Der Yama-Baum und andere Geschichten - J. M. G. Le Clézio - E-Book

Der Yama-Baum und andere Geschichten E-Book

J. M. G. Le Clézio

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Beschreibung

Eine Eloge auf die Stärke der Frauen und ein Appell an die Menschlichkeit: das neue Buch des Nobelpreisträgers Im Mittelpunkt der Erzählungen stehen Menschen, meistens Frauen, die in existenziellen Krisensituationen, seien sie privater oder politischer Natur, Mensch und menschlich bleiben, indem sie sich auf das Ursprüngliche in sich selbst besinnen: mit geschärften Sinnen durchs Leben zu gehen und sich nicht korrumpieren zu lassen.»Bis wohin sind wir bereit zu gehen? Bis zu welchem Punkt sind wir lebendig?« Diesen Fragen geht J.M.G. Le Clézio in seinem ersten Buch seit der Verleihung des Nobelpreises nach. Die Heldinnen seiner Erzählungen durchleben private Krisen wie Ujine, die in einer komplizierten Liebesbeziehung schwanger wird, fast daran verzweifelt und dennoch die Stärke aufbringt, sich den Widrigkeiten des Lebens entgegenzustellen. Oder Fatou von der Insel La Gorée, deren Liebe allein stark genug ist, um ihren Verlobten zu suchen, zu finden, einen Lebenstraum zu begraben und eine neue Realität zu leben. Oder Mari, die in den Wirren des Bürgerkriegs in Liberia ihre Schulfreundin quer durchs Land in ein sicheres Versteck führt. Gemeinsam ist ihnen und allen anderen Figuren in Le Clézios meisterhaften Erzählungen ein fast mystisches Einfühlungsvermögen in die Kraft des Ursprünglichen, eine Erdverbundenheit und Vitalität, die sie in Krisensituationen über sich hinauswachsen lässt. Le Clézio gelingt es auf unnachahmliche Weise, jene intensiven Momente einzufangen, in denen der Mensch ganz auf sich zurückgeworfen scheint.

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Seitenzahl: 416

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J. M. G. Le Clézio

Der Yama-Baum und andere Geschichten

Aus dem Französischen von Uli Wittmann

Kurzübersicht

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> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über J. M. G. Le Clézio

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Inhaltsverzeichnis

Die Geschichte vom FußEinsZweiDreiEpilogBarsa oder barsaqKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Der Yama-BaumL.E.L., Die letzten TageKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Unser Leben als SpinnenHeimliche LiebeGlückKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5YoNiemandEin approximativer Apolog
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Die Geschichte vom Fuß

Eins

Eine ebene, weiche, in der Mitte gekrümmte, aber nicht ganz hohle Oberfläche.

Ein wenig faltig.

Im Liegen länglich, im Stehen vertikal in der Sonne ruhend, nicht weit vom Meer. Warum krümmen sich die fünf Zehen beider Füße? Sie krümmen sich zwar nicht richtig, sondern sind eher gestreckt, nach oben gerichtet, gespreizt, so wie man einen Fächer öffnet. Vermutlich wegen des Eindrucks von Kälte, der sich bewegenden Masse des Meeres, das auf den Strand brandet, aber nicht wegen des Rauschens des Meeres (können die Füße es hören?), sondern wegen der Brise des Seewinds, der Brise, die aus den Tiefen des Horizonts kommt, bei Flut über die Küste weht, über die junge Frau im Bikini gleitet, alle Härchen auf ihren Beinen aufrichtet, ihre Haut kühl liebkost, den mit einem grünen Piercing verzierten Bauchnabel, die Brüste in dem Oberteil aus Dreiecken, den in den Nacken geneigten Kopf, das völlig entspannte Gesicht mit den hinter den geschlossenen Lidern verdrehten Augen, das zerzauste, flatternde Haar, das ihr Gesicht fast verbirgt, und die wirre, von den anderen losgelöste Strähne, die über den Nasenansatz zwischen den Augen von einer Wange auf die andere weht.

 

Der Fuß dagegen kennt keine Entspannung. Er bleibt aufgerichtet, vor Wind und Meer, als überwache er etwas, als wehre er sich. Doch wogegen oder gegen wen? Alle Muskeln und alle Sehnen sind bereit, angespannt und nicht gelockert. Die Fußsohle sieht aus, als sei sie schlaff. Doch im Inneren sind die Nerven angespannt, die Knöchel und Knorpel an ihrem Platz. Sie kennen keine Ruhe. Keinen Schlaf.

Es ist eine lange Geschichte. Sie hat sechsundzwanzig Jahre zuvor begonnen, als Ujine auf die Welt gekommen ist. Noch so zart, als schwämme sie im Wasser. Die Fußsohlen und Handflächen sind ganz zerknittert, gerötet. Die Finger, die die Mutter sogleich gezählt hat, um sicher zu sein, dass nicht einer fehlt oder einer zu viel da ist, sind sehr gelenkig. Der große Zeh, an dem Ujine lutscht, um einzuschlafen, das vor dem Gesicht angewinkelte Bein, die Arme um die Schenkel, wie eine Art Knoten aus molligem, weichem, sehr warmem, lebendigem rosa Fleisch. Das war vor langer Zeit. Heute weiß Ujine nicht mehr, wie ihr großer Zeh schmeckt, das ist in weite Ferne gerückt, ihr fremd geworden. Anders. Höchstens noch eine Erinnerung ihrer Mutter, die eines Tages zu ihr gesagt hat: »Du hattest Ähnlichkeit mit Krishnas Bruder Balarama, der auf seinem Lotusblatt im Wasser der Flüsse sitzt und an seinem großen Zeh lutscht.« Heute lebt ihre Mutter nicht mehr. Die Erinnerung an sie lässt sie an eine vergangene Zeit denken. Das nennt man vermutlich Einsamkeit.

 

Um es herauszufinden, hat sie ihren Freund Marc gebeten, ihren großen Zeh in den Mund zu nehmen. »Wie schmeckt er?« Marc ist in sie verliebt. Er mag gern seltsame Geschichten, Ausbrüche aus dem alltäglichen Leben. »Er schmeckt nach Milch«, hat er nach kurzer Überlegung gesagt, und dabei lag ein lachender Ausdruck in seinen Augen. Er wollte alle ihre Körperteile kosten, aber Ujine weigerte sich. Sie zog den großen Zeh zurück. »Du bist richtig pervers«, hat sie gesagt. Doch sie wollte ihm nicht sagen, wieso. »Du hast mich doch darum gebeten.« Ujine legte ihm die Hand auf den Mund. »Küss mich lieber, das ist besser!«

Das nennt man also Einsamkeit. Allein zu sein wie ein großer Zeh. Selbstverständlich sind die anderen Zehen noch da, die beiden Füße. Aber das macht ihre Einsamkeit nicht erträglicher. Ohne etwas zu sehen, ohne ein Wort zu sagen. So weit entfernt vom Mund. So weit entfernt von der Seele.

 

Der Boden. Der Flur ist endlos lang, mit schwarz-weißen Mosaiksteinen gefliest und führt zu einer Betontreppe. Zementfliesen. Ein Material, das schon seit Langem nicht mehr benutzt wird und aus Spanien importiert wurde: winzige Steinwürfel in allen Farben, die lange mit einer elektrischen Schleifscheibe poliert werden, bis sie diese glatte, kalte Oberfläche erhalten, und dann krümmen sich die nackten Füße zusammen, bilden Bögen, gehen auf den Seiten, auf den Fersen, um den Kontakt mit diesem einst mit scharfen Kanten versehenen Stein zu vermeiden, die durch das Polieren nicht gänzlich abgeschliffen worden sind.

»Du gehst wie ein Pinguin!«

»Ujine, halt dich aufrecht, nun geh endlich normal!«

»Die Kleine hat Plattfüße, wir müssen mit ihr zum Orthopäden gehen.«

Plattfüße. Zu lang, eingesunken, Füße, denen die Wölbung fehlt. Knabenfüße. Kuhfüße, sagten die Mädchen in der Schule. Man musste folglich korrektive Maßnahmen ergreifen, sie bestrafen. Sie in metallverstärkte Stiefeletten zwängen, Übungen mit ihnen machen, sie bezwingen. Eins und zwei. Eins und zwei.

