamten, sie tun ihre Arbeit in den Provinzen, ganz gleich, wer gerade wen in Rom ermordet. Ich war einer dieser Beamten, und ich war auch einer der Legionäre. Damals aber war ich ein Ägypter, Halbjude, der durch das Land wandert und die Ohren aufsperrt. Eine gute Verkleidung. – Aber genug von mir. Lies, was deine Gewährsmänner geschrieben haben.«

Jochanan knurrte etwas, dann sagte er mit glatter Stimme: »Lieber bäte ich dich, mir alles zu berichten, was du weißt.«

Pomponius richtete sich halb auf. »Tu was ich sage, exoticus, oder geh.«

Jochanan kniete vor der Liege nieder. »Verzeih, Herr. Aber …«

Pomponius ließ sich zurücksinken. »Ich bin ein alter Mann«, sagte er sanfter. »Viele Dinge sind verschüttet in meinem Geist. Es mag sein, daß sie durch die Berichte anderer wieder freigeschaufelt werden. Und – alles, was ich weiß? Das wäre zuviel.« Er kicherte. »Weißt du denn, warum diese Leute den Fisch zum Zeichen genommen haben?«

Jochanan nickte eifrig. »Natürlich. Weil der Meister den Fisch wunderbar vermehrt hat. Weil er Fischer zu sich holte. Weil Iesos Christos Gottessohn Erlöser, wenn man die Anfangszeichen nimmt, auf Griechisch ichthys ergibt – Fisch.«

Pomponius lachte laut auf. »Ich sagte es doch – nichts ist phantastischer als die Erfindungsgabe der jenseitig Verzückten. Kennst du die Sternzeichen, die das Jahr regieren?«

Jochanan holte tief Luft. »Natürlich, aber …«

»Mit dem Zeichen des Widders beginnt das Jahr – es ist die Zeit der Aussaat und des Aufbrechens. Vor dem Widder die Fische, die das alte Jahr beenden; nach dem Widder der Stier.« Er schloß die Augen, summte leise. »Aber nicht nur Erde, Sonne und Mond bewegen sich, auch die Sterne. Oder erscheint es uns nur so, weil die Erde Bewegungen macht, die wir noch nicht kennen? Wie auch immer – die große Bewegung des Himmels dauert etwas mehr als fünfundzwanzigtausend Jahre, und dies ist ein Großes Jahr, aus zwölf Großen Monaten, die unter den gleichen Zeichen stehen wie unsere gewöhnlichen kleinen Monate. Aber der Kreis der Großen Monate läuft anders herum – das Große Jahr, die neue Zeit, beginnt mit den Fischen und endet mit dem Widder.« Er kicherte leise. »Kluge Männer haben das Fischzeichen gewählt, Jochanan – Männer, die sich mit den Sternen auskennen. Denn der Große Widdermond, mit dem das alte Große Jahr, die alte Zeit endete, war die Zeit der Widdergötter Zeus und Ammon. Alexander von Makedonien trug das Gehörn des Widders, weil er es wußte. Mit dem Beginn des Großen Fischmonds begann vor hundert Jahren das neue Große Jahr des Himmels, die neue Zeit. Deshalb, Jochanan, haben die Männer, die deinem Jehoschua nachfolgen, den Fisch gewählt. Und deshalb opfern sie, jedenfalls in Worten, diesem neuen Gott den alten, ein Lamm – einen kleinen Widder.«

Jochanan schwieg einige Zeit. Aus dem Haus drang dumpfes Gezeter; der Britannier und der Inder stritten um irgend etwas.

»Lies«, sagte Pomponius mit der Stimme, die vor Jahrzehnten die schwere Reiterei der Legionen kommandiert hatte.

Jochanan las. Er las, wie Pomponius es verlangte, in der Folge des Entstehens: zuerst die Briefe des Sha’ul, dann die mehr oder weniger ähnlichen, in einigen Punkten jedoch stark abweichenden Biographien von Markos und Matthias, zuletzt die ganz andersartige des Mannes Loukas. Vier Tage brachten sie damit zu. Am fünften Tag faßte Pomponius alles zusammen.

