12 Stunden Frist - Mara Laue - E-Book

12 Stunden Frist E-Book

Mara Laue

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Beschreibung

12 Stunden bleiben Manfred Thaler, dann drohen die Entführer seine Tochter zu töten. Es sei denn, er gewinnt bis dahin das von seiner Firma vermarktete Computerspiel. Nur eine Person kann ihm helfen: die Programmiererin des Spiels, Ricky Schäfer. Doch diese hat wenig Interesse daran, ihren ehemaligen Chef, von dem sie sich im Streit getrennt hat, zu unterstützen. Die Suche nach dem Kind wird zur Verfolgungsjagd durch Berlin – und zu einem Spiel gegen einen Gegner, dessen Pläne sehr viel weitreichender sind, als irgendjemand ahnt.

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Seitenzahl: 487

Veröffentlichungsjahr: 2024

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12 Stunden Frist

Titel und Impressum

 

 

 

 

 

 

 

12 Stunden Frist

 

 

 

Mara Laue

 

 

 

 

 

Impressum

 

Copyright: vss-verlag

Jahr: 2024

 

 

 

Lektorat/ Korrektorat: Simon Schemp

Covergestaltung: Hermann Schladt/Neutoflash

 

 

Verlagsportal: www.vss-verlag.de

 

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie

 

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Verfasserin unzulässig.

Über dieses Buch

 

Dieser Roman entstand aufgrund einer Herausforderung des Online-Magazins „Zauberspiegel“, bei der Mara Laue unter Beweis stellen musste, dass es möglich ist, denselben Plot als Roman wie auch als Kurzroman und Story auszuarbeiten, ohne dass die beiden Letzteren nur Verkürzungen des Romantextes sind. Entstanden ist ein Dreiergespann: Im Roman „12 Stunden Frist“ erleben die Lesenden die Handlung aus der Perspektive des Ermittlungsteams, im Kurzroman „Operation Clavis“ aus der Sicht der Verbrecher und in der Story „Ein Spiel für ein Leben“ aus der Perspektive von Ricky Schäfer als Ich-Erzählerin.

 

Lesen Sie alle drei Versionen in diesem Band.

 

Um die Spannung zu erhalten, wird empfohlen, die drei Teile in der vorliegenden Reihenfolge zu lesen.

 

 

 

 

 

 

 

Dieses Buch ist gewidmet

 

Kerstin Göbel, die den Anstoß gab,

 

und

 

J.S., der die Idee zu diesem Roman lieferte.

 

 

 

Vorbemerkung der Autorin

 

Alle Handlungen und Personen dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Ereignissen wären zufällig. Alle genannten Orte sind dagegen authentisch. Lediglich einige Adressen (Hausnummern) sind aus Rechtsgründen ebenfalls frei erfunden.

 

Obwohl ich die Polizeiarbeit so realitätsnah wie möglich dargestellt habe, musste ich mir ein paar dichterische Freiheiten für die Schilderung der Arbeit der Besonderen Aufbauorganisation (BAO) des LKA Berlin erlauben, die für die Bearbeitung von Kindesentführungen zuständig ist. Ihre reale Vorgehensweise unterliegt aus verständlichen Gründen der Geheimhaltung.

 

 

1. Buch

 

12 Stunden Frist

Sonnabend, 6. Juli – 11.07 Uhr

 

„Oh Monfree, quelqu'un a enlevé Marie-Claire!“

Dem folgte ein Schwall weiterer französischer Worte, die Manfred Thaler nicht verstand. Er sprach ohnehin kaum Französisch. Wann immer seine Frau vor Aufregung in ihre Muttersprache verfiel, redete sie so schnell, dass er gar nichts mehr begriff.

„Monique, bitte beruhige dich. Was ist los? Was ist mit Marie-Claire?“

„Sie ’aben entführt mon petit bébé!“ Monique heulte los.

Manfred war für einige Augenblicke erstarrt und umklammerte den Telefonhörer, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Schlagartig überfiel ihn das Gefühl, einen Albtraum zu erleben, der mit der Angst begann, sein Kind nie wiederzusehen. Oh Gott, bitte, nur das nicht! Tausend Gedanken und Bilder schossen ihm durch den Kopf, eins schlimmer als das andere. Das schlimmste zeigte seine kleine Tochter tot in einer trostlosen Umgebung, weggeworfen wie eine zerbrochene Puppe. Panik stieg in ihm auf. Er kämpfte sie mit eisernem Willen nieder. Er musste einen klaren Kopf behalten. Unter allen Umständen, auch wenn ihm vor Angst und damit einhergehender Verzweiflung zum Schreien war. Und zum Heulen.

