Zwischen Himmel und Elbe - Jan Bürger - E-Book

Zwischen Himmel und Elbe E-Book

Jan Bürger

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Beschreibung

Hamburg gewann nicht durch Fürsten Bedeutung und auch nicht durch den Klerus. Die Hansestadt wuchs allein durch den Handel und galt für Reisende und Auswanderer lange als Tor zur Welt. Im Schatten seines riesigen Hafens wurde Hamburg besonders in den vergangenen 150 Jahren zum Schmelztiegel der Kulturen. Dabei wird sein vielfältiges künstlerisches Leben oft übersehen. Mit den städtischen Bahnlinien als Orientierungshilfe erkundet Jan Bürger Hamburgs einzigartige Geschichte, vom Grindel bis zur Mönckebergstraße, von der Elbphilharmonie bis nach Blankenese. Kenntnisreich und voller Überraschungen erzählt er von Schriftstellern und Gelehrten, Musikern und Malern, von der Gründung der Universität, innovativen Museen und rauschenden Künstlerfesten.

Hamburg, die Stadt an der Elbe, gewann nicht durch Fürsten oder den Klerus Bedeutung, sie wartet nicht mit Schlössern und Burgen auf. Die Hafenstadt wuchs allein durch den Handel und galt für Reisende und Auswanderer ein halbes Jahrtausend lang als Tor zur Welt. Früher als andere deutsche Städte wurde Hamburg zum Schmelztiegel der Lebensformen und Kulturen. Dabei entstand die Metropole, wie wir sie heute kennen, überwiegend in den vergangenen 150 Jahren. Dennoch begegnet uns in ihr vielerorts plötzlich die ältere Vergangenheit. Mit dem Liniennetz der U- und S-Bahnen als Orientierungshilfe erkundet Jan Bürger Hamburgs Straßen und Viertel und erzählt die Geschichte ihrer vielfältigen Kultur und derer, die sie schufen. Von Literatur und Theater, von Musik und Museen, von Gräbern und Gelehrten, vom Strich und vom Hafen, vom Hirschpark und von Övelgönne – von Gotthold Ephraim Lessing, Carl Philipp Emanuel Bach, Aby Warburg, Anita Rée und Hans Henny Jahnn bis hin zu Wolfgang Borchert, Brigitte Kronauer, den Beatles und der Elbphilharmonie. Eine Entdeckungsreise durch eine der aufregendsten deutschen Städte.

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Jan Bürger

Zwischen Himmel und Elbe

Eine Hamburger Kulturgeschichte

C.H.Beck

Zum Buch

Hamburg, die Stadt an der Elbe, gewann nicht durch Fürsten oder den Klerus Bedeutung, sie wartet nicht mit Schlössern und Burgen auf. Hamburg wuchs allein durch den Handel und war mit seinem Hafen ein halbes Jahrtausend lang für Reisende und Auswanderer das Tor zur Welt.

Früher als andere deutsche Städte wurde Hamburg zum Schmelztiegel der Lebensformen und Kulturen. Die Hansestadt, wie wir sie heute kennen, ist überwiegend in den vergangenen hundertfünfzig Jahren entstanden. Dennoch begegnet uns in ihr an vielen Orten plötzlich die ältere Vergangenheit. Mit dem Liniennetz der Hamburger U- und S-Bahnen als Orientierungshilfe streift Jan Bürger mit uns durch die Straßen und Viertel und erzählt die Geschichte ihrer vielfältigen Kultur und derer, die sie schufen. Von Literatur und Theater, von Musik und Museen, von Gräbern und Gelehrten, vom Strich und vom Hafen, vom Hirschpark und von Övelgönne – von Lessing, Carl Philipp Emanuel Bach, Anita Rée bis hin zu Wolfgang Borchert, Peter Rühmkorf, Brigitte Kronauer, den Beatles und der Elbphilharmonie. Eine kulturgeschichtliche Entdeckungsreise durch eine der aufregendsten deutschen Städte.

Über den Autor

Jan Bürger, 1968 geboren, studierte in Hamburg, veröffentlichte Bücher über Hans Henny Jahnn, Gottfried Benn und Max Frisch und ist Mitglied der Freien Akademie der Künste in Hamburg. Er war Redakteur in Berlin und Gastprofessor in Nashville, Tennessee. Seit 2002 arbeitet er am Deutschen Literaturarchiv Marbach, wo er u.a. den Nachlass von Peter Rühmkorf betreut. Bei C.H.Beck erschienen «Der Neckar. Eine literarische Reise» (2013) und zwei Neueditionen von Reportagen Joseph Roths: «Reisen in die Ukraine und nach Russland» (42015) sowie «Pariser Nächte» (2018).

Inhalt

Bildteil

Vorsatz vorne

Vorsatz hinten

Unterwegs. Fünf Betrachtungen vorab

Baumwall – (Elbphilharmonie)

