12 erste Male - Brigitte Blobel - E-Book

12 erste Male E-Book

Brigitte Blobel

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Beschreibung

Einer der aufregendsten Schritte auf dem Weg zum Erwachsensein und oft mit extrem hohen Erwartungen aufgeladen – das erste Mal. Damit verbunden sind aber auch Zweifel und Ängste: Ist das, was ich will, eigentlich normal oder bin ich ein Freak?

Zwölf ganz unterschiedliche Jugendliche kommen zum Thema erste Liebe und erstes Mal zu Wort. Ihre Erlebnisse reichen dabei von wunderschön bis absolute Katastrophe und zeigen dabei vor allem eins: Das »normale« erste Mal gibt es nicht, sondern ist für jeden einzigartig und darüber zu sprechen kein Grund, mit hochrotem Kopf aus dem Zimmer zu flüchten.

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Seitenzahl: 382

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Brigitte Blobel

12 erste

Male

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage 2016

© 2016 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Andreas Rode

Umschlaggestaltung: Kathrin Schüler, Berlin,

unter Verwendung diverser Fotos von © Shutterstock

(Warren Goldswain, martynmarin, ProStockStudio)

jk · Herstellung: UK

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-17502-3V001

www.cbj-verlag.de

Antrag für das Filmprojekt »Das erste Mal«

Köln, den 5. Juli 2015

An die

Film- und Medienstiftung Nordrhein-Westfalen

Kaistraße 14

40221 Düsseldorf

Antrag für das Filmprojekt »Das erste Mal«

Sehr geehrte Mitglieder der FMS,

hiermit möchte ich mich mit meinem Filmprojekt für Ihre Sendereihe »Innovative Filme« bewerben. Ich studiere im vierten Semester an der Filmhochschule in Köln mit dem Schwerpunkt Drehbuch/Regie. Seit mehreren Jahren beschäftigt mich die Idee, einen Jugendfilm zum Thema »Das erste Mal« zu drehen. Ich weiß, dass diese Idee erst einmal nicht sehr originell klingt, doch für mich war die Pubertät eine derartige emotionale Achterbahnfahrt, dass ich schon damals wünschte, es gäbe einen Film, der mir erklärt, ob nur ich mich wie ein sexbesessener Alien in dieser Welt fühle oder ob all das, was man so durchleidet, ganz einfach normal ist.

Ich habe mir dazu sehr konkrete Gedanken gemacht: Es soll ein semidokumentarischer Film werden, und ich habe die Leute, die vor der Kamera ihre Erfahrungen preisgeben, sehr genau ausgesucht.

Ich denke an einen Film von etwa sechzig Minuten Länge, der sowohl im Kino als auch im Fernsehen funktionieren könnte. Ein Einstellen des Films auf YouTube oder einem vergleichbaren Portal wäre möglich, falls Sie auch dafür Finanzierungshilfe gewähren.

Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir mitteilen könnten, ob und inwieweit dieses Projekt eventuell von Ihnen finanziell gefördert werden könnte.

Herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, meinen Brief bis zu Ende zu lesen.

Ihre Sheeva Miller

([email protected])

----

Düsseldorf, den 30. August 2015

An: [email protected]

Von: [email protected]

Betreff: Das erste Mal

Liebe Sheeva Miller,

Verzeihen Sie, dass wir uns jetzt erst bei Ihnen melden. Ich bin beauftragt, Ihnen in Erwiderung auf Ihren freundlichen Brief vom 5. Juli mitzuteilen, dass Ihr Projekt »Das erste Mal« hier in der Abteilung Dokufilm auf Interesse gestoßen ist. Natürlich können weitergehende Entscheidungen erst fallen, wenn die zuständigen Gremien ein Treatment, ein Demovideo oder das fertige Drehbuch Ihres Projektes in den Händen haben.

Für dieses Jahr gilt die Frist für Anträge auf Förderung bis zum 25. September. Glauben Sie, dass wir noch vorher mit Ihrem Papier rechnen können?

Mit freundlichen Grüßen

Gernot Heinlein

----

Köln, den 21. September 2015

Von: [email protected]

An: [email protected]

Betreff: Das erste Mal

Lieber Gernot Heinlein,

nun ist es geschafft: Mein Drehbuch finden Sie im Anhang als PDF, das Demovideo sende ich Ihnen in der kommenden Woche.

Die Storys der einzelnen Protagonisten beruhen auf Protokollen, die ich über einen Zeitraum von zwölf Monaten gesammelt habe und die ich Ihnen ebenfalls als PDF mitsende. Auch wenn sie sich zu den Probeaufnahmen bereitgefunden haben, wollen nicht alle Personen selbst mit ihren – oft sehr intimen – Berichten im endgültigen Film auftreten. Deshalb habe ich schon Kontakt mit einer Castingagentur aufgenommen, um für jede Person die/den richtigen Schauspieler zu finden. Im Anhang finden Sie eine Liste mit möglichen Darstellern für die jeweilige Rolle und einen vorläufigen Kostenplan.

Wie Sie sich denken können, bin ich sehr aufgeregt und hoffe natürlich auf einen positiven Bescheid!

Ich möchte diesen Film gern als Abschlussfilm meines Studiums hier an der Hochschule präsentieren und warte voller Spannung auf Ihre Entscheidung, ob Sie sich an den Produktionskosten beteiligen wollen.

