Das schlafende Grab - Robert Hültner - E-Book

Das schlafende Grab E-Book

Robert Hültner

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  • Herausgeber: btb
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2009
Beschreibung

In München gastiert der Zirkus "Cirque Gitane". Atemberaubende Reiterspiele und akrobatische Darbietungen begeistern das Publikum. Da wird einer der Artisten in seinem Wagen ermordet. Sein Partner, wie der Tote Angehöriger einer ungarischen Sinti-Familie, verschwindet spurlos. Joseph Türk, Kommissar bei der Kripo München, nimmt die Ermittlungen auf. Sie führen ihn zunächst zu einem unauffälligen Häuschen in Trudering, wo ein weiterer Toter auf ihn wartet - und schließlich zu einem Jahre zurückliegenden Verbrechen, das jetzt in großem Stil gesühnt werden soll ... Robert Hültner ist einer der profiliertesten Krimiautoren Deutschlands. Er ist vielfach preisgekrönt und hat mit seinen Inspektor-Kajetan-Krimis aus den zwanziger Jahren einen Klassiker geschaffen. "Das schlafende Grab" ist Auftakt einer neuen Serie rund um den Münchner Kommissar Türk.

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Seitenzahl: 268

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Inhaltsverzeichnis
 
Buch
Autor
Robert Hültner bei btb
 
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
KAPITEL 37
 
NACHBEMERKUNG
Copyright
Buch
Joseph Türk ist Kripobeamter in München – oder besser gesagt: war Kripobeamter in München. Ein leidiges Disziplinarverfahren und ein missgünstiger Kollege haben dafür gesorgt, dass Türk inzwischen wieder Streife fährt im kleinen 29er-Revier im Münchner Osten. Seine Wortkargheit und sein Gerechtigkeitsempfinden sind geblieben. So kann er es auch nicht lassen, da genauer hinzuschauen und zu ermitteln, wo ihm sein Dienstgrad genau das eigentlich verbietet. Im Gegensatz zu seinem Ex-Kollegen und mittlerweile Kripo-Hauptkommissar Schranz glaubt er nämlich nicht, dass der Mord an einem Zirkusartisten auf dessen verschwundenen Partner zurückgeht. Doch die Recherchen, die er notgedrungen auf eigene Faust anstellt, sind heikel und führen auch ihn zunächst in die Irre.
Autor
Robert Hültner wurde 1950 in Inzell geboren. Er lebt als freier Autor in München und in einem Bergdorf in den südfranzösischen Cevennen. Bevor er sich dem Schreiben zuwandte, war er Schriftsetzer, dann Regieassistent und zog mit einem Wanderkino durch die Dörfer. Hültner ist vielfacher Deutscher Krimipreisträger und Glauser-Preisträger.
Robert Hültner bei btb
Inspektor Kajetan und die Sache Koslowski. Roman (72144)
Walching. Roman (72141)
Die Godin. Roman (72145)
Der Hüter der köstlichen Dinge. Roman (75042)
Inspektor Kajetan und die Betrüger. Roman (75119)
KAPITEL 1
Es war wieder soweit.
Als Türk aus den Augenwinkeln mitbekam, wie Kollege Baier mit Nachdruck den Gang einlegte, ungewohnt bedächtig beschleunigte und – ganz der Musterpolizist aus einem Werbefilm für arglose Schulabgänger – betont aufmerksam die wenigen Passanten musterte, die sich auf dem von der Gluthitze der letzten Tage wellig gewordenen Gehweg in Richtung des Truderinger Einkaufszentrums schleppten, als wäre es ihm möglich, unter ihnen jene herauszupicken, die einen Überfall planten, da wusste er, was kommen würde. Und er lag auch diesmal nicht daneben.
In beiläufigem Ton sagte Baier: »Nicht, dass mich deine Geschichten interessieren.« Ein Seitenblick streifte seinen Beifahrer. »Aber von einem neuen Kollegen will man halt doch das eine oder andere wissen. Verständlich, oder?«
»Hm«, machte Türk.
»Oder nicht? Bist eigentlich Kripohauptmeister, stimmt’s?«
»Das weißt du?«
Wer es wollte, hätte dem Ton dieser Bemerkung entnehmen können, dass Türk auch dieses Mal nicht in der Laune war, sich über die Gründe für seine Degradierung auszulassen. Polizeimeister Alfred Baier jedoch war keiner, der die Flinte so schnell ins Korn warf.
»Hör mal, Türk.« Er rang sich ein komplizenhaftes Grinsen ab. »Ich bin nicht neugieriger als andere. Aber wenn der Datenschutz schon draußen in der Welt ein Witz ist, dann ist er es bei der Polizei gleich dreimal.«
»Kann sein«, räumte Türk ein.
»Kann nicht sein, ist so«, korrigierte Baier ungehalten.
»Hast ja Recht, Ali.«
Baier brummte etwas Unverständliches. Wieder vergingen einige Minuten, in denen Türk demonstrativ den Straßenrand fixierte. Das Trottoir war breiter geworden. Die Zeile niedriger, gleichförmiger Wohnhäuser hatte sich in eine Reihe von Geschäftsgebäuden verwandelt, die von unbebauten Parzellen unterbrochen wurde, von drahtigem Gestrüpp überwuchert und von den Anrainern als Mülldeponie missbraucht.
