Die echte, inoffizielle, geheime Biografie von HIM - Marc Halupczok - E-Book

Die echte, inoffizielle, geheime Biografie von HIM E-Book

Marc Halupczok

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Beschreibung

HIM, und vorneweg Sänger und Objekt der Begierde Ville Valo, eroberten die Musikwelt wie im Sturm! Wicked Game oder das legendäre Join Me wurden zu Hymnen, die die Fans auf der ganzen Welt begeistert mitsingen. Jetzt gibt es die echte, inoffizielle und geheime Biografie, die den Weg der Band und ihres Masterminds nachzeichnet und uns allen den Herzensbrecher und Heart-Rocker noch etwas näher bringt. Dies gelingt dem Autor auch dank der Unterstützung durch HIM-Entdeckerin Silke Yli-Sirniö, die von den Bandmitgliedern liebevoll Mutti genannt wird.

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Marc Halupczok

Die echte, inoffizielle, geheime Biografie von

HIM

1. Auflage Mai 2012

Titelbild: Tina K von Getty Images

©opyright 2012 by Marc Halupczok

Lektorat: Franziska Köhler

Satz: nimatypografik

Druck & Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH

www.aalexx.de

ISBN: 978-3-939239-66-6

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder

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Ein Leben voller Widersprüche

Vom Skateboard fahrenden Black Sabbath-Fan zum größten finnischen Rockstar aller Zeiten, und das alles in nicht mal fünfzehn Jahren. Der 1976 geborene Ville Hermanni Valo aus dem Helsinkier Stadtteil Vallila hat zusammen mit seiner Band HIM und als Solokünstler eine Karriere hingelegt, die ihresgleichen sucht. Dabei ist er selten den geraden Weg gegangen: Erst etablierte er sich als kettenrauchender, asthmatischer Alkoholiker im Partyrausch, dann als abstinenter Einsiedler, der nicht mehr vor die Haustür tritt – ein Mensch voller Widersprüche. Er möchte der größte Rockstar aller Zeiten werden, beschwert sich aber gleichzeitig über die große Aufmerksamkeit, die ihm seitens der Presse und der Fans geschenkt wird. Es ist seine Idee, in den Titeln der ersten EP666 Ways To Love: Prologueund des ersten AlbumsGreatest Lovesongs Vol. 666die «Zahl des Tieres» unterzubringen, wundert sich dann aber darüber, dass Presse und Fans darauf einsteigen. Einerseits lästert er über Testosteron geschwängerte Heavy­ Metal-Combos, andererseits sieht er sich und seine Band in der Tradition von Black Sabbath und Led Zeppelin, nennt Kollegen wie Paradise Lost, Cathedral oder Type O Negative als große Einflüsse und würde sein neues Album am liebsten über ein Doom-Metal-Label veröffentlichen. Er versucht alles, um HIM an die Spitze der Charts zu bringen, zeigt in diversen Interviews aber generell kein Interesse an Verkaufszahlen und materiellen Annehmlichkeiten. Er besteht darauf, in sehr sauberen Hotels zu wohnen, lebt aber zum Teil selbst in Wohnungen, die wie eine Müllkippe aussehen. Und diese Liste ließe sich endlos weiterführen.

Ville Valo ist nicht einfach zu greifen. Und schon gar nicht in wenigen Worten. Dafür sind sein Charakter zu vielschichtig, seine Ansichten zu wechselhaft. Früh lernt er seine Bandkollegen kennen, schon in der Schule musizieren sie in verschiedenen Besetzungen zusammen. Ville spielt dabei Bass oder Schlagzeug, in die Rolle des Frontmanns wird er als Jugendlicher «hineingedrängt», weil die Band einfach keinen geeigneten Sänger auftreiben kann. Doch der Job des Band-Chefs ist wie für ihn gemacht. Schließlich sind es seine Songs, seine Texte, seine Ideen, die HIM die ersten kleinen Erfolge einbringen. Da kann er sie auch gleich an vorderster Front verkaufen.