„Was genau ist denn passiert?“ Hysterisches Schluchzen. „Monique? Rede mit mir!“

„Isch ’abe gelassen ma petite auf die Terrasse nur pour un moment, um zu gehen ins Bad. Als isch komme zurück, sie ist weg. Dafür liegt une lettre in ihre Laufstall.“

„Was für ein Brief?“

„Worin sie stellen ihre absurden conditions. Oh Monfree, du musst kommen sofort nach ’ause!“

Er war schon aufgestanden und schaltete seinen Computer aus. „Hast du die Polizei gerufen?“

„Mais non! Das ’aben sie verboten! Wir rufen la police, und sie töten notre enfant! Monfree, komm schnell!“

„Ich bin unterwegs.“

Er unterbrach die Verbindung und zitterte am ganzen Körper. Er erwog, die Polizei sofort anzurufen. Im Gegensatz zu Monique machte er sich keine Illusionen darüber, dass sie ihr Kind nur lebend wiedersehen würden, wenn sie der Polizei die Sache überließen. Zunächst musste er sich aber selbst ein Bild von der Sache machen. Monique neigte manchmal zu Übertreibungen. Und aus ihrer Schilderung wurde er sowie nicht ganz schlau. Was nicht nur an ihrem halb französischen Gestammel lag. Außerdem hoffte er, dass sich das Ganze als Irrtum oder böser Streich herausstellte.

Andererseits hatte er befürchtet, dass eines Tages so etwas passieren könnte. Niemand war so schnell so erfolgreich wie er, ohne sich ein paar Feinde zu machen und Neider auf den Plan zu rufen. Aber er hatte geglaubt, dass es ausreichte, seine Firma zu sichern, sie mit dem neuesten und besten Equipment überwachen zu lassen und an seinem Grundstück Alarmanlagen und Überwachungskameras anzubringen. Im Leben hätte er nicht damit gerechnet, dass jemand am hellichten Tag in einem Wohngebiet ein Kind von der Terrasse entführen könnte.

Und wenn er nicht jeden Sonnabend, manchmal bis in die Nacht, in seiner Firma arbeiten würde, sondern stattdessen zu Hause gewesen wäre, dann hätte Monique Marie-Claire nicht allein lassen müssen und seine Tochter wäre nicht entführt worden. Oder der oder die Entführer hätten sich das Kind mit Gewalt geholt, wobei irgendjemand möglicherweise schwer verletzt oder sogar tot auf der Strecke geblieben wäre.

Manfred schloss hastig sein Büro ab, aktivierte den Sicherheitscode der Tür und rannte zum Ausgang. Das ganze Gebäude war ausgestorben, weshalb seine Schritte geisterhaft hallten. Weil er der Einzige war, der sonnabends in der Firma arbeitete – nur dann hatte er die größtmögliche Ruhe –, musste er jede Zwischentür auf- und wieder zuschließen. Es schien ewig zu dauern, bis er endlich den Ausgang erreicht hatte und den Schließcode erst für die innere, dann für die äußere Tür eingegeben hatte, wobei er sich auch noch vertippte.

Er sprang in seinen Wagen, der vor dem Haupteingang stand, und parkte mit quietschenden Reifen so heftig aus, dass er beinahe mit einem der Blumenkübel kollidierte, die den Rand des Parkplatzes säumten. Er raste zum Tor und verfluchte den Umstand, dass er hier anhalten und aussteigen musste, um den Sicherheitscode einzutippen, der das Tor öffnete und nach der Durchfahrt wieder anhalten und aussteigen musste, um es zu verriegeln. Er fuhr nach Hause, so schnell er konnte und es der Verkehr erlaubte, und hatte das Gefühl, dass die sechzehneinhalb Kilometer, die er vom Firmengelände auf der Grünauer Straße in Adlershof bis zu seinem Haus in der Koenigsallee in Grunewald brauchte, kein Ende nähmen. Er scherte sich den Teufel darum, dass er auf dem Weg mehrmals geblitzt wurde. Zum Glück waren Schulferien und die A 100 vergleichsweise leer, sodass er wenigstens hier schneller vorankam als gewöhnlich.