Baier feilte währenddessen an einer neuen Strategie, wie er seinen Kollegen zum Sprechen bringen könnte. In der 29er-Inspektion brodelte die Gerüchteküche seit Wochen, was die Gründe für die Degradierung des neuen Kollegen betraf. Keinem, der bereits einmal mit Türk die Schicht geteilt hatte, war es bisher gelungen, von ihm Genaueres über die Hintergründe seiner Strafversetzung zu erfahren, und noch verblüffter registrierte man, dass der Neue unter seinem Rauswurf bei der Kripo gar nicht zu leiden schien.
»Erst bei der Kripo und jetzt Streife.« Baier versuchte, seine Worte mit einem Ton solidarischer Empörtheit zu unterlegen. »Wegen der winzigsten Sache wird heutzutag schon ein Aufstand gemacht. Dabei kann doch jedem mal ein Fehler passieren.«
»Kann sein.« »Und immer geht’s bloß gegen die, die jeden Tag ihre Knochen hinhalten müssen. Wenn sich von denen da oben mal einer einen Pfusch leistet, dann gibt’s hunderttausend Erklärungen und Entschuldigungen.«
»Werden wir zwei nicht ändern, Ali.«
Baier nickte grimmig.
»Bist gar nicht sauer deswegen? Ich wär’s. Und wie.«
»Sauer wegen was?«
»Wegen was!«, fuhr Baier ärgerlich auf, um sofort wieder den Verständnisvollen zu mimen. »Dass du nicht mehr bei der Kripo bist und jetzt als Polizeiobermeister ein paar Hunderter weniger in der Tasche hast.«
»Es ist halt, wie’s ist, Ali.«
»Aber unter Karriere versteht man was anderes«, bohrte Baier weiter. »Musst doch zugeben.«
»Kann sein.«
Die Verkehrsampel schaltete auf gelb. Mit einem ärgerlichen Grunzen registrierte Baier einen schmutzstarrenden Opel, dessen Fahrer aufs Gas gestiegen war und mit hörbar klingelnden Ventilen vorbeibrauste. Er fingerte eine Pepsi aus dem Seitenfach und nahm einen Schluck.
»Kannst mir wirklich glauben, dass es mir egal ist, wieso sie dich herabgesetzt haben.« Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Und es gibt auch keinen in der Inspektion, der was an dir auszusetzen hätt. Kannst mir echt glauben.«
»Tu ich, Ali.«
Baier drückte das Gas wieder durch.
»Sag, hast mal einen zu hart angepackt? Ist dir mal die Hand ausgerutscht? Oder so was?«
»Nein.«
Joseph Türk ließ die Seitenscheibe weiter herunter, streckte den Arm ins Freie und lenkte einen Schwall heißer Luft ins Wageninnere. Baier, mit dem er zum ersten Mal Streife fuhr, war hartnäckiger als die anderen Kollegen der B-Schicht der 29er-Inspektion im Münchner Osten.
»Und es macht dir wirklich nichts aus?«
Blöde Frage. Natürlich war es nur die halbe Wahrheit, wenn sich Türk als der Gelassene gab. Natürlich arbeitete es noch in ihm. Weniger, weil er nicht zu den Gründen stand, deretwegen er degradiert worden war. So sehr er sich auch den Kopf zerbrach – er hätte sich nicht anders verhalten können, und er hätte es auch nicht gewollt. Aber er musste sich eingestehen, für einige Sekunden nicht vorsichtig genug gewesen zu sein und es einem – wie sich herausstellen sollte – missgünstigen Kollegen zu leicht gemacht zu haben, ihm ein Disziplinarverfahren anzuhängen.
All das hatte ihn ein wenig aus dem Gleichgewicht gebracht. Evi, mit der sich alles so gut angelassen hatte, hatte es ihm auf den Kopf zugesagt. Er aber hatte es sich nicht eingestehen wollen, dass sein Selbstbewusstsein einen Dämpfer abbekommen hatte. Womit auch sein Vertrauen geschwunden war, dass sie, die erfolgreiche und – wie er fand – verflucht gutaussehende Kommissarin, sich mit einem zum Schutzpolizisten degradierten Versager abgeben würde. Ein giftiges Wort hatte das andere gegeben, die Liebe erfror, und derzeit herrschte Funkstille.
Dagegen fehlte ihm die aufreibende Arbeit bei der Kripo weniger, als er erwartet hatte. Zwar fühlte er sich mit seinen Fünfunddreißig wie ein Fossil unter seinen meist jugendlichen Kollegen, aber es ging gelassener zu in der 29er, weniger verbissen, die unmittelbaren Vorgesetzten waren nicht von Ehrgeiz und Eitelkeit getrieben. Und er hatte erstaunt festgestellt, dass er es zu genießen begann, wieder näher am Alltag der Leute zu sein. Aber sein Misstrauen war geblieben. Besonders gegenüber seinem Kollegen Baier, den alle nur »Ali« nannten, so sehr er sich auch dagegen wehrte. Der etwas träge, zur Bequemlichkeit neigende Polizeimeister – nicht der Hellste und zu gut im Futter, als dass die Bezeichnung »athletisch« noch für seine Figur zutreffend gewesen wäre – ging auf Mitte Zwanzig zu, gab aber schon den Abgebrühten, der es längst aufgegeben hatte, in seiner Tätigkeit nach so etwas wie einem Sinn zu suchen. Sein Phlegma hielt ihn jedoch nicht davon ab, sich lustvoll am Kollegentratsch zu beteiligen.
»Sind mir wirklich so was von komplett egal, deine Geschichten. Aber …«
Türk wandte den Kopf und sah seinem Kollegen ins Gesicht.
