11 Berliner Friedhöfe, die man gesehen haben muss, bevor man stirbt - Jörg Sundermeier - E-Book

11 Berliner Friedhöfe, die man gesehen haben muss, bevor man stirbt E-Book

Jörg Sundermeier

4,7

Beschreibung

Berlins Friedhöfe werden oft von Leuten genutzt, die nicht trauern, sondern sich entspannen wollen – abseits der großen Parks, in denen man von Skateboardern überfahren wird und von Musikanten nicht immer angenehm überrascht. Aber einige Friedhöfe können noch viel mehr: Sie bieten Überraschendes und Erbauendes, Verstörendes und Horizonterweiterndes. Wer sich auskennt, kann zum Beispiel Zwiesprache mit Hegel oder Fanny Hensel halten, nächtliche Gespenster jagen oder in umgebauten Friedhofskapellen Kaffee trinken und über das Leben nachsinnen. Jörg Sundermeier verrät in diesem Buch, welche elf Berliner Friedhöfe man unbedingt besucht haben sollte, bevor man selbst ins Grab sinkt.

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Sammlungen



Jörg Sundermeier

11 Berliner Friedhöfe, die man gesehenhaben muss, bevor man stirbt

Mit Fotografien von Kristine Listau

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CDROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

ebook im be.bra verlag, 2017

© der Originalausgabe:

berlin edition im be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2017

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

[email protected]

Lektorat: Robert Zagolla, Berlin

Umschlag: Manja Hellpap, Berlin

ISBN 987-3-8393-4127-8 (epub)

ISBN 978-3-8148-0224-4 (print)

www.bebraverlag.de

Inhalt

Tote besuchen

1Dorotheenstädtischer FriedhofWo Prominenz ruht

2Künstlerfriedhof FriedenauWo Entdeckungen zu machen sind

3InvalidenfriedhofWo Preußen zu sich selbst kommt

4Sowjetisches EhrenmalWo Menschen Helden sind

5Friedhöfe an der BergmannstraßeWo Vergessene auf Ewigkeit pochen

6Urnenfriedhof GerichtstraßeWo Asche für den Fortschritt steht

7FrauenfriedhofWo Lesben ihre Ruhe haben

8Jüdischer Friedhof WeißenseeWo das Leben schläft

9Türkischer Friedhof am ColumbiadammWo der Islam zu Deutschland gehört

10Friedhöfe vor dem Halleschen TorWo Tote gefeiert werden

11Friedhöfe an der HermannstraßeWo die Arbeit am Tod sichtbar ist

Was fehlt

Übersichtskarte

Über den Autor

Tote besuchen

Friedhöfe sind eigentlich nicht mein Lieblingsthema. Selbstverständlich, man kann ihnen nicht entgehen. Man bringt seine Verwandten, seine Freundinnen und Freunde dorthin, man begleitet sie auf ihrem »letzten Gang«, den sie nicht mehr selbst gehen können. Man besucht die Toten dort, man freut sich, eine Stelle zu haben, an der man trauern kann, an der man seinen Schmerz ausdrücken kann, an der man mit den geliebten Verstorbenen reden kann. Nicht umsonst sind an vielen Gräbern steinerne Bänke aufgestellt, auf manchen Grabfeldern stehen sogar gestapelte Plastikstühle bereit. Man kann, man darf sich Zeit für seine Trauer nehmen. Und man übernimmt zuweilen die Grabpflege, ebenfalls ein guter Grund, eine Begräbnisstätte aufzusuchen.

Auch gehen viele auf Friedhöfe, obschon sie gar nicht trauern, sondern sich entspannen wollen – abseits der großen Parks, in denen man von Skateboardern überfahren wird und von Musikanten nicht immer angenehm überrascht. Demgegenüber bieten Gräberanlagen heute einen Ruheraum, in dem jedermann ganz rasch aus dem Lärm der Stadt verschwinden kann.

