Zwischen Sorge, Hoffnung und Vertrauen - Erika Ziltener - E-Book

Zwischen Sorge, Hoffnung und Vertrauen E-Book

Erika Ziltener

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Beschreibung

Wer sich in ein Spital begibt, darf erwarten, dass die medizinische Behandlung sicher und in hoher Qualität erfolgt. Doch längst nicht immer ist die gewünschte Sicherheit gewährleistet. Gemäss internationalen Studien sind allein in Spitälern gegen 12 Prozent aller Patient:innen von einem unerwünschten Ereignis betroffen. Fehler passieren, das lässt sich nicht verhindern. Aber sie lassen sich deutlich minimieren, wenn aus ihnen gelernt wird. Das Buch zeigt Verbesserungspotenzial und -vorschläge auf. Es schildert dazu Geschichten von Patientinnen und Patienten aus der Herzchirurgie des UniversitätsSpitals Zürich (USZ). Nicht etwa, weil nur dort Fehler vorkämen. Solche ereignen sich überall, sowohl in Spitälern als auch im ambulanten Bereich. Sondern weil sich die Co-Autorin Erika Ziltener als Patientenrechtlerin intensiv mit diesen Einzelschicksalen beschäftigt hat. Es besteht dringender Handlungsbedarf in Bezug auf die Sicherheit und die Gefährdung der Patient:innen. Whistleblowing soll geschützt und das Melden von Fehlern gefördert, aber auch verbindlich geregelt werden. In letzter Zeit sind – sowohl in Bezug auf den Luftverkehr als auch auf das Gesundheitswesen – einige Gerichtsurteile ergangen, die die Diskussion über straffreie Meldungen von kritischen Ereignissen und Fehlern in Fachkreisen neu entfacht hat. Das Zielpublikum des Buches sind Patient:innen, Angehörige, Fachleute und Behörden des Gesundheitswesens, aber auch Jurist:innen, Politiker:innen und Ethiker:innen, die alle zur Sicherheitskultur beitragen können. Einer Sicherheitskultur, die sowohl den Patient:innen wie dem Gesundheitspersonal zugutekommt. Speziell soll es auch die (potenziellen) Patient:innen unterstützen, damit sie mit den Fachpersonen selbstbewusst und auf Augenhöhe in Kontakt treten können.

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Erika Ziltener

Zwischen Sorge, Hoffnung und Vertrauen

Patienten, Patientinnen, Personal – mehr Sicherheit für alle

Ein spezieller Dank für die fachliche und redaktionelle Unterstützung geht an Ruedi Spöndlin, den Juristen, Journalisten und Ko-Autor des Buches »Die Wucht der Diagnose«.

Die Autorin und der Verlag bedanken sich für die großzügige Unterstützung bei:

Rita Frei, Altstätten SG

Kunz Erben

IRENE-Stiftung

Der rüffer&rub Sachbuchverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Erste Auflage Frühjahr 2023

Alle Rechte vorbehalten

© 2023 by rüffer & rub Sachbuchverlag GmbH, Zürich

[email protected] | www.ruefferundrub.ch

Bildnachweis:

Cover, Kapitelseiten: © mathisworks | istockphoto.com

Porträt Ziltener: © Felix Ghezzi

E-Book-Konvertierung: Bookwire GmbH

ISBN 978-3-907351-17-8

eISBN 978-3-907351-23-9

1 – Mythos Gesundheitswesen

Vertrauen ist keine Selbstverständlichkeit

Vertrauen, Nutzenabwägung und Abhängigkeit

Das Berufsethos des Gesundheitspersonals

2 – Wie steht es um die Patientensicherheit?

Jenny Duroux – Herzoperation mit fatalen Folgen

Die Patientensicherheit im Fokus

Kommunikation und Dokumentation

Forschung und Interessenskonflikte

Bewilligungsverfahren und Meldepflicht

Wirtschaftliche Interessen

Wissenschaftliche Publikationen über Implantate

Forschung nur mit Vertrauen: Es ist gut, wenn Forschungsfehlverhalten bekannt wird

Whistleblowing – ein wichtiger Faktor zur Aufdeckung von gravierenden Missständen

Das Verständnis von Patientensicherheit entwickelt sich

Die Klassifikation der Meldungen zu kritischen Ereignissen und Fehlern

3 – Was schiefgehen kann, geht schief

Von der Aviatik lernen

Die Herzchirurgie des USZ in den Schlagzeilen

Die politische Verantwortung

Die juristische Perspektive

Die Geschehnisse in der Herzchirurgie werden öffentlich

Die Medien übernehmen die Deutungshoheit

Der Spitalratspräsident versichert: Das Patientenwohl war immer gewährleistet

Der Neustart

4 – Der neue Umgang mit Fehlern und kritischen Ereignissen

Peter Birchi – Herzklappenoperation – Superinfektion

Patientinnen und Patienten erfahren über die Medien von möglichen Behandlungsfehlern

Der neue Umgang mit Fehlern und kritischen Ereignissen

Das »virtuelle Spital Schweiz« von Max Stäubli

Von der Blame- zur Just-Kultur in Zusammenarbeit mit der NASA

Das Qualitätssicherungsinstrument CIRS

Die Furcht vor straf- oder haftpflichtrechtlichen Folgen

Die Kantone haben Kompetenzen

Das »Melde- und Lernsystem für Sicherheitsvorfälle« der WHO

Die »Just Culture« in der Aviatik und in der Medizin

Der Sicherheitskultur steht das juristische Denken im Weg

5 – Wie weiter bei Komplikationen und Behandlungsfehlern?

David Rieser – Infektion an der Herzklappe

Vergleichszahlung ist kein Trost

Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit

Non-Fault-Entschädigung / Schuldunabhängiger Entschädigungsfonds

Eine Kulanzzahlung ist immer möglich

Viel Leid und enorme Kosten

Der Sonderfall seit 2017: Die Sepsis

6 – Die Sicherheitskultur

7 – Die Rolle des Bundes bei der Qualität und Patientensicherheit

Die eidgenössische Qualitätskommission

8 – Die Sicherheit der Patientinnen und Patienten geht alle an

Wertorientierte Gesundheitsversorgung/Value-based Healthcare

Partizipative Entscheidungsfindung (PEF) / Shared Decision Making (SDM)

Smarter Medicine

Daten für die Patientensicherheit

9 – Zusammenarbeit über die Schweizer Grenzen hinweg

Die Schweiz und die Weltgesundheitsorganisation (WHO)

»Die Patientensicherheit hat Vorfahrt«

Ein Tag für die Sicherheit

Das Gesundheitsquintett

Deutschlands Universitätsspitäler vernetzen sich

Obduktionen als Qualitätssicherung

10 – Schlusswort

Forderungen für mehr Sicherheit

Den Patientinnen und Patienten bleiben Vertrauen und Hoffnung

Anhang

Anmerkungen

Patient:innendossiers

Dank

Biografie der Autorin

Das Schweizer Gesundheitswesen wird als eines der weltweit besten gelobt; ist das ein Mythos? Immer wiederauftauchende Berichte über Ereignisse zur Gesundheitsversorgung lassen das vermuten: »Patientin mit Medikamenten ruhiggestellt«, »Das Gesundheitswesen in der Krise« oder »Personalmangel gefährdet die Patientensicherheit«. Sie rütteln die Bevölkerung auf und verunsichern die Patient:innen, denn Gesundheit geht uns alle an, und schon morgen können wir betroffen sein. Wie also steht es grundsätzlich um unser Gesundheitswesen?