Sehr herzlich,

Ihre Sheeva Miller

Sheeva

Obwohl Niki nicht viel von Sheevas Fahrkünsten hielt, hatte er ihr an diesem Tag sein Auto geliehen. Sheeva war glücklich, endlich einmal wieder am Steuer zu sitzen. Wenn man mit achtzehn den Führerschein gemacht hat, und mit einundzwanzig Jahren immer noch keinen eigenen fahrbaren Untersatz besitzt, fragt man sich manchmal, wozu man ihn überhaupt hat.

Aber nun war ja alles gut: Sheeva würde den Wagen den ganzen Tag behalten und selbst bestimmen können, wohin und wie schnell sie fahren würde. Auf dem Weg zu ihrem ersten Interview überlegte sie, was sie mit dem Rest des Tages noch Schönes anfangen könnte. Einmal um den See fahren?

Bauarbeiten an einer Brücke zwangen die Autofahrer zu einer Umleitung, die jedoch gut ausgeschildert war. So kam sie durch eine Gegend, in der sie vorher noch nie gewesen war. Da sich die zweispurige Fahrbahn zu einer Spur verengte, ging es nur noch im Schritttempo voran, und Sheeva konnte den Blick schweifen lassen, während sie im Autoradio einen Sender suchte, der ihr gefiel. Es war keine einladende Gegend, durch die der Verkehr geleitet wurde. Alles wirkte heruntergekommen: die grauen Fassaden, die Tankstelle, der mit Maschendraht eingezäunte Parkplatz für Wohnwagen, die Kleintierhandlung, vor deren Eingang eine Palette mit Katzenstreu und ein viel zu kleiner Vogelkäfig, in dem ein trauriger Kakadu saß, standen.

Sheeva fiel der Goldhamster ein, den sie mit ihren Eltern einmal in einer ähnlich trostlosen Tierhandlung gekauft hatte, um ihn zu erlösen. Sie erinnerte sich nicht an seinen Namen … Hatte er Snoopy geheißen? Jedenfalls war er ein Jahr später elend in einem Heizungsschacht verendet und sie hatte ihn in einem von ihr bemalten Karton im Garten hinter dem Haus begraben und dabei schrecklich geweint. Selbst jetzt noch stiegen ihr Tränen in die Augen, wenn sie daran dachte.

Du bist eine rührselige Kuh, schalt Sheeva sich selbst. Hör mit diesem Scheißselbstmitleid auf.

Einige der Läden in der Straßenzeile hatten aufgegeben. Ein Schaufenster, über dem in altmodischer Schrift Strickwaren & Wolle stand, war mit Packpapier verklebt, auf der Bank einer Bushaltestelle saßen ein paar Jungs und rauchten. Vor einem Imbiss standen drei Penner mit ihren prall gefüllten Plastiktüten um einen Stehtisch herum. Es gab eine Videothek und ein Matratzenlager, ein Hotel garni mit roten Gardinen und künstlichen Geranien vor den Fenstern. Einige Meter weiter kam eine Lücke zwischen den Häusern, und Sheeva hatte freien Blick auf einen kleinen Park mit Beeten, in denen das Unkraut die kümmerlichen Bepflanzungen überwucherte. Sheeva betrachtete, während die Autokolonne wieder einmal zum Stillstand gekommen war, die Büsche, unter denen sich der Abfall gesammelt hatte: Zeitungsfetzen, Plastiktüten, Kaffeebecher. Sie musterte die Sitzbänke mit den bunten Graffiti. Dann plötzlich, als sie einem tätowierten Glatzkopf und seinem Labrador mit den Blicken folgte, sah sie den Kinderspielplatz. Den runden Sandkasten, das rote Klettergerüst und die Tiere, auf denen man wippen konnte: Zebra, Elefant und Krokodil.

Sheeva starrte das Zebra an und spürte auf einmal einen unangenehmen Druck in der Magengegend, als würde sie sich gleich übergeben müssen. Und in ihrem Kopf war dieser hohe sirrende Ton – wie eine weit entfernte Sirene –, der in den Ohren anfing und sich unter der Schädeldecke ausbreitete. Ihre Kopfhaut schmerzte, als würde jemand sie an den Haaren über den Boden ziehen.

Nein, dachte sie, nein, nein. Ich will das nicht.

Es war ihr, als ob sie diesen Park aus einem von ihren Albträumen kannte, die sie in regelmäßigen Abständen hatte. In diesen Träumen gab es auch so einen trostlosen Park inmitten von ebenso trostlosen Häusern. Sie erkannte diesen Park wieder, weil sie so oft von ihm geträumt hatte. Aber jetzt konnte sie sich partout an nichts aus diesen Träumen mehr erinnern.

Hinter ihr hupte jemand, und sie begriff erst mit Verzögerung, dass die Kolonne der Autos sich längst wieder in Bewegung gesetzt hatte. Entschuldigend streckte sie den Arm aus dem Wagenfenster und gab Gas, um wieder in der Schlange aufzuschließen. Im Rückspiegel versuchte sie, noch einen Blick auf den Kinderspielplatz zu werfen, aber der Müllwagen hinter ihr verdeckte die Sicht.

Protokoll eins – April 2015

»Dieser Sommer war die Hölle«, Julian, 15 Jahre

Den Kontakt zu Julian bekam ich über Olivia, die Ex meines Freundes.

»Wenn du einen coolen Typen brauchst, um ihn nach seinen sexuellen Erfahrungen zu fragen, musst du mit Julian reden«, hatte sie gemeint. »Der ist ein echter Draufgänger, kein bisschen verklemmt, sieht gut aus und wickelt die Mädels um den Finger.«

Woher sie das so genau wusste, fragte ich nicht, weil ich mir nicht schon vorher ein Urteil über diesen Julian bilden wollte. Ich bin der Ansicht, dass es für dieses Projekt besser ist, mit Jungen und Mädchen zu sprechen, die ich nicht vorher schon kannte. Menschen, von deren Leben ich bis zum Beginn des Gesprächs gar nichts weiß.