»Auf die Spitze, Ujine, auf die Spitze!«

Der Boden des großen Tanzsaals aus lackierten Dielen mit glatter, weicher Oberfläche, und der Schmerz, der wie eine Klinge in die Zehen dringt, sie bezwingt, zusammendrückt, in den Sehnen brennt, die Beine hinaufkriecht, bis in die Hüften, bis in die Leiste.

»Ich kann nicht mehr, Madame, es tut zu weh.«

»Ach was, nur kein Selbstmitleid, Mademoiselle. Eins und zwei. Eins und zwei.«

Und der lange Stock der Tanzlehrerin, der ihren Po berührt, ihren Rücken berührt, nur so eben, ganz leicht, und die Füße bekommen einen elektrischen Schlag, der sie mit einem Satz nach vorn wirft, sie fliegen lässt!

Rennen. Nach langen Jahren, rennen. Am Strand mit feinem Sand in der Bretagne, der Strandmeile, wie er hier genannt wird, auf dem vom Wind und von der Ebbe gehärteten Sand, immer schneller rennen, dabei über Tang und die grauen Flecken der gestrandeten Quallen springen, immer weiter rennen, die Füße fliegen über den Strand, treten in Pfützen und verspritzen dabei warme, salzige Wassertropfen.

»Ujine! U-ji-ne, komm zurück!«

Mit sechzehn Jahren frei sein. Mit den Füßen stampfen, losstürmen, für ein paar Sekunden fliegen. Tanzen, springen. Als werfe der Boden die Schläge zurück, hier, wo auch immer. Auf dem Zementboden der Bürgersteige, auf dem Asphalt der Straßen. Die runden Polster unter den Zehen, die Kissen aus geschmeidiger, straffer Haut, die weichen, runden Fersen wie abgeschliffene Kiesel, und die empfindlichen Sehnen unter der Haut, diese Seite des Lebens, des Seins, die immer auf dem Boden ist, in ständigem Kontakt mit der Erde, auf der das ganze Gewicht des Daseins ruht, die vierundachtzig Pfund einer Frau, in ihrem Jackenkleid, das sie bei der Arbeit trägt, in ihrem anthrazitfarbenen dreiteiligen Kostüm, in der Halle, in der sie ihren Job als Hostess ausübt, auf der Messe für Konfektionskleidung oder der Pferdemesse, auf der Messe für Herzschrittmacher, medizinische Fachliteratur oder Reiseveranstalter …

»Sie dürfen ausschließlich Pumps tragen.«

»Weder Turnschuhe noch Ballerinas.«

»Geschlossene Schuhe.«

Das Gelächter der anderen Mädchen und auch ihre Klagen: »Meine Füße, meine armen Füße!«

»Sie bringen mich um!«

»Sie sind völlig gefühllos geworden.«

»Ich habe den Eindruck, als trüge ich Holzschuhe.«

Und danach ein heißes Bad zur Beruhigung, zum Aufweichen, um schlafen und vergessen zu können, die Zehen aufgerichtet hinten in der Badewanne, zehn kleine Inseln, die in einem Meer aus Schaum schwimmen, eine Familie kleiner Enten. Wie damals, als sie noch ganz klein war, die Stimme ihrer Mutter, die sie immer wieder zählt: »Eins, zwei, drei, vier, fünf … und zehn! Und zehn!« Und dabei hält sie den letzten wie mit einer Zange fest, das kleine rosafarbene Stück mit dem winzigen Nagel aus Perlmutt.

 

Vorwärts, immer vorwärts.

Mit der Schuhsohle den Boden berühren und das Gewicht auf den winzigen Absatz verlagern. Das muss erlernt werden. Das erste Mal, vor langer Zeit, war Ujine noch klein. Sie hatte die viel zu großen Schuhe ihrer Mutter angezogen, es war, als liefe sie in Schachteln. Sie tat das, um das Geräusch zu hören, das Klack-Klack auf dem Fußboden im Wohnzimmer, und den Beifall und das Gelächter von Mama, Tante Annie, Opa Robert, Opa Dany und Onkel Jacques. Ihr Gelächter, ihre Kommentare. »Eine richtige kleine Frau!« – »Hast du auch gesehen, was für eine Figur sie dadurch bekommt!« – »Das ist unglaublich, sofort wird sie zu einem richtigen Weibsbild mit Hohlkreuz und herausgestrecktem Hintern!«

Aber das wirklich erste Mal fand viel später statt, bei einem Fest, vielleicht einer Hochzeit. Ein großer, lärmender Saal, ein Fußboden aus versiegeltem Parkett, eine Veranda, ein mit Girlanden und Topfpflanzen geschmückter Wintergarten, in der Luft schwebte ein Wohlgeruch, irgendwo spielte ein Orchester Foxtrotts, Mambos, Cha-Cha-Chas. Ujine zog ihre festen Lederpumps an, trotz der Kühle des Frühlings trug sie keine Strümpfe.

Es war das erste Mal, sie hatte den Eindruck, als schwebe sie, sie war größer als die Mehrzahl der Männer, schlanker, überragte die meisten, die Absätze waren bestimmt zwölf Zentimeter hoch, plötzlich war der Boden ganz fern und leicht, anfangs berührte sie ihn mit der Fußspitze und wartete noch auf den Kontakt mit den Absätzen, dem einen, dann dem anderen. Sie tanzte. Dann flogen ihre Füße geradezu über das Parkett, getragen vom Rhythmus der Musik, die Absätze hämmerten auf den Boden, dienten als Stützen, um sich zu drehen, alles war einfach und schnell geworden.

»Sie tanzen aber gut, Mademoiselle.« – »Gehen Sie oft in die Disco?« Nach diesem Ereignis war sie oft in die Disco gegangen, jedes Wochenende, und während der Ferien sogar jeden Abend. Das Abitur war in weite Ferne gerückt. Das hier war wichtiger, dringender, dieses Abenteuer, mit dem das richtige Leben für sie begann, das sie zu einer Frau werden ließ, einer richtigen Frau, nicht mehr das schüchterne, abhängige Kind. Kein Tango und kein Foxtrott, es waren ausgelassene, wilde Tänze, zum Beat der Bassgitarre und des Schlagzeugs, einem mechanischen, beklemmenden, gedrängten Rhythmus, fast wie der Herzrhythmus, der in den Adern pocht. Das Blut pulsierte von unten nach oben, gepresst von den Sehnen, von den Muskeln der Waden und der Schenkel. Das Blut stieg in den Kopf, den so weit entfernten Kopf, entflammte die Wangen, berauschte das Hirn. Aber es war das Blut, das vom Boden kam, von der schimmernden Tanzfläche, das Blut aus den Fußsohlen, der schwingende Boden, der gegen ihre Füße schlug, die verborgene Musik, die sich mit dumpfen Schlägen in ihrem ganzen Körper ausdehnte. »Du bist hübsch, du tanzt wie ein Profi, du ziehst die Männer magnetisch an, sieh nur, alle sind scharf auf dich, wenn du tanzt!« Sie hörte nicht zu. Sie wollte nicht, dass sie ihr zu nahekamen. In der Disco näherten sich die jungen Männer immer von hinten, bis deren Körper in Berührung mit ihr kam, sie streifte, das war Teil des Spiels, sie holten sich an ihrem Hintern einen runter. Sie hatte einen Horror davor, stieß sie mit einem Schlag ihrer flachen Hand auf die Brust zurück, sie spürte den Schweiß, der ihr T-Shirt tränkte. Es waren erbärmliche, geile Typen, die für einen Moment zurückwichen wie ängstliche kleine Hunde, dann kamen sie wieder.