Die enormen medizinischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte bedeuten für viele Menschen Heilung, Besserung und für jene mit einer chronischen Erkrankung oft ein leichteres, längeres Leben. Zugleich wecken diese Errungenschaften große individuelle und kollektive Erwartungen an die Medizin, Pflege und Betreuung.

Die Medikalisierung1 rückte die menschlichen Lebenserfahrungen und Lebensbereiche in den Fokus systematischer medizinischer Erforschung und Verantwortung, die vorher außerhalb der Medizin lagen. Mit dem Prozess setzte die Tendenz ein, die Menschen auch bei leichten Beschwerden oder gesundheitlichen Befindlichkeiten und bei natürlichen Lebensphänomenen wie Geburt und Tod medizinisch zu behandeln. Dieser gesellschaftliche Veränderungsprozess orientierte sich am Fortschritts- und Machbarkeitsglauben innerhalb der Naturwissenschaften; gemeinsam galt für alle Beteiligten des Gesundheitssystems das Ziel, die bestmögliche Versorgung der Bevölkerung zu erreichen. Mit der Medikalisierung änderte sich auch die Wahrnehmung der Medizin und setzte sie der gesellschaftlichen Kritik aus: Die Medizin mache den Menschen beim Versuch, ihn zu heilen, krank, sie schütze sich selbst professionell vor Leistungskontrolle, Kritik und Veränderung, sie unterliege wirtschaftlichen Zwängen, für die sie selbst verantwortlich sei, sie normiere den Menschen mit dem naturwissenschaftlichen Menschenbild, sie übe soziale Kontrolle aus, und schließlich, die Medizin versuche Einfluss auf das menschliche Leben in seiner Gesamtheit zu nehmen. Die Ärzteschaft ist nicht nur mit dieser Kritik, sondern auch mit ihrem Selbstbild und dem abweichenden Verständnis von Berufsethik konfrontiert.

Die Erfahrungen und die systematische Forschung haben ein enormes, theoretisches Wissen generiert. Dem steht das deutliche Missverhältnis beim Wissenstransfer und bei der Implementierung in der Praxis gegenüber. So weist die Gesundheitsversorgung große Lücken bei der Sicherheit der Patientinnen und Patienten auf; bekannte Lösungsansätze wie das »Lernen aus Fehlern« oder ein konsequentes Qualitätsmanagement, auch zum Schutz des Personals, wird punktuell, aber nicht systematisch und schweizweit umgesetzt.

Vertrauen ist keine Selbstverständlichkeit

Vertrauen ist ein zentraler Wert in jeder Gesellschaft und wirkt bis in die kleinste Zelle – wenn sich zwei Menschen gegenseitig »blind vertrauen«, entsteht eine starke Bindung, die ausgesprochen belastbar ist. Zugleich verlangen wir einen Vertrauensbeweis, wir schenken jemandem unser Vertrauen, wir bauen im Vertrauen auf etwas und wir vertrauen einer Person etwas an. Parteien und Produkte werben um unser Vertrauen, wir machen Geschäfte auf Vertrauensbasis und wir geben uns das Ja-Wort im Vertrauen darauf, dass es für immer ist. Doch es ist Achtsamkeit geboten, denn Vertrauen ist schnell verspielt, gar zerstört und für immer verloren. Eine besondere Bedeutung kommt diesem Begriff in der Medizin zu, denn hier müssen wir uns darauf verlassen, dass das kostbare Gut – unser Leben – stets nach bestem Können und Wissen »behandelt« wird.

Wer sich in eine medizinische Behandlung begeben muss, muss vertrauen: ins Gesundheitspersonal, ins Gesundheitssystem, und dieser Mensch muss das gesellschaftliche Grundvertrauen in die Medizin teilen. Hingegen muss die Medizin – trotz anhaltender Kritik – kaum etwas für die Vertrauensbildung oder deren Erhalt tun.

Das Vertrauen ist eine gegenseitige Angelegenheit: Ein Mensch vertraut, dem anderen wird vertraut. Für die Arzt-Patienten-Beziehung bedeutet das: Die Ärztin muss das Vertrauen verdienen, die Patientin muss befähigt werden, ihr zu vertrauen. Der Patient M. erzählt: »Ich liege im Bett, frühmorgens werde ich in den Operationssaal gefahren. Auf dem Weg dorthin realisiere ich, ich muss aufstehen und gehen. Zu viel war falsch gelaufen, als ehemaliger Spitaldirektor kannte ich mich zudem gut aus. Ich hatte das falsche Medikament bekommen, die Informationen zu meinem Eingriff variierten gegenüber denjenigen vom Vortag und die Operationszeit wurde verschoben. Die Operation ging schief, eine lange Leidenszeit war die Folge, glücklicherweise bin ich trotz allem wieder gesund. Aber: Warum ich nicht weggelaufen bin, weiß ich bis heute nicht.«2

Sowohl die Ärztin wie der Arzt setzen auf Vertrauen, ohne das eine Erfolg versprechende Behandlung nicht möglich ist. »Ich muss einen Zugang zum Leben des Patienten finden und Vertrauen aufbauen, damit er sich öffnet.«3 – »Ich habe ihm zugesagt, ihn durch die Therapie zu begleiten und an seiner Seite zu bleiben. Da hat er dann wieder Vertrauen gefasst – vor allem, weil ich ihm versprochen habe, dass er die Therapie auch jederzeit abbrechen kann.«4

Vertrauen, Nutzenabwägung und Abhängigkeit

Um das Vertrauen der Patientin zu gewinnen, muss der behandelnde Arzt ihr eine angepasste, überzeugende Nutzungsabwägung der Behandlung präsentieren und gegebenenfalls ihre illusorische Erwartung auffangen. Eine Alpinistin, die sich zeit ihres Lebens in den Bergen aufhielt und für die Immobilität undenkbar ist, beurteilt den Nutzen einer Knieprothese anders als ein Mann, der die meiste Zeit im Lehnstuhl sitzt und Bücher liest. Die Alpinistin wird im Gegensatz zum Bücherwurm den Nutzen einer neuen Prothese über das Operationsrisiko stellen und den Zeitpunkt für die Operation früher ansetzen. Die Nutzenbeurteilung hängt auch eng mit den existenziellen Risiken zusammen. Ein Handwerker nimmt die Operationsrisiken wahrscheinlich erst auf sich, wenn der Leidensdruck sehr hoch oder der Eingriff unausweichlich ist.