»Dann können wir’s ja gut sein lassen, oder? Denk einfach einmal drüber nach: erstens wäre ich nicht mehr bei Polizei, wenn ich mir eine größere Sauerei hätte zuschulden kommen lassen. Und zweitens: Du bist zwar schon länger als ich in der Neunundzwanziger, aber dafür bin ich ein gutes Eck älter. Es gibt also keinen Grund, warum du verlangen könntest, dass ich mit dir über was red, über was ich nicht reden mag. Klar?«
Baier, vom entschiedenen Ton überrascht, wich Türks Blick aus.
»Aber … warum magst du nicht?«
»Weil ich nicht mag.«
»Ist doch kein Grund.«
»Ali! Wenn ich was nicht mag, dann ist das der Grund. Basta und Schluss.«
Bevor Baier etwas entgegnen konnte, deutete Türk zum rechten Straßenrand. Die Bebauung war zu Ende, eine Kolonnade von Laubbäumen mit stumpfem Blattwerk säumte die Truderinger Straße. Dahinter blinkten die Farben des Zeltdorfes.
»Zirkus Caloni«, entzifferte Türk. »Nächste rechts.«
»Okay.« Baier grinste gallig. »Holt’s die Wäsche rein, die Grattler kommen.«
»Das sagst jetzt am besten gleich noch mal, und zwar so laut, dass die uns auch gut hören können«, warnte Türk launig. »Wirst sehen, wie sympathisch uns das machen wird.«
»Werd doch noch einen Witz machen dürfen«, maulte Baier.
»Er sollt halt passen.«
KAPITEL 2
Türk löste den Gurt. Baier parkte das Einsatzfahrzeug am Straßenrand und folgte seinem Kollegen über den unbefestigten Platz. Ein Fenster des 80er-Jahre-Wohnblocks auf der gegenüberliegenden Straßenseite öffnete sich.
Es war still. Die heiße Luft bewegte sich nicht, zwischen den Bauten stand der süßlich bittere Geruch von Dung und tierischem Schweiß. Auf dem Platz, der dem Zirkus zugeteilt worden war, würden in einigen Monaten die Aushubmaschinen anrücken, die taube Brache abschaben und sich in unfruchtbaren Schotter wühlen. Noch vor den ersten Nachtfrösten stünde bereits das Eisengeflecht des Kellerfundaments in der Grube, und im darauf folgenden Herbst würden die ersten Firmenschilder angeschraubt werden, »Consulting«, »X und Partner real estate« oder »Psychotherapeutische Gemeinschaftspraxis, Termine nach Vereinbarung«.
Baier zog den Hosenbund hoch.
»Es stinkt.«
Türk gab keine Antwort. Er war stehen geblieben.
»Hörst du was, Ali?«
»Was soll ich hören?«
»Die Anruferin hat doch behauptet, dass hier am laufenden Band Viecher misshandelt werden sollen.«
»Hat sie. Und?«
»Was tut ein Viech, wenn es gequält wird? Es schreit.«
Baier gab ihm Recht. Er grinste.
»Aber nach dem Theater, das die am Telefon gemacht haben muss, sind wahrscheinlich schon alle zu Tode geprügelt worden.«
Die Planen des Hauptzeltes hingen schlaff im Gestänge. Die Beamten traten näher. Neben dem Publikumseingang war eines der Seitenteile hoch gezogen. Dennoch herrschte im Inneren des Zeltes fast undurchdringliche Dunkelheit.
»Wer da?«, rief Türk. Das Quietschen eines Scharnieres antwortete, jemand schien eine Käfigtür zu schließen. Eine Gestalt löste sich aus der Finsternis, ein Büschel Heu in der Hand. Sie blieb abwartend stehen.
»Was gibt?«
Die Stimme des Mannes verriet Abwehr.
Türk fragte nach dem Chef.
»Was gibt?«, wiederholte der Mann.
Jetzt hatten sich die Augen der Beamten an das Dämmerlicht im Zeltinneren gewöhnt. Der Mann war einen Kopf kleiner als sie. Hose und Hemd spannten sich um seinen sehnig trainierten Körper, sein schwarzes, glatt gekämmtes Haar schimmerte matt. Ein knapp rasiertes Oberlippenbärtchen verlieh ihm das leicht schmierige Aussehen eines Gigolos der Zwanziger Jahre. Obwohl er schon an die Fünfzig sein musste, wirkte seine Haltung jungenhaft.
»Nichts gibt«, raunzte Baier. »Wo Chef ist, Freund.«
Sein Gegenüber nahm eine kaum merkliche geduckte Haltung ein.
»Chef gibt nicht«, beschied der kleine Mann. »Gibt Frau Direktor. Frau Antoni.«
Der kleine Mann wies nach draußen. Bevor er zu einer Erklärung ansetzen konnte, verdunkelte sich das Innere des Zeltes.
»Rosenberg? Ich komm nicht...«
Die Direktorin brach ab, als sie die beiden Beamten erkannte. Sie kam mit resoluten Schritten näher.
»Grüß Gott?«
Die Beamten erwiderten den Gruß und stellten sich vor. Die zierliche Frau, die ihr glattes, schwarzes Haar zu einem strengen Nackenknoten zurückgebunden hatte, nickte kühl.
»Was gibt’s? Fehlt wo Wäsche auf der Leine?«
»Sie sind die Chefin?«
Sie bestätigte es. »Antoni.«
Türk sah, dass ihre Arme bis zu den Ellenbogen ölschwarz verschmiert waren. Sie bemerkte seinen fragenden Blick.