Als es vor der Veröffentlichung des ersten Albums ernst wird, schlüpft er ohne Anpassungsschwierigkeiten in die Rolle des androgynen Mädchenschwarms, obwohl er wenige Wochen zuvor noch als Straßenmusiker in der Innenstadt von Helsinki unterwegs war. Vor allem seine ungewöhnlich intensiven Augen, ein Erbe seiner finnischen (Vater) und ungarischen (Mutter) Vorfahren, machen ihn zu einem Sexsymbol, womit er immer wieder kokettiert, auch wenn er eigentlich als Künstler ernst genommen werden möchte.

In Interviews steuert er geschickt seine eigene Legendenbildung, da er immer wieder neue Geschichten über sich, seine Mitstreiter und seine Musik in die Welt setzt. Dahinter schimmert in der Öffentlichkeit nur selten der echte Valo durch. Ein schüchterner, zurückhaltender Mann, der im Rampenlicht zu einem Rockstar wird und immer wieder versucht, seine Rolle im Leben zu finden. Und sich vor Verletzungen in Ironie und Sarkasmus flüchtet.

Trotz der großen und allgegenwärtigen Versuchungen hat er kein Interesse an schnellem Sex, sondern ist bemüht, ernsthafte Beziehungen aufzubauen, die jedoch alle nach wenigen Jahren zerbrechen, was ihn oft an den Rand des totalen Zusammenbruchs treibt. Er selbst bezeichnet sich als romantisch und melancholisch und sieht die Liebe als einzig wahre Antriebsfeder für sein Leben.

«Ich selbst sehe Liebesbeziehungen immer noch als das Monumentalste, das es auf der Welt gibt. Du weißt schon, wenn man von einer Person überwältigt ist und ein neuer Mikrokosmos von Gedanken um einen entsteht. Das ist jedes Mal wie ein Märchen, und man weiß nie, wie es enden wird. Das ist für mich immer wieder faszinierend. Selbstver­ständlich gibt es auch negative Aspekte, aber es ist besser, diese Melancholie in Songs zu stecken, als sie im täglichen Leben mit sich herumzutragen», antwortet er in einem Interview auf die Frage, warum alle seine Songs von der Liebe handeln würden.

Einfluss auf die Entwicklung von Valo hat natürlich auch die Tatsache, dass er seinen bis dato erfolgreichsten Song bereits mit einundzwanzig schreibt.Join Me (In Death) schießt weltweit in die Charts und bringt die Ville-Mania erst so richtig ins Rollen. Dennoch ist es Segen und Fluch zugleich. Denn er wird fortan an diesem Erfolg gemessen, der sich in diesem Ausmaß nicht mehr einstellt. Natürlich schreibt er mit Stücken wieThe Funeral Of Hearts,Gone With The SinoderKilling Lonelinessweitere Hits, das AlbumDark Lightaus dem Jahr 2005 wird als erstes finnisches Album überhaupt in den USA mit Gold ausgezeichnet, aber der ganz große kommerzielle Wurf ist nicht mehr dabei. Das bekommen HIM, und vor allem Ville, direkt zu spüren. Weniger von den Fans, als vielmehr von der Industrie. Und natürlich versucht sich der Sänger dagegen zu wehren. Meistens auf charmante Art, manchmal aber auch ganz direkt, offen und verletzend.

Ein bekanntes Zitat aus seinem Mund zu diesem Thema: «Für uns ist es besser, keine zu hohen Erwartungen zu haben und uns einfach treiben zu lassen. Das ist immer ein großes Plus, egal was am Ende herauskommt.» Und in einem anderen Interview: «Wenn wir weiterhin gute Musik machen, kaufen die Leute Musikmagazine, weil wir darin interviewt werden. Sie werden uns mögen und hoffentlich nicht hassen.»