1. Der zerbrochene Spiegel

2. Im Jahrhundert der Genies

3. Klopstocks Grab oder Pilgern nach Altona

Gänsemarkt

4. Vom Schönen und vom Nützlichen

Meßberg

5. Lessings Abenteuer

6. Bürgertum und seltsame Seefische

Mönckebergstraße

7. Über verschütteten Anfängen

8. Zentrale Speersort

9. Shoppen, Reisen, Handeln

Rödingsmarkt

10. Das höchste Gebäude der Welt

11. Gomorrha

12. Borcherts Billbrook

Dammtor

13. Als die Gelehrten an den Grindel zogen

14. Im Zeichen der Musen-Mutter

15. Pferdestall und Kammerspiele

Hallerstraße

16. Die Bücher-Arche

17. Nördlich der Lombardsbrücke

18. Musik als Tor zur Welt

19. Ekstase und Apokalypse

Hauptbahnhof

20. Strich und Idyll

21. Brockes, Ziegel und das große Theater

22. Lichtwark, Pauli und die Sezession

St. Pauli

23. Berühmt und berüchtigt

24. Beat und Tabulosigkeit

25. Schlangen, Seehunde und Pferdewürste

Königstraße

26. Große Religionsfreiheit

27. Hansen, Liliencron und die Liebe in den Zeiten der Cholera

Altona

28. Die Heines in Ottensen

29. Bei Rühmkorfs in Övelgönne

30. Neuer Realismus und Kulturfabriken

Blankenese

31. Ein Park mit Tieren und Künstlern

32. Wir Welt!

Mit der Hochbahn nach Norden. Sechs Betrachtungen

ANHANG

Anmerkungen

Mottos

Unterwegs. Fünf Betrachtungen vorab

Baumwall

Gänsemarkt

Meßberg

Mönckebergstraße

Rödingsmarkt

Dammtor

Hallerstraße

Hauptbahnhof

St. Pauli

Königstraße

Altona

Blankenese

Mit der Hochbahn nach Norden. Sechs Betrachtungen

Literatur

Hundert Bücher zum Weiterlesen – eine Auswahl von Romanen, Erzählungen, Erinnerungen und Gedichten aus und über Hamburg

Dank

Bildnachweis

Namenregister

Hamburger ist man ganz und gar oder überhaupt nicht, und das Hamburgertum hat seine politischen wie gemüthaften Aspekte. Ganz gleich, was im Laufe der Zeiten aus Deutschland wurde, Hamburg hat seine eigene, hanseatische Geschichte, war eine zunächst zwar oligarchisch regierte, aber grundsätzlich doch demokratische Stadtrepublik, ein Staat im Staate, als welcher es sich bisweilen ein recht eigentümliches Gebaren erlaubt hat.

Joachim Maass, 1961[1]

Ein echt Hamburgischer Regen, bei dem das Ende undenkbar zu seyn scheint.

Friedrich Hebbel, 1839[2]

Bildteil

1 Ernst Eitner: Hochbahn-Brückenbau in Klein-Borstel, 1913

2 Friedrich Gottlieb Klopstock in Hamburg, gemalt von Anton Hickel

3Gotthold Ephraim Lessing, um 1767, wahrscheinlich von Anna Rosina de Gasc gemalt

4Eva König, 1771, Gemälde von George Desmarées

5 Werbeplakat von 1920 für die erste Bücherhalle

6Leopold von Kalckreuth: Alfred Lichtwark, 1912

7Max Liebermann: Abend am Uhlenhorster Fährhaus, 1910

8Heinrich Stegemann:Hans Henny Jahnn, 1930

9Anita Rée: Selbstbildnis, vor 1930

10Anita Rée: Orpheus und die Tiere, 1931, frühere Oberrealschule für Mädchen, Caspar-Voght-Straße 54, Hamburg-Hamm

11 Die Palmaille um 1827, dargestellt von Jes Bundsen

12Joachim Luhn: Stadtansicht von 1681, ursprünglich hing das Gemälde im Rathaus, heute in St. Jacobi

Vorsatz vorne

Vorsatz hinten

Unterwegs. Fünf Betrachtungen vorab

Mit dem Zug in die Zukunft. Die Mehrheit in der Bürgerschaft war überwältigend: Im Mai 1906 wurde der Bau einer Hoch- und Untergrundbahn endgültig beschlossen. Seitdem klaffen überall in der Stadt Gruben. Gut fünf Jahre soll es dauern, bis sich Hamburg zu den modernsten Städten der Welt zählen kann, zumindest verkehrstechnisch. Unter der Großen Johannisstraße, der späteren Mönckebergstraße und an vielen anderen Orten entstehen gewaltige Tunnel. Man reißt die Fahrbahnen auf, hebt das Erdreich aus, verschalt alles mit Beton und dichtet es ab. Dann werden die Gleise verlegt, um die Schächte schließlich abzudecken und die Straßen neu zu pflastern, damit alles wieder so aussieht, als wäre zwischenzeitlich nicht viel geschehen. Auch die riesigen eisernen Viadukte am Hafen und in der Isestraße stellen eine technische Höchstleistung dar. Aber die Errichtung von Brücken gehört in der amphibischen Hansestadt eher zum Alltag als der Tunnelbau.

17,5 Kilometer lang wird die erste Ringlinie sein, die das Leben rund um den Alstersee verwandelt. Von nun an herrscht ein anderes Gefühl für Raum und Zeit: Besonders die Arbeiterquartiere im ‹roten› Barmbek scheinen dem bürgerlich-prunkvollen Rathaus plötzlich viel näher. Auf diesem Streckenabschnitt – zwischen Barmbek und Rathaus – wird am 15. Februar 1912 die Ära der Hamburger U-Bahn feierlich eingeläutet, und bis heute dauert sie an.[1]

Schon im Sommer 1912 kann man weiter bis zum Millerntor fahren – von Barmbek bis zu den Landungsbrücken braucht man fortan nur 19 Minuten. Das ist auch nötig, denn seit 1871 hat sich Hamburgs Einwohnerzahl mehr als verdreifacht. Um immer mehr Menschen durch die boomende Metropole zu befördern, gab es seit 1866 neben den Alsterdampfern Pferdebahnen. Später kam eine Dampfbahn nach Wandsbek hinzu. Seit 1894 stellte man auf elektrische Straßenbahnen um, doch auch sie fahren gemächlich und sind meist höchstens doppelt so schnell wie die Fußgänger.[2]

Von einer Geschwindigkeitsrevolution kann erst die Rede sein, seit die Züge der Untergrund- und Hochbahn rollen. Beschleunigung ist eines der wichtigsten Merkmale der neuen Epoche: Dem Bahnverkehr folgen die Automobile und später die Flugzeuge. Der Hauptgrund für Hamburgs Attraktivität als Handelsstadt war hingegen traditionell die Lage am Wasser. Dies bleibt auch weiterhin so. Dennoch steht das 20. Jahrhundert auch an der Elbe im Zeichen des Land- und Luftverkehrs.