»Ich versuch, den Generator zu reparieren. Hat mitten in der Vorstellung vorhin seinen Geist aufgegeben«, erklärte sie. »Sagen Sie, müssen Sie die Arbeitsbewilligungen ausgerechnet jetzt überprüfen? Ist alles in Ordnung, den Ärger werd ich mir nicht auch noch einhandeln. Fragen Sie Ihre Kollegen in Ismaning. Oder in Taufkirchen. Oder in Landshut. Oder wo Sie wollen. Spart Ihnen bestimmt viel Zeit. Und mir erst recht.«
Türk winkte ab. Deshalb seien sie nicht gekommen.
»Ein Anwohner hat Anzeige erstattet. Wegen Tierquälerei.«
Die Direktorin stöhnte leise auf und wischte sich mit dem Oberarm über die Stirn. Türk versuchte, ihr Alter zu schätzen. Höchstens Mitte Dreißig, entschied er.
»Guter Scherz«, sagte sie bitter, mit einem Blick auf die Wohnhäuser auf der anderen Straßenseite. »Und so nagelneu. Könnt mich totlachen.«
»Ach?«, hakte Baier lauernd nach. »Es ist nicht das erste Mal?«
»Leider nein«, bestätigte sie trocken. »Es ist überhaupt nichts Neues, dass man von mir erwartet, ich müsste ein dschungelnahes Freigehege nicht unter zehn Hektar mit mir herumschleppen. Auch wenn unsere Tiere schon seit Generationen kein derartiges Gelände mehr gesehen haben und in kurzer Zeit darin eingehen würden. Nein, Scherz beiseite. Wir werden laufend kontrolliert. Es gibt keine Beanstandungen. Und von uns sehen Sie auch keinen mit dem Almosentopf in der Fußgängerzone. Es mag Kollegen geben, und damit meine ich durchaus nicht bloß kleine Unternehmen wie meines, für die ich die Hand nicht ins Feuer legen würde. Aber meine Tiere sind mein Kapital. Das werd ich mir nicht durch eigene Schlamperei ruinieren.«
»Trotzdem.« Baier hatte gereizt zugehört. »Wir müssen es überprüfen.«
»Von mir aus. Wenn die Polizei für so einen Blödsinn ihre Zeit verschwenden muss. Sie tun mir Leid.«
»Werden wir ja sehen!«
Baier war patzig geworden, wie immer, wenn er das Gefühl hatte, dass ihm nicht der erforderliche Respekt entgegengebracht wurde.
»Wir schauen uns das Ganze jetzt einfach mal an. Wenn die Anzeige berechtigt ist, können Sie sich auf was gefasst machen.«
Sie maß ihn mit einem schnellen Blick, den er bockig erwiderte.
»Ich glaub’s schon.«
Sie drehte den Kopf zur Seite.
»Rosenberg? Zeigen Sie den Herren von der Polizei die Tierwägen, ja?«
Sie hob ihre verschmierten Oberarme demonstrativ den Beamten entgegen.
»Ich muss zurück. Wenn die Veranstaltung heute Abend wieder ausfällt, bin ich geliefert. In Ordnung?«
Der kleine Mann näherte sich. Noch immer wirkte er angespannt. Unruhig flogen seine Augen zwischen der Direktorin und den Polizisten hin und her.
Türk ließ sich erklären, wo er sie anschließend finden würde. Im Weggehen fragte sie:
»Hat der Anrufer zufällig gesagt, um welches Tier es sich handelt?«
»Hat er«, bestätigte Türk.
Sie sah zu ihm auf.
»Und?«
»Es soll um einen Esel gehen.«
»Borro?«
Sie lachte ungläubig auf, setzte zu einer Antwort an, verzichtete dann aber darauf und schüttelte nur den Kopf.
»Rosenberg, die Herrschaften möchten bloß unseren Borro sehen.« Sie wandte sich zu den beiden Beamten. »Viel Vergnügen, die Herren.«
Der Kleine nickte knapp und ging voraus. »Bitte sehr.«
Der Esel war im Schatten eines Wohnwagens angepflockt. Er wandte seinen Kopf leicht und klappte sein Ohr gelassen nach oben, als sich die Männer näherten.
Rosenberg gab ihm einen gutmütigen Klaps.
»Das sein’d Borro. Sein’d unser einziger Esel.«
Türk und Baier sahen sich verdutzt an. Das Tier hatte sich wieder zum Futter gebeugt. Es wirkte gut genährt, sein Fell glänzte.
Türk dehnte seinen Hemdkragen.
»Tritt er im Programm auf?«
Rosenberg schüttelte den Kopf. »Ist zu störrisch.«
»Wozu haben Sie ihn dann?«
»Für Kinder. Für Streicheln und Reiten.«
Baier ging um das Tier herum. Er hob seine Mütze und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn.
»Man sieht wirklich nichts«, meinte er. »Und einen verhungerten Eindruck macht er mir auch nicht.«
Türk stimmte ihm zu.
»Aber die Anruferin hat von Schmerzensschreien gefaselt, die ihr jedesmal durch Mark und Bein gehen würden.«
Rosenberg blickte aufmerksam von einem zu anderen.
»Schmerzen? Borro?«
»Wahrscheinlich wieder eine von den Weltverbesserern, die sich wichtig machen wollen«, mutmaßte Baier. »Freiheit für alle und so.«
»Danach schaut’s aus«, brummte Türk.
»Alles in Ordnung?«, fragte der kleine Mann.
Türk bedachte den Zirkusmitarbeiter mit einem Kopfnicken und winkte seinem Kollegen.
Die Direktorin hing immer noch über dem Stromaggregat, als die beiden Streifenbeamten zurückkehrten.
»Na?« Sie sah nicht auf. »Werd ich verhaftet?«
Baier setzte zu einer ärgerlichen Erwiderung an. Sie richtete sich auf.