Aber sie sind eben auch Orte des Unwohlseins. Eine Freundin wohnte mal neben einem Friedhof, im Norden Berlins. Das Haus, in dem sie lebte, grenzte direkt an eine Friedhofsmauer. Die Straße war eine Sackgasse, sie endete vorm Friedhofseingang. Ich übernachtete dort zum ersten Mal. Aus dem Fenster, unter dem ich schlief, blickte ich genau auf das Tor des Gräbergeländes. Wir kannten uns noch nicht sehr lange, ich konnte also nicht vorgewarnt sein.

Ich schreckte aus dem Schlaf auf, als ich jemanden schreien hörte. Ich sah aus dem Fenster: Eine Frauengestalt mit weißem offenen Haar und in weißem wehenden Hemd schien über die Straße hinweg zu schweben, sie schrie mit schriller Stimme, Worte artikulierte sie nicht, sie schrie nur. Nun schrie ich auch. Dann schrie jemand drittes, eine Nachbarin, sie brüllte aus ihrem Fenster: »Nu reißen’se sich mal zusammen. Sie erschrecken ja die Leute!« Die Gestalt hielt kurz inne, dann schwebte und schrie sie weiter.

Die Intervention der Nachbarin kam zu spät für mich. Ich spürte noch über Stunden das, was in Gruselgeschichten stets »gefrorenes Blut in den Adern« genannt wird. Meine Freundin lachte mich am nächsten Morgen aus. Das »Gespenst« war eine alkoholkranke Frau, die in einem der angrenzenden Häuser lebte und öfter mal die Kontrolle verlor. Die Nachbarn kannten sie. Ich aber träumte noch viele Tage in Horrorfilmbildern.

Friedhöfe sind negativ konnotierte Orte, sie sind kulturell stark besetzt. Fast alle Kulturen meiden sie eher, dem Aberglauben geben sie allerorten Futter. Auf Begräbnisstätten treiben Geister ihr Unwesen, unerlöste Seelen und allzu weise Frauen, Verstoßene und Ermordete, Selbstmörder und Mörderinnen. Und selbstverständlich tummeln sich dort jene, die halbtot sind, Zombies, die sich von den Hirnen der frisch Verstorbenen ernähren, Vampire, die in ihren Särgen in ihren Gruften auf die Abenddämmerung warten. Und Grabräuber, die versuchen, aus Leichenteilen Homunculi zum Leben zu erwecken, darin ganz Nachfahren des Dr. Frankenstein. Und dann gibt es noch die Helfershelfer, debile, aber brutale Menschen, die dunklen Mächten verfallen sind. Oder es treiben mächtige Satanisten ihr Unwesen, die ihrem teuflischen Herrn Opfergaben bringen wollen. Nein, auf Friedhöfen ist man nicht gern. Zumindest nicht nach dem Einsetzen der Dämmerung.

Sitzen vor dem Grab

Doch zugleich sind diese stillen Grünflächen eben auch Orte der Ruhe. Nicht umsonst werden viele entwidmete Gräberanlagen in Parks umgewandelt – und sind dann nicht mehr Kirchengemeinden oder säkularen Institutionen unterstellt, die sich um Bestattungen kümmern, Stiftungen etwa, sondern schlicht dem Grünflächenamt, das sich auch, mal mehr, mal weniger, um die noch erhaltenen Gräber kümmert. Eine derartige Umwidmung hat durchaus Vorteile: Dort, wo nicht mehr bestattet wird, gibt es keinen zwingenden Grund, die teils sehr alten Gräber zu beseitigen. Viele Grabstellen, die andernorts bereits abgeräumt und umgepflügt worden wären, bleiben in solchen Parks erhalten. Und da die Pietät selbst für jene Orte gilt, an denen nicht mehr getrauert wird, bleibt es auf den Wegen zwischen den Grabfeldern zumeist auch sehr ruhig. Selbst die vielen Freilufttrinker, die man in Berlin an jeder Ecke findet, an der eine Sitzgelegenheit geboten wird, meiden diese Grünflächen mit ihrem speziellen Vorleben und krakeelen lieber woanders herum.