Ihre Beine waren nackt, all ihre Muskeln angespannt, ihr Bauch straff, das apfelgrüne Piercing in ihrem Bauchnabel hatte die gleiche Farbe wie ihre Augen. Sie kehrte gegen vier Uhr morgens heim, erschöpft, erregt, wie elektrisiert, warf sich aufs Bett, ohne sich zu entkleiden, um vier Stunden zu schlafen vor dem Unterricht in der Uni, sie hatte morgens einen Psychologie-Kurs, dann commercial English, Mathematik oder was auch immer, sie dachte nicht einmal daran. Ihre schmerzenden Fußsohlen waren nicht mehr eingezwängt, ihre Zehen entspannt, die Musik bebte noch in ihr, ein Zittern in den Fasern, ein elektrisches Flimmern, das nicht erstarb, und all das glitt davon, verflüchtigte sich durch die harte Haut ihrer Fersen, durch die Glieder ihrer Finger, durch die Nägel.

Es war das Jahr, in dem ihre Mutter nach knapp dreimonatigem Leiden im Krankenhaus an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben war. Sie war auf dem kleinen Friedhof in Villejuif beigesetzt worden, doch da sie Buddhistin war, hatte man ihre Leiche zuvor in einem Krematorium eingeäschert. Ihr Vater war auf Weltreise gegangen und nie zurückgekehrt.

 

Ujine konnte nicht mehr auf sie verzichten. Auf die Zehenspitzen gestützt, verstand sie es, in diesen Schuhen mit ihren zwölf Zentimeter hohen Absätzen zu rennen, zu springen, zu gehen oder zu warten. Sie konnte alles, ja alles darin tun. Ben, mit dem sie zu jener Zeit gerade ging, machte sich ein bisschen über sie lustig. »Wie macht ihr Weiber das bloß, das Gleichgewicht darauf zu behalten?« Er trug tagein, tagaus dieselben rot-weißen Turnschuhe, die aussahen wie die Stiefel eines Taucheranzugs. Er reichte ihr nur bis an die Schultern. »Das ist genau das, was wir Weiber, wie du sagst, am besten können, wusstest du das nicht?«

In der Metro, wie immer zu spät dran für die Kurse, zu spät dran für ihren Job in der Ambassador-Lounge im Flughafen, um die Firmenchefs, die Parfüm- oder Kosmetikhersteller zu empfangen. Sie lief die Treppen hinab, eilte sie in großen Sprüngen hinauf, die Absätze auf die Vorderkante gestemmt, sie rannte über die nassen Pflastersteine, über rissige Fahrbahnen, über den steinigen Boden von Baustellen. Aber sie hasste weiche Teppiche, manchmal verfingen sich ihre Absätze in Gitterrosten, und Terrassen aus Lattenrosten waren für sie ein Albtraum. Die Arbeitgeber waren nachsichtig mit ihr, sie mochten sie gern, weil sie ein eurasisches Aussehen hatte mit hellem Haar, mandelförmigen Augen und weil sie schlank wie eine Liane war, das machte sich auf Messen gut, sie sagten, die schwarzen, hautengen Kleider ständen ihr sehr gut. »Was glaubst du wohl, weshalb wir dich anstellen, hm? Weil du hübsch bist, natürlich, aber das ist kein Grund, zu spät zu kommen.«

 

Jeden Morgen. Aufstehen, die Fußsohle auf den kalten Kachelboden setzen. Nach dem Schlaf (der Liebe, dem Traum). »Guten Morgen!« Die Überraschung über den ersten Kontakt. Die zusammengekrümmten Zehen auf dem Pflaster. Gehen. »Du läufst auf den Fersen!« Die Worte dieser alten Frau, einer alten Jungfer vermutlich. Es war Ujines erste eigene Wohnung, eine Einzimmerwohnung im fünften Stock ohne Aufzug, die Freiheit war so schön und berauschend, sie brauchte niemandem mehr zu antworten, nicht mehr die Sticheleien ihres Bruders, die Vorwürfe ihres Vaters zu ertragen. Aber die Alte im vierten Stock, direkt unter ihr – eine missmutige, schlampig gekleidete, sexuell frustrierte Französischlehrerin. Sie lauerte Ujine hinter der Tür auf, und wenn sie vorbeikam, versperrte sie ihr den Weg mit ihrem mageren Arm, fasste sie mit ihren kalten Fingerspitzen an und herrschte sie an. »Einen Augenblick, Mademoiselle!« Obwohl sie klein und dünn war, wirkte sie angsteinflößend mit ihrem rötlich gefärbten Haar und ihren grauen Augen, die Fieberbläschen glichen. »Ich habe Ihnen etwas zu sagen.« Schon seit Jahren hatte Ujine keine Angst mehr vor einer Lehrerin gehabt, sie dachte vermutlich an Mademoiselle Doux zurück, die im Gegensatz zu dem, was ihr Name besagte, keineswegs sanft, sondern bösartig, hinterlistig und gehässig war, ihre Rügen, ihre Schläge mit dem Lineal auf die Finger, ihre krummen Finger, mit denen sie an den Haaren der kleinen Mädchen zerrte und sie ganz langsam ausriss, und wenn Mademoiselle Doux sie weinen hörte, lachte sie mit ihrer Mäusestimme: »Ai! Ai! Ai!«

»Mademoiselle, wissen Sie, dass Sie auf Ihren Absätzen laufen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Wenn man Sie so sieht, Mademoiselle, möchte man meinen, Sie seien federleicht, eine richtige Sylphide, ta, ta, mit leichten Flügeln, psch, psch! Aber wenn man unter ihnen wohnt, bumm, bumm, dann werden Sie zu einem Elefanten! Mit den Absätzen zuerst und dann kräftig stampfen! Kräftig trampeln, als hätten Sie einen Pflug an den Füßen!« Ujine floh, rannte die Treppe in großen Sprüngen hinab, das Geländer bebte, und Mademoiselle Doux’ schrille Stimme verfolgte sie, holte sie ein: »Die Absätze! Sie laufen auf den Absätzen! Auf den Absätzen!«

Und so musste Ujine barfuß leben, selbst die Flipflops machten Lärm. Langsam die Fußsohle abrollen lassen, zunächst die Zehen und dann sanft die Ferse aufsetzen, ganz sanft!

 

Die Liebe kam ganz unerwartet, unverhofft.

Sie hatte Samuel kennengelernt, als sie schon nicht mehr an die Liebe glaubte. Es war gar nicht so einfach gewesen. Er hatte nicht die gleichen Vorlieben wie sie, ging nicht in Sushi Bars, Discos, Restaurants. Er tanzte nicht. Hatte nichts für Karaoke übrig. Er liebte einfache Dinge, wie er das nannte. Spaziergänge an Flüssen, auf Treidelpfaden. Ins Schwimmbad gehen, aber abends, wenn keine Kinder mehr da waren. Er mochte vor allem ein Hallenbad im Stil der Belle Époque, mit grünen, statt blauen Kacheln und mit kleinen Loggien, die mit Mosaiken von Lotusblüten verziert waren. Der Charme des Altmodischen.