»Und jetzt erklären Sie mir bitt schön bloß noch, wie ein Mensch, vorausgesetzt er hat noch alle Tassen im Schrank, darauf kommen kann, dass wir unseren lieben Borro misshandeln?«
»Man hat ihn schreien hören«, erklärte Türk.
»Ach nein.« Sie seufzte entnervt auf. »Esel schreien nun mal. Wo und wann sie wollen. Um die Futterzeit oder wenn ihnen langweilig ist. Dass es edler Gesang ist, kann man zwar nicht behaupten, aber dafür können sie nichts, und ich hätt auch mehr von Borro, wenn er singen könnte. Schöne Tierschützer, die sich darüber aufregen, dass die Tiere Laute von sich geben. Also? Keine Festnahme? Umstellung des Geländes, Beschlagnahmung und Abtransport? Wär eh schon alles egal. Ich…«
Ein durchdringender, trompetenartiger Ton durchbrach die nachmittägliche Stille.
»Hören Sie?« Die Direktorin wies mit einer Kopfbewegung nach hinten. »Das war Borro. Hört sich das an, als würd man ihn schlagen?«
»Wenn sich einer damit nicht auskennt...?«, meinte Baier.
»Und wie wär’s damit, sich zuerst zu informieren, anstatt schlecht von uns zu reden und uns die Polizei auf den Hals zu hetzen?« Wieder wischte sie sich über die Stirn. »Ich hab’s manchmal so satt, glauben Sie mir. Und dann kommt noch so ein Mist dazu. Ich find den verdammten Fehler nicht, obwohl ich schon alles auseinander gebaut hab.«
Türk sah über die Schulter. »Ali, sagst du nicht immer, dass du dich mit Motoren auskennst?«
Baier warf seinem Kollegen einen überraschten Blick zu. Zögernd antwortete er: »Schon. Aber nicht mit Apparaten wie dem da, die kurz nach der Steinzeit gebaut worden sind. Hat Ihr...«, er suchte nach dem geeigneten Wort, »…Betrieb denn keinen Mechaniker?«
»Er steht grad vor Ihnen«, gab sie zurück. »Ich bin nämlich schon froh, wenn ich mir genug Artisten leisten kann.«
»Vielleicht ist es was Einfaches«, gab Türk zu bedenken. »Schaut an und für sich noch recht robust aus, das Ding. Was, Ali?«
Unwillig musterte Baier die herumliegenden Teile des Motors.
»Gibt doch bestimmt einen Notdienst für so was, oder?«
»Sicher. Aber nicht das Geld, um ihn zu bezahlen«, sagte die Direktorin. »Und dann würd das so kurzfristig auch nicht mehr klappen. Wenn ich das Gerät nicht in spätestens einer halben Stunde zum Laufen gebracht hab und die Abendvorstellung absagen muss, hab ich erst recht kein Geld mehr für die Reparatur.«
Baier zuckte die Achseln. War es ihr Bier?
»Könnt’s vielleicht…«, Türk räusperte sich, »…der Keilriemen sein?«
Sie schüttelte bestimmt den Kopf.
»Ist erst vor zwei Jahren erneuert worden. Außerdem müsste das ja zu sehen sein, oder?«
»Kann sich gewickelt haben. Dann sieht man nichts.«
Sie sah ihn zweifelnd an und überlegte einen Augenblick. Dann griff sie zum Schraubenzieher und löste die Abdeckung. Sie stieß einen überraschten Schrei aus.
»Tatsächlich! Das war’s!« Sie atmete erleichtert auf. »Ich bin mir einfach zu sicher gewesen, dass es daran nicht liegen kann!«
»Kenn ich, das Gefühl«, sagte Türk. »Oft sind die Dinge einfacher, als man glaubt.«
Die Direktorin schenkte ihm einen dankbaren Blick.
»Die Polizei, dein Freund und Helfer. Manchmal stimmt’s direkt. Wie kann ich mich revanchieren? Eine Freikarte für die Familie?«
Türk wehrte mit einer unbeholfenen Geste ab. Sie verstand.
»Ah ja. Sie dürfen ja nichts annehmen.«
»So ist es«, drängte Baier. »Komm, Türk. Der Blödsinn hat uns eh schon zu lang aufgehalten.«
 
Im Auto ließ sich Baier mürrisch auf den Fahrersitz fallen und steckte den Zündschlüssel ein.
»Bist schon irgendwie schwul, Türk.«
»Hat’s dich?«
Türk sah seinen Kollegen ungläubig an.
Baier ließ den Motor aufheulen und lenkte den Wagen auf die Fahrbahn.
»Irgendwie pervers, mein ich.«
»Und ich frag, ob’s dir gut geht.« Er deutete auf seine Stirn. »Da oben, mein ich.«
»Weißt genau, was ich mein, Türk.«
»Eher nicht.«
»Es ist knapp vor Schichtende, und du fängst damit an, dich um irgendwelche versiffte Motoren zu kümmern. Sind wir jetzt Pfadfinder oder was? Hast schon mal die Aufgabenordnung gelesen?«
»Durchaus, Ali.«
»Und? Steht da was drin, dass wir für kaputte Keilriemen zuständig sind? Und nenn mich du nicht auch noch Ali. Bin kein Kanak, klar? Heiß Alfred, zu deiner Information.«
»Hab’s kapiert, Ali«, sagte Türk versöhnlich. »Und jetzt fang dich wieder ein, okay?«
»Als ob’s nicht schon langen würd, dass wir wegen so saublöden Anzeigen unsere Zeit verplempern müssen«, maulte Baier weiter. »Ist das nicht eigentlich die Sache vom Amtstierarzt? Seit wann müssen wir uns um den Scheiß auch noch kümmern?«
»Das hab ich unseren Inspektionsleiter auch gefragt.«
»Und?«
»Zwei Gründe. Erstens haben die im Veterinäramt wieder mal keine Zeit gehabt, und zweitens hat die Anruferin gleichzeitig eine Stadträtin von den Grünen alarmiert. Kapiert?«
»Verstehe.« Baier nickte grimmig. »Und weil der Maierhofer ein Schwarzer ist, will er sich nichts nachsagen lassen. Also praktisch hochpolitisch, das alles.«
»Du sagst es«, bestätigte Türk.