Der erste Telefonkontakt mit Julian war stockender verlaufen, als ich nach Olivias Worten erwartet hatte. Er machte in dem Telefonat keineswegs den Eindruck eines Draufgängers, sondern zeigte sich eher zögerlich und erschrocken.

»Worüber genau werde ich denn befragt?«, fragte er. »Und was ist, wenn mir deine Fragen auf den Sack gehen?«

Ich beruhigte ihn. »Das wird weder eine Sitzung beim Psychologen noch ein Verhör nach Polizeimethoden«, erwiderte ich lachend. »Wir führen einfach nur ein lockeres Gespräch.«

Julian und ich hatten uns für das Interview in seiner Heimatstadt Düsseldorf am Ratinger Tor verabredet. Er meinte, er würde nach der Schule dort immer mit seiner Clique abhängen, um, wie er sagte, »zu sehen, was so abgeht«. Vom Ratinger Tor aus wollten wir zu Fuß zu der Wohnung gehen, in der er mit seiner Mutter lebt.

Das Ratinger Tor ist übrigens das einzige noch erhaltene Stadttor Düsseldorfs und wegen seiner Säulenarchitektur berühmt. Vor dieser Kulisse wirken alle Touristen, Spaziergänger und Passanten klein und unwichtig. Auch die Gruppe von Jugendlichen, die mit ihren Skateboards auf dem Platz herumalbern. Es sind fünf Jungen, denen man mit jeder Bewegung und jedem Witz, den sie reißen, anmerkt, dass sie mitten in der Pubertät sind. Gleichzeitig wollen sie als Clique Aufmerksamkeit erzeugen, jeder einzelne von ihnen wirkt jedoch aus der Nähe betrachtet auf seine eigene Art linkisch und unsicher.

Der Junge in Baggy-Jeans und Kapuzenpulli, der die anderen um eine halbe Kopflänge überragt, ist Julian. Man merkt schnell, dass er nicht der Leader der Clique ist. Er benimmt sich, wohl weil er ahnt, dass ich ihn bereits aus der Distanz beobachte, eher zurückhaltend, hört zu, wenn die anderen reden, lacht, wenn einer einen Witz macht, und übt dabei das dynamisch federnde Auf- und Abspringen vom Board.

Als ich mich mit meiner Kameraausrüstung nähere, löst Julian sich sofort von der Gruppe und deutet mit einem Kopfnicken die Richtung an, in die wir uns bewegen sollen. Es geht in die Altstadt. Er fährt auf seinem Skateboard, ich versuche mit meiner schweren Ausrüstung mit ihm Schritt zu halten. Er fährt in eine der schmalen Altstadtgassen. Kopfsteinpflaster, hier parken die Autos dicht an dicht. Er führt mich vorbei an einem französischem Café, aus dem es nach frischen Croissants duftet, einer Änderungsschneiderei und einem Blumenladen mit einem großen Fleurop-Zeichen. Über Julians linker Schulter baumelt ein abgewetzter Rucksack, aus dem ein Hockeyschläger ragt.

Er umkreist in rasantem Tempo einen Lieferwagen und steigt vor der Hausnummer 23 von seinem Skateboard. Zum ersten Mal dreht er sich um, wartet auf mich, ohne mich direkt anzusehen. Für mich sieht es fast so aus als habe er es sich anders überlegt und wolle unsere Verabredung im letzten Moment noch absagen.

»Hi«, knurrt er.

»Hallo Julian. Alles okay?«, sage ich.

Er zuckt mit den Schultern. »Geht so.«

Ich gehe zum direkten Angriff über. »Hast du es dir vielleicht anders überlegt?«, frage ich. »Dann hättest du mir das auch vorhin am Ratinger Tor schon sagen können.«

Er schüttelt den Kopf, streckt sich. »Nee Quatsch, wieso?«

»Na ja«, sage ich zögernd, »du hast mir vor deinen Kumpels nicht mal Hallo gesagt und mich dann wie ein Schaf hinter dir hertrotten lassen.« Je mehr ich darüber nachdenke, desto ärgerlicher werde ich. »Ich meine, ich habe mir extra ein Auto geliehen und komme von Köln hierher … höflich ist das nicht gerade.« Doch kaum ausgesprochen, bereue ich meine Worte schon wieder. Das ist kein gelungener Einstieg für ein intimes Interview. Schließlich will ich etwas von ihm. Er soll, bitteschön, vor mir sinnbildlich gesprochen die Hosen runterlassen.Und da sollte ich Vertrauen aufbauen und nicht mit lächerlichen Anschuldigungen kommen.

Aber Julian nimmt das erstaunlicherweise nicht krumm. Er entschuldigt sich. »War vielleicht doch keine gute Idee, dass meine Freunde dich alle gesehen haben. Ich wollte da nur schnell weg.«

Ich betrachte die Haustür, neben der mehrere handgeschriebene Klingelschilder angebracht sind.

»Hier wohnst du also?«

»Hier bin ich sogar geboren. Die Schwester meiner Mutter ist Hebamme. Und Hausgeburt fanden die wohl so hippiemäßig romantisch. Ich stell mir so eine Hausgeburt als eine Riesensauerei vor. Warte, ich hab den Schlüssel irgendwo.«

Er wühlt mit der rechten Hand in seiner Hosentasche, mit der linken zieht er die Kapuze vom Kopf und schüttelt sich wie ein Hund. Er hat braune, lockige Haare und sehr helle, grüne Augen. Wenn sich eines Tages seine Gesichtsakne erledigt hat, ist er bestimmt ein extrem attraktiver Typ. Das scheint er auch selbst zu ahnen.