Als sich Ernst Eitner 1913 bei gutem Wetter von seinem Haus in Hummelsbüttel aus aufmacht, den Hochbahnbau zwischen Ohlsdorf und Fuhlsbüttel zu malen, bewegen vermutlich auch ihn Gedanken daran, dass mit der Verlegung der Schienenstränge eine Epochenschwelle überschritten wird, kennt er sich doch sehr gut in Paris aus, wo die Metro schon seit über zehn Jahren den Alltag verändert. Noch werden in Fuhlsbüttel viele Erdarbeiten mühsam mit Trägern und Pferden bewältigt. Aber das Maschinenzeitalter hat unübersehbar begonnen. Auch Dampfbagger und -loks kommen zum Einsatz und werden von dem lange unterschätzten Impressionisten mit derselben Hingabe gemalt wie Fassaden, Gesichter und Bäume (siehe Tafel 1). Eine Retrospektive zu Eitners 150. Geburtstag im Jenisch-Haus in Klein Flottbek erklärte ihn 2017 zum «Monet des Nordens». Angesichts des Leuchtens seiner Farben wirkt dieser Vergleich gar nicht abwegig.[3] Eitner gehört zu den wenigen Malern seiner Generation, die unmittelbar auf die Impulse der impressionistischen Revolution des Sehens reagierten, ohne dabei ihre künstlerische Eigenständigkeit zu verlieren. Nicht nur die vielfältigen Nuancen des Himmels über der Elbe, auch die Farben des aufgegrabenen Erdreichs beim Hochbahnbau erinnern auf seinen Bildern an Landschaften der größten französischen Meister. Eitner, seine Freunde aus dem Hamburgischen Künstlerclub und vor allem ihr einflussreicher Förderer Alfred Lichtwark rufen gemeinsam das Ende der Historienmalerei aus. Sie soll genauso der Vergangenheit angehören wie romantisierende Naturbetrachtungen, auch wenn das in Hamburg viele noch nicht wahrhaben wollen und Eitners überraschende Farbkompositionen als Schmierereien abtun.

*

Ohne Fürsten. Während andere Metropolen durch ihre politische Funktion Bedeutung gewannen, durch Höfe oder Regierungssitze, wuchs die Stadt an der Elbe allein durch den Handel. Hamburg war sozusagen nie eine symbolische Größe. Deshalb fehlt hier vieles, was andere Städte unverwechselbar macht. Burgruinen, Exerzierplätze, prunkvolle Schlösser oder gar Wunderkammern sucht man vergebens. Es stimmt, was der Romancier und Essayist Hermann Peter Piwitt nicht ohne Bitterkeit über seine Heimatstadt feststellt: «Wo andere große Städte einen Markt, eine ehemals fürstliche oder bischöfliche Residenz haben und ums Eck eine alte berühmte Universität, da hat sie einen zu groß geratenen Feuerlöschteich, an den ein Büro- und Geschäftszentrum grenzt. Und drumherum ein Agglomerat von großen Dörfern.»[4] Nur ist dieser ‹Teich›, der vor bald 800 Jahren aufgestaute Alstersee in der Mitte der City, fast so schön wie der Zürichsee. Und was ist an der Kaufmannskultur eigentlich so verwerflich? Hat sie wirklich mehr Unheil und Hässlichkeit in die Welt gebracht als die Fürsten und Bischöfe?

Merkwürdig ist der Wunsch, Hamburg wäre eine ganz normale europäische Großstadt, ist es doch eine Durchgangsstation auf dem Weg zum Meer. Ein halbes Jahrtausend lang, bis zum Siegeszug der Luftfahrt, mussten die meisten, die nach Deutschland wollten oder ihm den Rücken kehrten, Hamburg passieren, Reisende genauso wie Aus- und Einwanderer. Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass vor allem die Schiffe, Docks, Kaianlagen, Speicher und Kontorhäuser die Hansestadt unverwechselbar machen. Nicht zu vergessen die Vielfalt ihrer Bewohner: Durch die Bedeutung für den Welthandel wurde Hamburg früher als andere deutsche Städte zum Schmelztiegel der Lebensformen und Kulturen.

*

Zerstörungen, Neuanfänge. Das 19. Jahrhundert beginnt in Hamburg verheerend: Im November 1806 marschieren Napoleons Truppen in die Stadt ein. 1811 wird Hamburg Teil des Französischen Kaiserreichs. Wirtschaft und Handel werden von den Besatzern regelrecht in die Knie gezwungen. Es herrschen Lebensmittelknappheit und Versorgungsengpässe, weil alles, wirklich alles militärischen Zwecken untergeordnet wird. Die meisten Schiffe bleiben im Hafen, und sogar die Kirchen werden – mit Ausnahme des Michel – in Pferdeställe verwandelt. Tausende von alteingesessenen Bürgern müssen ihre Stadt unter dem ‹eisernen Marschall› Louis-Nicolas Davoût verlassen, damit die fremden Truppen versorgt werden können. Um freie Schussfelder zu schaffen, werden große Teile von Hamm und des heutigen St. Pauli einfach niedergebrannt. Die Gartenhäuser an der Alster im heutigen Harvestehude zerstört man noch im Herbst 1813, damit sie militärischen Operationen nicht länger im Weg stehen. Dabei sind die Franzosen schon geschlagen. Am 6. April 1814 tritt Napoleon zurück und geht ins Exil nach Elba.[5] Davoûts Truppen ziehen aber erst Ende Mai ab.

