111 Gründe, Edward Snowden zu unterstützen - Marc Halupczok - E-Book

111 Gründe, Edward Snowden zu unterstützen E-Book

Marc Halupczok

4,5
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als der ehemalige CIA-Mitarbeiter und Computerexperte Edward Snowden zwischen dem 1. und 6. Juni 2013 den GUARDIAN-Reportern Glenn Greenwald und Ewen MacAskill sowie der Filmerin Laura Poitras diverse Geheimdokumente und ein ausführliches Interview gab, trat er damit eine Lawine los, deren Auswirkungen die Weltpolitik und das Leben jedes Einzelnen bis heute beeinflussen. Snowden enthüllte, dass der US-Auslandsgeheimdienst NSA (National Security Agency) gemeinsam mit den britischen Kollegen vom GHQC (Government Communications Headquarters) seit spätestens 2007 verdachtsunabhängig Daten der Telekommunikation und aus dem Internet sammelte und sammelt. Jeder einzelne Bürger in unzähligen Ländern, auch in Deutschland, war und ist davon betroffen. Die Enthüllungen lösten weltweites Entsetzen aus. Und bis heute kommen täglich neue Details ans Licht. Snowden hingegen musste nach seinen Enthüllungen untertauchen und versteckt sich in Russland. Bis heute ist nicht klar, ob und wann er jemals wieder in seine Heimat zurückkehren kann und was dann mit ihm geschieht. Marc Halupczok beleuchtet das Phänomen Edward Snowden näher. Ist er ein moderner Held oder ein Verräter? Ein Wohltäter, dem es um das Gemeinwohl und sein Gewissen geht? Oder ein nach Öffentlichkeit strebender Nerd? Wie konnte aus dem blassen, von seinen früheren Nachbarn als 'netter Junge' beschriebenen Computerfreak einer der meistgesuchten Menschen der Welt werden? Welche beruflichen und familiären Hintergründe führten dazu, dass Snowden diesen mutigen Schritt machte und dabei alles aufs Spiel setzte? Und welchen Einfluss haben Snowdens Enthüllungen auf unseren Alltag?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 317

Bewertungen
4,5 (16 Bewertungen)
12
0
4
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marc Halupczok

111 GRÜNDE, EDWARD SNOWDEN ZU UNTERSTÜTZEN

Eine Hommage an den wichtigsten Whistleblower der Welt

VORWORT

EDWARD JOSEPH SNOWDEN – HELD ODER VERRÄTER?

Als der ehemalige CIA-Mitarbeiter und Computerexperte Edward Snowden zwischen dem 1. und 6. Juni 2013 den Guardian-Reportern Glenn Greenwald und Ewen MacAskill sowie der Filmemacherin Laura Poitras diverse Geheimdokumente überreichte und ein ausführliches Interview gab, trat er damit eine Lawine los, deren Auswirkungen die Weltpolitik und das Leben jedes Einzelnen bis heute beeinflussen. Snowden enthüllte, dass der US-Auslandsgeheimdienst NSA (National Security Agency) gemeinsam mit den britischen Kollegen vom GCHQ (Government Communications Headquarters) seit mindestens 2007 verdachtsunabhängig Daten der Telekommunikation und aus dem Internet sammelt. Jeder einzelne Bürger in unzähligen Ländern, auch in Deutschland, war und ist davon betroffen. Die Enthüllungen lösten weltweites Entsetzen aus. Und bis heute kommen täglich neue Details ans Licht. Snowden hingegen musste nach seinen Enthüllungen untertauchen und versteckt sich in Russland. Auch viele Monate nach seinem »Outing« ist nicht klar, ob und wann er jemals wieder in seine Heimat zurückkehren kann und was dann mit ihm geschieht.

111 Gründe, Edward Snowden zu unterstützen beleuchtet das Phänomen des Whistleblowers aus North Carolina näher. Ist er ein moderner Held oder ein Verräter? Ein Samariter, dem es um das Gemeinwohl und sein Gewissen geht? Oder ein nach Öffentlichkeit strebender Nerd? Wie konnte aus dem blassen, von seinen früheren Nachbarn als »netter Junge« beschriebenen Computerfreak einer der meistgesuchten Menschen der Welt werden? Welche beruflichen und familiären Hintergründe führten dazu, dass Snowden diesen mutigen Schritt machte und dabei alles aufs Spiel setzte? Wer sind seine Gegenspieler? Und welchen Einfluss haben Snowdens Enthüllungen auf unseren Alltag?

111 Gründe, Edward Snowden zu unterstützen beschäftigt sich mit dem Leben des Whistleblowers, verfolgt auch manch auf den ersten Blick abwegig erscheinende Spur bis nach Bietigheim-Bissingen und bringt den Menschen Edward Snowden näher. Dabei soll der Humor nicht zu kurz kommen. Denn bei aller Tragik, die diesem Thema innewohnt, gibt es auch komische Seiten. Wer hätte zum Beispiel jemals geglaubt, dass eines Tages die gesamte Welt atemlos an den Lippen von Hans-Christian Ströbele hängen würde?

Marc Halupczok

PS: Dem Autor ist die Ironie, dass die Recherchearbeit für dieses Buch zu großen Teilen via Telefon, E-Mail, Internet und diverse Online-Mediatheken lief, durchaus bewusst.

KAPITEL 1

PRIVATES – AUF DEN SPUREN DES WHISTLEBLOWERS

GRUND 1

Weil er aus dem Staat der »Teerfersen« stammt

Doch, in North Carolina lässt es sich recht gut leben. Das dachten sich zumindest Edward Snowdens Eltern Lonnie und Wendy, weshalb Letztgenannte ihren Sohn in genau diesem Staat am 21. Juni 1983 zur Welt brachte. North Carolina liegt an der Ostküste, grenzt im Norden an Virginia und im Süden, Überraschung, an South Carolina. In Sachen Flora und Fauna ist es für ein Kleinkind hier zwar nicht ganz ungefährlich (es gibt Alligatoren, Bären und fleischfressende Pflanzen), und im Bible Belt zu wohnen ist grundsätzlich auch nicht jedermanns Sache. Im Großen und Ganzen soll sich Snowden aber ziemlich wohlgefühlt haben. North Carolina ist die Geburtsstätte des ländlich geprägten Blues, es gibt den Great-Smoky-Mountains-Nationalpark, hier wurde 1893 das Getränk Pepsi vom einheimischen Apotheker Caleb Bradham erfunden, und eine kulinarische Spezialität der Region heißt Livermush, eine Mischung aus Schweineleber, Teilen des Schweinekopfes und Maismehl. Je nach Zubereitung sieht das Zeug aus wie die weißrussische Kopie einer deutschen Leberwurst oder ein seit Stunden vor sich hin brutzelnder Leberkäse, für den man in Bayern wahrscheinlich auf der Stelle hingerichtet werden würde. Lecker!