Dort fanden ihre ersten Rendezvous statt. Sie sollte nie den Kontakt mit den kalten, feuchten Fliesen vergessen, das schmierige Fußbecken, die Stufen der halbkreisförmigen Treppe, die in das kalte Wasser führte. Es war im Juni, zu Beginn des Sommers. Draußen war es schwül, es regnete. Das Wasser rann über das Glasdach, die Lampen auf den Betonstreben sahen aus wie Sterne. Neun Sterne, sie hatte sie gezählt, während sie auf dem Rücken schwamm, halb taub von der Badehaube aus Gummi (»Das ist hier vorgeschrieben«, hatte Samuel gesagt, »die nehmen es mit der Hygiene sehr genau.«). Samuel übertrat nie ein Verbot, er hielt alle Vorschriften genau ein. Das war seine Art. Zu Beginn war er äußerst zuvorkommend gewesen. »Entschuldigen Sie, Mademoiselle …« Er entschuldigte sich für alles. Wenn er ihre Hand ergriff, ihren Busen streifte. Wenn er ihr persönliche Fragen stellte oder nicht auf eine Frage antwortete. »Entschuldigen Sie, aber darüber kann ich jetzt noch nicht reden.« Er hatte mit zwanzig eine Freundin gehabt. Das hatte er ihr gestanden und dabei den Blick abgewandt. »Vielleicht ist er ja schwul.« Das hatte Mado gesagt, eine Arbeitskollegin. Darüber hatten sie laut gelacht. Er hatte sehr große, sehr lange Füße. Und er war so groß, zwei Meter? Ujine hatte schon immer eine Vorliebe für große Männer gehabt. Lange, schlanke Füße, der mittlere Zeh, der länger war als alle anderen, nannte man das nicht einen ägyptischen Fuß? Ujine hatte sich sofort in seine Füße verliebt. Davon wusste er natürlich nichts. Ujine wäre lieber in der Erde versunken, als so etwas Dummes einzugestehen. Vor allem da sie ihre eigenen Füße hasste, ihre zu flache Form, ihre blasse Farbe und die pummligen Zehen. Sie erinnerte sich noch, als das erste Mal darüber gesprochen worden war. Sie war gemeinsam mit anderen Mädchen in einem Ferienlager am Ufer eines Flusses gewesen, es war im Sommer, es war heiß, niemand hatte einen Badeanzug, sie hatte die Hosenbeine hochgezogen, um das kalte Wasser über ihre Beine rinnen zu lassen. Die Betreuerin war hinzugekommen. Sie hatte zu Ujine gesagt: »Na, du Kleine mit den dicken Zehen!« Ujine hatte eine oder zwei Minuten gebraucht, ehe sie begriff, aber die anderen Mädchen waren schneller gewesen und wiederholten: »Die Kleine mit den dicken Zehen! Die Kleine mit den dicken Zehen!« Weshalb hatte sie das nicht vergessen? Sie hatte versucht, dagegen anzukämpfen. Sie hatte Sandalen mit geschlossener Spitze getragen, Socken, sie trug nie Schlappen oder Flipflops, sie sagte, das tut mir weh, davon kriege ich Blasen. Dann hatte sie sich angewöhnt, die Zehennägel knallrot zu lackieren. Da ich schon mal dicke Zehen habe, soll jeder das sofort sehen! Und inzwischen war ihr das egal geworden.

Samuel hatte sich nach dem ersten Kuss entschuldigt. Er hatte sich entschuldigt, nachdem er mit ihr geschlafen hatte. Anstatt wie die anderen zu fragen: »War das gut?«, hatte er schüchtern gefragt: »Habe ich dir auch nicht wehgetan?« Das war lächerlich, aber Ujine war gerührt. Alles war mit ihm so anders.

Später hatte sie plötzlich eine Erkenntnis: »Er hat ja richtige Künstlerfüße!« Vielleicht erklärte das alles – so wie man von einem Pianisten sagen konnte, das ist durchaus normal, seine Hände sind wie geschaffen zum Klavierspielen. Der Gedanke hatte sie zum Lächeln gebracht.

Die matte, braune Farbe seiner Haut, die fast gänzlich unbehaart war. Sie hasste Männer, die behaarte Zehen, behaarte Füße oder behaarte Arme hatten. Das war unentschuldbar! Das war eine lächerliche Vorstellung von Männlichkeit. Samuel dagegen war sehr männlich, er war groß und stark und sanft, hatte kräftige Beine, auf denen er fest wie eine Statue stand, war langsam und ruhig, überragte die Menge um einen ganzen Kopf, beugte sich immer etwas hinab, um zuzuhören, redete nicht viel. Er geriet nie in Wut. Bis auf das eine Mal an seiner Arbeitsstelle in der Bank mit einem griesgrämigen, jähzornigen Vorgesetzten, der neidisch auf Samuel war und ihn nicht ausstehen konnte. Samuel machte sich nichts daraus. Er ließ ihn gewähren, hatte nur ein leichtes, spöttisches Lächeln auf den Lippen, das zu sagen schien, mach ruhig so weiter, du kannst mich nicht beeindrucken. Doch eines Tages hatte der Mann eine der Büroangestellten, ein etwas langsames Mädchen, angeschnauzt und sie beleidigt, sodass das Mädchen in Tränen ausbrach, und Samuel hatte sich eingeschaltet. »So können Sie doch mit ihr nicht reden!« Gleich darauf wurde er in das Büro seines Vorgesetzten beordert. Der Mann saß hinter einem riesigen Schreibtisch in seinem Direktorensessel und hatte Samuel mit einer Handbewegung aufgefordert sich zu setzen, aber nicht auf einen x-beliebigen, sondern einen besonders niedrigen Stuhl, einen Hocker knapp über dem Boden. Ohne zu gehorchen war Samuel stehen geblieben, und schließlich hatte der Vorgesetzte die Fassung verloren und war auf ihn zugegangen, hatte die kurzen Arme drohend ein wenig ausgebreitet, mit einem seltsamen Zucken in den Schultern, als bemühe er sich, größer zu erscheinen, er stand da auf seinen kleinen Füßen und reichte trotz seiner hohen Absätze Samuel nur bis an die Brust. Er hatte ein paar Sätze gestottert und wusste dann nicht mehr, was er sagen sollte. Er beendete das Gespräch mit den Worten: »Das ist alles für heute.«

Samuel erzählte Ujine die Szene und hatte dabei ein etwas selbstgefälliges, triumphierendes Lächeln aufgesetzt. Es war witzig, dachte sie, ihn in dieser stolzen Haltung zu ertappen, als verleihe ihm seine Körpergröße Überlegenheit über andere und als sei das ein persönliches Verdienst. Zugleich war sie beruhigt, mit ihm zusammen zu sein, mit jemandem, der so groß war und vor niemandem Angst hatte. Und jemandem, der so unkompliziert war. Sie war so klein, so schwach, selbst das Gewicht ihres Kopfes fand sie zu schwer zu tragen! Dennoch konnte sie sich das Vergnügen nicht verkneifen, ihn zu necken: »Das ist aber romantisch! Ein Mann, der ein armes Mädchen in einer Bank in Schutz nimmt!« Dann fügte sie hinzu: »War sie wenigstens hübsch?« Samuel warf ihr einen eiskalten Blick zu, der besagte, dass er ihren Spott nicht schätzte. Aber sie schmiegte sich an ihn und legte den Kopf auf seine breite Brust. »Hör zu, das war doch nur ein Scherz, ich bin stolz auf dich.« Er brummte: »Diesen Eindruck hatte … aber was soll’s! Du gehst mir auf die Nerven!« Doch sie lauschte dem Pochen seines Herzens, den dumpfen, langsamen Schlägen, ihr kam es vor, als bewege sich das ihre im Vergleich zu diesem großen Herzen ganz schnell, wie ein bimmelndes Glöckchen. Sie dachte sogar, sein Herz gehört mir, es schlägt für mich, aber das war ein Satz, den sie ihm nicht sagen konnte. Das würde er nur ungern hören, denn er wollte ihr weismachen, dass er niemandem gehörte.