Bei einer medizinischen Behandlung ist Verlässlichkeit in allen Belangen unabdingbar, gerade in Situationen, in denen kontrolliertes rationalisiertes Abwägen nicht weiterhilft und intuitive Entscheidungsfähigkeit gefragt ist. Dazu gehört die gesellschaftlich definierte Rolle der Patientin und der Ärztin und die generalisierten Erwartungen. Die Patientin begibt sich in Abhängigkeit eines fremden Menschen. Sie trifft in einem geschlossenen Raum auf eine ihr nicht persönlich bekannte Person. Sie muss Fragen zu intimen und privaten Angelegenheiten beantworten und sie muss ihren Körper vor jemandem entblößen, in einer Situation, in der sie angeschlagen ist.

Die Asymmetrie in der Arzt-Patienten-Begegnung wird mit dem idealen Aufklärungsgespräch und der Nutzenabwägung auf das absolute Minimum reduziert. Dem Ideal entspricht das Aufklärungsmodell der partizipativen Entscheidungsfindung (Shared Decision Making, SDM) oder der Entscheidung auf der Grundlage von empirisch nachgewiesener Wirksamkeit »evidencebased patient choice/evidenzbasierte Patientenentscheidung«. Die Aufklärung zeigt der Patientin den individuellen Nutzen der Behandlung, das zu erwartende Resultat, allenfalls die Prognose, die Alternativen und die Behandlungsoptionen, sie kennt die Risiken, hat angemessene Bedenkzeit für ihren Entscheid und kann unter den gegebenen Umständen ihre Einwilligung erteilen.

Das paternalistische Verhältnis zum Patienten hat sich teilweise bis heute gehalten. In diesem hat der Patient eine passive Rolle, während der autoritäre Arzt entscheidet, welche Therapie die richtige ist. Zunehmend nähern sich die Patientin und der Patient jedoch dem Idealfall an. Er ist informierter und selbstbewusster als früher und wehrt sich gegen eine vereinnahmende Autorität des Arztes. Trotz allem bleibt eine gewisse Abhängigkeit bestehen.

Das Berufsethos des Gesundheitspersonals

Wir vertrauen einem Menschen, wenn wir davon ausgehen können, dass er sich den allgemein anerkannten Moralvorstellungen und der Berufsethik verpflichtet fühlt. Vertrauen basiert auf Ethik und Moral im Sinne eines korrekten Handelns und Entscheidens. Die Medizinethik beschäftigt sich mit den sittlichen Normsetzungen, die für das Gesundheitspersonal gelten sollen. Sie hat sich aus der ärztlichen Ethik entwickelt, betrifft aber alle im Gesundheitswesen tätigen Personen, Institutionen und Organisationen und nicht zuletzt auch die Patientinnen und Patienten.

Das Berufsethos wird von der Fachperson primär als Verantwortung für die individuelle Tätigkeit wahrgenommen. Ob diese daraus die Verpflichtung ableitet, sich für die Sicherheit der Patientinnen und Patienten im Versorgungssystem einzusetzen, obliegt grundsätzlich ihr. Nicht zuletzt die Erkenntnis, dass Patientensicherheit auch Sicherheit für das Personal bedeutet, führte in den letzten Jahren zur vertieften Auseinandersetzung mit dem Berufsethos.

Die Weltgesundheitsorganisation plädiert in »Globaler Aktionsplan für Patientensicherheit 2021–2030 – Auf dem Weg zur Beseitigung vermeidbarer Schäden in der Gesundheitsversorgung«5 für die Sensibilisierung für das Berufsethos und die Umsetzung desselben. Sophie Hartmann plädiert ebenfalls dafür, »[…] dass das Thema Sicherheit in allererster Linie einhergeht mit einer inneren Haltung jeder Person, die in einem sicherheitskritischen Bereich agiert«. – »Sicheres Arbeiten gelingt nur dann optimal, wenn es Teil des Berufsethos ist und entsprechend gelebt wird.«6 Innerhalb der Organisationen betrifft das Berufsethos sämtliche Bereiche der Gesundheitsversorgung; dafür ist das Vertrauen des Personals in die Gesundheitsversorgung sowohl in der Institution wie in der Zusammenarbeit im Team notwendig. Die Basis bildet der vertrauensvolle Umgang und der Austausch untereinander. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hält zudem Transparenz für unerlässlich, um die Glaubwürdigkeit von medizinischen Fachpersonen und das in sie gesetzte Vertrauen zu erhalten.

Die Medikation ist insbesondere in der Langzeitpflege ein großes Problem. Der Arzt Max Giger hat die Daten von 600 Pflegeheimen in der deutschen Schweiz und im Tessin ausgewertet. – »Die Zahlen erschreckten selbst ihn: 37 Prozent aller, die in einem Pflegeheim leben, bekommen ein Beruhigungsmittel, ein sogenanntes Neuroleptikum.«7 Eine der gravierenden Nebenwirkungen ist das erhöhte Sturzrisiko. In der Studie werden Angehörige aufgefordert, dem Personal Fragen zur Medikation zu stellen.

Der Handlungsbedarf ist offensichtlich. Doch es gibt keine einfachen Lösungen für das Problem, insbesondere in Anbetracht des chronisch herrschenden Personalmangels. Dennoch darf die Verantwortung für eine sichere Medikation nicht auf die Angehörigen abgeschoben werden; zudem bleiben die alleinstehenden Menschen außen vor. Angehörige können unterstützend wirken, aber die Verantwortung liegt beim Personal.

Damit das Personal die Verantwortung wahrnehmen kann, ist es auf eine sichere Arbeitsumgebung und den Schutz der Arbeitsrechte angewiesen. Die WHO widmete 2020 den Welttag der Patientensicherheit dem Gesundheitspersonal und lancierte die bahnbrechende Charta »Sicherheit des Gesundheitspersonals: eine Priorität für die Patientensicherheit«.