1815 wird die befreite Stadt Mitglied des Deutschen Bundes. Es beginnt eine Periode des Wiederaufbaus. Seit 1819 ist Hamburg offiziell ‹Freye und Hansestadt›, und endlich entwickelt sich diese über ihren engen, seiner Struktur nach mittelalterlichen Kern hinaus. Dann aber bricht am 5. Mai 1842 in der Deichstraße ein Feuer aus, das große Teile Hamburgs in Schutt und Asche legt. Die Katastrophe ist so grauenvoll, dass in ganz Europa über sie berichtet wird. Dieses Interesse sorgt für die frühesten fotografischen Aufnahmen der Stadt. Die berühmten Daguerreotypien, die Hermann Biow nach den Löscharbeiten vom Dach der vom Brand verschonten Börse macht, zeigen im Grunde nur eines: Es ist unglaublich viel kaputt.[6]

*

HH. Das Hamburg, das wir heute kennen, unser Hamburg ist vor allem in den vergangenen 150 Jahren nach dem Großen Brand entstanden. Es ist eine extrem moderne Stadt, die erstaunlich viel gemeinsam hat mit den Metropolen der Neuen Welt. Noch dazu wurde ihre Bausubstanz im Zweiten Weltkrieg zerstört wie in kaum einer anderen Weltstadt. Trotzdem oder gerade deswegen wecken auf Hamburgs Straßen sogar die Nummernschilder Erinnerungen, die bis ins Mittelalter zurückreichen, bis zur Gründung der Stadt und ihrer ersten Blüte im Zeichen der Hanse. Hansestadt Hamburg. HH. Ehe wir’s uns versehen, springen wir durch die Zeitschichten, von Epoche zu Epoche, von Thema zu Thema. Erzählend bewegen wir uns fast so wie Kinder, die auf der Straße Himmel und Hölle spielen. Wir werfen einen Stein und hüpfen von Kästchen zu Kästchen.

Hinkepott hat der Zeichner und Gelegenheitsschriftsteller Horst Janssen seine beiden autobiografischen Bücher genannt.[7] Vor 30 Jahren konnte man seine virtuosen Porträts, Blumen und Landschaften in Hamburg an fast jeder Ecke finden. In großen Auflagen ließ der Künstler Poster drucken, die er massenweise persönlich signierte und durch zwei Buchstaben zu erschwinglichen ‹Originalen› aufwertete. Bald dekorierten sie Buchhandlungen, Wartezimmer und WG-Küchen. Eine Zeit lang schienen sie einfach zur Stadt zu gehören, unvermeidlich wie die Lieder von Hans Albers und Udo Lindenberg oder Hagenbeck. Aber auch das ist schon fast wieder vergessen. Für Horst Janssen war es keine Frage, dass unsere Erinnerungen, auch die kollektiven Erinnerungen, selten der starren Logik der Chronologie folgen. Das Vorher-und-Nachher unserer Geschichtsbücher ist auch nur eine Hilfskonstruktion.

*

Kunst und Kultur. Wer in die Archive einer Metropole eintaucht, geht in ihnen entweder unter oder er rechnet mit der Subjektivität seiner Einsichten und Entdeckungen. Selbstverständlich ist die vorliegende Kulturgeschichte jener Stadt, in der ihr Verfasser aufgewachsen ist, in erster Linie ein Spiegel seines Wissens, seiner Interessen und Erfahrungen.

Bei aller Vielfalt meiner Ausflüge ins Gedächtnis unserer Stadt werde ich mehr Anstöße bieten als Resultate, mehr Erzählungen als Urteile. Jeder Anspruch auf Vollständigkeit wäre vermessen. Stattdessen bin ich den Quellen der Geschichten und Lebensläufe, aus denen sich mein Hamburg-Panorama zusammensetzt, möglichst genau nachgegangen, bis hin zum Blick in persönliche Hinterlassenschaften, wie sie sich in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek oder im Deutschen Literaturarchiv im schwäbischen Marbach finden. Auch hier, am schmalen Neckar, werden wichtige Nachlässe von Schriftstellern und Wissenschaftlern aufbewahrt, die mit der Hansestadt in enger Verbindung standen.

Dem subjektiven Zugriff auf unsere Erinnerungsspeicher entsprechen die Stationen, von denen aus das Vergangene rekonstruiert wird. Da ich vor allem die Stadt der Moderne in den Blick nehme, geht jedes Kapitel von einer der bekannten Haltestellen der S- und U-Bahnen aus. Geschichte wird also einmal nicht chronologisch erzählt, sondern im Raster der Topografie und damit stets von unserer Gegenwart her. In ihr scheint das Frühere vielfach gebrochen auf. Und da die Künste und die Literatur im Mittelpunkt stehen, gehe ich vor allem Ereignissen nach, die sich durch Bücher, Gemälde, Bauwerke und Kompositionen vergegenwärtigen lassen, ebenso durch Briefe, Tagebücher und Memoiren, seien sie von Friedrich Gottlieb Klopstock, Gotthold Ephraim Lessing, Wolfgang Borchert, Peter Rühmkorf, Brigitte Kronauer oder Marione Ingram.

Das Liniennetz des Hamburger Verkehrsverbunds dient dabei als Mind-Map: Es ist nicht mehr als ein Hilfsmittel, um sich im überwältigenden Dickicht der Kulturgeschichte zu orientieren. Aber auch nicht weniger. Nächste Haltestelle Baumwall!

April 1912: Am Baumwall ist die neue Hochbahn fast fertig

Baumwall

(Elbphilharmonie)

1. Der zerbrochene Spiegel

Wer am Baumwall aus der U-Bahn steigt, sollte sich Zeit lassen, egal bei welchem Wetter, ein paar Schritte auf dem Bahnsteig ins Freie gehen und den Blick schweifen lassen – über Barkassen, kleinere Schiffe und Landungsbrücken hinweg bis hin zu den bunten Kränen des Containerhafens, die wie Zinken einer riesigen Harke hinter dem gegenüberliegenden Ufer in den Himmel ragen. Die Aussicht von der High Line, jener zum Park umfunktionierten Bahntrasse im Westen Manhattans, ist nicht aufregender. Und dazu die Elbphilharmonie, die, von hier oben betrachtet, ihre wahre Größe eher versteckt!

2016 ist sie schließlich fertig geworden. Zuletzt hatten viele es nicht mehr für möglich gehalten, zu oft waren die Pläne im Laufe von 15 Jahren über den Haufen geworfen worden. Währenddessen stiegen die Kosten in ungeahnte Höhen. Inzwischen hat man es fast vergessen: Rund 866 Millionen Euro soll der von politischen Querelen und haarsträubenden Pannen begleitete Bau letztlich verschlungen haben, und über 90 Prozent davon stammten aus Steuermitteln.