Auf Friedhöfen ballen sich aber auch Geschichten und Geschichte – auf den über zweihundert Anlagen und Grabstellen Berlins ist dementsprechend eine Unmenge von Stadthistorie gebannt, viel mehr, als ein Buch fassen könnte. Und da es hier um eine Hauptstadt geht, zunächst die Preußens und dann, mit Unterbrechung, die Deutschlands, ist in den folgenden Kapiteln zudem die deutsche Geschichte sehr präsent. Dies auch, da in Berlin Leute bestattet wurden, die zu ihren Lebzeiten keinen regionalen Bezug zur Stadt hatten, weder hier geboren, noch hier gestorben sind. Sie sind gleichsam Hauptstadttote. Erst die Bedeutung der Stadt im Land und die Bedeutung der Verstorbenen für das Land veranlasste die Verwandten oder den Staat dazu, diese Toten an dieser Stelle beisetzen zu lassen.

Das alles interessiert den begeisterten Stadtgeschichtler sehr, und je tiefer ich mich einarbeitete in die Materie, desto mehr sah ich, was Friedhöfe in den vergangenen Jahrhunderten auch geworden waren – Orte für Nationaldenkmale. Und Orte für Privatdenkmale. Waren die Verstorbenen seit der Christianisierung viele Jahrhunderte lang immer in der und um die Kirche in die Erde gelegt worden, um den Gemeindezusammenhalt über den Tod hinaus zu wahren, änderte sich mit dem Sieg der Aufklärung das Bild. Nun konnte man Leichen zugleich als tote, seelenlose Gegenstände betrachten, sie wurden zu Verwaltungsgegenständen, zu Anlässen für Ordnungsarbeiten und Gartengestaltung.

Die Grabstellen wurden nach draußen verlegt, vor die Stadt, weit weg von der Gemeinde – so dass man anhand der Lage der Berliner Friedhöfe teilweise auch die mehrmals schnell hintereinander vollzogene Verschiebung der Stadtgrenzen nachvollziehen kann. Und erst die Möglichkeit der Feuerbestattung und der geringe Platzbedarf der Urnengräber ermöglicht es seit rund hundert Jahren, wieder mitten in der Stadt zu beerdigen – einige Friedhöfe wurden daher sogar wiedereröffnet.

Demonstrierter Reichtum

Auch eine andere Stadtmauer, die innerdeutsche Grenze, die Großberlin im 20. Jahrhundert in zwei Teile schnitt, hat ihre spezielle Friedhofsgeschichte geschrieben. Einige Grabplätze hat sie rücksichtslos zerteilt, andere dauerhaft von ihren Gemeinden getrennt.

Tote sind auch heute wieder Prestigeobjekte – auf den Friedhöfen ist versammelt, was Rang und Namen hatte. Stolz wird gekennzeichnet, wer sich um die Belange der Stadt verdient gemacht hat, manch eine und manch einer bekommt sogar ein Ehrengrab. Heute würde sicher keine Künstlerin, die so bekannt und beliebt war wie Friedrich Schiller, in einem anonymen Grab beigesetzt werden (außer, sie hätte es testamentarisch so verfügt). Der berühmte Klassiker, der 1805 starb, wurde aufgrund von Geldmangel in einem sogenannten Kassagewölbe in Weimar beerdigt, zwar ein Ort für verdiente Bürger der Stadt, aber dennoch ein Massengrab. Erst 1826 besann man sich und exhumierte Schiller – oder das, was man dafür hielt. Neuere Knochenproben belegen, dass die beiden (!) Schädel, die man Schillers Skelett im Verlauf der Jahrzehnte zugeordnet hatte, nicht zu diesem gehören. Zudem konnte durch DNA-Analysen bewiesen werden, dass auch das restliche Skelett mindestens zu drei Personen gehörte. Nun hat Schiller zwar einen Sarg in der Weimarer Fürstengruft (wohin er nach der vermeintlichen Exhumierung verbracht wurde), dieser ist jedoch leer. Einer verdienten Mitbürgerin wird heutzutage ein solches Schicksal zweifellos erspart bleiben.