Baier grinste. »Aber schlecht hat sie nicht ausgesehen, die Chefin, hm? Wie alt wird die gewesen sein? Noch keine Vierzig, oder? An so was tät ich gern mal ein bissl herumschrauben. Jedenfalls lieber als an einem alten Kompressor.«
Der Verkehr hatte zugenommen. Immer mehr Fahrzeuge mit Ebersberger und Rosenheimer Kennzeichen, von unternehmungslustigen Milchgesichtern gesteuert, zockelten in die Stadt.
Baier massierte seine Nasenspitze. Wieder warf er einen lauernden Blick auf seinen Kollegen.
»Das sind Fälle, hm?«, stichelte er. »Bei der Kripo hast mit anderen Kalibern zu tun gehabt, hab ich recht?«
»Ich bin aber nicht mehr bei der Kripo, Ali.«
»Und warum?«
»Darum.«
»Wenn’s nichts Grobes ist, warum machst dann so ein Geheimnis drum rum?«
»Mag bloß nicht mehr drüber reden. Kapier’s endlich.«
»Mir kannst du’s doch sagen.«
»Könnt ich.«
»Dann tu’s halt.«
»Nein, du tust jetzt was, Ali. Nämlich mir einen Gefallen. Weißt, welchen?«
»Ja«, murrte Baier. Er gab auf.
Der Dienstgruppenleiter meldete sich.
»Blinder Alarm, sagt ihr?«
»Blinder geht’s nicht, Maierhofer«, bestätigte Türk in das Funkgerät.
»Hab mir’s gedacht. Seid ihr noch vor Ort?«
»Sind schon wieder unterwegs in die Inspektion.«
»Dann dreht um. Ihr fahrt zuerst noch in die Kameruner Straße. Höhe Hausnummer Zwanzig.«
»Um was geht’s?«
»Irgendein blöder Hund hat dran glauben müssen. Überfahren.«
»Nimm gleich die Wasserburger«, sagte Türk zu Baier.
Der nickte und stieg aufs Gaspedal.
»Sind schon unterwegs, Maierhofer. Habt ihr den Sanker schon …«
»Wieso Sanker?«
»Hast nicht was von ›Überfahren‹ gesagt?«
»Doch.«
»Ah so.« Türk verstand. »Tot?«
»Mausetot«, bestätigte Maierhofer trocken.
»Dann wirst den Arzt schon informiert haben.«
»Was hat der bloß immer mit seinem Sanker und seinem Doktor? Ich red von einem Hund, Türk!«
»Von einem...?«
»Von einem richtigen Hund. Was denn sonst?« Der Dienstgruppenleiter lachte. »Aber vielleicht hast sogar Recht. Weil der Autofahrer und die Besitzerin von dem Kläffer dabei sein sollen, sich gegenseitig umzubringen. Also, macht’s Dampf, Kollegen.«
Er beendete die Durchsage. Baier grinste boshaft.
»Na?«, lästerte er. »So ganz haben wir’s immer noch nicht ausgestanden, dass wir nicht mehr bei der Kripo sind, was?«
KAPITEL 3
Georg B. Mayer genoss die Nervosität der jungen Frau, die auf der anderen Seite seines Schreibtisches mit steifem Oberkörper und aneinandergepressten Oberschenkeln Platz genommen hatte. Er notierte befriedigt ihre fliegenden Blicke, ihre vor Aufregung glänzende Stirn und die Röte, die durch das Make-up der Wangen schimmerte.
Er mochte sie nicht.
Er kannte Frauen wie sie zur Genüge. Eine schnippische Ziege, dachte er. Berechnend. Ehrgeizig. Unsicher. Immer die Nase im Wind, von den wichtigen Dingen nur so viel Ahnung, wie nötig war, um dem Gegenüber Wissen vorgaukeln zu können. Ein anspruchsvoller, verwöhnter Fratz, der die Zerbrechliche spielte, auf Männer fixiert war und sie zugleich hasste. Stur wie Granit, einfallsreich allein dann, wenn es galt, sich einen Vorteil zu sichern. Ein gekünsteltes, mädchenhaftes Lachen, humorlos. Der Rest – schon wieder! Mädel, wie oft noch? – affektiertes Streichen über Schläfe und Haar. Wie hieß die Kuh gleich noch mal? Sein Blick kippte auf die Visitenkarte, die ihm sein Geschäftsführer vorgelegt hatte. Marcella Dobler. Freie Journalistin.
»Sind wir so weit, Friedrich?«, fragte die junge Frau forsch, den Kopf zur Seite gedreht, ohne ihren Kameramann anzusehen. »Können wir dann?«
Die Augen des alten Produzenten, im altersschönen, kantigen Schädel eingesunken und von einem Netz spinnwebfeiner Falten umgeben, funkelten unmerklich. Sie nennt ihren Kameramann beim Vornamen, dachte er. Ihn, der beinahe doppelt so alt ist wie sie, und dem anzusehen ist, dass er schon auf den Auslöser seiner Arriflex drückte, als sie noch in den Windeln lag. Eine Frechheit!