Während der Fahrt betete er unablässig, dass sich alles als harmlos herausstellen würde und nicht als Entführung. Marie-Claire war der Mittelpunkt seines Lebens, seit er sie unmittelbar nach ihrer Geburt vor zwei Jahren zum ersten Mal im Arm gehalten hatte. Allein der Gedanke, dass sie sich in fremden Händen befinden könnte, die unsanft mit ihr umgingen und an die Angst, die sie ausstehen musste, drehte ihm den Magen um.

Als er endlich mit einer Vollbremsung vor seinem Haus ankam, erwartete Monique ihn bereits in Tränen aufgelöst an der Gartentür. Sie warf sich ihm in die Arme und weinte herzzerreißend. Er zog sie ins Haus. Die Nachbarn mussten nicht unbedingt mitbekommen, dass bei Thalers etwas nicht in Ordnung war. Zum Glück waren sowohl die Schmidts zur Rechten wie auch die Krampowskis zur Linken seit Tagen im Urlaub. Und Professor Faber von gegenüber spielte hingebungsvoll und bis auf die Straße hörbar ein Nocturne von Chopin auf seinem Flügel und bekam sowieso nichts mit, was draußen vor sich ging.

„Beruhige dich, Monique. Bitte. Wo ist der Brief?“

Sie brachte kein Wort heraus, sondern deutete zum Wohnzimmer. Manfred ging hin und zog sie mit sich, da sie sich an ihn klammerte, ihr Gesicht gegen seine Schulter presste und nicht bereit war, ihn loszulassen. Er musste sie energisch in einen Sessel drücken, ehe sie von ihm abließ. Auf dem Tisch lag ein aufgefalteter Zettel. Er nahm ihn und las die computergeschriebene Nachricht:

 

Manfred Thaler,

wir haben Ihre Tochter. Wenn Sie sie unversehrt wiedersehen wollen, spielen Sie TRENIGMARIS in Ihrem Haus. Wir überwachen das Spiel mit der Webcam.

 

Unsere Bedingungen:

Verlassen Sie während des Spiels nicht das Haus. Verlassen Sie es oder geben Sie Ihren Laptop in fremde Hände, stirbt Ihre Tochter.

Gewinnen Sie alle Levels der Reihe nach von Level 1 bis Level 7 in zwölf Stunden.

Verlieren Sie oder benötigen Sie länger als zwölf Stunden, stirbt Ihre Tochter.

Haben Sie das Spiel nicht bis 14 Uhr begonnen, stirbt Ihre Tochter. Sobald Sie begonnen haben, bekommen Sie für jeden Level 1 Stunde und 42 Minuten Zeit. Überschreiten Sie bei nur einem Level diese Zeit, haben Sie das Spiel verloren und Ihre Tochter stirbt. Je eher Sie beginnen und je schneller Sie die einzelnen Levels schaffen, desto mehr Zeit haben Sie für die folgenden Levels.

Sie erhalten während des Spiels verschiedene Hinweise. Alle Hinweise zusammen führen zum Aufenthaltsort Ihrer Tochter. Level 7 zu gewinnen ist also die einzige Möglichkeit für Sie, sie lebend wiederzusehen.

Halten Sie sich akribisch an unsere Anweisungen, sonst stirbt Ihre Tochter.

KEINE POLIZEI! Sonst stirbt Ihre Tochter.

 

Der Countdown läuft.

 

Jetzt wusste er, was Monique mit „absurden Bedingungen“ gemeint hatte. Die erste Absurdität war, dass die Erpresser kein Lösegeld verlangten. Stattdessen sollte er ein verdammtes Computerspiel spielen. Das war doch Irrsinn! Besonders im Hinblick darauf, dass seine Firma TRENIGMARIS zwar vermarktete, er selbst es aber gar nicht spielen konnte. Er war Geschäftsmann, kein Nerd, der seine Zeit mit PC-Spielen verbrachte.

Und die wiederholte Drohung, dass Marie-Claire sterben sollte, wenn er nicht tat, was diese Wahnsinnigen verlangten, machte ihn wütend und versetzte ihn in Panik. Bis zu Maries Geburt hatte er sich nicht vorstellen können, dass man ein Kind so sehr lieben könnte − dass er jemals ein Kind so sehr lieben könnte. Doch er liebte seine Tochter nicht nur – sogar mehr als Monique, wenn er ehrlich war –, er hätte buchstäblich sein Leben für sie gegeben.