»Kann ich dir jetzt wenigstens mit dem Zeug da helfen?«, fragt er und nimmt mir die Tasche von der Schulter.

»Vorsicht, da ist meine Kamera drin«, warne ich. Er lacht. »Ich denke, die halten viel aus?«

Wir durchqueren einen engen Flur mit Regalen, in denen viele beschriftete Schuhkartons stehen. »Meine Mutter hat einen ausgewachsenen Schuhtick«, sagt Julian augenrollend. »Für was anderes hat sie nie Geld. Da hinten ist mein Zimmer.«

Julian steht in seinem Zimmer und hält einen grau-schwarz getigerten Kater im Arm, während er sich im Raum umschaut, als versuche er, sein Zimmer mit den Augen der Kamera zu sehen. »Sonst sieht es hier nicht so ordentlich aus. Ich hab für euch aufgeräumt.« Er hebt den Kater hoch über seinen Kopf. Dieser scheint das gewöhnt zu sein und verhält sich ruhig. »Der heißt übrigens Momo«, sagt Julian. »Ein echter Straßenkater. Nachts zieht er immer um die Häuser.« Er lässt sich zusammen mit dem Kater auf sein Bett fallen und albert mit ihm rum. Der Kater beachtet mich nicht.

»Also«, sage ich, als die beiden nicht aufhören, »wir können anfangen. Die Kamera ist bereit. Ton auch.«

Sofort richtet Julian sich auf und setzt sich fast artig hin, mit durchgedrücktem Kreuz.

»Ja, also«, grinst er verlegen, »irgendwie schwer, einen Anfang zu finden bei so einem Thema.« Er schaut seinen Kater an, als könne der die Situation retten. »Ich meine: Bisher hat mich oder meine Freunde noch niemand zum Thema Sex ausgequetscht.«

»Heißt das, ihr redet nicht über Sex? Auch nicht in deiner Clique?«

»Doch, klar. Aber das ist dann mehr so Gefrotzel. Angeberei, Aufschneiderei. Da will man der coole Macker sein.« Er lacht verlegen.

»Worum geht’s dann da so?«

Julian grinst. »Na, um Chicas natürlich.«

»Chicas?«

»Das ist Spanisch für Mädchen. Ich sag immer Chicas, klingt nicht so abgefahren wie Tussis oder Cutes, Chicks oder Boobies oder was weiß ich.«

»Boobies? Nie gehört.«

Julian schaut mich fassungslos an. »Kennst du nicht? Das sind Frauen, die so Monsterbrüste haben, vor denen man Angst kriegt. Wie die Frauen im Playboy.«

»Liest du den Playboy?«

Julian verzieht das Gesicht. »Lesen? Ist da auch was zu lesen drin?« Er bückt sich und holt unter dem Bett eine mit Teddybärmotiven beklebte Pappkiste hervor, deren Deckel mit einem dreifachen Gummiband fixiert ist. Die Kiste ist halb voll mit Magazinen wie Playboy und Pornoheften. Jede Menge Brüste und Hintern. »Da hab ich früher meine Matchboxautos drin gehabt. Meine Mutter denkt wahrscheinlich, die sind da immer noch drin …«

Ich blättere ein bisschen in den Heften. Julian bekommt einen roten Kopf. »Ich wollte das Zeug schon lange wegwerfen«, sagt er hastig, als er mir den Karton wieder wegnimmt. »Komm, gib wieder her. War nur zum Spaß. Ich wollte das längst entsorgen.«

»Ich dachte, Pornos guckt man jetzt im Internet?«

»Eben. Klar.«

»Irgendwo stand, dass jeder zweite Junge zwischen zwölf und fünfzehn schon Pornos im Internet geguckt hat«, sage ich.

Julian reißt die Augen auf. »Wieso nur Jungs? Die Chicas gucken auch Pornos. Vielleicht nicht jede zweite.«

»Woher weißt du das?«

»Man hört ja manchmal, was die so tuscheln vor dem Unterricht, und was für Links die so weitergeben.«

»Aber du sammelst noch die netten alten Pornohefte.«

Julian wird rot. »Die hab ich mir nicht gekauft! Ich hab die Hefte von einem Kumpel zur Konfirmation gekriegt. War ein Witz. Oder auch nicht. Na ja, die kommen auf den Müll.« Er schiebt die Kiste mit den Füßen achtlos unter das Bett.

»Also mit deinen pubertierenden Kumpels«, sage ich munter, »wie laufen die Gespräche da ab?«

»Na ja, da prahlt man rum mit seinen Erfolgen und Erfahrungen, auch wenn die meistens gefaked sind.«

»Über das erste Mal?«, frage ich.

»Das erste oder zweite oder zehnte, was weiß ich, da gibt keiner zu, dass er noch nie mit einem Mädchen geschlafen hat. Ich weiß zum Beispiel hundert Prozent, dass Andi, einer aus dem Sportclub, der immer so einen auf Obermacker macht, noch nie einen nackten Frauenbusen berührt hat. Nicht mal berührt, geschweige denn gestreichelt oder geküsst – wie abgefahren ist so was?«

»Und du?«

»Was?«, fragt Julian argwöhnisch zurück.

»Hast du denn schon mal einen Busen geküsst oder gestreichelt?«

Julian gibt dem Kater einen liebevollen Schubs, sodass der widerwillig auf den Boden springt, sich vor die geschlossene Zimmertür stellt und maunzt.