Dazu erklärt die WHO: »Die Charta ist den Millionen von Gesundheitsfachkräften gewidmet, die weltweit gegen COVID-19 kämpfen und sich und ihre Familien einem Risiko aussetzen, um Patienten zu behandeln, grundlegende Gesundheitsdienste bereitzustellen und die Ausbreitung der Krankheit einzudämmen; an das Gesundheitspersonal, das sich mit COVID-19 infiziert hat; und für diejenigen, die in ihren unermüdlichen Bemühungen zur Bekämpfung der Krankheit ihr Leben verloren haben.« Die Charta ist in zwei Teile gegliedert: Arbeitssicherheit: jetzt mehr denn je (Health worker safety: now more than ever), und dem Aufruf zu dringendem und nachhaltigem Handeln weltweit (Call for urgent and sustainable action globally). Dieser nennt vier konkrete Handlungsfelder:

Schaffen Sie Synergien zwischen den Richtlinien und Strategien für die Sicherheit des Gesundheitspersonals und für die Patientensicherheit (Establish synegies between health worker safety and patient safety policies and strategies).

Entwicklung und Umsetzung nationaler Programme für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz des Gesundheitspersonals (Develop and implement national programmes for occupational health and safety of health workers).

Gesundheitspersonal vor Gewalt am Arbeitsplatz schützen (Protect health workers from violence in the workplace).

Verbesserung der psychischen Gesundheit und des psychischen Wohlbefindens des Gesundheitspersonals (Improve mental health and psychological well-being of health workers).

Gesundheitspersonal vor physischen und psychischen Gefahren schützen (Protect health workers from physical and biological hazards).

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Mit dieser Charta nimmt die WHO alle in die Pflicht: die Behörden, die Fachverbände, Interessengruppen von politischen Entscheidungsträgern bis hin zum Gesundheitspersonal.

Dieses Buch beleuchtet Sicherheit der Patientinnen, Patienten und des Personals sowie Qualität der Gesundheitsversorgung aus verschiedenen Perspektiven. Es zeigt gangbare Lösungsansätze auf, es bekräftigt längst gestellte Forderungen, es betrachtet den Status von kranken Menschen in der Medizin und in der Gesellschaft, und schließlich befasst es sich mit dem absolut unverzichtbaren Vertrauen, das die Basis jeder Arzt-Patienten-Beziehung und weit darüber hinaus, darstellt.

Jenny Duroux – Herzoperation mit fatalen Folgen

Jenny Duroux9 ist 76 Jahre alt, sie fühlt sich gesund, lediglich eine starke Gewichtsabnahme – sie wiegt nur noch 45 Kilogramm – macht ihr zu schaffen. Seit September 2016 leidet die lebensfrohe Rentnerin an einer diagnostizierten Herzklappeninsuffizienz, eine Undichtigkeit der Herzklappe, die mit Medikamenten behandelt werden kann. Im April 2019 verschlechtert sich ihr Zustand; sie weist Symptome wie Kurzatmigkeit, Müdigkeit und Leistungsabfall auf. Im Kantonsspital St. Gallen wird das Herz untersucht. Die Untersuchung bestätigt die Herzklappeninsuffizienz und zeigt gesunde Herzkranzgefäße. Jenny Duroux erhält zusätzliche Medikamente und muss sich mit der Frage auseinandersetzen, ob sie sich einer Operation zur Behandlung ihrer Insuffizienz unterziehen will. Bevor sie operiert werden kann, muss sie – wie es dem Standard der Vorbereitung für diesen Eingriff bezüglich optimaler Prävention einer Infektion entspricht – ihre Zähne behandeln lassen. Damit sie bei der Operation ein bestmöglich saniertes Gebiss hat, muss der Eingriff zeitlich verschoben werden. Das ist allerdings nicht gravierend, da es sich nicht um einen notfallmäßigen Eingriff, sondern um eine elektive (planbare) Operation handelt.

Da ihr der Grund für die Operation ihrer Mutter zu wenig klar ist, fragt die mittlere der drei Töchter per Mail bei der Ärztin nach, die Jenny Duroux ins Kantonsspital St. Gallen eingewiesen hat. Sie erhält weitere Auskünfte, die sie zufriedenstellen, sowie die Empfehlung, den operierenden Ärzten zu vertrauen.10 Das Kantonsspital St. Gallen hat keine Herzchirurgie, Jenny Duroux wird ins Zürcher UniversitätsSpital (USZ) überwiesen. Dort tritt sie im Juni 2019 für die Herzoperation ein, und es werden weitere Vorabklärungen vorgenommen.

Der Chefarzt Francesco Maisano und sein Assistent besprechen die Erkenntnisse mit Jenny Duroux und den Angehörigen am Abend vor der Operation. Zudem erläutert der Operateur den Ablauf der Herzklappenoperation. Der Eingriff stelle ein geringes Risiko dar und dauere etwa drei Stunden. Der Anästhesist informierte die Patientin bereits am Nachmittag um 13.30 Uhr über die Narkose.

Gerne hätte die Tochter den Operationszeitpunkt vom Nachmittag auf den ersten Termin am Morgen verschoben. Einer der Operateure begründete das Festhalten an der geplanten Zeit damit, dass sie zuerst die »schwersten Fälle« operieren würden. Am Ende des mündlichen Aufklärungsgesprächs klopft Jenny Duroux dem Chefarzt auf die Schulter und sagt mit einem Lächeln: »Ich vertraue Ihnen.«11

Am Nachmittag des 5. Juni 2019 wird Jenny Duroux um 13.30 Uhr in den Operationssaal gefahren. Der Chefarzt und sein Team führen den »Routineeingriff« durch, sie reparieren die Trikuspidalklappe und ersetzen nebst der geplanten Mitralklappe zusätzlich die Aortenklappe. Das führt zu einem sehr schweren Eingriff, der viel länger dauert als geplant: Jenny Duroux erleidet intraoperativ plötzlich einen schweren Herzinfarkt mit einer für sie äußerst belastenden Herzmassage. Aufgrund eines kompletten Herz- und Kreislaufversagens muss der Operateur ein System zur Unterstützung (ECMO-System) der Lunge und des Herzens einsetzen. Nach 9,6 Stunden im Operationssaal wird Jenny Duroux mit offenem Brustkorb auf die Intensivstation verlegt.

Das lange Warten der Angehörigen

Die drei Töchter von Jenny Duroux verbringen den Nachmittag des Operationstags in der Stadt Zürich. Der Assistenzarzt hatte ihnen am Vortag einen Anruf etwa um 18.00 Uhr in Aussicht gestellt, weshalb sie um diese Zeit ins USZ zurückkehren. Dort treffen sie das leer geräumte Zimmer ihrer Mutter an; alles, was Jenny Duroux bei sich hatte, war auf einer Inventarliste festgehalten und bereits im Keller gelagert worden. Mittlerweile ist es 20.00 Uhr, das lange Warten und das leer geräumte Zimmer machen den Frauen große Angst; sie erfahren nie, warum das Zimmer geräumt wurde und weshalb die Operation so lange dauert.