Snowden wurde in Elizabeth City geboren, einem Städtchen mit rund 20.000 Einwohnern. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er allerdings im weiter südlich gelegenen und circa fünfmal so großen Wilmington direkt an der Atlantikküste, wo seine Großeltern, eine Tante und ein Cousin bis heute wohnen. Natürlich wurden sie nach Snowdens Enthüllungen sofort von der Presse belagert, hielten allerdings erstaunlich dicht. Wilmington, die Heimat der weltbekannten Venusfliegenfalle, ist gleich aus verschiedenen Gründen besonders. Hier fand am 10. November 1898 zum Beispiel der einzige erfolgreiche Staatsstreich in der Geschichte der USA statt (wenn man die beiden gewonnenen Präsidentschaftswahlen von George W. Bush nicht dazurechnet). 1.500 weiße Rassisten, aufgestachelt von Wirtschaftsbossen und Politikern, griffen ein von Schwarzen geführtes Bürogebäude an, in dem die Zeitung Wilmington Daily Record verlegt wurde. Sie verjagten die demokratisch gewählte Stadtverwaltung und brachten diverse farbige Mitbürger um. Verschiedene Quellen sprechen von bis zu 100 Opfern, mehrere Tausend verließen in den folgenden Tagen und Wochen die Stadt. Konsequenzen hatten die Aufständischen, die sich bei ihren Taten zum Teil gegenseitig fotografierten, nicht zu fürchten. Seit 2008 erinnern ein Park und ein Denkmal an die damaligen Unruhen.

In den 1980er-Jahren entdeckte dann Hollywood das Städtchen am Cape Fear River und machte den Ort nach Los Angeles und New York zur drittwichtigsten Filmmetropole des ganzen Staates. Hier entstanden in den folgenden Jahren diverse Blockbuster und erfolgreiche Serien wie Kap der Angst, The Crow– Die Krähe, Matlock oder Dawson’s Creek. Wir haben also den Staatsstreich auf der einen und diverse Schauplätze für Kriminalfilme und -serien auf der anderen Seite. Und starb nicht auch Brandon Lee, Hauptdarsteller in The Crow, während der Dreharbeiten 1993 in Wilmington durch äußerst mysteriöse Umstände (durch das Fragment einer Pistolenkugelattrappe)? Das alles geschah in unmittelbarer Nachbarschaft zu Snowden. Seltsam, dass darauf noch kein Boulevardblatt angesprungen ist.

Zurück zum Staat North Carolina, der unter anderem auch »Staat der Teerfersen« genannt wird, seine Einwohner »Tar Heels«, also »Teerfersen«. Das klingt erst mal nicht sonderlich nett, hat allerdings historische Hintergründe. Denn in den vergangenen Jahrhunderten lebten große Teile der Bevölkerung von der Teer- und Terpentingewinnung aus den weitläufigen Kiefernwäldern des Staates. Und wer da kein festes Schuhwerk trug, holte sich schnell schwarze Füße. Der Ausdruck tauchte zum ersten Mal Ende des 19. Jahrhunderts auf und hat sich bis heute gehalten. Der offizielle Trinkspruch, der an den Universitäten des Staates nachgesprochen wird, heißt dann auch »The Tar Heel Toast«. In den USA ist die Bezeichnung sehr verbreitet, allerdings weiß kaum jemand, woher sie stammt. Snowden ist also eine »Teerferse«, wie auch die Schauspielerin Ava Gardner, die Sängerin Tori Amos, der Schmonzettenschriftsteller Nicholas Sparks oder die Boxlegende Sugar Ray Leonard. Ansonsten sieht es in Sachen Sport in North Carolina eher mau aus. Okay, die in den USA sehr populäre NASCAR-Rennserie hat hier ihre Heimat. Aber viel mehr sportliche Vorbilder hätte sich Snowden in unmittelbarer Umgebung gar nicht suchen können, weshalb er seine Freizeit trotz des sprichwörtlich sonnigen Wetters des Staates lieber vor dem Computer verbrachte. Mit den bekannten Ergebnissen.

GRUND 2

Weil er mit zweitem Vornamen Joseph heißt

»Namen sind Schall und Rauch«, meinte Johann Wolfgang von Goethe und stellte sich damit offen gegen den römischen Dichter Titus Maccius Plautus, der in ferner Vergangenheit behauptete, »Nomen est omen«, also »Der Name ist ein Zeichen«. In diesem Fall müssen wir uns, auch wenn es manchem nicht leichtfallen wird, auf die Seite des Norditalieners stellen. Denn Snowden hätte von seinen Eltern Lonnie und Wendy gar nicht passender getauft werden können.

Das bezieht sich vor allem auf den zweiten Vornamen, der eine besondere Bedeutung hat. Und damit ist die biblische gemeint, die natürlich auf der Hand liegt. Die Liste wichtiger, einflussreicher und geheimnisvoller Männer reicht von Josef von Nazareth, der die (von wem auch immer) schwangere Maria ehelichte und sich dann irgendwie klammheimlich aus der Jesus-Geschichte verabschiedete, über Josef, der als einer der Stammväter Israels gilt, bis hin zu Josef von Arimathäa, der seine Finger beim Verstecken des Heiligen Grals im Spiel gehabt haben soll. Und hätten sich die ausführenden Behördenmitarbeiter in den USA diese Kleinigkeit gemerkt, dann wäre Snowden wahrscheinlich gar nicht bis Russland gekommen, sondern hätte gleich von Hongkong aus (unter freundlichem Druck einiger Geheimdienstmitarbeiter) die Heimreise antreten müssen. Denn anders als häufig dargestellt, wäre Hongkong unter gewissen Umständen bereit gewesen, den Whistleblower an die USA auszuliefern. Das Magazin Stern berichtet jedenfalls von einem Tweet, der tief blicken lässt.1 Absender der Kurznachricht war Justizstaatssekretär Rimsky Yuen, der so verriet, dass der Auslieferungsantrag fehlerhaft gewesen sei. Denn Snowden hatte sich in Hongkong mit dem Vornamen Edward Joseph ausgewiesen. Im Antrag der US-Behörden, in dem der Name mehrfach auftauchte, stand entweder James oder nur J. Das geht so natürlich nicht, also wiesen die Behörden den Antrag zurück, und Snowden konnte gen Russland entkommen. Andere Quellen sprechen davon, dass auf dem Antrag zudem die Passnummer fehlte. Da kann ja jeder kommen. Ein Hoch auf die Bürokratie!