 

Sie fühlte sich leichter. Das hätte sie sich nie vorstellen können. Sie kam aus der Jura-Fakultät und ging durch die Stadt, alle beklagten sich, es war heiß, es regnete, die Straßen waren verstopft, auf den Bürgersteigen waren zu viele Leute, die Kurse waren todlangweilig, der Prof für öffentliches Recht las stockend, sein schleppender Tonfall, seine billigen Scherze, die Art, wie er den Kopf beugte, während er mit eintöniger Stimme sein Manuskript vorlas, diese Langeweile, die in der Luft schwebte wie ein schwerer Atem … Ujine dagegen hatte Lust zu rennen, zu tanzen. »Was ist denn mit dir los? Du scheinst ja wirklich in Form zu sein!« Ihre Freundin Micha blickte sie mit sarkastischer Miene an. War das nicht lächerlich? All das wegen eines Mannes, den sie seit knapp sechs Monaten kannte und der in ihr Leben getreten war, ohne dass sie auf der Hut gewesen war, und seit diesem Moment sollte sich alles geändert haben? Keine Langeweile und keine Traurigkeit mehr? Sie wollte Gründe anführen. »Nein, das ist nur die Freude darüber zu existieren, nichts anderes.« – »Das ist aber originell, was ganz Neues! Es gibt also keinen Tod und keine Krankheit mehr, und in der Welt steht alles zum Besten?« – »Nur ein kleiner Moment des Vergessens, sagen wir mal eine Atempause, ein Stimmungsumschwung.« – »Ein egoistisches Glück oder was?« – »Wenn du so willst, wer nicht egoistisch ist, der ist doch blöd.«

Das ließ sich nicht begründen. Der Boden wurde elastisch, hüpfte auf und ab, Millionen kleiner Sprungfedern, Millionen von Blasen, die Gelenke waren warm, ihr Körper wurde von elektrischen Strömen durchlaufen, die durch ihre Beine, ihre Arme fuhren, beim Gehen schloss sie die Hände zur Faust und öffnete sie wieder, um die Freiheit zu spüren, sie lächelte den Leuten zu, die sie für verrückt hielten.

Sie wunderte sich. Das also war die Liebe? Wie ein Strahlenkranz über ihrem Kopf, wie ein unsichtbarer Schutzpanzer, sie fühlte sich sicher, in ihrem Herzen fühlte sie sich unbesiegbar. Wie von Flüssigkeit umgeben, sie tanzte.

Sie ging zu den Verabredungen ohne Hintergedanken. Samuel wollte nichts Festes, nichts genau Definiertes. Er sagte: »Ich ruf dich an, okay?« Aber er hatte ihr nie seine Telefonnummer gegeben. Er sagte, er habe kein Handy, er habe nur eine Nummer im Büro, in der Bank, und es käme nicht infrage, ihn dort anzurufen. Vielleicht versteckte er sich hinter seiner Arbeit, hinter seinen Eltern. Er hatte Ujine ein bisschen von seiner Mutter erzählt, einer empfindlichen Frau, seit der Krankheit seines Vaters hatte sie nur noch ihn. Sie wohnten im selben Haus, im selben Stockwerk. Wenn er abends nicht rechtzeitig heimkehrte, rief sie die Polizei, die Krankenhäuser an. Es war ein bisschen absurd, denn er war fünfunddreißig, aber Ujine war dennoch gerührt von dieser Liebe zu ihrem Sohn. Sie selbst hatte niemanden, ihre Mutter war tot, ihr Vater weiß der Teufel wo, und ihr Bruder irgendwo, nicht an ihr interessiert. Vielleicht fühlte sie sich deshalb so leicht, so frei. Die Liebe war wie ein heftiger Sturm, und sie besaß alle Freiheit, um wie eine Grasharfe zu erklingen, um sich zu drehen wie die Flügel einer Windmühle, um diese Bewegung zu spüren, die sich mitten in ihr ausgelöst hatte, wie ein Schwindelanfall im Inneren des Magens, wie ein Kreisel, der sich vibrierend drehte. Deshalb war der Boden elastisch unter ihren Schritten, war geräuschvoll, gespannt, faltenlos, ohne Mulden.

Die Leute blickten sie jetzt auf der Straße an. Auf der Arbeitsstelle, in der Uni, in den Geschäften spürte sie, wie sie die Blicke anzog. Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie sich geschämt. Sie hätte versucht herauszufinden, was nicht in Ordnung war, hätte sich hinter ihrem Haar versteckt, hätte den Mützenschirm tiefer ins Gesicht gezogen. Aber jetzt eilte sie zu ihrem Rendezvous mit Samuel oder sie dachte einfach ganz stark an ihn, und die Blicke glitten an ihr ab. Sie fühlte sich von einer Aura beschützt, wie im Inneren eines Lichtkreises. Sie sah das Gesicht ihres Geliebten, den Glanz seiner braunen Augen, die Linie seiner Brauen und seiner Nase, die vollkommene Form seiner Lippen.

Sie brauchte sich nicht einmal vorzubereiten. Sie war jederzeit bereit, und wenn ihr Handy vibrierte, das kleine Display aufleuchtete, Nummer unbekannt, dann wusste sie, dass es Samuel war und rannte zu der Straße, in der die Bank war, in das Bistro gegenüber, in dem sich jeden Tag dieselben Stammgäste befanden, alte Schwätzer und von elektronischen Spielen abgestumpfte junge Leute. Sie wartete, und er kam. Er betrat den Raum, blickte sich nach ihr um, und darüber musste sie lächeln, weil er sie nicht sofort erkannte, er war der Einzige, der sie nicht sah, sie musste aufstehen und ihm zuwinken. Er trank hastig einen schwarzen Kaffee, dann brachen sie gemeinsam auf und gingen zu ihr. Er wollte nicht, dass man sie zusammen auf der Straße sah, er blieb ein paar Schritte hinter ihr und redete nicht mit ihr. Sie dachte, dass sie es gern gehabt hätte, wenn er sie an die Hand nähme, sie umschlungen hielte. Aber er hatte ihr seine Regeln aufgezwungen: »Das ist das Viertel, in dem ich arbeite, ich hasse Klatsch und all das, verstehst du?« Anfangs hatte sie das genervt, sie hätte am liebsten bittere Worte geäußert: »Schämst du dich?« Vielleicht hatte sie das sogar gesagt, aber er gab nie nach. Sie fand es gut, dass es Regeln gab und dass er sich nicht gehen ließ wie die anderen jungen Männer, sie hielt das für ein Spiel. Das hatte er übrigens eines Tages mit einem Kompliment zu ihr gesagt: »Du lässt dich gut auf mein Spiel ein.« Ohne zu verstehen warum, hatte sie sich darüber gefreut.

Es war wie ein Wirbel, der sie mitriss. Sie liebte dieses Gefühl der Bewegung so sehr, dass sie den Verlust ihrer Freiheit gar nicht mehr wahrnahm. Weder Ehre noch Selbstachtung waren für sie mehr von Bedeutung. Neben diesem Gefühl war alles andere unwichtig geworden.

Wenn sich ihre Stimmung wegen einer verletzenden Bemerkung, einer geplatzten Verabredung, eines kühlen Schweigens oder sonst einer Bagatelle vorübergehend verdüsterte, hielten sich ihr Körper und ihr Herz nicht damit auf, ihre Füße flogen gleichsam durch die Luft, ließen sie in die Straße rennen, in der die Bank war, bis zu dem Bistro gegenüber, sie legte den Weg von der Uni bis ans andere Ende der Stadt mühelos zurück, ohne eine Atempause einzulegen, ohne das Gewicht der Bücher in ihrer Umhängetasche zu spüren und auch nicht die Kälte, den Regen oder den Durst. Das Handy hatte dreimal vibriert und war dann verstummt, und dieses unschöne, leise Geräusch rief einen Luftzug in ihrem Körper hervor, setzte die Windmühlenflügel wieder in Bewegung.

An manchen Tagen studierte Samuel in dem Bistro die schmutzige Speisekarte und bestellte sich etwas zu essen, einen Thunfischsalat, ein Stück Apfeltorte und immer einen Espresso, er warf Ujine einen fragenden Blick zu, als habe er vergessen, was es dort zu essen gab. Doch sie war weder hungrig noch durstig, sie begnügte sich damit, ihn mit den Blicken zu verschlingen, nährte sich davon, ihn anzusehen, den Lichtkreis, der ihn umgab, das elektrische Flirren in seinem Körper, sein glitzerndes schwarzes Haar, all das, was Samuel als Einziger nicht wahrnahm. So lange, bis ihr übel wurde.

Wenn sie sagte: »Mir ist ein bisschen schlecht«, dann nahm er das wörtlich. »Möchtest du dann lieber nach Hause gehen, um dich auszuruhen?« Sie fasste sich wieder. »Nein, nein, es geht schon.« Die Vorstellung, dass er fortgehen könne, hatte sie schwindlig gemacht.