Der Kameramann nestelte seinen Belichtungsmesser in seine Brusttasche. Mit väterlicher Nachsicht bestätigte er:
»Wir können.«
»Laufen wir?«
»Noch nicht.«
»Wieso?«, fragte die junge Frau ungehalten.
»Weil ich auf die Ansage der Regisseurin warte.«
Sie schnaubte ärgerlich.
»Dann – bitte!«
»Augenblick. Wir laufen.«
Die Journalistin wandte sich zu ihrem Gesprächspartner, strich sich wieder über Schläfe und Haar und holte gespielt Atem.
»Eine persönliche Frage vorab, Herr Mayer. Sie …«
Er fiel ihr ins Wort: »Ungern.«
Sie riss den Mund auf, klappte ihn zu. Der Blick des Alten ruhte auf ihr.
»Sie… Sie sprechen nicht gern über Persönliches«, sagte sie. »So... so kennt und schätzt man Sie.«
»Legen Sie schon los«, sagte der Alte großzügig.
Sie lächelte neckisch.
»In… in der Branche spricht man nur vom ›Schorsch‹, wenn man auf Sie zu reden...«
Sie brach ab. Auf der ledrigen Stirn des Alten hatten sich Falten gebildet.
»Ja? Was?«, raunzte er. »So heiße ich schließlich. Worauf wollen Sie hinaus?«
»Sie haben…«, ihre Stimme war wankend geworden, »… Sie haben aber halt weit über München und Bayern hinaus Ihre Spuren als Produzent und Regisseur hinterlassen.«
»Das mag stimmen. Aber ich verstehe immer noch nicht, was diese Bemerkung soll«, meinte er kühl. »Wollen Sie damit andeuten, ich spiele in der Branche lediglich die Rolle des Provinz-Seppls?«
Ihre Finger krampften sich um ihr neckisches Notizbüchlein. Sie hatte es schon versemmelt! Ihren ersten größeren Auftrag! Hatte an einer empfindlichen Stelle gekratzt, ohne es zu wollen, hatte ihn verärgert! Und jetzt würde es sich rächen, dass sie sich so nachlässig vorbereitet hatte, kaum einen seiner Filme gesehen hatte. Die wenigen, die sie gesehen hatte, waren nicht nach ihrem Geschmack gewesen, hatten sie nicht berührt. Mehr als eine halbe Stunde Internet-Recherche hatte sie für dieses Interview nicht investiert. Ihre Wimpern flatterten. Sie fühlte, wie ihr der Schweiß aus den Poren brach. Sie sah ihn flehend an.
»Nein, bitte, ich...«
»Schauen Sie«, sagt er herablassend, »ich stamme aus diesem schönen Land, und es gibt keinen Anlass, sich dessen zu schämen, nicht wahr?«
»Nein, natürlich...«
»Ich habe diesbezüglich keine Komplexe, falls das jemand vermuten sollte.«
Ihr Blick flirrte panisch. »Natürlich...«
»Außerdem – was meinen Sie, wie ich genannt werde, wenn ich in Paris oder in New York Verhandlungen führe, hm? Ob mich die Franzosen ›Schorsch‹ oder die Amerikaner ›Tschordsch‹ nennen...« Er lehnte sich wieder zurück. »Das ist doch wirklich albern.«
Ihr Nicken erinnerte ihn an ein Huhn auf Futtersuche.
»Sie haben Recht.«
Wie erwartet, dachte der Alte. Nichts dahinter. Sie knickt ein, versucht verzweifelt, wieder ihren Faden zu finden. Wie kam man beim Bayerischen Fernsehen überhaupt dazu, ihm eine derartige Anfängerin zu schicken? Sollte das die Wertschätzung seiner Partner, mit denen er Jahrzehnte lang zusammengearbeitet hatte, sein? Schon das Echo der Medien auf die Feiern zu seinem Achtzigsten war zurückhaltender gewesen, als er erwartet hatte. Auf der anderen Seite: Für die Reportage über sein Leben, das des großen alten Mannes des deutschen Films, des Regisseurs und Produzenten Georg B. Mayer waren immerhin zwölf Minuten vorgesehen. Das war mehr als der kurze Spot, den die Abendnachrichten bringen würden, wenn ihm in ein paar Tagen der Ministerpräsident den Kulturpreis der Staatsregierung überreichen würde. Zwar hatte sein Bekanntheitsgrad keine Steigerung mehr nötig, doch die eine oder andere mediale Salbung seines künstlerischen Schaffens konnte nie schaden. Es gab noch immer Neider, die an der Qualität seiner Filme kein gutes Haar ließen. Und deshalb musste er sich zusammennehmen. Zum Glück lief der Poker um den Verkauf seines Gesamtwerks fast wie am Schnürchen. Auch wenn man, wie in der Branche üblich, nie vor Überraschungen gefeit war.
Georg B. Mayer stemmte sich energisch aus der Lehne, stützte seine Ellbogen auf die Tischplatte und verschränkte seine Finger.
»Dann hätten wir das geklärt, nicht wahr? Was wollten Sie noch von mir wissen, Fräulein, pardon: Frau...?«
»Dobler.«
Wachsweich und mädchenhaft war sie jetzt und schien an seinen Lippen zu hängen, dankbar für jedes anerkennende Wort.