Während Snowdens erster Vorname Edward nicht viel hergibt, hat der Nachname des Whistleblowers eine lange Tradition. Er bedeutet übersetzt so viel wie »verschneite Spitze«. »Snowden« leitet sich vom Begriff »Snowdon« ab, was ebenfalls »verschneite Spitze« oder »Berg« heißt. Die höchste Erhebung in Wales trägt diesen Namen. Und diese liegt im Snowdonia-Nationalpark. Ob das britische GCHQ (Government Communications Headquarters; zu Deutsch: Regierungskommunikationshauptquartier) schon überlegt, den Berg samt Nationalpark umzubenennen, um nicht an den Feind Nummer eins zu erinnern, ist nicht bekannt. Im alten England wurde der Name »Snowden« auch als Vorname für Jungen verwendet. Wer noch weiter zurückgeht, landet beim altnordischen »Snode«, was so viel wie »Mütze« oder »Kapuze« bedeutet. Andere Experten meinen, »Snode« hätte ursprünglich »glatt« oder »ohne Haare« bedeutet, was am Ende allerdings wieder auf das Gleiche herauskommt. Der Name war vor allem in Nord- und Mittelengland sowie in Schottland verbreitet. So trug das heute als »Stirling Castle« bekannte Schloss nordwestlich von Edinburgh in früheren Zeiten angeblich den Namen »Snowdoun«. Auf dem Gebiet der heutigen USA tauchte der Name nachweislich erstmals im 17. Jahrhundert auf.

Wer die Adelshistorie mag und gerne Sendungen mit Rolf Seelmann-Eggebert schaut, wird vielleicht auch wissen, dass die 2002 verstorbene Prinzessin Margaret (die kleine Schwester von Elisabeth II. und Tochter von König George VI) den Titel »Countess of Snowdon« trug. Den hatte sie erworben, weil sie 1960 den bürgerlichen Fotografen Antony Armstrong-Jones ehelichte und dieser dringend einen Titel brauchte. Da das britische Königshaus für solche Eventualitäten immer ein paar unbenutzte Titel in der Schublade liegen hat, wurde aus Antony der Earl, also quasi ein Graf, auch wenn sich die beiden 1978 wieder scheiden ließen. Als 1st Earl of Snowdon lebt Armstrong-Jones bis heute in London, interessiert die Öffentlichkeit allerdings wenig. Schade ist jedoch, dass seine Exfrau, die deutlich mehr im Rampenlicht stand, nicht mehr lebt. Denn die englische Boulevard-Presse hätte sicher einige schöne Wortspiele und Bezüge zwischen Prinzessin Margaret und dem Whistleblower hergestellt, über die sich vielleicht sogar Edward amüsiert hätte.

GRUND 3

Weil er seine Jugend mit Tekken und Final Fantasy zugebracht hat

Wer in den Siebzigern geboren wurde, hatte das Glück, die erste Generation der Heimcomputer mitzuerleben. Man denke nur an die Atari 400/800er-Reihe oder den legendären Commodore 16. Heutige Jugendliche können anhand der damals abrufbaren Möglichkeiten natürlich nur müde grinsen. Unter fotorealistisch läuft seit einigen Jahren gar nichts mehr. Edward Snowden aber wurde 1983 geboren und wuchs demnach in einer Zeit auf, in der die ersten Kinderkrankheiten der Heimcomputer zwar schon Geschichte waren, die Möglichkeiten aber immer noch begrenzt.

Der junge Edward begeisterte sich laut übereinstimmenden Medienberichten schon sehr früh für Computer, bastelte an verschiedenen Modellen herum und versuchte zu verstehen, wie diese Dinger eigentlich genau funktionieren. Er war aber kein hackendes Wunderkind, sondern ein durchschnittlicher Teenager. Und die wollen vornehmlich zocken. Zu seinen Lieblingsspielen gehörte die legendäre Tekken-Reihe. Der erste Teil des Spiels erschien 1994 sowohl als Spielautomat als auch für die erste Generation der Playstation. Das Spiel gehört zu den Begründern des 3D-Beat-’em-up-Genres; Tekken ist japanisch für »Schlagring«. Inhaltlich geht es um das »The King Of Iron Fist Tournament«, ein hartes Turnier für die besten Kombattanten der Welt. Was auf den ersten Blick wie ein simples Kampf-Spiel aussieht, erweist sich bei genauerem Hinschauen als recht tiefgründig, da alle Kämpfer eine Geschichte haben und miteinander in Beziehung stehen. Unter dem Strich geht es um Familienfehden, Rache und Ehre. Die bis heute fortgeführte Reihe schaffte es im Laufe der Zeit auch ins Kino. Da Snowden als Kind ein großer Fan von japanischen Anime-Serien gewesen sein soll, also durchaus ein passendes Spiel.

Ein weiterer Favorit des jungen Snowden war das Spiel Final Fantasy, das ebenfalls japanische Wurzeln hat und bereits 1987 auf den Markt kam. In dem Rollenspiel-Klassiker, der es bis heute auf insgesamt 14 Fortsetzungen und mehrere Filme gebracht hat, wurde ein simples Gut-Böse-Schema etabliert, in dem der Spieler seine heile Welt vor dem Eingreifen übermächtiger dunkler Mächte schützt. Dabei sieht es zu Beginn grundsätzlich so aus, als hätte er keine Chance. Mit geschickten Spielzügen lässt sich das Schicksal aber drehen. Von der NSA war damals allerdings noch keine Rede.

Natürlich versuchten Hobbypsychologen sofort nach Bekanntwerden dieser Tatsachen eine Verbindung zwischen den Spielen und Snowdens späterem Lebensweg zu ziehen, und schnell stand die Frage im Raum, ob es in den Spielen Elemente gab, die die Entwicklung des jungen Snowden zum Whistleblower gefördert oder gar hervorgerufen haben könnten. Wie bei Attentätern, bei denen auch erst die Festplatte nach »auffälliger« Musik und Spielen durchsucht wird, bevor man sich um zerrüttete Familienverhältnisse, seelische Defekte und Drogenprobleme kümmert, wurde eine schnelle Antwort gefunden: Tekken und Final Fantasy könnten durchaus solche Elemente enthalten haben. Möglich, aber die sind in Grimms Märchen ebenfalls zu finden. Denn auch dort versucht das Gute oft gegen das scheinbar unbesiegbare Böse zu gewinnen, was nicht selten gelingt. Aber deshalb rufen die Gebrüder Grimm noch nicht zum Datenklau auf. Abgesehen davon, würden diese (aus heutiger Sicht völlig harmlosen) Spiele eine solche Wirkung erzielen, die Welt wäre voll von Attentätern und Whistleblowern. Schließlich wurden von Tekken im Laufe der Zeit über 27 Millionen Exemplare verkauft, Final Fantasy bringt es sogar auf über 100 Millionen Stück. Und nicht wenige der Käufer werden sich, wie Snowden, die Nächte um die Ohren geschlagen haben, um in fremde Welten abzutauchen. Deshalb müssen diese Menschen aber noch nicht an Realitätsverlust leiden. Genauso wenig wie jeder Fifa-Spieler im späteren Leben Fußballstar wurde. Schade, eigentlich.