Je länger sich die Fertigstellung hinauszögerte, desto lauter wurden die Proteste. «Über vierzig Prozent der Ausgaben für Kultur entfallen derzeit auf die Elbphilharmonie», beklagte eine Initiative Hamburger Künstler im November 2009. «Damit wird die Kulturbehörde zur Geisel eines 500-Millionen-Projekts, das nach Fertigstellung bestenfalls eine luxuriöse Spielstätte für Megastars des internationalen Klassik- und Jazz-Tourneezirkus ist.»[1] Damals fand sich kaum noch jemand, der den Kritikern ernsthaft widersprechen wollte.

Und heute, seit das Gebäude viel mehr Publikum anzieht als erwartet?

Schön ist sie geworden. Schön und ungewöhnlich lagert sie auf dem früheren Kaispeicher A vor der City. Auch das alte Hamburg zeigt sich prächtiger, seit es die Elbphilharmonie gibt. Denn so spektakulär der architektonische Entwurf ist, das Konzerthaus passt sich ein in das, was Hamburg immer schon liebenswert gemacht hat. Sie harmoniert aufs Beste mit den Hafenanlagen; sie ist monumental, dabei aber deutlich niedriger als die Türme der großen Kirchen und nur ein kleines Stück höher als das Radisson Blu Hotel am Dammtor. Mitten im Strom ragt sie in einen Himmel, an dem sich die Wolken viel schneller bewegen als in südlicheren Gefilden.

Ja, das schwerelose Spektakel am Firmament, so typisch für Hamburg, versetzt auch die spiegelnde Glashaut der Elbphilharmonie in Aufruhr: Reflexe schießen über die Fassade, die Sonnenstrahlen brechen sich wie an einem gigantischen Eisblock; man könnte meinen, die Architekten des Baseler Büros Herzog & de Meuron hätten an Hans Christian Andersens Schneekönigin gedacht, als sie ihr Meisterwerk erträumten – an jene geheimnisumwitterte Regentin in ihrem Eispalast, mitten in ihrem «leeren unendlichen Schneesaale» mit dem zugefrorenen See, der in «tausend Stücke zersprungen» ist und aussieht wie ein «vollkommenes Kunstwerk». Die Schneekönigin hält ihren Scherben-See für einen «Spiegel des Verstandes».[2] Ist die Elbphilharmonie mit ihren 1096 seltsam gewölbten Glaselementen nicht auch so ein fantastisch zerbrochener Spiegel? Selten drücken sich hanseatische Geltungswünsche so unverstellt aus wie hier. Nirgends zeigt sich deutlicher, dass der größte Vorzug dieser Stadt ihre Lage ist: das Wechselspiel zwischen Himmel, Elbe, Alster und Erde, die weiten Blicke über die Gewässer hinweg und die unzähligen Reflexe der Bauten und Lichter. Allein schon für sie kann man Hamburg, wie es der Schriftsteller Hans Erich Nossack einmal unübertroffen lakonisch feststellte, «jedesmal alles» verzeihen.[3]

Als es Hans Christian Andersen im Sommer 1831 nach Hamburg verschlug, empfand er der Stadt gegenüber vor allem tiefen «Respekt». Das lag allein schon an ihrer Größe. Der dänische Märchendichter kam nicht übers Wasser, sondern auf dem Landweg und mietete sich am Jungfernstieg ein. In seinem Reisebericht hielt er fest: «Hier, in ihrem Inneren, nimmt sich die Stadt prachtvoll aus, denn die breite, große Alster trennt gleichsam die alte Stadt von der neuen. Die hohen Türme spiegeln sich im Wasser, auf dem Schwäne schwimmen und Boote mit geputzten Menschen schaukeln.»[4]

Der Blick von der Plaza der Elbphilharmonie hätte Andersen wahrscheinlich vollends überwältigt. Und auch verstört; beunruhigte ihn doch allein schon der nicht sehr weite Fußweg von der Alster an die Elbe. Allerdings führte ihn dieser damals noch durch die berüchtigten Wohngebiete der Hafenarbeiter, und hier wurde dem Besucher unmittelbar klar, dass Hamburg damals die bei Weitem am dichtesten besiedelte Stadt Europas war.[5] In extremer Form galt dies für die Gängeviertel nördlich des Hafens, die im 19. Jahrhundert ein so massives Problem darstellten, dass sie nach und nach abgerissen wurden. Spätestens die große Choleraepidemie von 1892, bei der etwa 8600 Menschen ums Leben kamen, besiegelte ihr Ende.

Das Gängeviertel auf dem Großen Grasbrook hatte man bereits etwas früher dem Erdboden gleichgemacht, um den Hafen zu modernisieren. 24.000 Menschen verloren dadurch ihre Wohnungen und wurden in die äußeren Stadtbezirke umgesiedelt. Im Freihafen blieb es Hamburg weiterhin erlaubt, Waren zollfrei umzuschlagen, trotz der Gründung des Deutschen Reichs und des Zollanschlusses des Stadtgebiets. Unter der Leitung des Architekten Franz Andreas Meyer benötigte man damals nur sieben Jahre zur Errichtung des gigantischen Backstein-Ensembles der Speicherstadt, das im Oktober 1888 eröffnet und 2015 auf die Liste des UNESCO-Kulturerbes gesetzt wurde.