Ujine hatte etwas getan, dessen sie sich nicht fähig geglaubt hätte. Sie war mehrmals mit Samuel ins Hotel gegangen. Das war schäbig und hässlich. Aber ihm schien es zu gefallen. Er hatte gesagt: »Ich kann nicht mitkommen zu dir.« Ujine hatte nicht gefragt warum. Er hätte ihr sowieso nicht darauf geantwortet. Vielleicht tat er das nur, damit sie wusste, dass es keine Antwort darauf gab.

Wenn sie sich liebten, war er anders. Er war zärtlich, sanft und nett. Sie betrachtete gern seinen großen, unbekleideten Körper, seine dunkle Haut, die Haut eines Mulatten wie die ihre, sie atmete den Geruch seiner Haut ein. Sie hatte den Eindruck, als hätte sie diesen Geruch schon seit jeher gekannt, erwartet, sie sog ihn tief ein, um ihn noch zu spüren, wenn sie nicht mehr zusammen waren, um weiterhin seine Anwesenheit zu spüren und sich davon erfüllen zu lassen. Sogar in den miesen Hotelzimmern (mit einem großen Spiegel vor dem Bett, einem Kondomautomaten, dem Necessaire mit billigem Parfüm, Seife, Hautcreme, Vaseline und Papiertaschentüchern, und dem für den Empfang von Pornokanälen ausgestatteten Fernseher) fing sie für die kommenden Tage und Wochen Glanz, Licht und Schönheit ein, wie um eine lange Reise in die Abwesenheit vorzubereiten.

Und so war das Leben beschwingt und abenteuerlich. Ujine (Samuel nannte sie »Jeans«, weil sie meistens eine Jeans trug, dazu ein weißes Herrenoberhemd und hochhackige Sandalen, er hatte ihr eines Tages gesagt, das sei die Kleidung, die Männer bei Frauen am reizvollsten fänden) wechselte die Haut, wechselte das Blut. Sie hatte bemerkt, dass ihre Füße, die sonst immer wie zwei Eisblöcke gewesen war, plötzlich warm wurden. Sie hatte ihn darauf aufmerksam gemacht: »Sieh mal, ich habe keine kalten Füße mehr!« Das kam ihm nicht ungewöhnlich vor. »Ich auch nicht!« – »Aber du hast schon immer warme Füße gehabt, Männer haben immer warme Füße, und Frauen haben kalte Füße, wusstest du das nicht?« Er zuckte mit den Schultern: »Das ist doch Unsinn, ich kenne Frauen, die warme Füße haben.« Sie hatte ihn unterbrochen: »So? Und wer sind diese Frauen, kannst du mir das verraten?« Sie tat, als würde sie darüber lachen und sich ärgern, doch in Wirklichkeit versetzte ihr das jedes Mal einen Stich, erfüllte sie mit einer Unruhe, die sie aus ihren Träumereien riss, sie in die Wirklichkeit zurückholte und ihr ihre Einsamkeit vor Augen führte. Das also war Eifersucht? Lächerlich!

Doch die Füße der beiden verschränkten sich, und wenn er seine breite muskulöse Fußsohle auf die Innenseite ihres Schenkels legte, bebte sie vor Lust.

Es gab unglaublich lange Momente, nach einer Nacht, in der sie miteinander geschlafen hatten, er mit großer Lust und sogar ein wenig Brutalität, er hatte alle ihre Körperteile berühren und kosten wollen, ohne ein Wort zu sagen, er hatte seinen steifen Penis mit zurückgezogener Vorhaut über ihren ganzen Körper gleiten lassen, und nachdem er ihr seinen Samen auf die Haut gespritzt hatte – er benutzte schon seit einiger Zeit keine Kondome mehr –, war er sofort mit offenem Mund eingeschlafen, er schnarchte sogar ein bisschen wegen seiner großen Nase. Ujine hätte ihn hassen können. Doch sie rollte sich an ihn geschmiegt zusammen, um seine Wärme aufzunehmen, sie tief im Inneren zu horten – das war ihre Nahrung, ihr Hauch – und ließ sich in den Schlaf sinken. Und als sie erwachte, streckte sie als Erstes tastend die Hand aus, um sich zu vergewissern, ob Samuel noch da war. Ohne die Augen zu öffnen, suchte sie nach ihm, legte ihm die Hand auf den Brustkorb und schlief wieder ein.

Und im Schimmer des Morgengrauens blieben sie stumm und regungslos auf der Matratze liegen. Er schlief noch, aber nur in leichtem Schlaf, sie war schon halbwach. Ihre Füße ruhten auf dem Bett, Samuels Füße mit faltiger Sohle und gespreizten Zehen auf der Seite liegend, Ujines dagegen in aufrechter Haltung und gestreckten Zehen, vom Laken befreit, um die Liebkosung des Tageslichts besser zu spüren und die Überraschung der Träume beim Schopf zu fassen. Nichts auf der Welt konnte das Liebespaar stören, nichts konnte es aus dem Schlaf reißen. Es war eine dem Unendlichen entlehnte Zeit ohne Gedanken, ohne Weisheit. Draußen auf den Straßen und Boulevards, die die weiße Stuckfassade des Hotels umgaben, setzte das Dröhnen wieder ein. Die Pressplatten der Müllfahrzeuge quietschten, die Autobusse setzten zischend Druckluft frei, es waren kratzende, knirschende, quietschende Geräusche zu hören, und an der Decke ihres Zimmers spiegelte sich das Aufblinken der Bremslichter wie auf einer Wasseroberfläche wider, und nach und nach ertönte in der Ferne ein leises Summen, das durch die Luftschächte aus der Erde hervordrang, das Geräusch der ersten Vorortbewohner, die in der Stadt eintrafen, die blinden Autos, die sich vortasteten, um einen Parkplatz zu finden. In noch weiterer Ferne, fast unwirklich, etwas wie ein Gesang oder ein Gebet oder ein Radio, das in einer Küche ganz allein wieder zum Leben erweckt wurde, um die Uhrzeit anzugeben. Aber auf den Matratzen blieben die Füße noch eine Weile ruhig, ein bisschen majestätisch, weiß wie Mamorstatuen, so nah am Tod.

Zwei

Sie wurde es nie leid. Sie war unentwegt in Angst und Sorge, zu allem bereit.

»Ich fürchte, du rangierst bei ihm unter ferner liefen«, hatte ihre Freundin Rita zu ihr gesagt, als sie aus der Uni gingen. Darüber musste sie lachen. Genau genommen war das tatsächlich so, dachte Ujine, zumindest wenn man es wörtlich nahm. Denn Samuel zwang sie dazu, jeden Tag von einem Ort zum anderen zu laufen, um alle Bruchstücke ihres Lebens zu vereinen, von ihrer Wohnung zur Uni, von der Uni zu der Straße, in der die Bank war, von dort zum Hotel (meistens in das Hotel, das den Namen Merbeau trug, warum, das konnte man nur erraten), und wenn Samuel dann zu seinen Eltern zurückkehrte, lief Ujine ziellos durch die Stadt, wohin die Füße sie trugen, möglichst weit weg, in unmögliche Viertel, heruntergekommene, finstere, gefährliche Gegenden. Aber sie hatte vor nichts Angst, sie hatte nur den Drang, draußen zu sein, ständig in Bewegung zu bleiben und durch die von Lichtern, Blitzen und Neonreklamen durchzuckte Nacht zu laufen.