GRUND 4

Weil er ein Scheidungskind ist

In Industriestaaten wie Deutschland, der Schweiz oder den Vereinigten Staaten liegt die Scheidungsrate bei rund 50 Prozent. Keine schöne Sache, aber wohl nicht zu ändern. Oder doch? In den USA wurde vor einigen Jahren eine Initiative gegründet, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, möglichst viele Ehen zu retten.2 Mit erstaunlichem Erfolg. In Kansas City, dem Geburtsort der Initiative, wurde die Scheidungsrate um 70 Prozent gesenkt. Beteiligt sind Pastoren, aber auch Privatpersonen, die sich zu sogenannten »Marriage Savers« (Ehe-Rettern) ausbilden lassen können. Der Erfolg gibt den Organisatoren recht, mittlerweile gibt es in über 200 Städten der USA ähnliche Initiativen.

Ob sie auch Lonnie und Wendy Snowden, Edwards Eltern, geholfen hätte, ist Spekulation. Ihre Ehe ging jedenfalls in die Brüche. Die beiden hatten sich an der Northeastern Highschool in Elizabeth City kennengelernt und mit 18 Jahren (im Jahr 1979) geheiratet. Die Scheidung fand im Jahr 2001 statt, Lonnie heiratete später wieder und lebt seitdem mit seiner zweiten Ehefrau Karen in Pennsylvania. Zum Zeitpunkt der Scheidung war Edward 18 Jahre alt. Ein Jahr später kaufte Wendy ein kleines Häuschen in Maryland, in dem Edward für die nächsten zwei Jahre alleine lebte (für kurze Zeit wahrscheinlich mit einem Mitbewohner), bevor sie selbst einzog. Wie die Internetseite Bloomberg berichtet, schaute Mama Wendy einmal die Woche mit Lebensmitteln vorbei.3 Eine Nachbarin will beobachtet haben, dass Edward nur sehr wenig Besuch bekam. Einzig eine junge Dame mit einem Kennzeichen aus Virginia war regelmäßig zu Gast. Woraus wir zweierlei lernen: In den USA sind die Nachbarn genauso neugierig wie hierzulande. Und Edward Snowden ließ es sich scheinbar gut gehen. Inklusive Damenbesuch und Essen frei Haus. Depressionen, eine der häufigsten Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen, deren Eltern sich scheiden lassen, hatte Edward vermutlich nicht. Dann schon eher einen übersteigerten Geltungsdrang, was ebenfalls von einer Scheidung herrühren kann. Nicht wenige Gegner werfen Snowden genau das vor. Aber die NSA-Affäre jetzt auf Lonnie und Wendy zu schieben, wäre ein bisschen arg einfach. Es sei denn, die Nachbarn erzählen etwas anderes.

GRUND 5

Weil er O’ahu, Hawaii, gegen Moskau, Russland, getauscht hat

Als Edward Snowden Anfang Juni 2013 in Hongkong seine Identität als Whistleblower enthüllte, war ihm klar, dass er damit sein bisheriges Leben über Bord wirft. Einige Tage später erwirkte das FBI den zu erwartenden Haftbefehl gegen Snowden, der ihm unter anderem Spionage vorwirft. Snowden machte sich am 23. Juni auf den Weg nach Russland, von wo aus er in ein Drittland (vermutlich Ecuador) weiterreisen wollte, um dort Asyl zu beantragen. Snowden landete auf dem Flughafen Moskau-Scheremetjewo und hat seit diesem Tag (Stand: Februar 2014) russischen Boden nicht mehr verlassen. Erst hielt er sich im Transitbereich des riesigen Geländes auf, dann tauchte er an einem unbekannten Ort, vermutlich im Großraum Moskau, unter. Eine große Umstellung für den Whistleblower, wie folgender Vergleich der beiden Wohnorte beweist.

O’ahu wurde im Jahr 1778 von James Cook und seiner Crew entdeckt, aber nicht betreten. Die ersten Europäer setzten erst rund ein Jahr später einen Fuß auf das Eiland, wo sie auf die eingeborenen Polynesier trafen. Die Insel bietet heute etwa einer Million Menschen Heimat, die meisten davon wohnen in Honolulu (rund 337.000), welches gleichzeitig Hauptstadt des US-Staates Hawaii ist. Snowden lebte im 34.000-Seelen-Örtchen Waipahu, wo er ein hellblaues Haus mit 145 Quadratmetern Wohnfläche gemietet hatte. Nach seiner Flucht wurde die Immobilie für 555.000 US-Dollar zum Kauf angeboten. Von Waipahu aus sind sowohl die Innenstadt von Honolulu als auch der Militärstützpunkt Pearl Harbor innerhalb weniger Minuten zu erreichen. Und auch in puncto Wetter gibt es nicht viel zu meckern. Auf der tropischen Insel O’ahu liegt das Jahresmittel bei etwa 27 Grad Celsius, Waikiki (heute ein Stadtteil von Honolulu) gehört zu den regenärmsten Orten der ganzen Welt. Das hat Einfluss auf das Lebensgefühl und die Freizeitgestaltung. So wurde der Lanikai-Strand im Osten der Insel 2008 von National Geographic auf Platz fünf der schönsten Plätze auf diesem Planeten gewählt. Einige der bekanntesten Surf-Gebiete der Welt liegen ebenfalls auf beziehungsweise vor O’ahu.