Angezeigte Gefahr

Ich habe für dieses Buch elf Berliner Friedhöfe ausgewählt, von denen ich glaube, dass sich ein Besuch dringend anempfiehlt. Die Auswahl fiel mir nicht leicht, doch in der Beschränkung liegt ja auch eine Kraft – ich musste mich auf solche Orte konzentrieren, von denen ich glaube, sie stehen jeweils auch für eine Besonderheit in der Begräbnisgeschichte. Aber es sollte nicht nur diese eine Besonderheit hervorgehoben werden.

In den folgenden Kapiteln werde ich die Historie der Grabgelände nachzeichnen, aber auch versuchen, die Biographien von prominenten und weniger prominenten Menschen zu beleuchten. Da das Buch kein Friedhofsführer ist, werde ich zweifellos einen beliebten Tenor übersehen oder eine verdiente Ärztin nicht nennen, man sehe es mir bitte nach. Mir ging es darum, mit den Friedhofs- und Lebensgeschichten jene Atmosphäre einzufangen, die an dem jeweiligen Ort vorherrscht.

Einiges zum Allgemeinen des Friedhofswesen oder des Gedenkens wird oft schon in einem der ersten Kapitel gesagt, daher wird es bei den anderen Friedhöfen nicht wiederholt. Dementsprechend kürzer fallen die hinteren Kapitel aus. Es ist daher angeraten, dass man das Buch von vorn liest, denn in jeder Geschichte eines Begräbnisplatzes steckt auch bereits ein bisschen von den Geschichten, die später relevant werden. Derartige Quervereise und Vorankündigungen möge man mir nicht übelnehmen, die Friedhöfe einer Stadt sind Teil einer komplexen urbanen Struktur und befinden sich im gleichen Kontext, insofern kann ihre Geschichte nie für sich allein erzählt werden.

Hier werden manchmal mehrere selbstständige Friedhöfe einfach zusammengefasst, wenn sie direkt nebeneinander liegen. Viele davon sind auch früher schon als Einheit begriffen worden oder werden sogar auf Erläuterungstafeln am Friedhofseingang als solche gesehen. Das ist dennoch ein bisschen verfälschend, werden Puristen einwenden, und zweifelsohne könnte der eine Friedhof auch ohne den anderen für sich stehen. Doch den meisten Besucherinnen und Besuchern wird der Unterschied kaum bewusst sein, die Zäune und Mauern zwischen den Gräberfeldern sind oft eingerissen oder abgebaut, ein Laie wird zumeist kaum sagen können, ob er sich noch auf diesem oder schon auf jenem Friedhof befindet. Außerdem erlaubt es dieser Kunstgriff dem Verfasser, ein paar mehr als nur die titelgebenden elf Friedhöfe ausführlicher beschreiben zu können – und die Versuchung war zu groß, als dass ich ihr nicht hätte nachgeben wollen.

Bei der Auswahl der Friedhöfe ging es mir auch darum, an dem jeweiligen Ort etwas zu veranschaulichen, was viele andere Begräbnisstätten ebenso betrifft. Auf dem so genannten Dorotheenstädtischen Friedhof kann man beobachten, wie Prominenz inszeniert wird. Auf dem Invalidenfriedhof ist es die sich aufdrängende deutsche Geschichte, ohne die die Anlage nicht zu verstehen ist. Die Friedhöfe vor dem Halleschen Tor laden dazu ein, Grabrituale zu beleuchten, die Friedhöfe an der Bergmannstraße verraten viel über das aufstrebende Bürgertum. Diese Gräberstätten sind allesamt christlich geprägt, muslimische, jüdische oder atheistische Friedhöfe oder Grabfelder sind dann noch einmal ein ganz eigenes Thema, auch sie sagen viel über die Entwicklung einer Stadt aus. So erzählen die in diesem Buch versammelten elf Friedhöfe sehr viel von dem, was man über die Friedhofskultur und Stadtgeschichte Berlins wissen sollte.

Wissen lässt sich selbstredend nicht allein aus eigener Anschauung schöpfen, wer Fragen hat braucht Hilfe. Viele Informationen verdanke ich daher Büchern, Broschüren und Websites, einige werden zitiert, andere leider nur mitgedacht. Ich danke an dieser Stelle daher einfach ganz pauschal, aber sehr ausdrücklich all jenen, die sich intensiv mit den Berliner Grablegen und ihrer Geschichte auseinandergesetzt haben. Ohne ihre Mühen wäre vieles für mich nicht herauszufinden gewesen.