»Ihr meint nun also, dieser Jehoschua, den ihr Iesos nennt, wurde geboren unter seltsamen Umständen, reifte heran, zog herum, predigte, tat Wunder und wurde schließlich ans Kreuz geschlagen. – Was ist daran so bemerkenswert? Unter Pilatus, der eine miese Sau war, sind mindestens zehntausend Juden gekreuzigt worden. Prediger hat es in allen Ländern und zu jeder Zeit mehr als genug gegeben, und angeblich haben sie alle Wunder gewirkt. Also wozu soviel Aufhebens um diesen?«

Jochanan raufte sich die Haare. »Aber, Herr, du hast es doch gehört – er war der Messias! Und der Sohn Gottes! Gott selbst hat ihn durch den Geist gezeugt, damit sein Hauch Fleisch werde und durch den schändlichen Tod die Sünden der Welt auf sich nehme, die Welt erlöse!«

Pomponius hob beide Hände, als wolle er ein erregtes Tier zurückstoßen. »Langsam, Jochanan. Du vergißt, ich war Spion unter Juden, ich habe die jüdischen Schriften gelesen, ich bemerke, wenn etwas so hingebogen wird, daß es zu einer möglichen Prophezeiung paßt. Messias, sagst du? Und nun trennt ihr euch, oder habt euch längst getrennt, von den Juden und macht einen eigenen Verein daraus?« Er kicherte.

»Warum lachst du? Herr?«

»Wegen des Unsinns, du jüdischer Nichtjude. Der Messias, den die Schriften prophezeien, soll kein göttliches Wesen sein, das wäre Blasphemie, da es ja für die Juden nur ganz streng einen Gott gibt, keine zusätzlichen Emanationen oder Untergottheiten. Und dieser Messias soll die Herrschaft der Heiden beenden und die Juden mit ihrem Gott aussöhnen. Jehoschua hat aber weder die Herrschaft der Römer beendet, noch geht es euch um Aussöhnung der Juden mit ihrem Gott – ihr verflucht die Juden und predigt einen neuen Gott.«

»Aber« – Jochanans Stimme war rauh – »er wurde doch, wie die Prophezeiung es gesagt hat, in Beth Lechem geboren, aus dem Geschlecht Davids! Wie es für den Messias vorgesehen war.«

Pomponius lächelte. »Entscheide dich.«

Jochanan blinzelte schnell und lange. »Entscheiden?«

»Du willst Dinge, die nicht zusammen sein können. Entweder stammt er aus Nazareth, wo immer das ist – ich kenne keinen solchen Ort, und soweit ich weiß, war seine Familie aus Kapharnaum; oder er stammt aus Beth Lechem. Entweder stammt er vorschriftsmäßig, damit sich die Schrift erfüllt, von David ab, dann ist Joseph sein Vater, dieser Zimmermann. Oder er wurde vom Geist gezeugt und von einer Jungfrau geboren, dann kann er aber nicht durch Joseph von David herkommen. Entweder soll er die ganze Welt von den Fesseln eines irrenden Judentums befreien, oder er ist der Messias des Volks Israel. Was, bitte?«

Jochanan kratzte sich den Kopf, rümpfte die Nase, hüstelte. Er stand auf, ging zum Geländer der Terrasse, starrte hinaus aufs Meer, kam wieder zurück und blickte, neben der Liege stehend, auf Pomponius hinab.

»Nun?«

Jochanan schwieg noch immer.

Pomponius gluckste leise. »Ich glaube, wenn es dem Händler in Miletos endlich gelingt, einen des Schreibens kundigen Sklaven für mich zu finden, werde ich die ganze Geschichte so aufschreiben lassen, wie sie sich wirklich zugetragen hat.«

Jochanan stieß einen halb erwürgten Laut aus. »Ist dies deine Absicht, Herr?« sagte er dann mit flacher Stimme.

Pomponius nickte. »Es gibt schon zu viele Lügen, die als Wahrheit ausgegeben werden. Wenn du all dies allerdings als phantastisches Dichtwerk anlegen willst … Du bist auf dem richtigen Weg zu einer wunderbaren Lügengeschichte. Nur solltest du mit gewissen Übersetzungen aus der Sprache, die Jehoschua gesprochen hat, vorsichtiger sein. Man könnte sonst sagen, du hättest genauso gelogen wie die anderen. Und um gut zu sein, muß eine Lügengeschichte glaubhaft wirken.«

»Welche Übersetzungen welcher Wörter, Herr?« Jochanans Stimme klang fast wieder wie gewöhnlich.

Pomponius zupfte an seiner Nase. »Ah, eine ganze Menge. All dies Gerede um Jungfrauen, zum Beispiel. Frauen überhaupt. Wer eine Frau begehrlich ansieht, hat im Geiste schon die Ehe mit ihr gebrochen, oder wie heißt es?«

Jochanan zögerte. »So heißt es, Herr – aber was ist daran falsch?«

Pomponius hob die Schultern. »Die Ehe brechen kann nur ein Verheirateter – oder eine Verheiratete. Und in Jehoschuas Sprache macht man einen Unterschied zwischen Frau und Ehefrau. Es müßte auf Griechisch heißen, wer eine Verheiratete begehrlich ansieht. Wer nämlich eine Unverheiratete nicht begehrlich ansieht, sofern sie begehrenswert ist, der gehört geprügelt.«

Jochanan machte malmende Geräusche; vielleicht knirschte er mit den Zähnen.