Julian steht auf, öffnet Momo die Tür. »Ja, Momo, hau ab.« Er fasst sich plötzlich, als der Kater aus dem Raum durch die halb offene Tür entwischt, an den Kopf. »Oh, Mann, ganz vergessen …«

Er geht zum Schreibtisch, nimmt ein Hotelschild, auf dem »Privacy please« steht und hängt es außen an den Türgriff. »Es haben so viele Freundinnen meiner Mutter einen Schlüssel zur Wohnung, das ist echt ätzend. Manchmal komm ich nach Hause, da steht eine völlig fremde Frau in der Küche und sagt: »Wo habt ihr eigentlich Ketchup?«

Er setzt sich wieder auf das Bett, starrt auf seine Nike-Turnschuhe. »Was dagegen, wenn ich die ausziehe?« Er zieht die Schuhe aus und setzt sich im Schneidersitz aufs Bett. Er blinzelt in die Kamera. »Wo war ich gerade?«.

»Hab ich auch vergessen. Aber ich stell dir jetzt einfach mal eine Frage, ja?«

Julian nickt, kreuzt die Arme vor der Brust und schaut abwartend misstrauisch.

»Julian, was war für dich in Bezug auf deine Sexualität bislang der peinlichste Moment?«

Julian ist im ersten Augenblick fassungslos. »Der peinlichste? Ich dachte, du würdest fragen, was der schönste war!«

»Keine Angst, das kommt auch noch.«

»Der peinlichste Moment … Also das war ganz klar im letzten Sommer. In den Ferien. Das war auch definitiv der letzte Urlaub mit meiner Mutter. Das weiß sie auch.«

»Was war passiert?«

Julian hebt den Kopf, lauscht, geht auf Zehenspitzen zur Zimmertür, öffnet sie einen Spalt und späht hinaus, zieht die Tür wieder zu. »Ich dachte, ich hätte meine Mutter gehört, die will eigentlich erst um acht kommen. Die Luft ist rein. Also, das war wirklich peinlich … Wir waren in Torremolinos, das ist so eine im Grunde ätzende Monsterferiensiedlung, mit schmalem Strand, auf dem man dicht an dicht liegt, und dahinter diese Betonburgen: Hotels, Ferienappartements und so. Mama und ich hatten da ein Ferienappartement gemietet, übers Internet, sah auf den Fotos gut aus und war billig. Wir hatten ’ne Loggia mit Meerblick.« Er blickt stirnrunzelnd auf die Kamera, zögert.

»Klingt doch erst mal gut«, sage ich aufmunternd.

Julian nickt. »Ja, bis auf die Tatsache, dass es in der ersten Woche, als wir da waren, brüllend heiß war, so um die fünfunddreißig bis vierzig Grad am Tag und nachts noch achtundzwanzig Grad. Und dass am dritten Tag die Klimaanlage ausfiel … Ich meine, wir schwitzen ja schon bei dreiundzwanzig Grad in der Sonne. Da wollen wir in der Schule schon hitzefrei.«

»Und in diesen heißen Ferien hast du also ein Mädchen kennengelernt?«

»Ne, eben nicht, das war es ja. Ich war sozusagen immer nur dicht dran. Sprichwörtlich, also körperlich … Das war so eng an dem Strand, Playa nannten sie das da, man lag da buchstäblich Body an Body, alle eingeölt … Oder an der Strandbar, wo man ja auch halb nackt war. Oder abends, wenn es vom Strand in die Altstadt ging, wo eine Kneipe an der anderen war und wo der beste Beat gespielt wurde – da war immer alles dicht gedrängt und irgendwie immer so aufgeheizt, so erregt irgendwie … Ich war sozusagen immer unter Strom, immer erregt, schon morgens beim Aufwachen hab ich einen Ständer gehabt. Ich meine, wie soll man da keine Dauererektion haben, wenn man umgeben ist von halb nackten Chicas. Kennst du diese Tangas?«

»Ja.«

»So Tangas, die in den Poritzen kleben und sonst alles freilassen. Wenn du willst, kannst du unter dem winzigen Dreieck, das sie vorne haben, sogar sehen, ob die rasiert sind! Wieso machen die das? Und dann liegen die da, ölen genüsslich ihre nackten Brüste ein, und du kannst, ohne groß den Kopf zu verdrehen, zehn, was sag ich: hundert verschiedene Brüste und Brustwarzen betrachten, brauchst sozusagen nur die Hand auszustrecken … Aber das geht ja nicht, das darf man ja nicht, das wäre ja …«

»Was wäre das?«

»Na ja, pervers irgendwie. Oberpeinlich. Das geht doch nicht. Ich denke, wir haben in unserer Gesellschaft akzeptiert, dass Frauen sozusagen nackt vor den Männern herumstolzieren, wir Kerle müssen das aushalten können, wenn nicht, sind wir pervers. Der Busen wird erst wieder verdeckt, wenn sie den Strand verlassen. Und auch dann tragen sie so Push-up-Dinger, damit es noch besonders scharf aussieht und die Jungs verrückt macht.«

»Glaubst du, dass die Mädchen deshalb Push-ups tragen?«

»Warum denn sonst?«

»Könnte ja auch sein«, sage ich, »dass die Mädchen untereinander immerzu in Konkurrenz sind. Dass sie sich so anziehen, um ihre Rivalinnen auszustechen, oder für ihr eigenes Selbstbewusstsein …«

Julian unterbricht. »Glaub ich nicht, ich glaub, das machen die definitiv alles nur, um uns aufzugeilen, um uns verlegen zu machen. Deshalb müssen wir schon cool sein, die ganz Coolen spielen. Das Wort cool sagt ja schon alles: Wenn es so heiß ist wie da in Torremolinos, wenn der Körper immer eine Temperatur hat, die bei uns schon als Fieber gilt … das macht was mit einem, auch im Kopf …«

»Was hat es denn mit dir gemacht?