Die Fotografien in diesem Buch stammen von Kristine Listau, meiner Ehefrau. Mit ihr war ich wochenlang auf den meisten Friedhöfen unterwegs, ihr verdanke ich viele wertvolle Tipps und Beobachtungen – und ohne ihr Interesse und ihre Geduld hätte ich das Buch gar nicht schreiben können. Ich danke ihr dafür sehr.

Und nun soll es losgehen mit jenen elf Gräberanlagen, von denen ich glaube, dass man sie gesehen haben muss, bevor man stirbt. Denn sie alle erzählen so viel über Berlin und seine Historie, wie es wohl wenig andere Orte in dieser Stadt tun können.

1Dorotheenstädtischer Friedhof

Wo Prominenz ruht

Wie eingangs gesagt, fasse ich in diesem Buch gelegentlich zwei oder drei Friedhöfe zusammen, wenn sie eng beieinander liegen, ob es zu den Eintragungen in den amtlichen Verzeichnissen nun passt oder nicht. Was im Folgenden als »Dorotheenstädtischer Friedhof« bezeichnet wird, ist zum einen der Französische Friedhof und zum anderen der Friedhof der Dorotheenstädtischen und Friedrichswerderschen Gemeinden. Beide liegen direkt nebeneinander an der Chausseestraße im Bezirk Mitte.

Die Zusammenfassung hat guten Grund. Schon Wolf Biermann, der damals »gleich hier ums Eck« wohnte, sang in seinem Lied »Der Hugenottenfriedhof« von 1969:

Da liegt allerhand große Leute

Und liegen auch viel kleine Leut.

Da stehn riesengroße Platanen,

Daß es die Augen freut.

Wir gehn auch mal rüber zu Hegel

Und besuchen dann dicht dabei

Hanns Eisler, Wolf Langhoff. John Heartfield

Wohnt gleich in der Nachbarreih’.

Offenkundig hatte Biermann beide Friedhofsgelände, obschon durch Mauern deutlich voneinander geschieden, für ein einziges großes Ensemble gehalten. Denn der im Song beschriebene Friedhof ist nicht der im Titel benannte. Wobei man wissen muss, dass »Hugenottenfriedhof« eine andere Bezeichnung für den Französischen Friedhof ist.

Wie Biermann es tat, tun es viele. Immer, wenn ich den Französischen Friedhof besuche, sehe ich Touristen umherirren, die mit dem Reiseführer in der Hand die Ruhestätten von Bertolt Brecht und Christa Wolf suchen, und die den Eingang zum Nachbargrabfeld nicht finden können. Ich habe mir angewöhnt, ihnen zu helfen, obschon es ja eigentlich Berliner Art ist, möglichst wegzusehen, wenn jemand eine Auskunft braucht. Umso erstaunter bin ich dann und wann, wenn die vermeintlich Verirrten mir etwas genervt versichern, dass sie genau wissen, wo sie sind, und nur eine ganz bestimmte Grabstelle suchen. Zumeist aber ist man mir dankbar – man hatte ja schon seit Ewigkeiten das Grab von Ruth Berghaus gesucht.

Luther vor Mausoleum

Das In- und Nebeneinander der beiden Totengedenkorte ist für die meisten verwirrend. Der Zugang zur – von der Chausseestraße aus – hinteren der beiden Anlagen ist ungewöhnlich schmal und länglich und sieht zwischen der Abgrenzungsmauer des Französischen Friedhofs und dem Brecht-Haus beinahe wie ein Hoftor aus oder wie eine nur etwas aufgehübschte Zufahrt für Wirtschaftsfahrzeuge. Daher betreten die meisten zunächst den als solchen besser erkennbaren Französischen Friedhof und finden nun aus diesem nicht mehr hinaus zum anderen, dahinter gelegenen.

Die Geschichte der beiden so oft zusammengedachten Anlagen verlief zunächst sehr unterschiedlich. Der Französische Friedhof ist – genau genommen – der I. Französische Friedhof.