Als das AlbumVenus Doomaufgenommen wird, ist der Frontmann an seinem persönlichen Tiefpunkt angelangt. Er begibt sich für vier Wochen in eine Klinik, um vom Alkohol loszukommen. Die Therapie ist erfolgreich, er steht zum ersten Mal als nüchterner Mensch auf der Bühne und komponiert mitScreamworks: Love In Theory And Practicesein bisher letztes Werk. Er gibt später offen zu, enttäuscht über das Abschneiden des Albums zu sein, bricht sogar die dazugehörige Tour ab und zieht sich für fast zwei Jahre aus der Öffentlichkeit zurück. Keine neuen Songs, keine Live-Auftritte, so gut wie keine Interviews.

Im Februar 2012 meldet sich der Sänger zurück, kündigt ein neues, deutlich härteres Album an, ohne dabei jedoch konkret zu werden. Zwei Jahre von der Bildfläche zu verschwinden ist gewagt, zumal Ville immer noch viele Fans im Teenie-Lager hat, die sich bekanntermaßen schnell neuen Helden zuwenden. Doch das alles scheint ihn nicht zu stören. Er wird, das hat er über die Jahre bei unzähligen Gelegenheiten betont, immer Musik machen. Ob ihm dabei jemand zuhört oder nicht. Er sieht sich eben gerne in der Rolle des Außenseiters, blickt zu Leuten wie dem Musiker Johnny Cash, dem Schauspieler James Dean oder dem Schriftsteller Charles Baudelaire auf. Sie alle waren künstlerisch erfolgreich, sie alle waren nicht glücklich. Sie alle wollten den großen Ruhm, gleichzeitig aber keine Kompromisse eingehen. Vielleicht die Quintessenz für Ville Valos Leben: «Kunst wurde schon immer kritisiert, und vor allem die Außenseiter bekommen ihr Fett weg.»

Doch es ist nicht so, dass Ville einfach nur Songs schreibt und wartet, was damit passiert. Er arbeitet an sich als Mensch, wie sein Alkoholentzug, sein Verzicht auf Zigaretten und diverse Aussagen in Interviews beweisen. Es ist okay hinzufallen, aber man darf nicht liegen bleiben. Oder um es mit Villes Worten zu sagen: «Es gibt immer einen Grund, warum du Fehler machst. Denn beim nächsten Mal machst du andere Fehler. Also sind es gute Fehler.»

1. Kapitel (1976–1993)

Morgens halb neun in Helsinki. Ein Rockstar wird geboren. Zumindest ist das am Montag, den 22. November 1976 so, als ein gewisser Ville Hermanni Valo (deutsch: Wilhelm Hermann Licht) zum ersten Mal mit seinen später legendär werdenden «Smokey Eyes» in die Augen seiner Mutter Anita blickt. Wie alle montags vom Band rollenden Exemplare gibt es auch bei Valo die ein oder andere Macke. Aber die entwickeln sich erst im Laufe der Zeit. Vorerst ist die kleine­ Familie, zu der auch Vater Kari gehört, glücklich und vollständig.

Die drei Valos wohnen im Stadtteil Vallila, der zu dieser Zeit noch eindeutig in der Hand der Arbeiter ist. Die vielen kleinen Holzhäuschen haben für Besucher etwas Romantisches, für die Bewohner sind die Hütten, die mehrheitlich zwischen 1920 und 1930 erbaut wurden, eher ein Ärgernis. Die sanitären Anlagen und die Bausubstanz sind dem Alter entsprechend überholt. Umfangreiche Renovierungsarbeiten wird es erst in den 1980er-Jahren geben, als betuchte Künstler diesen Teil von Helsinkis Innenstadt für sich entdecken, Mitte der Siebziger steht sogar zur Debatte, das so genannte «Puu-Vallila» («Holz-Vallila») abzureißen und die rund siebentausend Bewohner in andere Viertel umzusiedeln. Der bekannte finnische Regisseur Risto Jarva dreht ein Jahr vor Villes Geburt in dem Viertel einen viel beachteten Film mit dem TitelDer Mann, der nicht nein sagen konnte.