Der ersehnte Anruf kommt um 20.45 Uhr. Der Assistent teilt den Angehörigen mit, die Operation dauere immer noch an. Das Operationsteam hätte zwei Klappen ersetzen und eine Klappe reparieren müssen. Er informiert sie nicht über den Grund der deutlichen Ausweitung der Herzklappenoperation, hingegen klärt er sie über den schwerwiegenden Verlauf auf. Gegen Ende der Operation habe sich eine Klappe als undicht herausgestellt, weil das Implantat zu groß gewesen sei. Die Klappe auszuwechseln habe zur erheblichen, ungeplanten Verlängerung der Operation beigetragen. Um 22.30 Uhr teilt der Assistent den Angehörigen schließlich das Ende des Eingriffs mit. Der Gesundheitszustand von Jenny Duroux sei stabil, und sie sei künstlich beatmet auf die Intensivstation verlegt worden. Den Brustkorb habe man noch nicht verschlossen, falls sich erneut ein Blutgerinnsel bilde und man schnell reagieren müsse. Die Angehörigen können den fachlichen Wahrheitsgehalt dieser Informationen nicht beurteilen, sie müssen den gravierenden Operationsverlauf akzeptieren.

Weitere Operationen folgen

Am nächsten Morgen erkundigt sich eine der Töchter telefonisch auf der Intensivstation nach dem Befinden ihrer Mutter. Der Oberarzt informiert sie über deren sehr kritischen Gesundheitszustand. Die Tochter ist schockiert, denn gemäß Telefonat wenige Stunden zuvor wurde ihr Zustand als stabil eingeschätzt. Wiederum einige Stunden später wird der Ehemann informiert, dass seine Frau am gleichen Tag nochmals operiert werden müsse. Die Ärzte müssen einige Nähte erneut verschließen, zusätzliche Elektroden des notwendig gewordenen Herzschrittmachers anbringen und die ECMO-Kanüle neu positionieren. Dieses Mal dauert die Operation 1 Stunde und 52 Minuten.

Um 15.00 Uhr erfährt der Ehemann telefonisch von einer Ärztin, dass ein Impella-Pumpsystem [vergleichbar mit einem temporären Kunstherz, A.d.R.] eingesetzt werden müsse. Der nächste Anruf, dieses Mal von einem Assistenten, erfolgt um 18.00 Uhr: Sie hätten ein Blutgerinnsel entfernt, allerdings müssten sie noch einen Bypass einsetzen. Weil im Herzen keine künstlichen Bypässe eingesetzt werden können, hätten sie dafür eine Vene aus dem Oberschenkel ihrer Mutter entnommen. Obwohl die Angehörigen schon am Nachmittag über die zusätzliche Operation informiert wurden, findet der Eingriff, notfallmäßig, erst um 21.53 Uhr statt und dauert 2 Stunden und 13 Minuten.

Am 7. Juni können der Ehemann und die Töchter Jenny Duroux das erste Mal besuchen. Sie warten vor der Intensivstation, als ihnen der Chefarzt begegnet. Er versichert ihnen, dass eine Maschine normalerweise ein Blutgerinnsel schneller meldet, deshalb hätten sie verspätet auf die Komplikation reagiert. Er komme später für ein ausführliches Gespräch bei ihnen vorbei. Die Angehörigen von Jenny Duroux wurden von verschiedenen Ärztinnen und Ärzten informiert, der Chefarzt Francesco Maisano meldete sich – trotz seiner Ankündigung – nicht mehr bei ihnen.12

Vor dem Betreten der Intensivstation werden sie von einer Pflegefachfrau über das aufgeschwemmte Aussehen der Patientin vorbereitet. Wegen der vielen Operationen hatten sich ca. 24 Liter Flüssigkeit im Körper eingelagert. Trotz des Hinweises ist der Anblick der komatösen Mutter und Ehefrau sehr schmerzhaft.

Die große Ungewissheit hält an

Die Tochter stellt beim Besuch ihrer Mutter widersprüchliche Informationen über die Behandlung fest: Offenbar hat ihre Mutter am Tag zuvor doch keine Impella-Pumpe erhalten, das Herz müsse sich zuerst erholen. Zwar verliert Jenny Duroux täglich etwa vier Liter Flüssigkeit, aber gemäß Pflegefachfrau kann ein Mensch nicht mehr als vier bis fünf Liter Flüssigkeit pro Tag verarbeiten. Die Patientin sieht etwas besser aus, die eingelagerte Flüssigkeit und die schwache Herzleistung sind aber höchst problematisch. Einer der behandelnden Ärzte äußert sich besorgt, das Herz müsse in den nächsten Tagen stärker zu schlagen beginnen, denn ein Kunstherz sei für eine Patientin ihres Alters keine Option. Sie müssten sich Gedanken darüber machen, dass sich ihre Mutter vielleicht nicht mehr erholt, und es sei wichtig herauszufinden, was dem Willen der Patientin entspreche.13 Auf die Angehörigen macht der Arzt keinen zuversichtlichen Eindruck. Sie wollen aber die Hoffnung auf keinen Fall aufgeben und beten für ein Wunder. Eine der Töchter spricht mit ihrer komatösen Mutter und hält ihr den iPod mit ihrer Lieblingsmusik ans Ohr. Sie ist überzeugt, dass die Mutter sie hören kann.

Mittlerweile ist der 11. Juni angebrochen. Durch das tägliche Telefongespräch mit der Intensivstation erfährt die Tochter, dass die Mutter laufend Flüssigkeit verliert, die Ärzte jedoch nach wie vor eine Dialyse nicht ausschließen können. Um 13.30 Uhr wollen sie eine Ultraschalluntersuchung durchführen, über die Dialyse entscheiden und die Tücher im offenen Brustkorb wechseln. Die Behandlung findet auf der Intensivstation statt. Die Tochter schätzt das Infektionsrisiko als sehr hoch ein, vor allem, weil die Ärzte bei der Aufklärung gesagt hatten, nach der Operation wollen sie Wunden und den offenen Brustkorb so rasch wie möglich verschließen, damit kein zusätzliches Infektionsrisiko bestehe.

Ein Arzt informiert die Tochter, dass nochmals ein Blutgerinnsel, vermutlich ausgelöst von der Herz-Lungen-Maschine, aus der Lunge entfernt werden musste. Der Arzt, der Jenny Duroux drei Tage nicht mehr gesehen hat, meint zuversichtlich, das Herz hätte sich etwas erholt, obwohl der Ultraschall die Herzschwäche deutlich zeigt. Offenbar ist der Verlust der Herzfunktion sehr drastisch, auch der Bypass ist undicht und musste operativ versorgt werden. Nur mit der Dialyse können sie noch zuwarten. Die Angehörigen besuchen Jenny Duroux um 19.30 Uhr. Sie sieht schlecht aus, die erneuten Eingriffe haben sie geschwächt, und ihr Körper ist wieder stärker aufgeschwemmt.