»Sag ich doch: Es hat mich aufgegeilt. Und zwar permanent. Ich hatte Bio-Sachen mit und wollte für die Schule lernen, aber ging ja nicht. Die Klimaanlage fiel aus und ich konnte sowieso nicht mehr denken. Mein Gehirn war ein einziger Brei. Ich lag also auf dem Bett und überlegte, was die Chicas so machen. Da am Strand. Wenn sie nach Hause kommen und unter die Dusche gehen. Wenn sie vielleicht einen Freund haben und mit dem rumknutschen … keine Ahnung … Ich stellte mir das einfach nur so vor …

Und wenn man so nackt in der Hitze auf dem Bett liegt und die Fliegen zu müde sind, um Krach zu machen, und alles … so … ich weiß nicht … dann passiert das eben. Dann, dann fasst du dich an. Dann fasst du deinen Penis an, deine Hoden … und das macht dann was mit dir, und du wirst steif … und das ist ein tolles Gefühl und du liegst da, und von draußen irgendwo kommt geile Musik und du denkst, das ist gut, richtig gut.

Und dann geht auf einmal die Tür auf und deine Mom steht plötzlich mitten im Raum und starrt dich an. Als ob sie nie gehört hätte, dass man anklopft, bevor man ein Zimmer betritt.

Ich lieg also auf dem Bett, in der Hand meinen Pimmel, und Mom an der Tür reißt die Augen auf, stößt einen kleinen entsetzen Schrei aus und flüchtet.«

»Oh.«

»Richtig. Das ist bitter. Das ist, mit anderen Worten, der Super-GAU.

»Hast du früher nie onaniert?«

»Doch, schon. Klar hab ich.

»Weißt du noch, wann das anfing?«

»Mit zwölf, dreizehn? Aber wenn das passiert ist, hab ich mein Betttuch gleich in die Waschmaschine gestopft. Meine Mutter hat mich nie bei irgendwas erwischt.«

»Du weißt schon, dass Onanieren während der Pubertät ganz normal ist?«

Julian schaut mich unsicher an, lacht. »Sag das mal meiner Mutter.«

»Wenn zu Beginn der Pubertät der Körper mit Hormonen überschwemmt wird, verändert sich auch das Bewusstsein, das wir für unseren Körper hatten. Du kannst in jedem medizinischen Buch nachlesen, dass es völlig normal ist, dass der Pubertierende sich extrem für seinen Körper, seine Gefühle und seine Körperfunktionen interessiert, dann will er alles über Sex wissen, über die eigene Sexualität.«

Julian steht auf. »Heiß hier drin, oder?« Er beugt sich über den Schreibtisch und zieht das Kippfenster auf.

Ich möchte wissen, was nach diesem Super-GAU passiert ist, ob es das Verhältnis zwischen ihm und seiner Mutter verändert hat.

Aber Julian zuckt mit den Schultern. »Mom hat wohl beschlossen, dass es irgendwie nicht stattgefunden hat, wenn wir nicht darüber reden. Sie hat getan, als wäre nichts passiert, und ich hab mitgespielt. War einfacher so, und ich hasse es, wenn es kompliziert wird.« Er grinst. »Jedenfalls hab ich meine Badehosen gegen XXL-Boxershorts ausgetauscht. Seitdem fragt sie nicht mehr, wenn sie abends nach Hause kommt, was ich gemacht hab. Er grinst. Vielleicht hat sie Angst, dass ich einfach sage: »Ich hab mir einen runtergeholt.«

»Das würdest du nicht tun«, sage ich entrüstet.

Julian lacht. »Natürlich nicht. Ich mag sie ja. Wir verstehen uns. Willst du mal sehen, wie sie aussieht, warte …« Er holt sein Smartphone, scrollt durch die Bildergalerie und stoppt. Reicht mir das Smartphone, das ich in die Kamera halte. Man sieht eine blonde, sonnengebräunte, etwa vierzigjährige Frau, die an der Seite eines Mannes, von dem man nur die Schulter sieht, in die Kamera lacht und ein Weinglas hochhält. »Das bin ich neben ihr«, sagt Julian. »Das Selfie haben wir in Torremolinos gemacht. Bevor das passiert ist. Sie sieht da so schön entspannt aus, das ist sie nicht immer.« Er nimmt das Smartphone wieder und legt es neben sich. »Manchmal denk ich: Es ist auch nicht einfach für eine alleinerziehende Mutter mit einem pubertierenden Sohn. Vielleicht wünscht sie sich jetzt manchmal, sie hätte eine Tochter bekommen, deren Gefühlswelt wäre ihr sicher näher.«

»Es passiert oft, dass eine Mutter zu ihrer Tochter mehr wie eine Freundin ist«, sage ich. »Die erzählen sich viel mehr und haben auch weniger Scheu voreinander, wenn es um das Thema Sex geht.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich das so optimal fände«, meint Julian. »Ich jedenfalls möchte über die Sexualität meiner Mutter definitiv überhaupt nichts wissen, null.«

»Hat sich denn in dem Urlaub noch was ergeben?«, frage ich. »Hast du eine ›Chica‹ kennengelernt?