Doch Ville dürfte kaum Erinnerungen an diesen Teil der Stadt haben, denn seine Eltern kratzen ein wenig Geld zusammen und ziehen bereits wenige Monate nach der Geburt mitsamt Nachwuchs sechs Kilometer nördlich nach Oulunkylä, einer der vielen Vororte Helsinkis. In den modernen Hochhäusern der Siedlung, wo die Valos eine Drei-Zimmer-Wohnung angemietet haben, herrscht die Mittelschicht. Und dazu gehört Familie Valo ebenfalls. Wenn auch eher zum unteren Drittel. Vater Kari arbeitet als Taxifahrer, während sich Mutter Anita, deren Familie aus Ungarn stammt, um den Nachwuchs kümmert. Mama Valo ist gläubige Christin, erzieht ihren Sohn aber heidnisch, mit interessanten Auswirkungen.

Später erzählt Ville in diversen Interviews, dass seine musikalischen Einflüsse bis ins Säuglingsalter zurückreichen. Denn immer wenn Klein-Valo schreit, spielt der Vater Songs der finnischen Folk- und Rocksänger Tapio Rautavaara und Rauli «Badding» Somerjoki. Seine Mutter hält ihn derweil im Arm und tanzt. Niedliche Anekdote, aber deutlich einflussreicher dürfte Jallu – ein enger Freund der Familie – gewesen sein, der bei einer Feier eine Interpretation von Elvis PresleysAre You Lonesome Tonightzum Besten gibt und den kleinen Ville damit mächtig beeindruckt. Der Legende nach soll das Kind zu den Bongotrommeln gekrabbelt sein und begeistert den Takt vorgegeben haben. Wer sich das Lied in Erinnerung ruft, wird mit etwas Fantasie zudem durchaus Parallelen zu Valos späterem Gesangsstil entdecken.

Mit vier Jahren lotst der ältere Sohn von Jallu Ville in sein Zimmer und spielt ihm zum ersten Mal Bands wie Iron Maiden, Kiss oder Black Sabbath vor. Valo hat nach eigenen Angaben mächtig Angst vor Maidens Maskottchen Eddie, kann sich aber für den Sound begeistern, der ihm da entgegenschlägt. Ein wichtiger Grundstein für sein späteres Leben ist gelegt. Doch der kleine Knirps denkt keinesfalls in Genres, auch Sachen von Neil Young, Johnny Cash oder Roy Orbison treffen seinen Geschmack. Anita und Kari bemerken die Begeisterung für die Musik und unterstützen den Spross nach Kräften.

Doch es gibt noch eine zweite Leidenschaft in den ganz frühen Jahren des Ville Valo: sein Mischlingshund Sammy (andere Quellen schreiben: Sami). Die Familie ist sehr tierlieb und hält über die Jahre eine ganze Menge verschiedener Haustiere, aber Sammy ist Villes «erster Bruder», wie er zugibt. In einem Fernsehinterview erklärt er: «Ich habe heute noch Angst vor Pferden. Die machen mich irgendwie traurig. Meine Mutter ist über zwanzig Jahre lang geritten, das wäre nichts für mich. Doch als ich ganz klein war und noch nicht mal laufen konnte, fanden meinen Eltern einen Hund, den sie Sammy nannten. Er sollte mir wohl dabei helfen, mich auf den Beinen zu halten. Er starb, als ich sechs Jahre alt war, und von diesem Trauma bekam ich Asthma. Seit diesem Erlebnis habe ich echte Probleme mit Tieren jeglicher Art.» Was den kleinen Ville aber nicht davon abhält, später noch eine Schildkröte zu halten. «Sie hieß William», erinnert er sich. «Als sie starb, erklärte mir mein Arzt, dass ich auch keine Schlangen oder andere Reptilien haben dürfe, da ich auf Stoffe ihrer Ausscheidungen ebenfalls allergisch reagiere.»