Sein Gegenstück, der II. Französische Friedhof, liegt seit 1835 knapp zwei Kilometer entfernt an der Liesenstraße, auf der Grenze zwischen Mitte und Wedding. Von 1949 bis 1989 war dies zugleich die deutsch-deutsche Grenze. Unter anderem sind dort die Gebeine Theodor Fontanes, des Dichters Peter Hacks oder des Fotografen Will McBride in die Erde gebettet worden, dennoch ist der zweite Friedhof der Französisch-Reformierten Gemeinde nicht als Prominentenfriedhof bekannt. Was wohl nicht zuletzt daran liegt, dass man ihn über mehrere Jahrzehnte nur als Besitzer eines Passierscheins betreten durfte.

Auch dem ersten Hugenottenfriedhof an der Chausseestraße hätte eine solche Bekanntheit durchaus zugestanden. Bekannte Figuren der Stadtgeschichte ruhen hier, ebenso Schauspiellegenden und begnadete Journalisten. Doch der benachbarte Friedhof der Dorotheenstädtischen und Friedrichswerderschen Gemeinden stahl schon früh allen Ruhm.

Der Französische Friedhof wurde 1780 auf einem Areal von knapp siebentausend Quadratmetern eröffnet. Er diente als Begräbnisstätte für die Nachkommen der Hugenotten, protestantischen Glaubensflüchtlingen, die vor katholischen Repressionen aus Frankreich geflohen waren und in Preußen Schutz fanden.

Obschon sie um das Jahr 1700 herum fast ein Fünftel der Bevölkerung Berlins stellten, wurden sie von den restlichen vier Fünfteln angefeindet. Ihrer anderen Sitten und Gebräuche, auch ihrer anderen Sprache wegen galten sie als höchst suspekt. Man fürchtete, dass sie den Alteingesessenen die Arbeitsplätze wegnehmen würden und verwehrte ihnen daher den Zugang zu ständischen Organisationen. Damals war die Flüchtlingsfeindlichkeit also genauso stark ausgeprägt wie heute. Dabei waren die ersten Siedler, die die Örtchen Berlin und Cölln errichteten, aus denen später Berlin werden sollte, ja selbst Migranten aus dem Rheinland.

Die Hohenzollern allerdings stellten sich hinter die Flüchtlinge, denn sie sahen in ihnen aufgrund der Sprache – man sprach damals am Hof nur Französisch, Deutsch galt als zu primitiv – sogar zuweilen edle oder wenigstens edlere Leute, obgleich viele Geflohene aus niedrigen Schichten kamen. Folglich protegierte die Regierung die Ankömmlinge. Im Gegenzug entwickelten die ehemaligen Franzosen ihrem neuen Heimatland gegenüber eine Art Vasallentreue, sie bewiesen tausendfach ihre Liebe in Regierungsämtern und im Militär. Noch Reichskanzler Otto von Bismarck sah in den Nachfahren der Glaubensflüchtlinge »die besten Deutschen«.

Die hintere Anlage, der Friedhof der Dorotheenstädtischen und Friedrichswerderschen Gemeinden, gehörte zunächst zur heute nicht mehr erhaltenen Dorotheenstädtischen Kirche und wurde um 1770 eröffnet, als die Innenstadt den Toten keinen Platz mehr bot. Wie die Nachbaranlage lag der Friedhof außerhalb der damaligen Stadtmauern. Er diente als Grabstätte für die Bevölkerung jenes Areals, das zeitweise selbst eine souveräne, erst Neustadt, später Dorotheenstadt genannte Siedlung vor den Toren der Doppelstadt Berlin und Cölln bildete.

Dass dieses Gelände zur wohl beliebtesten Ruhestätte von Prominenten avancieren sollte, war bei der Eröffnung nicht abzusehen. Im Gegenteil. Zunächst wurden die berühmten oder reichen Bürger aus der Dorotheenstadt weiterhin in oder bei der Kirche beigesetzt, lediglich die Armen und Unbekannten wurden vor der Stadt in die Erde gebettet. Doch reichte bald in der ganzen Stadt der Platz in den Kirchen nicht mehr, die sie umgebenden Gottesäcker, wenn es denn überhaupt welche gegeben hatte, waren zudem ebenfalls viel zu klein geworden, auch wollte man die Totenfelder generell aus der Stadt verbannt wissen, um möglichst viel Platz bebauen zu könnten.