Im Sommer 1831 hatte Hans Christian Andersen Grund, sich auf seinem Spaziergang zum Hafen vorzusehen. Damals gehörte etwas Mut dazu, sich als Fremder ins Gewimmel der engen Straßen und Gassen zu stürzen, «zwischen Droschken, lärmende Kleinhändler, Blumenmädchen aus den Vierlanden und geschäftige Geldleute von der Börse»; die Gegend galt als gefährlich. Andersen kam es vor, als sei die Stadt ein «einziger Laden». Und die dunklen, schmutzigen Gänge, in die kein Sonnenlicht vordrang, machten ihm regelrecht Angst: «Die Straßen kreuzen sich, und zur Elbe hinunter findet man ein paar, die man durch einen Hausflur betritt […]. Ich steckte in einige dieser Straßen den Kopf, wagte mich jedoch nicht weiter, denn sie erinnerten mich ganz lebendig an einen Traum, den ich einmal hatte: wie ich auf der Østergade von Kopenhagen spazierenging und auch die Häuser anfingen zu spazieren, doch so mit den Gesichtern aufeinander zu, daß sie wie diese Straßen von Hamburg aussahen, und als sie noch einen Schritt weiter machten, saß ich zwischen den Wänden eingeklemmt und konnte weder vor noch zurück.»[6]

Kaum jemand hat die Beklemmung, die fast jeder Fremde empfand, den es in die dem Hafen vorgelagerten Quartiere verschlug, so eindringlich beschrieben wie Andersen. Folgt man ihm, scheinen sogar die apokalyptischen Folgen der Cholera vorhersehbar gewesen zu sein. Dem reisenden Dichter fielen die katastrophalen hygienischen Verhältnisse in den übervölkerten Gebieten sofort auf: «Die Stadt wird von Kanälen durchschnitten. In diesem Viertel sah ich ein paar, die mir vorkamen wie wahrhaftige Kloaken. Hohe Häuser zu beiden Seiten, doch statt einer Straße nur der schmale Kanal, so weit die vorgebauten Balkons den Blick erlaubten. Auf diesen hing und lag allerlei, und tief unten floß, oder richtiger kroch das schmutzige Wasser. Einer der Balkons oder Schuppen in diesem Chaos war grüngestrichen, und hier saß eine dicke Madam am Teetisch und genoß die schöne Natur.»[7]

Typische Straßenszene im 19. Jahrhundert: Dovenfleet, fotografiert von Georg Koppmann 1883

Das Industriezeitalter hatte Hamburg in diesen Jahren noch nicht erreicht. Sogar den Siegeszug der Dampfschifffahrt schien man in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein wenig zu verschlafen. Ernsthafte Pläne für die Erweiterung des Hafens und für dessen Anschluss an die Eisenbahn entstanden zwar Ende der Dreißigerjahre. In der Bürgerschaft stießen sie zunächst aber auf wenig Gegenliebe. Es mutet fast grotesk an, doch die Voraussetzungen für den Aufstieg zum modernen Handelszentrum und zur echten Großstadt wurden erst nach einer bis dahin unvorstellbaren Katastrophe geschaffen: Anfang Mai 1842 vernichteten verheerende Brände etwa ein Drittel der Innenstadt. Unter den Augenzeuginnen war auch die beliebte Schriftstellerin und Lehrerin Elise Averdieck. In ihren Memoiren schreibt sie: «In den Straßen war kaum durchzudringen. Flüchtlinge und Neugierige sperrten die Wege. Auf dem Walle bekamen wir etwas freiere Aussicht, aber damit nichts Tröstliches. In der Umgebung von lauter brennenden Häusern und Straßen brannte der Rest des Nikolaiturms wie eine große Feueresse.»[8] Der damals in Hamburg lebende Dramatiker Friedrich Hebbel spricht in seinem Tagebuch am 13. Mai schlicht von einer «Schreckenswoche», denn «ein Fünftel von Hamburg» liege «in Asche» und dazu auch noch sein Verlag.[9]

Blick in Richtung Lombardsbrücke: Hermann Biow fotografierte 1842 die Zerstörungen nach dem Brand vom Dach der Börse

Der Wiederaufbau der zerstörten Gebiete verhalf der Stadt zu einem neuen Auftritt, der in die Zukunft wies: Endlich wurden die engen Grenzen der Innenstadt überwunden und das Umland ausgebaut. Ein entscheidender Modernisierungsschub setzte ein, als 1860/61 die Torsperre aufgehoben wurde. Nun konnten sich ländliche Gebiete wie Harvestehude, Rotherbaum, Eppendorf und Eimsbüttel zu ansehnlichen Vorstädten entwickeln.[10]

Die allgemeine Verstädterung Europas in den folgenden Jahrzehnten veränderte Hamburg besonders stark. Das Bevölkerungswachstum schien kaum aufzuhalten: Zählte man 1842 knapp 140.000 Einwohner, waren es 1910 bereits über 930.000.[11] 1912 galt der Hafen nach London und New York als einer der bedeutendsten der Welt, und bald rangierte Hamburg vor Budapest, Warschau, Brüssel und Madrid unter den zehn größten Städten des Kontinents.

Die norddeutsche Metropole, wie wir sie heute vor Augen haben, gewann also vor allem in der Ära der Hochindustrialisierung Gestalt. Nichts symbolisiert diesen Aufbruch eindrucksvoller als die Speicherstadt. Einerseits bestach die neue Backsteinarchitektur durch ihre Zweckdienlichkeit, andererseits blendete sie mit einer wahren Überfülle an Ornamenten. Die Türmchen und Windenerker, das Schmuckwerk aus Keramik und Glas, all das, was ursprünglich nur Dekoration war, haben das Ensemble zum gigantischen neogotischen Monument erhoben. Der Gesamteindruck ist überwältigend, ganz so, als wäre man beim Bau darauf aus gewesen, die Pracht der Hauptkirchen in den Schatten zu stellen. Schließlich stand das neue Hamburg im Zeichen der Wirtschaft. Welche Rolle spielten da noch die Religionsgemeinschaften?

Die aus heutiger Sicht unbegreifliche Entscheidung, 1804 den gotischen Mariendom abzureißen, einen großen Backsteinbau, der seit dem Mittelalter das Bild der Stadt geprägt hatte, spricht nicht nur für die Nischenexistenz des Katholizismus an der Elbe, sondern auch allgemein für den schwindenden Einfluss der Geistlichen im städtischen Alltag. Ende des 19. Jahrhunderts war es gar keine Frage mehr, dass die Ökonomie den Hamburgern über alles ging. Als sprichwörtliche Pfeffersäcke inszenierten sie ihre wirtschaftliche Macht nun selbstbewusster denn je. Ihre Kathedralen waren die Gewürzspeicher und Kontorhäuser. Ob Protestant oder Katholik, religiöse Bedürfnisse interessierten, sofern überhaupt vorhanden, nur noch am Rande, ebenso wie die Wissenschaften und die Künste.