Am Mittwoch, 12. Juni, wird die Familie über die weitere Verschlechterung des Gesundheitszustandes informiert. Weil die Nierenfunktion ungenügend sei, müsse noch am gleichen Tag mit der Dialyse begonnen werden. Wegen der Infektion werde zudem eine Erhöhung der Antibiotikatherapie notwendig. Wenn sich nicht sehr bald eine Verbesserung einstelle, werde Jenny Duroux nicht überleben. Das Gespräch der Angehörigen mit einem der behandelnden Ärzte zeigt eindrücklich: Nur ein Wunder kann sie noch retten. Die Tochter hält Zwiesprache mit der Mutter. Wenn sie leben wolle, müsse sie kämpfen, dürfe jetzt keinesfalls aufgeben. Der Körper ist nach wie vor sehr aufgeschwemmt, das linke Auge leicht geöffnet, am Mund haben sich kleine Wunden gebildet. Am späten Abend des 12. Juni wird Jenny Duroux von den Ärzten aufgrund einer aufgetretenen Sepsis, einhergehend mit einem Versagen der Organe, aufgegeben. Ihre Angehörigen werden am 13. Juni informiert, um 13.30 Uhr verabschieden sie sich gemeinsam von ihr. Verschiedene Ärzte sprechen mit ihnen, und sie werden von einer Fachfrau des Care-Teams betreut. Im Beisein der ganzen Familie werden die Maschinen schließlich abgestellt.

Jenny Duroux stirbt acht Tage nach der Erstoperation am 13. Juni 2019 um 14.17 Uhr auf der Intensivstation im USZ, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Ihr Tod ist für die Angehörigen ein Schock. Beim Schlussgespräch mit der Familie kurz vor dem Abstellen der Maschine werden ihre Fragen zu den nächsten Schritten und was sie erwarten müssten, beantwortet. Der anwesende Arzt und das Pflegefachpersonal sind einfühlsam und offen für weitere Anliegen, doch für eine schlüssige Erklärung des tragischen Operationsverlaufs sei jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.

Damit die Angehörigen den Tod der Ehefrau und Mutter verarbeiten können, sind sie auf eine lückenlose Aufklärung des Geschehens angewiesen. Fassungslos macht sie, dass Chefarzt Maisano nie mit ihnen gesprochen hat, obwohl er ihnen das zugesichert hatte. Auch sonst hat sich nie jemand vom USZ bei den Angehörigen gemeldet. Die Familie erhält lediglich wenige Tage nach dem Tod einen Brief vom USZ, adressiert an Jenny Duroux, mit den Implantatsausweisen und einem Begleitschreiben, sie solle diese immer auf sich tragen.

Erst Monate nach dem Tod von Jenny Duroux sind die Angehörigen in der Lage, zur Abklärung möglicher Sorgfaltspflichtverletzungen ein Rechtsverfahren in die Wege zu leiten.14 Die Verantwortlichen des USZ zeigen sich nicht kooperativ, sondern verweisen auf den Rechtsweg. Die Angehörigen müssen das Recht auf Schadensersatz und Genugtuung erkämpfen und sich die Antworten auf ihre Fragen anderweitig organisieren. Klar ist: Kein Geldbetrag wird ihnen die ersehnte Genugtuung verschaffen. Sie bleiben hartnäckig und wollen nicht ruhen, bis ihre Fragen geklärt sind und sichtbare Verbesserungen in der Sicherheit der Patientinnen und Patienten umgesetzt werden.

Eine Tochter von Jenny Duroux: »Hätten wir das Ausmaß der Operation und die damit verbundenen Risiken für meine Mutter gekannt, hätte sie sich nicht operieren lassen.«

Ein sogenannter Routineeingriff endet in Mehrfachoperationen und dem Tod

Am Abend vor der Operation klärt der Chefarzt die Patientin und deren Angehörige über den Mitralklappenersatz auf. Die Operation würde ca. drei Stunden dauern, das Risiko sei tief, es handle sich um einen Routineeingriff, weshalb sie erst am Nachmittag operieren würden.

Gemäß Operationsbericht wurde bei Jenny Duroux ein Drei-Klappen-Eingriff durchgeführt, und weil der Aortenklappenersatz vom Chirurgen Maisano zu groß ausgewählt wurde, musste die eingesetzte Prothese im weiteren Verlauf wieder entfernt und durch ein Modell mit kleinerem Durchmesser ersetzt werden.15 Entgegen der Aufklärung musste sie eine sehr schwere, 9,6 Stunden dauernde Operation mit hohem Risiko über sich ergehen lassen. Ein Drei-Klappen-Eingriff wird bei Patientinnen und Patienten dieser Altersgruppe nur selten durchgeführt.

Jenny Duroux war nicht rechtsgenügend aufgeklärt worden. Es kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass sie die Einwilligung für die risikoreiche Operation nicht gegeben hätte. Die lebensfrohe Rentnerin hat sich einer geplanten, nicht dringenden Routineoperation unterzogen; die Aufklärungspflichtverletzung mit Todesfolge ist deshalb besonders gravierend.

Eines der Probleme bei Jenny Duroux war der Aortenklappenersatz. Dabei wird die kranke Klappe herausgeschnitten, vom Chirurgen nach Messung passend dazu die ideale Klappengröße gewählt und eingenäht. Bei der Patientin wurde jedoch zuerst ein Aortenklappenersatz (AKE) mittels biologischer Prothese Edwards Inspiris Resilia 21 mm eingesetzt und dann mit einer kleineren, 19 mm-Klappe, ersetzt.

Während der Herzklappenoperation erlitt Jenny Duroux einen Herzinfarkt.16 Dabei handelt es sich um eine schwerwiegende Komplikation; diese war definitiv iatrogen bedingt (durch ärztliche Einwirkung entstanden). Die Koronargefäße der Patientin wurden bei der Operationsvorbereitung untersucht und als gesund befunden. Der Auslöser für den akuten Herzinfarkt war eine Verlegung im Bereich der Abgänge der Herzkranzgefäße, die Ursache lässt sich beim Operationsvorgang des notfallmäßigen Wechsels von einer großen zu einer kleineren Aortenklappenprothese vermuten. Weitere Gründe können Kalkpartikel oder Luft sein; auch Blutkoagel sind vor allem sekundär wegen einer gewissen Blutstase bei mechanischer Verlegung möglich. Diese sind als Initialauslöser für einen Herzinfarkt aber seltener. Zudem sollte der Chirurg durch sorgfältige Spülung nach Beendigung der Einnaht das Risiko eines solchen Ereignisses minimieren.