Pomponius seufzte. »Und diese Jungfrau … Wenn eine Frau eben erst geheiratet hatte, wird sie alma genannt, das ist ›junge Frau‹. Jungfrau wäre betulla, und das hat niemals einer über Maria, Jehoschuas Mutter, gesagt. Für wirre Geschichten ist die Jungfrau natürlich viel besser geeignet. Eine göttliche Jungfrau vielleicht … Fang doch am besten mit Gott an, eurem Gott, irgendeinem Gott. Immerhin soll ja auch Alexander von Makedonien nicht Sohn Philipps, sondern eines Gottes gewesen sein; da gibt es Vorläufer. Allerdings war Olympias keine Jungfrau. Aber gab es da« – er legte den Finger an die Nase – »nicht auch in Ägypten … Ah, nein, das war Isis und Osiris, aber – willst du sie nicht in deine Geschichte einbauen? Mach doch Maria zur Göttin. Er hat sie zwar reichlich schlecht behandelt, aber …«

»Schlecht behandelt? Wer wen?«

Pomponius hob die Brauen. »Du hast es mir doch selbst vorgelesen. ›Weib, was willst du von mir?‹ und ›Weib, sieh da, dein Sohn‹ und derlei. Meinst du nicht, ein liebevoller Sohn redet seine Mutter anders an? ›Wer mich liebt, der soll Vater und Mutter verlassen …‹ klingt auch nicht nach dem Söhnchen einer Göttin. Aber immerhin, man könnte es versuchen.«

Jochanan ließ sich auf den Scherenstuhl sinken. »Beth Lechem«, sagte er halblaut.

Pomponius winkte ab. »Ach so, diese Volkszählung. Wozu macht man Volkszählungen? Als Grundlage für Steuerschätzungen. Ich weiß nicht, ob und wann da etwas derartiges gemacht wurde, aber wenn, dann lautet die Anweisung ganz sicher nicht, daß jeder in den Ort seiner Geburt gehen soll – im Gegenteil: Jeder muß da erfaßt werden, wo er lebt, wo er arbeitet, wo er das tut, was ihn zum Steuerzahler macht. Ah, nein, denkt euch etwas anderes aus.«

»Aber die Wunder – die Lehren – die Predigten – sein Leiden – der Tod – die Auferstehung!« Jochanan rang die Hände.

Pomponius schloß die Augen. »Ich bin müde. So müde. Auferstehung? Man hat der Kaiserin Livia gemeldet, Augustus sei leiblich in den Himmel aufgefahren. Glaubt es jemand? Nein; vor allem wozu? Hat es eine Bedeutung? Und der Tod? Jeder stirbt. Tausende wurden von Pilatus gekreuzigt. Er hat die Juden gehaßt und gefürchtet, und wegen seiner Grausamkeit wurde er dann abgesetzt und hingerichtet. Und dieser Pilatus soll seine Hände in Unschuld gewaschen haben? Wegen eines jüdischen Predigers? Pah.«

»Aber die Juden haben ihn doch …«

»Nichts haben sie. Was sollen sie denn getan haben? Diese ganze Erzählung wimmelt von Unsinn über Unsinn.« Er richtete sich wieder auf, blickte in das verschwommene Gesicht des Mannes, der Jude und Nichtjude sein wollte.

»Wie war das, bei diesem Sha’ul? ›Die haben auch den Herrn Jesos getötet und gefallen Gott nicht?‹. Ja was denn noch? Entweder ist Jehoschua der Erlöser, der getötet werden muß, dann ist, wer immer ihn getötet hat, heiliges Instrument des göttlichen Plans, verehrungswürdig und anzubeten, aber niemals zu verfluchen. Oder alles ist Unsinn. Ich glaube, alles ist Unsinn.«

Jochanan streckte die Hände aus, zog sie zurück. »Der Prozeß«, knurrte er. »Die Hohen Priester.«

Pomponius schnaubte. »Hannas, der in den Geschichten erwähnt wird, war fast zwanzig Jahre zuvor von uns, den Römern, abgesetzt worden. Kaiphas war ein kluger Mann, ein Politiker, der mit Pilatus zusammengearbeitet hat. Nicht weil er wollte, sondern weil Rom die Legionen hat. Pilatus schickt seine Truppen los, um Jehoschua zu verhaften. Er ist bekannt, wozu soll ihn ein Jünger verraten? Für dreißig Silberlinge – eine Münzeinheit, die zweihundert Jahre zuvor abgeschafft wurde? Nur damit sich die Schrift erfüllt? Und andere Jünger sollen das Schwert gezogen haben? Und dann entkommen sein?« Er starrte Jochanan an, fast wütend. »Unter der Besatzung war es Juden verboten, Schwerter zu tragen. Meinst du denn, es wäre auch nur einer lebend davongekommen, wenn sie Waffen getragen hätten? Sie wären alle auf der Stelle niedergehauen worden! Bewaffneter Widerstand gegen Rom – da folgt kein Prozeß, da wird gleich aufgeräumt!« Er atmete tief, damit das Keuchen nachließ.