Das Kind entwickelt in den kommenden Jahren eine Reihe von weiteren Allergien – unter anderem gegen Pferdehaare, vielleicht daher die Angst vor diesen Tieren – und schließlich sogar schweres Asthma. Viele Jahre später wird Ville auf einer­ Pressekonferenz an der Universität von Helsinki sagen, dass der Ursprung für die Melancholie in der Musik und den Texten von HIM auf den Tod seines Hundes zurückzuführen ist. Das Gefühl des Verlustes, die Ohnmacht, nichts gegen den Tod unternehmen zu können. Ein Kind, das seinen besten Freund verloren hat. Da wird der ein oder andere weibliche Fan wahrscheinlich schwer schlucken müssen. Bleibt nur die Hoffnung, dass Valo die folgende Aussage nicht ganz so ernst gemeint hat. In einem anderen Interview berichtete der Finne nämlich, dass es nur ein Hund war und die ganze Geschichte frei erfunden sei. Wie immer bei Ville dürfte die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegen.

Nachdem der erste «Bruder» das Zeitliche gesegnet hat, kommt ein zweiter, menschlicher ins Haus. Villes Bruder Jesse wird 1984 geboren, und es soll nicht lange dauern, bis er seinem älteren Bruder zumindest körperlich überlegen ist. Denn Jesse wird professioneller Thai-Boxer, kämpft bereits als Jugendlicher erfolgreich bei Welt- und Europameisterschaften, die Ville gerne besucht. Von seinem älteren Bruder hat Jesse aber die Begeisterung für Musik übernommen. Er war und ist Bassist bei Bands wie Iconcrash, die es sogar auf ein offiziell veröffentlichtes Album bringen, Brightboy und Vanity Beach. Außerdem wird Jesse in den ersten Jahren nach Villes Durchbruch auf seine Wohnung in Helsinki aufpassen, wenn der auf Tour ist, wie es ein guter Bruder nun mal zu tun pflegt.

Doch zurück ins Jahr 1984, wo Ville mittlerweile die Schule besucht. Eine Institution, die ihm von Anfang an seltsam vorkommt. Aber vielleicht ist es auch er, der nicht in das strenge Schema passt. Heute würden Ärzte wahrscheinlich ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) oder etwas Ähnliches diagnostizieren. Anno 1984 ist Ville schlichtweg laut, wild und hyperaktiv. Im Alter von sieben Jahren wird er untersucht, es können aber keine Anomalien festgestellt werden. Sein Verhalten bringt ihm auf dem Schulhof Ärger ein, weil er selbst vielen Gleichaltrigen zu anstrengend ist. Und auch das Fach Mathematik wird nicht zu seinem Freund. Früh verliert er den Anschluss und hat Probleme, dem Stoff zu folgen.

Alles andere als gute Voraussetzungen, doch ein Lehrer hat schließlich die rettende Idee. Da Valo auch fortwährend den Unterricht stört, erlaubt er ihm, während der Stunde zu zeichnen. Das lenkt ab und leitet die Kraft in kreative Bahnen. Eine Leidenschaft, die Valo von seinem Vater geerbt hat. Fortan klebt der blasse Finne also auf seinem Platz und malt, während seine Schulkameraden etwas lernen. Doch dieser Zustand dauert nicht ewig. Ville reißt sich schon bald zusammen, lernt fleißig und besiegt sogar den alten Feind Mathematik. Schuld daran ist ein Lehrer namens Erkki Falck, der ihn so lange an die Tafel zitiert und vor der Klasse bloßstellt, bis es dem jungen Finnen zu bunt wird und er sich mit dem Stoff beschäftigt. Nach ersten Erfolgen begeistert sich Valo regelrecht für Zahlenspielereien, zählt das Fach Mathematik schließlich neben Finnisch, Englisch und natürlich Kunst sogar zu seinen Lieblingsfächern. Chemie und Erdkunde hingegen stehen in der Gunst ganz unten.