Im rund 1.000 Quadratkilometer größeren Moskau sucht man den Strand hingegen etwas länger. Ist er dann endlich gefunden (es gibt durchaus Badeseen und Strände in und um Moskau), will sich das tropische Lebensgefühl doch nicht so ganz einstellen. Und das trotz 35 Grad Celsius, die im Sommer keine Seltenheit sind. Irgendwie fehlen die Palmen. Und die vielen verwilderten Hunde, die eher an Wölfe erinnern, trüben das Badevergnügen. Auch sind viele der Strände ziemlich vermüllt. Aber Snowdens Gesichtsfarbe nach zu urteilen ist er eh kein großer Freund von Outdoor-Aktivitäten. Vielleicht kommt ihm das Wetter im 1147 auf älteren Siedlungen gegründeten Moskau sogar entgegen. Allerdings leben hier über elf Millionen Menschen; Zählt man das Umland dazu, sind es sogar über 15 Millionen. Es herrscht also ein wenig mehr Betrieb als auf O’ahu. Moskau liegt in der kühlgemäßigten Klimazone mit Kontinentalklima, im Jahresdurchschnitt herrschen hier 5,4 Grad Celsius, im Winter geht es auch schon mal auf minus 20 Grad in den Keller. Der Niederschlag ist mit rund 700 Millimetern im Jahr recht hoch, ungefähr vergleichbar mit Hamburg. Es bleibt also zu hoffen, dass Snowden ein paar Jacken und Socken mehr eingepackt hat. Wenn möglich, auch ein wenig Bargeld. Denn Moskau ist aktuell die drittteuerste Stadt der Welt. Laut der Webseite Russian Sphinx kostet eine etwa 120 Quadratmeter große Wohnung im Stadtzentrum rund eine Million Dollar. Dafür hätte Snowden auf O’ahu einen Palast samt eigenem Sicherheitspersonal kaufen können.

Unterm Strich hat der Whistleblower einen interessanten Tausch vollzogen. Vom tropischen Paradies in die Heimat der Zaren. Moskau bietet zwar kulturell (Museen, Ausstellungen, Konzerte etc.) mehr Ablenkung als die kleine Insel O’ahu. Aber weitere Vorteile lassen sich beim besten Willen nicht ausmachen. Wäre da nicht dieser Haftbefehl, Snowden würde wahrscheinlich höchstpersönlich das Kerosin für den Heimatflug aus anderen Jets saugen. Aber so bleibt er in der kühlen Obhut von Putin und seinem FSB. Eine skurrile Situation. Hätte man einem US-Amerikaner vor 30 Jahren erzählt, dass sich ein Landsmann in Moskau verkriecht, weil er für die Freiheit der Welt eintritt, man hätte wahrscheinlich in den Lauf eines Revolvers geschaut. Oder zumindest in ein ungläubig schauendes Gesicht.

GRUND 6

Weil er eine Mischung aus Stephen Hawking und Bruce Lee ist

In der Öffentlichkeit wird Edward Snowden gerne so dargestellt, als hätte er sein Leben, mit Ausnahme seiner letzten Freundin Lindsay, mehr oder minder alleine verbracht. Er selbst trug zu diesem Bild bei, zum Beispiel ließ er vor vielen Jahren in einem Online-Forum wissen, dass nicht mal Gott wissen solle, wo er sich aufhält. Zu diesem Zeitpunkt war Snowden gerade mal 20 Jahre alt. Aber im Sommer 2013 tauchte plötzlich eine junge Dame auf, die sich als ehemalige Arbeitskollegin von Snowden ausgab und ihn in seiner Zeit in Genf (von Sommer 2007 bis Anfang 2009) kennengelernt hatte. Ihr Name: Mavanee Anderson. Ihr Ziel: das Bild des Whistleblowers in der Öffentlichkeit ein wenig geradezurücken. Deshalb schrieb sie einen Kommentar in der Chattanooga Free Press, der sich streckenweise fast wie ein Liebesbrief anhört. Anders als die meisten Kollegen von Snowden arbeitete Anderson nie direkt für die CIA oder den NSA (was sie genau tat, verrät sie nicht), unterliege also auch keiner Geheimhaltung. Hierin, so glaubt die junge Dame, liegt der Hauptgrund, warum nicht mehr ehemalige Weggefährten eine Lanze für den früheren Geheimdienstmitarbeiter brechen.

Unter anderem beschreibt Anderson in ihrem Kommentar Snowden als »klug, liebenswürdig und ehrlich. Er sprach sehr oft darüber, dass er die Highschool nicht abgeschlossen hatte (…). Er ist ein Computer-Zauberer – ich persönlich habe ihn immer als Genie gesehen –, der sich das meiste selbst beigebracht hat. Dabei ist er introvertiert und neigt wahrscheinlich ein wenig zum Grübeln. Eben die Art von Mensch, die sehr lange und intensiv nachdenkt, bevor sie eine Entscheidung fällt.«4 Doch Mavanee möchte nicht als Plaudertasche dastehen und hält fest: »Er besitzt ein paar Fähigkeiten und Talente, die ich nicht mitteilen möchte. Denn momentan befindet er sich auf der Flucht. Ich werde nichts über ihn enthüllen, was die, die ihm Böses wollen, gegen ihn verwenden könnten.«5 Was natürlich neugierig macht. Welche Fähigkeiten besitzt Snowden? Kann er fliegen? Durch Wände gehen? Das Internet verschwinden lassen? Letztgenanntes wahrscheinlich schon. Doch Mavanee spendiert uns noch einen Blick in die geheime Welt von Edward S.: »Ed ist interessant und brillant. Er beherrscht die Kampfkünste und nimmt an vielen Veranstaltungen dieser Art teil. Ich weiß, dass er jedes Jahr am chinesischen Neujahrsfest mit seinem Verein an Umzügen teilgenommen hat. Einmal gab er mir sogar eine kleine Einführung. Ich war überrascht über seine Fähigkeiten und amüsiert darüber, dass er mit einem Neuling nicht sonderlich nachsichtig umging.«6 Zum Abschluss wird es wieder etwas romantischer: »Ich wünschte, ich könnte bei ihm sein und ihm irgendwie helfen oder ihn schützen. Hoffentlich kann ich ihm bald folgende Nachricht übermitteln: Ich denke an dich und feuere dich an. Und ich bin stolz auf dich.«7

Wer so schön schreibt, hat auch eine Antwort verdient. Zwar nicht vom Angeschmachteten, sondern nur vom Autor dieses Buches, aber vielleicht besser als nichts:

»Liebe Mavanee, sollte Ed Snowden wirklich die von dir beschriebene Mischung aus Stephen Hawking und Bruce Lee sein, wird er sicher einen Weg finden, den Kontakt zu dir wieder aufzunehmen. Und wenn er in Ketten liegt. Ich drücke dir die Daumen. Ganz ehrlich!«

GRUND 7

Weil er den Narzissten nur manchmal raushängen lässt

Der Begriff »Narzissmus« leitet sich aus der griechischen Mythologie ab, in der es einen hübschen Jungen namens Narziss gibt, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt. Aus dem einfachen Begriff der Selbstverliebtheit entwickelten sich im Laufe vieler Jahre diverse Interpretationen des Begriffs, die meisten davon negativ, manche aber auch positiv belegt. Narzissmus kann demnach eine sexuelle Störung, aber auch eine wichtige Stufe im Erwachsenwerden bedeuten. Wir bleiben an dieser Stelle allerdings beim ursprünglichen Begriff. Denn nicht wenige Kommentatoren werfen Edward Snowden vor, ein selbstverliebter Bengel zu sein, der sich an seiner Macht und seiner Popularität berauscht.