 

In jenem Sommer spürte sie etwas Seltsames, Ungewohntes. Eine zunehmende Leere, die sich in ihr ausbreitete. Das war seltsam, weil sie seit ein paar Tagen wusste, dass sie schwanger war. Sie wusste sogar genau, wann es passiert war, sie hatten mit dem Auto einen Ausflug aufs Land gemacht, waren lange auf einem sandigen Weg zwischen Feldern mit Eulaliagras gefahren, und als die Dunkelheit anbrach, hatten sie sich im Auto geliebt, und sie hatte festgestellt, dass sie ihre Schachtel mit den Kondomen vergessen hatte, er hatte nie welche dabei, und als er in ihr gekommen war, hatte sie etwas Ungewohntes gespürt, eine Art Gewissheit, auf die sofort eine gewisse Unruhe folgte. Ein Erschauern, das sie vom Nacken bis in die Fußsohle durchlaufen hatte. Später hatte sie es ihm sagen wollen, doch sie wusste nicht wie, sie wusste nicht, mit welchen Worten man so etwas sagt, vielleicht: »Übrigens, weißt du was? Ich erwarte ein Kind.« Oder mit gespielter Unbeschwertheit: »Mein Schatz, ich bin ja so glücklich! …« Oder vielleicht in dramatischem Ton: »Liebst du mich? Jetzt brauche ich deine Liebe wirklich …«

Die Müdigkeit. Sobald sie draußen auf der Straße war, taumelte sie, sie hielt sich an den Wänden fest, ihr wurde schwindlig. Ihre Füße rückten weiter auseinander, als wüssten sie bereits, dass Ujine ein zusätzliches Gewicht zu tragen hatte, sie stemmten sich ganz flach auf den Boden, verliehen Ujine einen watschelnden Gang, und sie hatte ihre hochhackigen Pumps durch Ballerinas, Turnschuhe oder meistens durch Flipflops ersetzen müssen. Sie hatte das Bedürfnis, den Boden solide und fest unter ihren Füßen zu spüren.

Zur gleichen Zeit hatte sie aufgehört zu rauchen, ohne dass sie darüber nachgedacht hatte. Samuel fragte verwundert: »Aha, warum hast du das denn beschlossen?« Er zündete sich weiter in Ruhe Zigaretten an und hatte keine rechte Lust, sich ihre Erklärungen anzuhören. Sie hätte die Gelegenheit nutzen können, um ihm den Grund zu nennen, aber sie tat es nicht, vielleicht weil es ihm völlig gleichgültig war, ob sie rauchte oder nicht. Sie sagte immerhin: »Willst du nicht auch eine Weile damit aufhören, mit mir zusammen, um mir das Durchhalten zu erleichtern?« Er entgegnete: »Warum soll ich aufhören? Ich rauche gern, außerdem habe ich keine Angst vor dem Tod.« Er sagte mehrmals zu diesem Thema: »Keinen Alkohol mehr trinken, nicht mehr rauchen, und all das, um kerngesund zu sterben!« Ujine fühlte sich alleingelassen. »Und um mir einen Gefallen zu tun?« Doch zugleich wusste sie, was Samuel darauf antworten würde, immer mit derselben pessimistischen Floskel: »Man kommt allein auf die Welt, man stirbt allein, man schläft allein, das ist die einzige Gewissheit, die man hat.«

Sie war derart müde. Ihrer Mitstudentin Charlotte, der sie zufällig begegnet war, hatte sie sich anvertraut: »Ich wünschte mir wirklich, ich wäre jemand anders.« Das Mädchen hatte sie verständnislos angeblickt. Daraufhin hatte Ujine es nicht gewagt weiterzusprechen, das Thema war zu persönlich. Die Frauenärztin dagegen hatte kein Blatt vor den Mund genommen. »Sie sind noch keine drei Monate schwanger, also, wenn Sie wollen, ist es noch rechtzeitig für einen Eingriff.«

Es war tatsächlich sehr einfach. Sie hätte nur Ja zu sagen und sich einen Termin in der Klinik geben lassen brauchen. Warum sie es nicht getan hatte? Sie wusste es nicht. Vielleicht wegen der Müdigkeit oder der Einsamkeit. Oder aus dem Bedürfnis heraus, einen Schritt weiterzugehen, aus Neugier, endlich einmal etwas zu Ende zu führen, das nur von ihr abhing, von niemand anderem.

Ihre Schritte führten sie aus Gewohnheit jeden Tag in die Straße, in der die Bank war. Sie wartete auf den Moment, da Samuel aus dem Büro kommen würde, zwischen zwei Terminen, mit überdrüssiger Miene, die Krawatte auf Halbmast und unter den Achseln zwei Schweißflecken auf dem Oberhemd. Sie ließ seine Kollegen fortgehen, und er wartete auf dem Rand des Bürgersteigs, dass sie zu ihm kam. Sie hörte zu, wie er sich beklagte, hing wie gebannt an seinen Lippen, die Worte hallten zwei- oder dreimal in ihrem Kopf wider, sie dachte, dass sie den Ehefrauen glich, die ihren Mann auf der Türschwelle empfingen, um sich dessen Geschichten über seine Arbeit anzuhören. Sie wusste, dass sie diesen Worten noch lauschen würde, wenn er nicht mehr da sein würde, dann würde sie sich ganz allein aufs Bett legen und sich Fetzen dieses Gespächs vergegenwärtigen.

»… ich habe die Nase voll von all dem, ich habe die Nase voll von ihren Gesichtern, von ihren Frisuren … weißt du, eben habe ich den Typen beobachtet, der direkt vor mir im Büro sitzt, er dreht mir den Rücken zu, ich habe seinen Nacken betrachtet … Er ist noch keine vierzig und bekommt schon eine Glatze, ich habe daran gedacht, dass ich in ein paar Jahren so sein werde wie er, dann hat mich die Langeweile aufgefressen, mich kleingekriegt, jeden Tag von morgens bis abends den gleichen Trott, die gleichen Bewegungen.«

Warum nur? Ujine erfand die Antworten, die Einwände, alles, was sie ihm nicht zu sagen gewagt hatte. All das ist unwichtig, völlig unwichtig. Das ist nur ein Detail, nur eine Falte auf der Oberfläche des Daseins, das ist nicht wert, erwähnt zu werden, das ist unwichtig, wenn man alles andere mit jemandem teilt, wenn man weiß, was wahr und schön im Leben ist, jede Sekunde, die vorübergeht. Es gibt keine Langeweile, keine Routine, wenn man mit jemandem zusammenlebt, man teilt all das mit ihm, und man ist nicht allein, nie allein, das ist ein Moment im Leben, ein äußerst wichtiger Moment …

Warum erwartete sie nur so viel? Er blickte sie nicht einmal an. Er trank seinen Espresso, seine Zigarette verglühte zwischen seinen Fingern, der warme Wind blies den Rauch zum Himmel. Er betrachtete den Rauch, verfolgte ihn mit den Augen. Sie hätte gern gelächelt, etwas Witziges, Intelligentes gesagt, wie sie das früher so gut verstanden hatte, diese kleinen humoristischen Bemerkungen, Wortspiele, die wie Leuchtkäfer funkelten und Freunde, andere Studentinnen und Abenteuerlustige auf der Suche nach einem Flirt anzog, die sie kurz darauf abblitzen ließ. Aber im Moment war ihre Kehle wie zugeschnürt, und im Kopf und im Bauch empfand sie ein Gefühl der Leere. Daran war das Kind schuld, das in ihr heranwuchs und ihr alle Energie raubte. Sie blieb auf ihrem Bett liegen, sah zu, wie die Dunkelheit zwischen den Lamellen der Jalousie in den Raum drang. Sie spürte, wie ihr Tränen über die Wangen rannen, ihr Kopfkissen benetzten, sie wusste nicht, woher all dieses Wasser kam.

 

Eines Abends tat Ujine etwas nicht wieder Gutzumachendes. Samuel war im Auftrag seiner Bank auf einer Geschäftsreise im Ausland. Er hatte ihr eine Nachricht auf dem Handy hinterlassen, nur ein paar Worte. Wie gewöhnlich. Worte waren nur dazu da, um zu kommunizieren. Er ziehe Handlungen vor, wie er sagte, das Leben im Hier und Jetzt. Ehe er abgereist war, hatte er ihr zum Abschied gesagt: Tu so, als käme ich nie wieder. Die Freiheit ist wichtiger.