Über seine Schulzeit erzählt er bei MTV folgende Anekdote: «In der Penne war ich ein ziemlicher Draufgänger. Ich hatte ein paar Mal zu kämpfen, aber ich war eigentlich ganz gut. Ich liebte Mathe und Kunst, Geschichte und Biologie. Als ich in der neunten Klasse war, hatten wir eine sehr ­witzige Schwedisch-Lehrerin. Später stellte sich heraus, dass sie in den siebziger Jahren ein Pin-up-Girl in Pornomagazinen gewesen war. Einige meiner Klassenkameraden hatten das herausgefunden und die Schule mit Bildern plakatiert. Sie war stinksauer.»

Doch vor allem das Zeichnen hinterlässt Spuren. Einige Jahren später wird Valo das «Heartagram» entwerfen, das für seine Band HIM steht wie Eddie für Iron Maiden. Und sein ­Interesse für die bildende Kunst wird auch die Cover-Gestaltung der HIM-Alben massiv beeinflussen.

Doch von solchen Überlegungen darf der angehende Musiker mit acht Jahren maximal träumen. Zu Hause ist er in erster Linie ein ganz normaler Junge, der sich von der Kampfsportbegeisterung seines Vaters anstecken lässt. Boxen ist, im Gegensatz zu seinem Bruder, nicht Villes Ding, dafür ist er dann doch zu zurückhaltend. Also entscheidet er sich für Judo. Rund neun Jahre bleibt er diesem Sport treu, und das ist mit wachsender Begeisterung. Anders ist es jedenfalls nicht zu erklären, dass er es immerhin bis zum grünen Gürtel (siebte Stufe) bringt.

In seiner Freizeit schaut Ville zudem gerne fern – besonders die alten Filme von Charlie Chaplin und den Marx-Brothers, die für ihn bis heute einen großen sentimentalen Wert besitzen – oder spielt mit Jesse und seinen Freunden Cowboy und Indianer, wobei Ville Wert darauf legt, immer zu den Indianern zu gehören. Das setzt sich bis ins Erwachsenenalter fort. Auf die oft gestellte Interviewfrage, was er geworden wäre, hätte es mit der Musikerkarriere nicht geklappt, gibt Valo häufig die gleiche Antwort: «Mathematikprofessor oder Indianer.»

In einem Artikel aus dem Jahr 2005 im deutschen MagazinMetal Heartbeweist er sogar, dass er sich mit der Kultur dieser Völker beschäftigt hat: «Woran ich nie geglaubt habe, ist der lineare Verlauf der Zeit. Die Indianer haben eine bemerkenswerte Theorie dazu. Sie glauben, dass Zeit sich nicht von einem Punkt A zu einem Punkt B bewegt, sondern in Kreisen.»

Sein Interesse an der Musik ist neben all den anderen Vorlieben keineswegs geschrumpft. Er freundet sich sogar mit Reggae an – ein Musikstil, die ihn nie wieder loslässt und später indirekt für eine Konfrontation mit der Polizei sorgen wir –, Rock und Heavy Metal sind jedoch weiterhin wichtig.Animalizevon Kiss ist die erste Platte, die sich Valo von seinem Taschengeld zulegt. Vorher holt er sich Rat bei seiner älteren Cousine Pia, die ein großer Kiss-Fan ist. Sie empfiehlt ihm auch weitere Bands aus diesem Sektor, was Valo später dazu veranlasst zu sagen, seine Cousine hätte ihn einer Gehirnwäsche unterzogen. «Wäre sie ein Fan von klassischer Musik gewesen, würde ich heute vielleicht als Pianist arbeiten.»