So erschien bereits wenige Tage nach Snowdens »Coming-out« ein Kommentar im New Yorker, in dem der Journalist Jeffrey Toobin sehr deutlich darauf verwies, dass wir es mit einem machtgeilen Narzissten zu tun haben. Er schrieb: »Für seine Taten wird er (Snowden – Anm.d.A.), unter anderem auch von meinem Kollegen John Cassidy, als Held und Whistleblower gefeiert. Er verkörpert nichts von dem. Vielmehr ist er ein grandioser Narzisst, der es verdient hätte, im Gefängnis zu landen.«8 Toobin begründet seine Einschätzung, indem er verschiedene Wege aufzeigt, die Snowden hätte gehen können, ohne das Gesetz zu verletzen. So hätte sich der Whistleblower laut seinem Kritiker zum Beispiel an den Kongress oder direkt an seinen Arbeitgeber wenden können. Toobin schließt mit dem Fazit: »Aber Snowden tat nichts davon. Er befriedigte lieber sein Ego als sein Gewissen und warf die Geheimnisse, die er kannte, einfach in die Luft. Anschließend hoffte er, dass dabei schon etwas Gutes herauskommen würde. Wir alle müssen nun hoffen, dass er sich nicht verrechnet hat.«9

Das ist die Meinung von Jeffrey Toobin, die sich auf Vermutungen und Einschätzungen des Journalisten stützt. Dennis Blair, der ehemalige Direktor der Nationalen Nachrichtendienste und Mitglied diverser Think Tanks, äußerte sich in der britischen Ausgabe der International Business Times in ähnlicher Weise.10 Er bezeichnete den Whistleblower als »niederen Angestellten«, dem der Blick für das Ganze fehle. Deshalb sei Snowden »kein verlässlicher Zeuge«. Mit anderen Worten, der Mann macht sich einfach nur wichtig. Selbst die als Whistleblower-freundlich bekannte Taz stellt die Frage: »Hero oder Zero?«, kommt allerdings zu einem deutlich freundlicheren Ergebnis als die Kollegen aus den USA und Großbritannien: »Snowden sei selbstbewusst, ohne eitel zu wirken.«11

Doch natürlich sind all diese persönlichen Einschätzungen von Journalisten und Ex-Militärs nicht exakt, vielmehr sollen sie die Meinung des Urhebers widerspiegeln. Viel deutlicher tritt der Mensch Edward Snowden hervor, wenn man sich einige seiner Zitate genauer anschaut. In einem Artikel der Zeit zitiert das Blatt aus einem älteren Online-Eintrag von 2005, der von Snowden stammen soll, kurz nachdem er sein Informatik-Studium abgebrochen hatte: »Kluge Köpfe brauchen keine Universität. Sie bekommen, was sie wollen, und hinterlassen still ihre Spuren in der Geschichte.«12 Das klingt zugegebenermaßen schon ein bisschen selbstverliebt. Und das mit den »stillen Spuren« hat auch nicht so recht geklappt. Doch es geht noch weiter. In einem Nutzerprofil beschreibt sich Snowden selbst als arrogant und grausam, »weil ich als Kind nicht genug umarmt wurde.« Etwas weiter unten dann: »Ich mag meinen mädchenhaften Körper, der die Mädchen anzieht«.13 Auch hier lassen sich ohne viel Fantasie narzisstische Neigungen hineininterpretieren.

Auf der anderen Seite: Snowden ist zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 21 Jahre alt und scheint absolut nicht zu wissen, in welche Richtung sein Leben verlaufen soll. Seine Eltern haben sich drei Jahre zuvor scheiden lassen, er hat erst die Schule, dann sein Studium abgebrochen. Die U.S. Army mustert ihn 2004 aus. Offensichtlich befindet sich Snowden nach einigen persönlichen Niederlagen zum Zeitpunkt der Einträge in einer Lebens- und Findungskrise, die er sich von der Seele schreiben will. Vorherige Generationen luden ihren Seelenmüll in ihrem Tagebuch ab, was heute gut versteckt in der untersten Schrankschublade liegt. Da passt das Internet leider nicht rein, weshalb wir uns heute an solchen Momentaufnahmen ergötzen können. Man sollte aber vorsichtig sein, zu viel in sie hineinzuinterpretieren. Was Snowden zu seinen Handlungen bewogen hat, weiß sowieso nur er selbst. Wenn überhaupt.

GRUND 8

Weil er ein verkappter Vegetarier ist

Was isst eigentlich Edward Snowden? Diese Frage gehört eigentlich in die Abteilung »Dinge, die man nicht wissen muss«, sorgt aber für munteres Rätselraten unter Journalisten, Hobbyköchen und Freunden des Satzes »Du bist, was du isst«. Denn der Spiegel merkte in einem (mittlerweile verschwundenen) Nebensatz einmal an, dass Snowden ein Vegetarier sei. Das brachte dem Whistleblower natürlich weitere Sympathiepunkte bei einer gewissen Klientel ein. Dummerweise berichtete der Politiker Hans-Christian Ströbele nach seinem Besuch in Moskau am 31. Oktober 2013 aber, man habe gemeinsam Steaks gegessen. Also bevorzugt der Whistleblower vielleicht nur pflanzliche Gerichte, ist als echter US-Boy aber auch einem gut abgehangenen Stück toten Tiers nicht abgeneigt.

In der Woche nach Ströbeles Reise versammelte sich eine illustre Runde in der Talkshow Beckmann, darunter auch Hans-Christian Ströbele und der Bild-Chefreporter Julian Reichelt, der aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen als Experte zu diesem Thema gilt. Wie immer nahm Reichelt die Position der US-Regierung ein, verteidigte das massenhafte Ausspähen von Bürgern und die Verfolgung von Edward Snowden. An diesem Abend sagte er jedoch einen denkwürdigen Satz: »Wir wissen nicht mal, was Herr Snowden isst. Woher sollen wir wissen, werer ist?« Mit anderen Worten, wer nicht weiß, was historische Persönlichkeiten wie Einstein, Gandhi oder Al Capone gefrühstückt haben, braucht sich gar nicht weiter mit ihnen auseinanderzusetzen. Interessante These. Aber wie sagte Winston Churchill einst so schön: »Mit dem Geist ist es wie mit dem Magen: Man kann ihm nur Dinge zumuten, die er verdauen kann.« Und die Kapazitäten sind hier wie dort recht unterschiedlich verteilt.