Möglicherweise wurde das beschädigte Herzkranzgefäß zu spät, erst bei Beendigung der Operation bemerkt und könnte dadurch den Herzinfarkt und die notwendige Herzmassage ausgelöst haben. Eine mögliche Verlegung der Herzkranzgefäße durch die initial zu große Aortenklappenprothese und auch der anschließende Herzinfarkt mit stillstehendem Herz ließ das Blut im Herzkranzgefäß nicht mehr fließen (Stase), was zur Gerinnselbildung führte. Allen Spezialisten mit gewisser Erfahrung musste zu diesem Zeitpunkt klar gewesen sein, dass das Herz nur noch geringe Chancen einer Erholung hatte.

Die letztendliche Ursache für ein fatales Vorkommnis wie einen Herzinfarkt während der Operation muss der Chirurg selbst evaluieren, auch um künftig ein solches Geschehen zu verhindern. Zudem ist er verpflichtet, dieses transparent zu kommunizieren wie auch zu dokumentieren, unter anderem im Operationsbericht. Eine Autopsie im Falle des Todes eines Patienten kann zur Aufklärung beitragen. Bei Jenny Duroux lässt sich die Ursache des katastrophalen Verlaufs von Fachleuten sehr wohl vermuten, im Operationsbericht oder in ihrem Patientinnendossier ist sie allerdings nicht vermerkt. Da es sich um ein akutes Herz-Kreislauf-Versagen handelte, wurde die Patientin an ein lebensunterstützendes System, einen sogenannten extrakorporalen Membranoxygenator (ECMO), angeschlossen, ansonsten wäre sie noch im Operationssaal verstorben.

Chefarzt Francesco Maisano war der Operateur der Herzklappenoperation von Jenny Duroux. Obwohl verschiedene Ärztinnen und Ärzte mitoperierten, wird – wie üblich – nur er als Operateur bezeichnet, weil die alleinige Verantwortung bei ihm liegt. Das gilt grundsätzlich und ist wichtig, damit die Verantwortung im Falle von Komplikationen nicht von einem Arzt auf den anderen geschoben werden kann.

Es obliegt zwingend dem Operateur, mit den Angehörigen den Verlauf und insbesondere die Komplikationen zu besprechen. Bei einem so gravierenden Verlauf wie bei Jenny Duroux ist die Kommunikation über den Operationsverlauf und deren Folgen immer Chefsache. Die 9,6 Stunden dauernde Operation mit gravierenden Komplikationen zeigt eindrücklich, wie laufend schwierige medizinische und ethische Entscheidungen getroffen werden mussten bei gleichzeitig katastrophaler Kommunikation mit den Angehörigen durch den verantwortlichen Operateur. Die Konsequenz war, dass die Angehörigen mit widersprüchlichen Informationen konfrontiert waren, unter anderem mit der unterschiedlichen Einschätzung des Gesundheitszustandes durch die verschiedenen Ärzte und Fachpersonen. Während ein Arzt sich hoffnungsvoll gab und meinte, die Patientin sei stabil, erklärte ein anderer den Angehörigen, sie sei in einem sehr kritischen Zustand, man müsse mit dem Schlimmsten rechnen. Insgesamt blieben die Angehörigen die meiste Zeit im Ungewissen, wurden oft über einen Sachverhalt erst nachträglich oder, wie über den Herzstillstand, nie informiert. Davon erfuhren sie erst Monate später aus dem Operationsbericht. Auch den Chefarzt haben sie – abgesehen von der zufälligen Begegnung vor der Intensivstation – nie mehr gesprochen.

Die medizinischen Entscheidungen fällten die Ärzte ohne Rücksprache mit den Angehörigen, und dem Patientinnendossier lässt sich bei der mangelhaften Dokumentation nicht entnehmen, ob die Ärzte beispielsweise die Patientenverfügung miteinbezogen hatten. Gemäß Dossier kam sie im Behandlungsverlauf von Jenny Duroux jedenfalls erst spät zur Sprache.

Jenny Duroux erhielt ein Impella-Pumpsystem, dessen Implantation allein ca. CHF 40000 kostet. Es handelt sich dabei nebst dem initial implantierten ECMO um ein weiteres Life Support System, das spezifisch ein massiv geschwächtes Herz unter bestimmten Bedingungen für einen längeren Zeitraum unterstützen soll. Der Einsatz ist unter Fachleuten umstritten, er muss auf jeden Fall mit der Patientin bzw. den Angehörigen besprochen werden.

Schließlich wurde versucht, mit einer überstürzten Bypassoperation zu retten, was zu retten war. Doch der Herzmuskel von Jenny Duroux war nach einem solchen schweren Herzinfarkt irreversibel geschädigt. Es muss davon ausgegangen werden, dass das den operierenden Ärzten klar gewesen sein musste.

Ob die Furcht vor einem »Mors in tabula« (lateinisch für den Tod auf dem Operationstisch während eines chirurgischen Eingriffs), der für die Angehörigen und das medizinische Personal ein schwerwiegendes Ereignis ist, die medizinischen Entscheide über den Behandlungsverlauf hinweg beeinflusste, lässt sich dem Dossier ebenfalls nicht entnehmen. Denn ein außergewöhnlicher Todesfall muss den Behörden gemeldet werden, damit die Todesursache offiziell geklärt werden kann.

Der Tod von Jenny Duroux lässt viele Fragen offen

Der Prothesenersatz zweier Herzklappen, die anatomisch eng beieinander liegen, erfordert – laut medizinischer Fachmeinung – Erfahrung und ordentliches Arbeiten wegen der Wahl der jeweiligen Prothesengrößen und der Positionierung bei der Einnaht am Herzen. Anschließend muss routinemäßig sorgfältig geprüft werden, ob die Herzkranzgefäßzugänge frei sondierbar sind. Erst dann kann die Patientin von der Herz-Lungen-Maschine genommen werden, der Körperkreislauf wieder mit dem selbst schlagenden Herzen verbunden und der Brustkorb verschlossen werden.

Der Tod von Jenny Duroux lässt viele Fragen offen: Warum musste die Aortenklappe zweimal ersetzt werden? Warum wurde die Operation auf einen Drei-Klappen-Eingriff ausgeweitet? Warum kam es zum Herzinfarkt? Warum musste ein Bypass eingesetzt werden? Was muss der Laie unter einem stabilen Zustand verstehen? Musste zu einem bestimmten Zeitpunkt von einem »Mors in tabula« ausgegangen werden? Wann wurde den Ärzten klar, dass sie Jenny Duroux nicht retten konnten? Und zuletzt: Was bedeutete die medizinische Begründung von Francesco Maisano, die Maschine habe ein Gerinnsel zu spät gemeldet?