Doch es kommt noch dicker. In der dritten Klasse, der werdende Mädchenschwarm ist gerade mal zehn Jahre alt, wird der verpflichtende Musikunterricht an Villes Schule eingeführt. Jedes Kind muss sich ein Instrument aussuchen. Valo fällt als Erstes natürlich Gene Simmons ein, also wählt er den Bass. Seine Eltern kaufen ihm ein gebrauchtes Instrument aus den Siebzigern, das sich im Übrigen bis heute in Valos Besitz befindet und auch noch gespielt wird. Vor dem Rockstar-Dasein steht allerdings das Üben.

Doch Valo hat eine ganz besondere Motivation, wie er später einmal grinsend erklärt: «Ich habe nur wegen Gene Simmons angefangen Bass zu spielen. Ich wollte Blut und Feuer. Damals glaubte ich wirklich, wenn ich nur lang genug spielen würde, kämen Blut und Feuer von allein aus dem Bass. Weil das nie passierte, wechselte ich irgendwann zum Schlagzeug. Aber auch da passierte in dieser Hinsicht leider nichts. Doch ich gebe nicht auf.»

In Wirklichkeit hält sich die Geduld bei Valo, wie bei den meisten Kindern, in Grenzen. Der kleine Verstärker hat einen bescheidenen Sound, die Fingerkuppen bluten. Es ist vor allem seine Mutter, die ihn ermutigt, nicht so leicht aufzugeben und weiter zu üben. Keine leichte Aufgabe, aber Valo ist nicht ­allein. Ein älterer Schulkamerad hat sich ebenfalls für den Bass entschieden, er findet wie Ville harte Rockmusik, Skateboards und Arnold Schwarzenegger, besonders inConan, der Barbar, toll. Auch Clint Eastwood steht bei den Halbwüchsigen hoch im Kurs. Später erinnert sich Valo gerne schmunzelnd, dass er sich zu dieser Zeit gewünscht habe, Eastwood wäre sein Vater. Und so verbringen die beiden Kinder viel Zeit miteinander. Der Name des rund zwei Jahre älteren Freundes: Mikko Heinrik Julius Paananen. Als Migé Amour zählt er später zu den Gründungsmitgliedern und Eckpfeilern von HIM.

Doch so weit ist es noch lange nicht. Ville wächst zu einem Teenager heran und meistert die Schule mal recht und mal schlecht. Am 12. November 1986 darf der Dreikäsehoch sein erstes Konzert besuchen, Iron Maiden spielen im Rahmen ihrerSomewhere On Tour-Konzertreise in der Ice Hall von Helsinki. Die Show beeindruckt Valo schwer. Seine Eltern, die er selbst als «ein wenig verrückt» beschreibt, erlauben ihm zwar den Besuch des Gigs, erziehen ihn aber mit einer gewissen Strenge, wie sich der Rockstar viele Jahre später erinnert. Sie legen Wert auf Höflichkeit, gute Umgangsformen und Ehrlichkeit, was natürlich nicht immer auf Gegenliebe stößt. Auf die Frage, was Valo in seinem Leben anders machen würde, wenn er die Chance dazu hätte, antwortet der Finne 2006 im Magazin Orkus: «Ich würde als Teenager netter zu meinen Eltern sein. Sie hatten es nicht immer leicht mit mir.» Was sicher für die meisten Erziehungsberechtigten von Teenies gilt.

Allerdings entwickelt das Goldkehlchen schon recht früh eine gewisse Faszination für Bier und Zigaretten, was besonders seiner Mutter ganz und gar nicht gefällt. Auch sein Interesse für Bücher ist in dieser Zeit eher unterentwickelt, allerdings schenkt er schon früh dem Thema Tod, das später in allen Variationen in seinen Texten auftauchen wird, einige Beachtung. DasOxford Book Of Death, das diverse Manuskripte von antiken bis modernen Autoren zu diesem Thema in sich vereint, weckt folgerichtig seine Aufmerksamkeit. Kurzerhand lässt er das Werk in einer Bücherei mitgehen. Abgesehen von solch kleinen Ausrutschern kommt Valo in diesem zarten Alter allerdings nicht mit dem Gesetz in Konflikt.