In der Dorotheenstadt entstanden zeitgleich viele neue Institutionen, so die Universität, ebenso die Akademie der Künste, die Singakademie oder die Akademie der Wissenschaften. Dementsprechend lebten immer mehr Mitglieder und Leiter dieser Institutionen in deren Nähe. Die Gemeinde hatte plötzlich, wie Boulevardmagazine von heute formulieren würden, eine große Promi-Dichte – und das spiegelte sich selbstverständlich auch auf dem Gemeindegrabfeld wider.

Auch die Friedrichswerdersche Gemeinde, deren von Karl Friedrich Schinkel entworfenen Kirche schräg gegenüber dem heutigen Außenministerium zwar noch erhalten, seit über dreißig Jahren allerdings nur als Museum genutzt worden und heutzutage geschlossen ist, brachte von Beginn an ihre bekanntesten Mitbürgerinnen und Mitbürger auf der Anlage unter. Denn auf diesem Areal in der heutigen Stadtmitte wohnten gleichfalls zunehmend Gelehrte und Beamte, die sich um das Ansehen Preußens oder aber um den Ruhm der Hohenzollernherrscher verdient gemacht hatten.

Zunächst wuchs der Dorotheenstädtische Friedhof beständig. Der Platz reichte allerdings nicht lange aus. Beide Gemeinden erwarben neue Gelände, die Dorotheenstädtische an der oben schon erwähnten Liesenstraße, die Friedrichswerdersche in Kreuzberg an der Bergmannstraße. Und bald danach schien es, als ob die Doppelanlage – oder, wenn man so will, Dreifachanlage – ihre Zeit hinter sich hätte. Der alte Dorotheenstädtische Friedhof wurde um 1870 wegen Überbelegung geschlossen. Den Beerdigungsbetrieb auf dem Französischen Friedhof hatte man bereits früher weitgehend eingestellt.

Als dann 1889 die angrenzende Hannoversche Straße verbreitet werden sollte, wurden Teile des westlichen Teils des Dorotheenstädtischen Friedhofs veräußert, die Gräber der berühmten Gelehrten Clemens August Carl Klenze, Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel mussten daher verlegt werden.

Durch das Aufkommen der Urnengräber in den 1920er Jahren war das Platzproblem jedoch plötzlich gelöst und die Beerdigungstätigkeit konnte wieder aufgenommen werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg erwägte der Magistrat von Ost-Berlin zwar kurzzeitig, die Anlagen in einen Park umzuwidmen, es kam jedoch ganz anders. In der DDR verwandelte sich der Friedhof in einen wirklichen Prominentenfriedhof. Hier wurden kaum hauptberuflich in der Politik tätige Menschen beigesetzt – eine Ausnahme bildete Johannes Dieckmann, der 1918 Vorsitzender eines Soldatenrates war, danach enger Mitarbeiter des Außenministers Gustav Stresemann, schließlich stellvertretender Vorsitzender der ostdeutschen so genannten Blockpartei LDPD, Präsident der Volkskammer und stellvertretender Vorsitzender des Staatsrates der DDR.

Vielmehr wurden an dieser Stelle nun verdiente Künstlerinnen und Künstler des sozialistischen Staates bestattet, viele von ihnen Mitglieder der Akademie der Künste. Erst diese – Heinrich Mann, Bertolt Brecht und Anna Seghers sind vermutlich die bekanntesten – gaben dem Friedhof seinen besonderen Ruf. Ihre sterblichen Überreste lagen nun unweit der oben genannten Gelehrten und machen den Friedhof bis heute so besonders.