Julian rappelt sich auf und beginnt, die Hände tief in den Hosentaschen, im Zimmer herumzutigern. Manchmal verliert meine Kamera ihn, dann sieht man nur einen Arm, einen Teil seiner Schulter oder seinen Hinterkopf, dann vielleicht nur das Fenster, den Schreibtisch oder das Poster einer Musikband. Julian redet die ganze Zeit. Er spricht nervös, das Thema scheint ihn zu beschäftigen.

»Erst am vorletzten Urlaubstag hat sich so eine Situation ergeben, da hab ich im Flur in unserem Appartementhaus ein Mädchen getroffen. Wir haben uns angelächelt und irgendwie war uns beiden klar, dass da etwas gefunkt hatte. Als ich an den Strand kam, hat sie mich auch sofort entdeckt und mir zugewinkt. Ich hab ihr dann den besten Chiringito an unserer Playa gezeigt, wo man echt geile Smoothies kriegte. Und Bier San Miguel. Ich hab ihr ein Bier spendiert und wir haben geredet und gelacht, als würden wir uns schon ewig kennen. Aber an dem Abend musste sie mit ihren Eltern irgendwelche Freunde besuchen und der nächste Tag war ja für mich schon Abreisetag …«

Er bleibt stehen, fährt sich mit den Händen durch die Haare, reckt sich. »Aber wir mailen uns, und einmal in der Woche skypen wir auch. Leider wohnt sie in Oberbayern. Sie spricht auch ein bisschen mit bayerischem Akzent. Find ich übrigens richtig sexy.«

»Wollt ihr euch mal treffen?«

»Machst du Witze? Klar wollen wir das. Maja fährt offenbar supergut Ski. Ihre Eltern haben einen Skiverleih. Sie sagt, wenn ich im Winter komme, bringt sie es mir bei.«

»Du bist ja sportlich, so wie du Skateboard fährst.«

»Ich hoffe jedenfalls nicht, dass ich wie ein peinlicher Anfänger auf dem Idiotenhügel rumrutsche. Ich hab mir einen Anfängerkurs im Netz gesucht. Das Video habe ich mir genau angesehen. Für Trockenübungen …« Er grinst. »In der Theorie bin ich gar nicht so schlecht.«

»Und was denkst du, wie es in der Praxis sexuell mit euch laufen wird? Wird da was passieren?«

Julian macht sein cooles Mackergesicht. »Da geh ich schwer von aus. Ich meine: Mit fünfzehn wird es für mich langsam Zeit, oder?«

»Wie alt ist Maja denn?«

»Auch fünfzehn.«

»Habt ihr schon darüber gesprochen, wie es sein wird?«

»Ja, aber mehr so vage. Maja meint, dass wir nichts überstürzen sollten. Sie hat wohl bisher zwar einige Beziehungen gehabt, aber noch nie mit einem Typ geschlafen. Sie hat bislang einfach nicht den Wunsch verspürt, sagt sie. Tja, die Chicas ticken eben anders als wir Kerle, das muss man akzeptieren. Maja meint, es sei für sie unheimlich wichtig, dass wir uns wirklich richtig mögen, dass es eben mehr sein muss als nur das Körperliche. Sie sagt, wir sollten uns Zeit lassen, Gefühle füreinander zu entwickeln.«

Es kratzt an der Tür. Julian springt auf und lässt Momo wieder rein. Momo springt, ohne ihn oder mich zu beachten, auf das Fensterbrett und leckt sorgfältig seine Pfoten.

Julian: »Na Momo, war’s geil? Hast du ’ne scharfe Mieze aufgerissen?«

Er packt den Kater am Nackenfell, geht mit ihm zum Bett zurück und setzt sich. Der Kater befreit sich und springt mit einem eleganten Satz aufs Fensterbrett zurück. Julian betrachtet den Kater mit väterlicher Nachsicht. »Momo benimmt sich manchmal auch richtig zickig.«

»Findest du denn, dass Maja sich zickig verhält?«, frage ich.

»Nö, glaub ich eigentlich nicht.« Er zögert, zuckt mit den Schultern. »Weiß ich nicht. Mädchen, Frauen sind komisch irgendwie. Man versteht sie nicht wirklich und ich hab ja auch noch nicht so viel Erfahrung mit Chicas.«

»Was glaubst du denn, wie euer Wiedersehen sich anfühlen wird?«

Julian lacht. »Ich hoffe gut. Sehr gut. Super. Geil.«

»Nachdem du jetzt aber weißt, dass Maja …«

Julian unterbricht hastig. »Also, ich werde bestimmt nicht wie ein Sexmonster über sie herfallen. Ich bin im Grunde ein schüchterner Typ. Sie muss schon irgendwie den ersten Schritt machen.«

»Und wie soll der erste Schritt aussehen?«

Julian überlegt. »Sie muss mir ein Signal geben, dass sie bereit ist, ich meine, ich geh schon davon aus, dass wir bis zu einer gewissen Grenze gehen, dass wir uns anfassen und so. Vielleicht auch zusammen in einem Bett schlafen …«

»Du glaubst, dass so was passiert?«

»Weiß ich eben nicht. Aber ich hab auch Angst davor, ehrlich. Ich hab Angst, etwas falsch zu machen. Ich meine, wenn Maja auch keine Erfahrung hat, und wir beide irgendwie so albern herummachen, uns irgendwie linkisch benehmen, beim Ausziehen, beim ersten Streicheln …« Er schaut mich an, und es ist der Blick eines Kindes, ängstlich und unsicher. »Was, wenn da zwischen uns gar nicht die richtige Stimmung aufkommt?«

»Tja«, sage ich, »es liegt natürlich auch an dir, den richtigen Zeitpunkt und den richtigen Ort zu finden.«