Sicher sind jene Worte, die der Schriftsteller Hans Henny Jahnn seinem Tragödienhelden Thomas Chatterton in den Mund legte, überspitzt. Aber ebenso sicher trafen sie mitten ins Schwarze, als Gustaf Gründgens das Drama über den legendären englischen Dichter und Fälscher 1956 im Deutschen Schauspielhaus an der Kirchenallee inszenierte: «Es ist also ein für alle Mal bewiesen, daß ich ein Feind der redlichen Handelsstadt bin, ein Verlorener, ein Auszustoßender. Die gewaltigen Herren der Banken und Schiffe, die in der Woche sechs Tage Sklaven, Pfeffer, Tee, Taue, Häute und Bier verhandeln, um am siebenten in einer Kutsche in die Kirche zu fahren, weil es Gott beleidigen könnte, wenn sie zu Fuß gingen, – sie verachten die Künste, hassen sie, bekämpfen sie, indem sie über die Freiheit des Geistes herfallen. Poesie, Musik, Malerei sind für sie Papperlapapp, genau so wie die hingemordeten Neger, diese Hunderttausenden, bei der Gewinnung der Menschenware. Dreck ist, wer arm ist. Mit einem Augenaufschlag zum Himmel vertuschen sie den Gestank ihrer Hauptbücher.»[12]

Die Zuschauer der Hamburger Uraufführung mussten nicht lange darüber nachdenken, wem diese Worte galten. Natürlich ging es Jahnn um seine Heimatstadt, die in der jungen Bundesrepublik als Handels- und Medienzentrum wichtiger geworden war als jemals zuvor. Jahnn selbst war erst 1950 nach Hamburg zurückgekehrt. Vor den Nazis war er in die Schweiz und nach Dänemark ausgewichen, ohne dass seine Bücher verboten wurden. Veröffentlichen konnte er sie unterm Hakenkreuz allerdings auch nicht. Abgesehen davon hatte Jahnn sich schon vor 1933 in seiner Heimatstadt verkannt gefühlt – und das nicht unbedingt zu Unrecht.

Allzu viel scheint sich daran bis heute nicht geändert zu haben. Dieser Überzeugung folgte zumindest Wolfgang Rihm, als er den Auftrag erhielt, für das Eröffnungskonzert der Elbphilharmonie am 11. Januar 2017 ein neues Stück zu komponieren. Er widmete es niemand anderem als Hans Henny Jahnn, und um eine Begründung dafür war der berühmte Komponist nicht verlegen: «Jahnn ist der geistige Mittelpunkt meines Stücks. Es liegt ja auch nahe. Hamburg baut ein neues Wahrzeichen, das heißt für mich, dass an die bedeutendste geistige Gestalt des 20. Jahrhunderts, die mit dieser Stadt verbunden ist, zumindest erinnert wird. So wirklich bekannt dürfte er selbst eingefleischten Hamburgern nicht sein. Wenn man sich das vorstellt: Er hat nie den Nobelpreis erhalten.»[13]

Ob Jahnn den Nobelpreis verdient hätte, bleibe dahingestellt. Typisch für Hamburg ist allerdings, dass wieder einmal ein Fremder kommen musste, um auf das Potenzial der Stadt aufmerksam zu machen. Auch die Initiative zum Bau der Elbphilharmonie ging auf Zugereiste zurück: Die Kunsthistorikerin Jana Marko stammt aus Österreich, ihr Mann Alexander Gérard wurde in New York geboren, studierte in Zürich und kam erst in den Neunzigerjahren in den Norden. Sie beide waren es, die 2001 als Erste die Idee hatten, ein Konzerthaus am Hafen zu errichten. Sie entwickelten mit Jacques Herzog und Pierre de Meuron zusammen die ersten Entwürfe, und doch mussten sie 2004 aus dem Jahrhundertprojekt aussteigen. Der Entwurf der Baseler Architekten erwies sich unterdessen in der Umsetzung als immer aufwendiger und monumentaler.

Freilich hatten die beiden Projektentwickler damals mehr als klassische Musik und ein Luxushotel im Sinn. Jana Marko erinnert sich: «An der Kaispeicher-A-Westseite sollte nach den ursprünglichen Plänen des Architekten Werner Kallmorgen hoch im Gebäude eine Hafenarbeiter-Kantine liegen. Dazu kam es aber nie. Wir hatten uns damals überlegt, dort für die Stadt Hamburg und das, was das Gebäude sein soll, etwas sehr Verbindendes zu bauen – eine Art geistige Hafenarbeiter-Kantine. Oben im Gebäude die Hochkultur und im Bauch ein Ort für die Off-Szene, damit sie nicht für jede Kleinigkeit irgendwo betteln muss. Die Einnahmen der Film- und Fotorechte, die in eine Stiftung gehen sollten, wären für diese Location gedacht gewesen. Das hätten wir uns als Bindeglied zwischen all diesen seltsamen Formen und Disziplinen gewünscht.»[14]

Stattdessen ging es am Ende vor allem um die Errichtung eines Wahrzeichens. Dies ist gelungen, und zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt handelt es sich bei der Elbphilharmonie um ein Monument, das im Zeichen der Musik steht. Im Gegensatz zur Köhlbrandbrücke oder zum nahen Chilehaus – dem international bekannten Hauptwerk des Architekten Fritz Höger – ist sie ein künstlerisches Wahrzeichen. Etwas in dieser Art hatte Hamburg bislang tatsächlich gefehlt, und es ist sicher kein Zufall, dass diese weltliche Kathedrale in einer Epoche entstanden ist, in der den Religionsgemeinschaften die Mitglieder ausbleiben und die Wirtschaft sich durch die Digitalisierung revolutionär verändert. Orientierten sich die Erbauer der neogotischen Speicher ebenso wie die führenden Architekten des Expressionismus an den typischen Backsteinkirchen der Hansestädte, so wurde nun ein funktionslos gewordener Zweckbau gleichsam sakralisiert und überhöht, indem man ihn in ein Podest für einen Musiktempel umwandelte.