Als er zehn Jahre alt ist, taucht ein neuer, nur drei Monate jüngerer Typ an seiner Schule auf, den Ville vom Sehen bereits aus der Kinderdisco kennt. Sein komisch geschnittenes, blondes Haar und seine Brille machen ihn nicht unbedingt zu einem Mädchenschwarm, aber er hat eine Menge Ahnung von Musik. Mikko Viljami Lindström (auch bekannt als Linde,­ Daniel Lioneye, Lily Lazer und unter diversen anderen Spitznamen) fängt in dieser Zeit mit dem Gitarrespielen an, sein musikbegeisterter Vater, der vor allem auf Elvis Presley steht, hat ihn infiziert. Linde freundet sich mit Valo an, der seine erworbenen Instrumentalkenntnisse nun endlich auch vor Publikum ausprobieren möchte. Natürlich ist musikalischer Ehrgeiz ein Grund für diesen Wunsch. Aber bei Ville bildet sich auch ein Wesenszug heraus, der charakteristisch für die ersten Jahre mit HIM sein wird. Valo steht, obwohl im Grunde ein schüchterner Typ, gerne im Mittelpunkt, er genießt die Aufmerksamkeit anderer Menschen. Und um die zu erreichen, muss er auf die Bühne.

Für dieses Unterfangen bietet sich eine Schul-Band an, die auf den griffigen Namen B.L.O.O.D. getauft wird und Coverver­sionen spielt. Neben Valo, der hier den Bass schrubbt, obwohl er mittlerweile auch das Schlagzeug für sich als Instrument entdeckt hat, spielt Lindström natürlich Gitarre. Die Combo gründet sich Ende 1986 und hält mit wechselnden Besetzungen bis 1989 durch. Mit B.L.O.O.D. spielt Ville auch das erste Konzert seines Lebens, bei einer Weihnachtsfeier der Schule. Valo erinnert sich später daran, dass der SongRun To The Hillsvon Iron Maiden zum festen Repertoire der Band gehörte. Parallel dazu steigt er Ende 1987 bei den Elovena Boys ein, die ebenfalls aus Schülern bestehen und Coverversionen zum Besten geben. Allerdings beackern diese jungen Herren eher softere Gefilde.

In einem Fernsehinterview sagt er dazu: «In der vierten Klasse hatten wir so etwas wie eine Schuldisco. Ich spielte dort mit meiner Band Songs von U2 und den Dire Straits.»

Doch Valo reicht es nicht, ab und an mal auf einem Schulfest Stücke von fremden Künstlern zu interpretieren. Zwar ist er noch meilenweit davon entfernt, ein charismatischer Frontmann zu sein, aber er spürt, dass mehr in ihm steckt als ein Hobbybassist. Gemeinsam mit Lindström gründet er 1989 seine erste «echte» eigene Band mit dem wenig schicken Namen Kemoterapia. Zu Hause im stillen Kämmerlein hat er erste Songs komponiert und Texte verfasst, die nun umgesetzt werden. Immerhin ein Jahr lang bleibt die Truppe zusammen, bevor sie erst zu Terapia wird und dann im Dunkel der ­Geschichte verschwindet.

Ville wechselt ohne Linde zu einer Combo namens Winha, die schon deutlich professioneller zu Werke geht. Valo wird dort nur wenige Monate als Bassist geführt, bevor er sich neuen­ Projekten widmet. Interessanterweise gelingt der Truppe Jahre nach Villes Ausstieg zumindest in Finnland der Durchbruch mit einer obskuren Mischung aus Pop, Polka, Flamenco und Rock. Auf dem 2000 erschienenen Album-Cover vonImportantist ein altes Bandfoto zu sehen. Wer genau hinsieht, wird den jungen Ville Valo entdecken können.