»Ich wollte nur fragen… dann darf ich Sie ebenfalls mit ›Schorsch‹ B. Mayer ansprechen?«
»Sie dürfen nicht nur, ich bitte darum«, sagte er versöhnlich. »Tun Sie mir aber trotzdem den Gefallen, nicht zu sehr auf Persönlichem zu bestehen. Schauen Sie: Was ich bin, bin ich durch jene geworden, die mich zunächst gefördert haben, und dann vor allem durch all jene, mit denen ich auf künstlerischer Ebene zusammengearbeitet habe.«
Sie atmete auf. Das Stichwort! Endlich! Sie strich mechanisch über Schläfe und Haar.
»Und da gab es einige. Die Liste der Namen, mit denen Sie zusammengearbeitet haben, liest sich wie ein Lexikon der bedeutendsten Persönlichkeiten nicht nur des deutschen Nachkriegsfilms.«
»Danke. Aber Sie übertreiben.«
Sie verneinte energisch.
»Ihre Karriere beginnt mit der Stunde Null. Doch bereits um Ihren ersten Film ranken sich Legenden.«
Der Alte spielte den Ahnungslosen.
»Legenden?«
»Es geht das Gerücht, dass Sie aus den Studios in Geiselgasteig einige Meter Film auf nicht eben korrektem Wege, nun, sagen wir...«
Georg B. Mayer half schmunzelnd aus: »Sagen wir doch einfach: Ich habe das Material sichergestellt, um dem deutschen Film wieder auf die Beine zu helfen. Und, schauen Sie, Frau Dobler – was war in diesen Zeiten schon korrekt? Der Schwarzmarkt war verboten, und trotzdem hat damals fast ganz Deutschland davon gelebt. Einigen wir uns darauf, dass ich nie untalentiert beim Beschaffen der notwendigen Mittel war? Einverstanden?«
»Einverstanden.« Sie lächelte komplizenhaft. »Ihr erster Film ›Nacht über den Städten‹ wurde sofort ein aufsehenerregender Erfolg. Sie waren zu diesem Zeitpunkt jedoch erst, korrigieren Sie mich, sechsundzwanzig Jahre alt.«
»Richtig. Ich habe eben früh gewusst, was ich wollte, nicht wahr?«
»Es gab damals noch keine Filmhochschulen oder Vergleichbares.«
»Nein«, bestätigte der Alte und fügte spitz hinzu: »Vielleicht war gerade das mein Glück?«
Marcella Dobler dachte kurz daran, dass sie sich im vergangenen Jahr bei mehreren Filmhochschulen vergeblich beworben hatte und seit Tagen auf eine Nachricht aus Berlin wartete, lächelte aber pflichtschuldig.
»Meine Frage wäre gewesen: Woher hatten Sie Ihr Wissen, Ihr Können? Welche Vorbilder hatten Sie?«
»Nun, mit Vorbildern war es damals so eine Sache, wie wir wissen. Jemand wie Veit Harlan eignete sich jedenfalls kaum dazu, bei all seinen künstlerischen Meriten.«
Schorsch B. Mayer warf ihr einen forschenden Blick zu und richtete sich im Sessel auf, als er keine Reaktion in ihrem Gesicht feststellen konnte. Vermutlich sagte ihr der Name nichts.
»Nein. Ich war immer auch neugierig darauf, was hinter dem Zaun vor sich ging. Der amerikanische und der französische Film haben mich damals weit mehr interessiert als das, was sich Goebbels in seinem kranken Gehirn zusammenphantasierte.«
»Man konnte in dieser Zeit noch ausländische Filme sehen?«
Der alte Produzent lachte.
»Was dachten Sie? Bis weit in die Vierziger. Auch wenn die Amis gegen uns Krieg führten – Geschäft war Geschäft. Das ging soweit, dass sich noch Anfang der Vierziger ein amerikanischer Produzent um die Rechte an ›Mein Kampf‹ bemüht hat.«
Wieder genoss er ihr ungläubiges Staunen.
»Tatsächlich?«
»Was wundert Sie daran? Das Buch war schließlich ein Bestseller. Glücklicherweise ist aus der Sache wie aus seinem Helden nichts geworden. Sagen Sie, haben wir nicht noch andere Themen? Angenehmere, meine ich?«
Wieder färbte eine leichte Röte ihre Wangen. Sie sah auf ihre Notizen.
»Sie stammen aus einem kleinen Dorf in den bayerischen Alpen, kommen aus einfachen Verhältnissen...«
»Einfach, aber ehrlich.«
»…in denen Ihnen Ihre Karriere nicht in die Wiege gelegt worden ist. Wie kam es dennoch dazu? Wie kamen Sie zum Film?«
Georg B. Mayer wiederholte die Frage seufzend. »Eine kleine Anekdote gefällig?«
Die junge Journalistin nickte begeistert.
»Ich war knapp zwölf, da wurden in der Nähe meines Heimatdorfes einige Szenen von ›Der Rebell‹ gedreht...«
»Trenker?«, riet sie.
Er nickte anerkennend.
»Sie erinnern sich an die Steinschlag-Szene? Die aufständischen Tiroler hatten tonnenschwere Steinlawinen ausgelöst, die auf die Besatzungssoldaten gedonnert waren. Eine beeindruckende Szene. Was niemand weiß, ist, dass damals aufgrund eines Signalfehlers die Lawine zum falschen Zeitpunkt losging, als sich nämlich noch die meisten Komparsen in der Schlucht befanden. Trenker hat natürlich weiterdrehen lassen. Es war Glück, dass es nicht zu einer Katastrophe gekommen ist. Aber einer der Komparsen war ich, und einer der Brocken ist nur einen halben Meter neben mir eingeschlagen.«
»Furchtbar«, hauchte die Dobler.