Teures Erbbegräbnis

Die Liste der auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beigesetzten Prominenten ist lang, hier seien nur einige von ihnen genannt, deren Namen mir etwas sagen und auf die später nicht weiter eingegangen wird: Der Lyriker Erich Arendt (1903–1984), die Politiker Egon Bahr (1922–2015), der Politautor Rudolf Bahro (1935–1997), der Dichter und Funktionär Johannes R. Becher (1891–1958), die Fotografin Sibylle Bergemann (1941–2010), die Regisseurin Ruth Berghaus (1927–1996), die Regisseure Benno Besson (1922–2006) und Frank Beyer (1932–2006), der Politiker Lothar Bisky (1941–2013), die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley (1945–2010), der Unternehmer August Borsig (1804–1854), der Autor Thomas Brasch (1945–2001), der politisch zwischen links und rechts pendelnde Dramatiker Arnolt Bronnen (1895–1959), der Komponist Paul Dessau (1894–1979), der Filmer Slatan Dudow (1903–1963), der Tonkünstler Hanns Eisler (1898–1962), die Schauspielerin Gertrud Eysoldt (1870–1955), der Satiriker Peter Ensikat (1941–2013), der Filmemacher Harun Farocki (1944–2014), der Journalist Günter Gaus (1929–2004), der als erster Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der DDR ganz in der Nähe des Friedhofs Entspannungspolitik betrieb, der noch hochbetagt im Berliner Ensemble wirkende Arbeiterschauspieler Erwin Geschonneck (1906–2008), der Regisseur Dimiter Gotscheff (1943–2013), die Schriftstellerin und Brecht-Erbe-Pflegerin Elisabeth Hauptmann (1897–1973), der Grafiker John Heartfield (1891–1968), der Literaturwissenschaftler Werner Hecht (1926–2017), der bürgerliche DDR-Schriftsteller Stephan Hermlin (1915–1997), der Maler und Autor Wolfgang Herrndorf (1965–2013), der legendäre Verleger und Autor Wieland Herzfelde (1896–1988), der Schriftsteller Wolfgang Hilbig (1941–2007), die Tänzerin Lin Jaldati (1912–1988), die Schauspielerin Inge Keller (1923–2017), die Regisseurin Isot Kilian (1924–1986), der Lyriker und Übersetzer Rainer Kirsch (1934–2015), der Medienhistoriker Friedrich Kittler (1943–2011), der Chemiker Martin Heinrich Klaproth (1743–1817), der Romanist Werner Krauss (1900–1976), der Wirtschaftswissenschaftler Jürgen Kuczynski (1904–1997) und seine Frau, die Wirtschaftswissenschaftlerin Marguerite Kuczynski (1904–1998) , die Regisseure Wolfgang (1901–1966) und Thomas Langhoff (1938–2012), der Werber Ernst Litfaß (1816–1871), der Regisseur Kurt Maetzig (1911–2012), die Diseuse Gisela May (1924–2016), der Literaturwissenschaftler Hans Mayer (1907–2001), der Fotograf Roger Melis (1940–2009), der Dichter Karl Mickel (1935–2000), die Schauspieler Bernhard (1905–1998) und Hans-Peter Minetti (1926–2006), der Intendant Ivan Nagel (1931–2012), der Theaterregisseur Peter Palitzsch (1918–2004), der Theaterwissenschaftler Henning Rischbieter (1927–2013) der Schauspieler Otto Sander (1941–2013), die Schriftstellerin Anna Seghers (1900–1983), der Architekt Max Spitta (1842–1902), der Schauspieler Ekkehard Schall (1930–2005), der Bildhauer Hermann Schievelbein (1817–1867), der Dramatiker und Regisseur George Tabori (1914–2007), der Schauspieler Hilmar Thate (1931–2016), der Schriftsteller Bodo Uhse (1904–1963) und der Autor Arnold Zweig (1887–1968).

Eine unvergleichlich lange Liste von versammelter toter Prominenz, sie ist wohl in ganz Deutschland einmalig. Und Prominenz ist hier selbstverständlich etwas anderes, als die Aufmerksamkeit, die sich männliche oder weibliche Fernsehsternchen durch Nacktheit oder Pöbeleien erworben haben. Die hier genannten glänzten durch ihre Werke, durch ihre Taten für die Gesellschaft oder auf dem Gebiet der Kunst.