GRUND 9

Weil es viele schöne Zitate von ihm gibt

Was ein echter Weltstar ist, der hinterlässt dem gemeinen Volk nicht nur seine Arbeit, seine Werke oder Ideen. Nein, wirkliche Größen schaffen es, durch ein einziges Zitat unsterblich zu werden. Von »Mehr Licht« über »Und sie bewegt sich doch« bis hin zu »Ich bin ein Berliner« und »Ich habe fertig« reicht die Palette an einprägsamen Sätzen, die untrennbar mit einer Person verbunden sind. Die Zeit wird zeigen, ob sich auch Edward Snowden in diese Liste einreihen kann. Einige denkwürdige Sätze sind dem jungen Mann auf jeden Fall schon herausgerutscht, auch wenn seine Kommunikationsmöglichkeiten, aus bekannten Gründen, ziemlich eingeschränkt sind.

So sagte Snowden in einem Interview mit The Guardian auf die Frage nach den Risiken seiner Aktionen: »Du kannst dich nicht mit den mächtigsten Geheimdiensten der Welt anlegen und das Risiko nicht akzeptieren.«14 Eine realistische, aber auch ziemlich düstere Einschätzung. Im gleichen Interview gibt Snowden zudem Einblicke in die Möglichkeiten der Geheimdienste. »Die NSA hat eine Infrastruktur errichtet, die es ihr erlaubt, alles abzuhören. Mit diesen Möglichkeiten wird die große Mehrheit der menschlichen Kommunikation erfasst, ohne dass man ein bestimmtes Ziel auswählen muss. Wenn ich deine E-Mails lesen oder das Telefon deiner Frau abhören wollte, müsste ich diese Daten nur herausfischen. So kann ich deine E-Mails, Passwörter, Telefonanrufe oder Kreditkartennummern bekommen.«15 Eigentlich schade, dass diese Datenbanken nicht jedem zur Verfügung stehen. Wie viele Streitigkeiten über angeblich am Telefon Gesagtes könnten vermieden werden, wenn man ganz einfach das Gespräch noch einmal abrufen könnte? Davon abgesehen ist die Situation um Snowden natürlich ernst, wie er selbst bei seiner legendären Pressekonferenz am 12. Juli 2013 auf dem Flughafen in Moskau zugab. Im folgenden Statement prangert er die Tatsache an, dass sein Pass während seines Aufenthaltes in Moskau von den US-amerikanischen Behörden für ungültig erklärt wurde: »Die Regierung und die Geheimdienste der Vereinigten Staaten von Amerika haben versucht, ein Exempel an mir zu statuieren. Eine Warnung an all diejenigen, die wie ich das Maul aufmachen könnten. Ich wurde für meinen Akt des politischen Ausdrucks zum Staatenlosen und Gejagten gemacht.«16

Am 17. Juni 2013 richtete der Journalist Glenn Greenwald auf den Seiten der britischen Tageszeitung The Guardian eine Rubrik für Fragen der Nutzer an Snowden persönlich ein. Für fünf Stunden stellte sich der Whistleblower der Netzgemeinde. Und bewies bei der einen oder anderen Frage durchaus Schlagfertigkeit. So wollte jemand wissen, wie Snowden es denn gefunden hat, ausgerechnet von einem ehemaligen Vize-Präsidenten und von diversen skandalumwitterten Politikern als Verräter bezeichnet worden zu sein. Snowdens Antwort: »Von Dick Cheney Verräter genannt zu werden, ist die höchste Auszeichnung, die einem Amerikaner zuteil werden kann.« Oder über seine neu gewonnene Popularität: »Die Mainstream-Medien interessieren sich leider mehr dafür, was ich als 17-Jähriger gesagt habe oder wie meine Freundin aussieht, anstatt sich mit dem, nennen wir es unauffälligsten Kontrollprogramm der Menschheitsgeschichte zu beschäftigen.« Oder auf die Frage, ob er ein chinesischer Spion sei: »Angenommen, ich wäre ein chinesischer Spion. Warum bin ich dann nicht direkt nach Beijing geflogen? Ich könnte in einem Palast leben und mit einem Phönix rumknutschen.« Aber er kann auch pathetisch, zum Beispiel wenn es um sein Heimatland geht. »Dieses Land ist es wert, dafür zu sterben.« Starke Worte, die vielleicht auch dem (nur allzu verständlichen) Heimweh geschuldet sind.

Am liebsten aber spricht Snowden über die Bedrohung der Freiheit eines jeden Bürgers durch Geheimdienste, Regierungen und ihre Programme. Als Snowden am 9. Oktober 2013 der Sam Adams Award in Moskau übergeben wurde, hielt der Whistleblower eine kleine Rede. Die Webseite Policymic.com wählte daraus drei Zitate Snowdens aus, die belegen sollen, dass der US-Amerikaner ein echter Held sei. So sagte Snowden in Moskau: »Wenn wir die Strategien und Programme unserer Regierung nicht verstehen, können wir ihnen auch nicht zustimmen.« Und weiter: »Wir haben eine Exekutive […], die über Leichen gehen würde, um jemanden zu verfolgen, der ihnen die Wahrheit gesagt hat.« Auch das dritte Zitat aus dieser Rede hat es in sich: »Diese Programme machen es für uns nicht sicherer. Sie schaden unserer Wirtschaft. Sie schaden unserem Land. Sie limitieren unsere Möglichkeiten, zu sprechen, zu denken, zu leben und kreativ zu sein.« Womit Edward Snowden, der zu diesem Zeitpunkt bereits rund vier Monate auf der Flucht war, vielen Menschen aus der Seele spricht. Denn ein Fakt, den Snowden abschließend bei der oben beschriebenen Fragestunde auf der Homepage des Guardian erwähnt, ist unbestritten: »Unfälle im Haushalt und Polizeibeamte töten mehr Amerikaner als Terroristen. Trotzdem sollen wir unsere heiligsten Rechte opfern, aus Angst, ihnen zum Opfer zu fallen.«