»Wenn das peinlich wird«, sagt Julian düster, »überleb ich das nicht.«

Für einen Augenblick weiß ich nicht, was ich sagen soll. Als Julian meine Verlegenheit bemerkt, lacht er und breitet die Arme aus. »Nein, nein, alles gut. War bloß ein Quatsch. Wenn es beim ersten Mal nicht der Megahit ist, dann eben beim zweiten Mal. Oder beim dritten. Ich denke mal, es ist wie mit allem: Irgendwann weiß man, wie es geht.«

»Träumst du manchmal von Sex?«

»Klar.«

»Sex mit Maja? Das erste Mal? Und sie?«

Julian nickt. »Wenn ich aufwache, kontrolliere ich als Erstes mein Bettlaken, ob Flecken drin sind. Ich hab mich im Verdacht, das ich nachts unbewusst ejakuliere.« Er feixt vor Verlegenheit. »Wahrscheinlich feuchte Träume. Und morgens ist in meinem Körper noch ein Gefühl, so eine Art Schwäche, wie weiche Knie, und dann denke ich: Aha, du Sau. Denn als Kind hab ich prinzipiell nicht geträumt. Glaube ich jedenfalls.«

»Denkst du auch am Tag oft daran?«

»Klar, morgens im Bad. Dann überleg ich mir, ob sie auch gerade im Bad steht und ob sie nackt ist oder was anhat. Das schon.« Er lächelt. »Ich denke so am Tag vielleicht hundert Mal an sie.«

»So oft?«

Julian schaut mich überrascht an. »Ist das oft? Ich kenne Jungs, die haben keinen anderen Gedanken im Kopf als dieses erste Mal mit einer Frau. Der erste richtige Sex.«

Aus dem Flur dringen Geräusche wie das Klappern von Kleiderbügeln, dann rauscht eine Wasserspülung. Schließlich hört man eine weibliche Stimme, die leise vor sich hin summt.

»Das ist Barbara«, sagt Julian, »eine Freundin meiner Mutter. Sie ist okay. Sie weiß, dass wir heute dieses Interview machen.«

Sekunden später klopft es an die Tür. »Hallo?«, ruft eine weibliche Stimme.

Julian springt auf. Er öffnet die Tür. Barbara ist eine pummelige Frau mit fröhlichem Gesicht und roten Wangen. Sie kommt sofort auf mich zu und reicht mir zur Begrüßung die Hand. »Sie sind also die Frau vom Film.«

Ich stelle mich vor.

»Und?«, fragt Babara, indem sie Julian kumpelhaft in den Arm nimmt. »Was hat er so gesagt?«

Julian legt seinen Zeigefinger auf die Lippen: »Psst.«

Barbara lacht. »Okay, ich guck’s mir dann irgendwann im Fernsehen an. Wie heißt die Sendung?«

»Die hat noch keinen Namen«, sage ich ausweichend. Dabei weiß ich schon, dass ich sie »Zwölf erste Male« nennen will.

»Na denn, gutes Gelingen!« Barbara macht ein Siegeszeichen. Sie verschwindet wieder und zieht die Tür lautlos hinter sich zu.

Nach einem Blick auf die Uhr wird Julian plötzlich nervös. »War das jetzt alles? Ich bin nämlich gleich noch mit einem Kumpel verabredet.«

»Nur noch eine Frage, auf die ich gern eine ehrliche Antwort hätte.«

»Hey, meine Antworten waren alle ehrlich!«

»Das weiß ich, danke. Glaubst du, dass du nur an Maja interessiert bist, weil du mit ihr schlafen willst?«

Julian wirkt überrascht, als verstünde er die Frage nicht. Ich fange noch mal an. »Ich möchte wissen, ob deine Gedanken an Maja immer irgendwie mit Sex zu tun haben oder ob du auch an andere Sachen denkst.«

»Was denn sonst für Sachen?«, fragt Julian verständnislos.

»Nun, alles mögliche – daran, dass ihr Skifahren wollt, dass ihr euch eure Gedanken mitteilt, eure Pläne für die Zukunft …«

Julian stöhnt auf. »Das machen wir doch jeden Tag beim Skypen und Chatten. Ich weiß, wie sie denkt und was für Hobbys sie hat. Ich weiß, welche Klamotten sie gerne hat und dass sie ihre Haare wachsen lassen will. Ich weiß viel von ihr. Das Einzige, was ich nicht weiß, ist, ob sie auch …« Er zögert, schaut auf den Boden. »Ich weiß nicht, wie bei uns das erste Mal wird«, sagt er dann. »Frauen sind so unberechenbar.« Er blickt mich plötzlich ganz offen an. »Es stimmt, ich denke oft daran. Im Grunde denke ich an nichts anderes. Deshalb bin ich immer ziemlich angespannt. Ich hoffe, das normalisiert sich irgendwann.«

Sheeva

Das Interview mit Julian hatte länger gedauert als erwartet, und während der ganzen Zeit hatte Sheeva nicht ein einziges Mal an den Park denken müssen. Doch jetzt, als sie auf dem Nachhauseweg feststellte, dass die Baustelle aufgehoben war und es keine Umleitungsschilder mehr gab, hatte sie plötzlich Panik, sie würde den Park nie wieder finden. Und irgendwann nicht einmal sicher sein, ob es ihn wirklich gab.

Angespannt saß sie hinter dem Steuer und versuchte, sich zu orientieren. An der Kreuzung, wo die Umleitung geendet hatte, hatte sie sich einen hässlichen Betonblock gemerkt, in dem ein Fitnesscenter mit lila Großbuchstaben für sich warb. Das galt es zu finden.