Monument der Moderne: Fritz Högers Chilehaus im Jahr seiner Eröffnung 1924

Im späten 18. Jahrhundert erdachte Ernst Georg Sonnin die mit Kupfer verkleidete Turmhaube der Michaeliskirche und veränderte durch sie das Antlitz der Stadt. Es war, als hätte er eine bisher ungenutzte Ausdrucksform entdeckt. Der Michel wirkte wie ein neues, überaus schmückendes Organ, auf das man fortan nicht mehr verzichten wollte. Ähnlich definiert die Elbphilharmonie Hamburgs Erscheinungsbild im Informationszeitalter noch einmal neu. Sie tut dies entschiedener als alle anderen Bauten der Nachkriegszeit: Dabei geht es in ihrem Inneren genau betrachtet um nichts anderes als Software – um Abstraktionen, die in die Realität übertragen werden und diese erweitern und verwandeln. Was könnte zweckfreier sein, ungebundener, schwereloser als die Musik? Zugleich sind unsere Gedanken und Empfindungen in der Ära der globalen Datenströme möglicherweise stärker und unmittelbarer von den fast auf der ganzen Welt gehörten Präludien und Fugen eines Johann Sebastian Bach beeinflusst als von jenem Glauben, der für den frommen Komponisten ganz selbstverständlich war. Bei alledem muss die Elbphilharmonie ihre Bedeutung auf Dauer noch beweisen – genau wie Hamburg noch lange nicht wieder jene ‹Musikstadt› geworden ist, als die sie das Tourismusmarketing heute schon anpreist. Schließlich wurde die überragende Bedeutung, die Hamburg für die Oper und das Konzertleben einst besaß, im Laufe der vergangenen 250 Jahre gründlich verschüttet.

Von 1721 bis 1788 wirkten in der Hansestadt mit Georg Philipp Telemann und dessen Patensohn Carl Philipp Emanuel Bach nacheinander zwei Genies als Musikdirektoren. In St. Jacobi, keine zwei Kilometer von der Elbphilharmonie entfernt, entstand bereits Ende des 17. Jahrhunderts Hamburgs wohl wichtigstes musikalisches Monument: Hier baute der berühmte Arp Schnitger seine größte heute noch erhaltene Orgel. Schon in der Barockzeit zog sie Musiker aus ganz Europa an. Nach dem Ersten Weltkrieg war es niemand anderes als der junge Hans Henny Jahnn, der sich zusammen mit seinem Lebensgefährten Gottlieb Harms dafür einsetzte, das damals trostlos heruntergewirtschaftete Instrument zu retten, anstatt es dem Zeitgeschmack zu opfern. 1942 lagerte man dann die unersetzlichen Teile der Orgel in einen Bunker aus, wodurch sie die Zerstörung der Kirche im Zweiten Weltkrieg überstand und 1993 aufwendig restauriert werden konnte. Wolfgang Rihm kennt die Geschichte der Arp-Schnitger-Orgel und die Rolle, die Jahnn in ihr gespielt hat. Mit seiner Komposition, die er für die Eröffnung der Elbphilharmonie geschrieben hat, schlägt er eine geistige Brücke zwischen dem neuen Konzerthaus und jenem einzigartigen Instrument in St. Jacobi, auf dem schon Johann Sebastian Bach gespielt haben soll.

Dass Bach an der Arp-Schnitger-Orgel saß, ist wahrscheinlich, beweisen lässt es sich nicht mehr. Überliefert ist, dass er im Herbst 1720 als Organist für St. Jacobi im Gespräch war, das Vorspiel hierfür fand allerdings in St. Katharinen statt, an einem Instrument, das Bach schon als junger Mann kennengelernt hatte, als er von Lüneburg aus den berühmten Organisten Johann Adam Reincken aufsuchte.[15]

Mehr als zwei Stunden lang soll der Virtuose aus der Fremde die Kommission aus Kirchen- und Ratsherren fasziniert haben. Bach hatte beste Chancen, die Stelle zu übernehmen. Letztlich fehlte ihm nur das Geld, das er hierfür an die Kirchenkasse hätte entrichten müssen. Von daher fiel die Wahl auf den namenlosen Johann Joachim Heitmann, der, wie der stets kritische Komponist und Musikschriftsteller Johann Mattheson berichtet, «besser mit Thalern, als mit Fingern praeludieren konnte».[16] Heitmann entrichtete am 6. Januar 1721 brav die «versprochene[n] viertausend Mark in Courant».[17] Ämterverkäufe waren damals auch andernorts üblich. Doch was aus Hamburg als Musikstadt hätte werden können, wenn Bach die Stelle bekommen hätte, lässt sich gar nicht ausmalen. Wenigstens trat noch im selben Jahr der mit ihm befreundete Georg Philipp Telemann seinen Dienst in der Hansestadt an: der zweite überragende Komponist der Epoche.

Dass Johann Sebastian Bach in St. Katharinen brillierte und dennoch wieder in sein Amt als Hofkapellmeister nach Köthen zurückkehren musste, ist eine der vielen verpassten Großchancen der Kulturgeschichte Hamburgs. Immer wieder hat sehr wenig gefehlt, um aus der mächtigen Handelsstadt auch ein Zentrum der Künste mit internationaler Ausstrahlung zu machen. Warum kam es nie dazu?

Die Frage ist müßig. Sie sollte auch nicht von der intellektuellen und künstlerischen Vielfalt ablenken, die im Laufe der vergangenen drei Jahrhunderte im Windschatten des ökonomischen Aufstiegs entstand. Und in Sachen Musik erlangte Hamburg auch ohne Johann Sebastian Bach im 18. Jahrhundert Weltgeltung.

2. Im Jahrhundert der Genies