»Der Prozeß!« schrie Jochanan.

»Welcher Prozeß? Bei Aufruhr gibt es ein schnelles Kriegsgerichtsverfahren – vor dem römischen Statthalter. Ich war dabei, Mann, in Jerusalem. Es waren die Tage vor Passah, zigtausend Juden kamen in die Stadt, Pilatus mußte mit einem Aufruhr rechnen, wie immer um Passah. Jemand hat gesagt: ›Da ist dieser Jehoschua, ein Galiläer, der predigt und regt die Leute auf.‹ Aus Galiläa sind immer wieder Dolchmänner gekommen, Meuchelmörder, Aufrührer gegen Rom. Pilatus hat seine Leute geschickt, um ihn festzunehmen – ein Exempel zu statuieren. Einen Prediger hinrichten, damit der Rest Frieden hält. Abends verhaftet, morgens abgeurteilt. Eine Sache von wenigen Augenblicken, unter Kriegsrecht, und abi in crucem! Römer haben ihn festgenommen, Pilatus hat ihn verurteilt, Soldaten haben ihn gekreuzigt. Er hat auch nicht, wie es so fein heißt, das Kreuz durch die Stadt getragen, nur den Querbalken, Mann – die Kreuzstämme stehen immer auf dem Platz, der für Hinrichtungen vorgesehen ist. Und die Juden? Ein paar haben gejammert, die meisten hatten nie von Jehoschua gehört. Und diese ganze Rennerei zu Kaiphas und das angebliche Verhör oder Verfahren – alles erlogen. Wie sagt Sha’ul? ›Wenn aber die Wahrheit Gottes sich durch meine Lüge als noch größer erweist …‹ Vorsätzlich gelogen, die Wahrheit verbogen, um etwas zu erreichen, was mit den Vorgängen und der Person nichts zu tun hat.«

Jochanan lehnte sich weit im Scherenstuhl zurück. Pomponius sah ihn nur verschwommen. Der Jude hatte die Hände vor sein Gesicht gelegt.

Langsamer, ruhiger fuhr er fort: »Wenn du nicht in der Fremde, sondern in Jerusalem gelebt hättest, wüßtest du, daß alles nicht so gewesen sein kann. Das jüdische Recht ist sehr klar. Ein Verfahren muß am hellen Tag stattfinden – Jehoschua wurde angeblich in der Nacht Kaiphas vorgeführt. Richter müssen bei klarem Verstand sein und nüchtern, wenn sie über jemanden verhandeln – aber euer Gesetz schreibt ihnen für den Tag, an dem es geschah, den Rüsttag, ein rituelles Abendmahl und mindestens vier Becher Wein vor! Und da soll ein Verfahren stattgefunden haben? Nein – es war eines von mehreren tausend Schnellverfahren des Pontius Pilatus. Die Juden, von Loukas und Sha’ul verflucht, haben nichts damit zu tun. Ich kann aber verstehen, warum die beiden das so hinbiegen wollen.«

Jochanan nahm die Hände vom Gesicht. »Warum?« Seine Stimme klang völlig glatt und beherrscht.

Pomponius lächelte müde. »Jerusalem ist zerstört, der Tempel niedergerissen, in ein paar Jahren wird Israel so tot und vergessen sein wie Karthago. Rom aber beherrscht den Erdkreis, und wenn ihr eine neue Religion betreiben wollt, die euch Macht und Ansehen und Einfluß bringt, müßt ihr euch mit Rom vertragen. Dann« – er richtete sich wieder auf – »dürft ihr keinen Religionsstifter haben, der von Rom rechtsgültig als Aufrührer hingerichtet wurde. Darum müßt ihr Pilatus reinwaschen. Wer hat die Schuld? Die Juden – sehr bequem, sie wurden von Rom vernichtet, sind Feinde des Reichs und können sich ohnehin nicht wehren. Saubere Lösung. Nein, Sha’ul war nicht dumm. Ein mieser kleiner Stänkerer, der jedes Wort dreimal bog und wendete, ehe er es verwendete. Ein schäbiger Freund der Knaben – aber er konnte Knabenliebe nicht mit seiner jüdischen Erziehung vereinbaren, und deshalb wollte er alle Sinnlichkeit unterdrücken. Ein unangenehmer Fanatiker; all dies, ja, aber ihr Götter, was für ein Kopf!«

Jochanan stand auf; langsam ging er zu dem kleinen Tisch, auf dem seine Rollen und das Schreibzeug lagen.