Die Patientensicherheit im Fokus

Jenny Duroux hat gravierende und unerwartete Operationsfolgen erlitten, was den Handlungsbedarf bezüglich Patientensicherheit und Kommunikation eindrücklich aufzeigt. Die Patientensicherheit wird beispielsweise von folgenden Faktoren beeinflusst:

»Mangelhafte Aufklärung der Patientinnen und Patienten

Fehlerhafte und/oder unvollständige Dokumentation der Behandlung

Schlechte oder mangelhafte Kommunikation

Verzögerte Übermittlung von Austritts- und Übertrittsberichten

Therapeutische Fehlbehandlung, z.B. ärztliche Sorgfaltspflichtverletzung bei operativen Eingriffen

Fehler bei der Diagnosestellung, z.B. durch falsche Untersuchungsmethoden

Fehler bei der Interpretation der Untersuchungsresultate

Fehler bei der Indikationsstellung und entsprechend falsches therapeutisches Vorgehen

Fehlbare Einschätzung vor und/oder während der Operation

Mangelhafte interdisziplinäre Zusammenarbeit/hierarchische Strukturen

Beschönigen von Ergebnissen und Unterschlagung von Komplikationen

Fehlende oder nicht standardisierte Nachkontrollen

Inkorrekte Publikationen/überwiegendes Forschungsinteresse

Interessenskonflikte/wirtschaftliche Interessen«

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2018 legte die »World Alliance for Patient Safety« – eine von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2004 gegründete Arbeitsgemeinschaft – die am weitesten verbreitete und allgemein akzeptierte Definition für Patient:innengefährdung vor: »Medizinischer Fehler: Ein unerwünschtes Ereignis oder ein Beinahe-Schaden, der nach dem derzeitigen Stand des medizinischen Wissens vermeidbar ist.«18 Sie listet im gleichen Jahr zehn Fakten auf, die weltweit die Patientensicherheit gefährden:

»Unerwünschte Ereignisse sind weltweit die 14. häufigste Ursache für Erkrankungen – sie gleichen der Inzidenz von Tuberkulose und Malaria. (Jedes Jahr kommt es weltweit zu 421 Millionen Krankenhausaufenthalten. Während dieses Aufenthalts ereignen sich etwa 42,1 Millionen Schadensfälle.)

Jeder zehnte Patient erfährt im Krankenhaus Schaden.

Der unsichere Gebrauch von Arzneimitteln schädigt jedes Jahr Millionen von Menschen und kostet Gesundheitssysteme mehrere Milliarden.

15% der Krankenhausausgaben fließen in die Korrektur unerwünschter Ereignisse.

Eine finanzielle Investition in die Patientensicherheit lohnt sich – sie spart enorm viel Geld.

14 von 100 aufgenommenen Krankenhauspatienten erleiden eine im Krankenhaus erworbene Infektion.

Über eine Million Patienten sterben jährlich an Operationen.

Falsche oder zu späte Diagnosen schädigen viel zu viele Patienten.

Die enorme Strahlenbelastung in der klinischen Versorgung stellt ein ernst zu nehmendes Gesundheits- und Sicherheitsproblem dar.

Mehr als die Hälfte der Behandlungsfehler in der Hausarztmedizin und medizinischen Grundversorgung sind auf Verwaltungsfehler (Termine, Dossierfehler) zurückzuführen.«

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»Jede Minute sterben fünf Menschen wegen fehlerhafter Behandlung«, sagte der WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus 2019 in Genf.20 Davon seien alle Länder betroffen, unabhängig vom Grad ihres Wohlstandes und/oder von der Höhe der Gesundheitskosten. »Die Bandbreite der Fehler ist groß: manche Patienten bekämen eine falsche Diagnose oder falsche Medikamente, sie würden falsch bestrahlt oder infizierten sich während der Behandlung. Auch Amputationen falscher Gliedmaßen oder Hirnoperationen auf der falschen Seite des Kopfes kämen vor. ›Es ist ein globales Problem‹, sagte die WHO-Verantwortliche Neelam Dhingra-Kumar.«21

Kommunikation und Dokumentation

Für die Sicherheit der Patientinnen und Patienten ist die Dokumentation der Gesundheitsversorgung und die Kommunikation mit den Patient:innen, Angehörigen und zwischen allen beteiligten Fachpersonen in der ambulanten und stationären Gesundheitsversorgung von zentraler Bedeutung. Sehr viele Fehler passieren wegen signifikanter Kommunikationsmängel, was keine neue Erkenntnis darstellt. Der Anästhesist Daniel Scheidegger, der sich intensiv mit vermeidbaren Fehlern in der Medizin beschäftigte, stellte bereits 2004 fest: »Bei 85% der Zwischenfälle, die im medizinischen Bereich vorkommen, sind Kommunikationsfehler schuld.«22 Eine klar verständliche und offen transparente zwischenmenschliche Kommunikation ist für eine nachhaltige Sicherheit in der Gesundheitsversorgung unabdingbar.

Ein Meilenstein in diese Richtung erfolgte 2017 mit der gemeinsamen Kampagne der Stiftung für Patientensicherheit Schweiz unter dem Motto: »Speak up: Sicherheitsbedenken ansprechen«, der Plattform Patientensicherheit Österreich und dem deutschen Aktionsbündnis Patientensicherheit unter: »Speak Up! Wenn Schweigen gefährlich ist«. Mit der Kampagne sollte eine Form der Kommunikation, die wesentlich zur Patientensicherheit beiträgt, unter Kolleg:innen – über Berufsgruppen und Hierarchiestufen hinweg – etabliert werden.23 Dazu wurden Empfehlungen erarbeitet, die aufzeigen, was wirkungsvolle Kommunikation leisten kann: Schlechte Verständigung im Team verbessern und den Austausch mit anderen Abteilungen und anderen Berufsgruppen fördern. Sie kann nicht gelebte Teamarbeit, ständige Unterbrechungen und Ablenkungen sowie fehlendes teambasiertes Training als Fehlerquellen identifizieren. Zudem werden die Fachpersonen mit der Kampagne aufgefordert, Sorgen, Bedenken und Zweifel, Ideen und Vorschläge im Zusammenhang mit der Patientensicherheit zu thematisieren und sich gegenseitig zu ermutigen, Kolleg:innen auf riskantes Verhalten und Sicherheitsprobleme anzusprechen.24

Mittlerweile sind die Begriffe der Patientensicherheit und der zwischenmenschlichen Kommunikation untrennbar miteinander verbunden; mit dem Gelingen einer sicheren Kommunikation befassen sich zahlreiche Projekte und Aktivitäten und stellen entsprechende Angebote zur Verfügung. Exemplarisch ist das Projekt »Sichere Kommunikation: die SACCIA-Kernkompetenzen« der Kommunikationswissenschaftlerin Annegret Hannawa25