GRUND 10

Weil es viele schöne Zitate über ihn gibt

Wann immer ein Mensch mit der Wucht eines Edward Snowden ins Licht der Öffentlichkeit tritt, wird es prominente Mitbürger geben, die sich dazu äußern. Zum Teil, weil sie direkt betroffen sind. Andere wiederum, um ihre Unterstützung oder Ablehnung kundzutun. Im Fall von Snowden sind es natürlich in erster Linie Politiker, die sich zu Wort melden. Aber auch Künstler möchten der Welt mitteilen, was sie vom bekanntesten Whistleblower aller Zeiten halten. So zum Beispiel der Regisseur, Drehbuchautor, Produzent und Politaktivist Oliver Stone, unter anderem bekannt durch Filme wie John F. Kennedy – Tatort Dallas oder World Trade Center. Er sagte in einem Interview mit dem Guardian: »Für mich ist Snowden ein Held, denn er hat Geheimnisse enthüllt, die wir alle kennen sollten. Wir sollten wissen, dass die Vereinigten Staaten wiederholt den Vierten Zusatzartikel der Verfassung (der US-amerikanischen Bürgern das Recht vor Übergriffen des Staates garantiert – Anm.d.A.) missachtet haben. Er sollte willkommen sein und Asyl gewährt bekommen. Aber er findet keinen Platz, um sich zu verstecken, da alle Länder von den Vereinigten Staaten eingeschüchtert werden.«17 Der US-amerikanische Politiker Ron Paul, Mitglied der Republikaner und mehrfacher Bewerber um das Amt oder die Kandidatur des Präsidenten, stößt in ein ähnliches Horn. In der Fernsehsendung des Moderators Piers Morgan von CNN sagte Paul: »[Snowden] hat einen tollen Job gemacht. Denn er sagt die Wahrheit, die wir so dringend brauchen. Das amerikanische Volk ist ausgehungert nach der Wahrheit. Und wenn du eine diktatorische oder autoritäre Regierung hast, wird die Wahrheit sehr wertvoll. Für jemanden, der dem Volk die Wahrheit sagt, ist das eine gewaltige Anstrengung.«18

Politiker handeln und sprechen natürlich nicht immer aus tiefer persönlicher Überzeugung heraus, sondern auch aus Berechnung. Wie eine menschliche Geste in Bezug auf das Gewähren von Asyl für einen Verfolgten zum Politikum werden kann, beweist eine Aussage von Nicolás Maduro, Präsident von Venezuela. Im Rahmen des Asylgesuchs von Snowden an sein Land wurde der sozialistische Politiker in den BBC News wie folgt zitiert: »Als Kopf des Staates und der Regierung der Bolivarischen Republik Venezuelas habe ich mich entschieden, dem jungen US-Bürger Edward Snowden humanitäre Hilfe anzubieten. Er kann also in das Heimatland von Bolivar (Simón, südamerikanischer Unabhängigkeitskämpfer – Anm.d.A.) und Chávez (Hugo, Maduros Vorgänger im Amt, der sich wiederum auf Bolivar berief – Anm.d.A.) kommen, um weit weg von der nordamerikanischen, imperialistischen Verfolgung zu leben.«19 Sein Amtskollege Daniel Ortega aus Nicaragua drückte sich gegenüber der BBC etwas zurückhaltender aus: »Wir sind offen und respektieren das Recht auf Asyl. Wenn die Umstände es erlauben, werden wir Snowden mit Freuden empfangen und ihm hier in Nicaragua Asyl gewähren.«20

Der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter scheint in seiner Position Snowden gegenüber gespalten zu sein, kommt letztlich aber doch zu einer positiven Bewertung des Whistleblowers. Ende Juni äußerte sich Carter gegenüber CNN so: »Er hat offensichtlich die Gesetze Amerikas gebrochen, für die er verantwortlich ist. Aber ich denke, die Eingriffe in die Menschenrechte und die Privatsphäre der Bürger sind zu weit gegangen. Die Geheimniskrämerei wurde deutlich übertrieben. Letztlich war die Entscheidung, die Sache an die Öffentlichkeit zu bringen, auf lange Sicht gesehen wohl positiv.«21 Der amtierende US-Präsident, Barack Obama, sieht das naturgemäß etwas anders. Auf einer offiziellen Pressekonferenz, die er am 9. August 2013 im Weißen Haus gab, sagte er: »Ich denke nicht, dass Mister Snowden ein Patriot war. Und wenn er wirklich daran glaubt, dass das, was er getan hat, richtig war, dann kann er herkommen, mit seinem Anwalt vor Gericht erscheinen und über seinen Fall entscheiden lassen. […] Und es besteht kein Zweifel daran, dass Mister Snowdens Enthüllungen keine so heftigen und leidenschaftlichen Reaktionen hervorgerufen hätten, wenn ich einfach einen Untersuchungsausschuss eingesetzt hätte. Wenn ich mich mit dem Kongress zusammengesetzt hätte und die bemängelten Punkte durchgearbeitet hätte. Das wäre nicht so spannend gewesen und hätte nicht so viel Wirbel in der Presse gegeben. Aber ich denke, wir hätten die gleichen Ergebnisse erzielt. Und das, ohne die nationale Sicherheit oder lebenswichtigen Kanäle, die die nationale Sicherheit gewährleisten, aufs Spiel zu setzen.«22 Ob Präsident Obama einem kleinen, externen Mitarbeiter der NSA aber auch wirklich Gehör geschenkt hätte, steht auf einem anderen Blatt.

Natürlich gibt es noch unzählige weitere Statements und Zitate Prominenter, die sich mit Edward Snowden befassen. Die abschließenden Worte dieses Abschnitts sollen allerdings seinem alten Chef, Keith B. Alexander, gehören. Der äußerte sich Ende Juni 2013 gegenüber der ABC News-Sendung this week fast schon ein wenig persönlich beleidigt, indem er sagte: »[Snowden] hat den Glauben und das Vertrauen, das wir in ihn gesetzt haben, verraten. Er war ein Individuum, das eine Zugangsberechtigung für streng geheime Netzwerke besaß, um diese zu verwalten. Er hat dieses Vertrauen missbraucht und einige unserer Geheimnisse gestohlen.«23 Ja, es ist eine grausame Welt.

KAPITEL 2

DIE ORGANISATION DER SCHLAPPHÜTE

GRUND 11

Weil durch ihn die fünf Buchstaben PRISM weltberühmt wurden

Fünf Buchstaben wie ein Donnerhall. P-R-I-S-M. Zu Deutsch »Prisma«, eigentlich ein schönes Wort, welches wir aus der Geometrie, der Optik, der Weltraumforschung, als Fernsehsendung, Buchverlag und Handelsplattform kennen. Aber seit Edward Snowden hat dieser Begriff einen bedrohlichen Klang.

PRISM ist der Name eines Programms, das die