Nachdem Ujine tagelang umsonst und auf niemanden gewartet hatte, erwachte sie aus ihrer Erstarrung. Draußen war es sehr schwül, Gewitter zogen herauf, umkreisten die Stadt. Das Summen von Motoren, der Donner, die Vibration der unterirdisch verkehrenden Züge.

Auf einmal verspürte sie Ungeduld, einen Drang. Keine Worte mehr, sondern den Wunsch zu handeln. Samuel hatte es ja gesagt. Ich muss so tun, als käme er nie wieder. So wie man hinten in einem Zug die Landschaft in die Ferne rücken sieht. Diesen Baum, dieses Haus, diese Kinder, diesen Hund, die ich jetzt sehe, werde ich nie wiedersehen. Sie würde nicht nach Ausflüchten suchen. Eine Leere, die zu füllen war, ein Ballon, der sich aufblähte, voller Widerspiegelungen und Trugbilder.

Ujine zog sich an, zum ersten Mal seit vielen Tagen, als ginge sie zu einer geschäftlichen Verabredung. In dem Stil, den Samuel gern mochte, einem grauen Kostümrock, weißer Bluse, hochhackigen Pumps. Sie schnitt ihren Pony etwas kürzer, legte die Ohrringe aus rosafarbenen Korallen an, die Samuel ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, schminkte sich die Lippen in einem dazu passenden Farbton und sprühte sich ein bisschen Parfum in den Nacken. Ihr Bild im Spiegel war das einer hübschen, unverfrorenen jungen Frau mit mandelförmigen grünen Augen, einem Mund mit sinnlicher Unterlippe und blitzenden, perlweißen Schneidezähnen. Sie erinnerte sich noch an den Tag, an dem Samuel sie zum ersten Mal seinen Kollegen in der Bank vorgestellt hatte. Eine etwas hagere Frau um die fünfzig hatte sie genau gemustert und gesagt: »Was für ein reizendes Mädchen! Ist sie Schauspielerin?« Allein deswegen wollte Samuel nicht, dass es erneut zu so einer Begegnung kam, er hasste solche Bemerkungen, er hatte daher darauf geantwortet: »Nein, nein, sie ist nur Studentin.« Später hatte er gesagt: »Eine Schauspielerin, das sollte doch wohl ein Scherz sein! Gehe ich etwa mit Schauspielerinnen? Ich bin ein kleiner Bankangestellter und führe ein ganz normales Leben.« Aber Ujine machte ihn gern eifersüchtig. Es amüsierte sie, dass er eifersüchtig werden konnte.

In der Metro, die zum Flughafen fuhr, betrachteten die Leute sie ein wenig hinterhältig, die Frauen musterten eingehend ihre Kleidung, machten Bemerkungen über ihre knallblauen Schuhe, ihre blaue Vinyltasche und ihre Ohrringe. Ein Mann in den Vierzigern, ein etwas abgeschlaffter Schönling, starrte sie unentwegt an, sie spürte, wie sein Blick über ihren Körper glitt, über ihren Busen, ihren Bauch, ihre Füße, hinauf und wieder hinab. Einen Augenblick dachte sie daran, auf ihn zuzugehen und ihn anzuherrschen: »Na, sind Sie zufrieden? Soll ich mich noch ein bisschen bewegen, mich umdrehen?« Aber es war auch gut, nur noch ein Bild zu sein, sich innerlich leer zu fühlen, keine Angst mehr zu empfinden, keinen sich aufblähenden Ballon.

Ujine blieb während der ganzen Fahrt, den vierzehn Stationen bis zum Flughafen, stehen. Als sie die Halle betrat, begriff sie, dass es hoffnungslos war. Die Menschenmenge, die Lichter, die Schlange vor den Check-in-Schaltern, sie würde die Situation nie kontrollieren können. Sie kannte den Tag, er würde an diesem Abend zurückkommen. Das war alles. Samuel sagte nie, wohin er reiste, er hasste es, begleitet oder abgeholt zu werden. Er sagte immer: »Reisen sind mühselig, Abschiede lächerlich.« Er hatte zu allem eine Meinung. Er sagte auch: »Ideal wäre es, wegzufahren, um nie wiederzukommen.«

Ujine mochte Flughäfen gern. Für sie, die selbst nie verreiste, war es ein Ort, an dem man bereits auf Reisen war, noch ehe man abreiste. Sie liebte den wirren Lärm, die von zwei Glockentönen angekündigten unverständlichen Durchsagen, das ferne Donnern startender Flugzeuge, das Boden und Scheiben erzittern ließ, den hilflosen Blick der Abreisenden, den verwirrten Ausdruck jener, die dablieben, und die Abgespanntheit der ankommenden Fluggäste. All das, was Samuel hasste. Er sprach darüber, als handele es sich dabei um eine organisierte Hölle. Er blieb am liebsten zu Hause, um ein Buch zu lesen, oder fuhr gern mit dem Motorrad in hohem Tempo zwischen Feldern hindurch, über kurvenreiche Straßen im Gebirge. Er verriet nie, wohin er fuhr. Einmal hatte er nur gesagt: »Ich würde gern auf dem Motorrad sterben wie Lawrence von Arabien.«

Und all diese Städte, all diese Länder, deren Namen auf den Bildschirmen auftauchten: Seoul, Tokio, Osaka, Guam, San Francisco, Denver, Rom, Berlin, Abu Dhabi, Bangkok, Angkor, Manila, Mauritius, Mexiko. Es war, als wäre Samuel überallhin geflogen. Ujine rannte erst nach links und dann nach rechts zu den Ankunftsbereichen, sie versuchte die Gesichter zu sehen, seine Statur, seine Kleidung, seine Haarfarbe, seinen Gang zu entdecken. Sie hatte am Zeitungsstand einen Block und einen Filzstift gekauft und wollte in großen Lettern einen Namen darauf schreiben, natürlich nicht Samuel, das würde er ihr nie verzeihen, sondern irgendeinen Namen, ein Wort, das er aus der Ferne sehen und wiedererkennen würde, MERBEAU, den Namen des Hotels, in das sie oft gingen, oder MILES DAVIS, weil er ihn gern mochte, oder WINGS, weil er sie manchmal nach Büroschluss in das gleichnamige Restaurant mitnahm, um ein Sandwich zu essen. Doch ihre Hand war nicht imstande etwas zu schreiben, sie zitterte, als ginge es um eine lebenswichtige Entscheidung. Und so trugen ihre Füße sie unwillkürlich von einem Ende der Flughafenhalle zum anderen, sie hörte zu, wie ihre Absätze auf die Fliesen hämmerten, klack, klack, klack, das Geräusch hallte in ihrem Kopf, in ihrem Körper wider, davon wurde ihr schwindlig, aber ihre Füße konnten nicht mehr innehalten, sie mussten laufen, mussten schneller rennen als alle anderen, um nicht eine Sekunde bei der Ankunft von Fluggästen zu verpassen.

 

Der Nachmittag verging und dann der Abend. Durch die großen Scheiben der Ankunftshalle sah Ujine, wie es dunkel wurde, die rosafarbenen Lichter der Straßenlaternen aufleuchteten, und sie sah die Scheinwerfer der Autos, die in stetigem Fluss am Bürgersteig entlangfuhren, verlangsamten, Leute aussteigen ließen, und wieder anfuhren, wobei die Rücklichter, die Bremsleuchten und die Blinker aufleuchteten, manche ganz schnell, tick, tick, tick, und andere langsam und schwer, didum, didum. Klimatisierte Busse, Transporter des Shuttle-Service, Lieferwagen des Wartungsdienstes fuhren vorbei. Und manchmal glitt ein Polizeiwagen ganz langsam und argwöhnisch den Bürgersteig entlang wie ein Hai.

Um gegen ihre Müdigkeit anzukämpfen, setzte sich Ujine in eine Cafeteria unweit der Ausweiskontrolle. Sie trank in kleinen Schlucken einen sehr heißen grünen