Dass er nicht da gewesen war, als sie entführt wurde, dass er nicht in der Lage war, sie zu beschützen und keine Möglichkeit hatte, sie zu befreien, ließ ihn sich schwach und hilflos fühlen. Ein widerliches Gefühl, das in ihm den brennenden Wunsch weckte, die Entführer zu töten; sie langsam und qualvoll zu Tode zu foltern, damit sie am eigenen Leib seine Hilflosigkeit erfuhren und jeden Schmerz, den sie Marie-Claire vielleicht zugefügt hatten. Er durfte gar nicht daran denken, was die Kerle mit ihr taten. Oder schon getan hatten.

Er sah auf die Uhr. Elf Uhr zweiundvierzig. Ihm blieben noch zwei Stunden und achtzehn Minuten, um mit dem Spiel zu beginnen – einem Spiel, bei dem er wahrscheinlich schon den ersten Zug auf Level 1 verlor. Oh Gott! Wer tat ihm so etwas an?

„Monfree, je t’en prie, commence! Bitte, fang an.“

Er zuckte beim Klang von Moniques Stimme zusammen. Zum ersten Mal empfand er als unangenehm, dass sie seinen Namen auf französische Weise aussprach. Bisher hatte er das charmant gefunden; jetzt gab es ihm das Gefühl, dass sie einen Fremden meinte, nicht ihn.

Verdammt, was sollte er tun? Er konnte TRENIGMARIS nicht spielen und erst recht nicht gewinnen. Es gab nur eine einzige Möglichkeit, Marie-Claire zu retten: Sie mussten die Polizei einschalten, auch wenn die Entführer das verboten hatten. Aber wenn die das mitbekamen … Oh Gott! Er stöhnte und verbarg das Gesicht in den Händen.

Monique zerrte an seinem Arm in Richtung Arbeitszimmer, wo er seinen Laptop stehen hatte. „Monfree, commence!“

Wahnsinn! Das Ganze war der schiere Wahnsinn. Ihm wurde übel. Wenn er versuchte, TRENIGMARIS zu spielen, würde er verlieren und Marie sterben. Wenn er die Polizei einschaltete und die Entführer das bemerkten, würden sie Marie ebenfalls umbringen. So oder so, er, vielmehr Marie verlor in jedem Fall.

Er rannte zum Fenster und schaute auf die Straße. Weit und breit war nichts Auffälliges oder Ungewöhnliches zu sehen. Alle Autos, die in Sichtweite parkten, gehörten Anwohnern. Die Fenster der gegenüberliegenden Häuser waren teilweise mit geschlossenen Jalousien oder Rollos gegen die einfallende Sommersonne geschützt. Nirgends konnte er ein fremdes oder überhaupt ein Gesicht hinter einer Scheibe sehen. Und da alle Häuser Ein- oder Zweifamilienhäuser waren ohne wechselndes Mietpublikum, war unwahrscheinlich, dass dort einer der Entführer lauerte und Manfreds Haus beobachtete.

Aber wenn doch? Er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so hilflos gefühlt wie in diesem Moment der Wahl zwischen Teufel und Beelzebub. Er entschied sich für das kleinere Übel und griff zum Smartphone. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und die Übelkeit verstärkte sich.

Monique fiel ihm in den Arm. „Mon Dieu, was tust du?“

„Ich rufe die Polizei.“

„Non!“

Der Ausruf schrillte unangenehm in seinen Ohren. Den Rest ihrer Tirade verstand er nicht und hätte ihn wohl auch kaum verstanden, wenn sie Deutsch gesprochen hätte. Dass sie mit den Fäusten ziemlich kräftig gegen seine Brust trommelte, verstand er dagegen sehr gut. Er packte sie an den Handgelenken und hielt sie fest.

„Verdammt, Monique, reiß dich zusammen! Ich kann dieses Scheißspiel nicht spielen! Die Polizei ist die Einzige, die Marie-Claire retten kann. Und darum rufe ich die jetzt an.“

Er war sich jedoch keineswegs sicher, ob er damit wirklich das Richtige tat.

 

 

13.21 Uhr

Hauptkommissar Aktan Sunay schüttelte den Kopf und reichte den Erpresserbrief Staatsanwältin Paulus, die ihn überflog und an Vera Kalinina vom Erkennungsdienst weitergab, die sofort begann, ihn mit ihrem mobilen Equipment zu untersuchen.

„Das ist die ungewöhnlichste Erpressung, von der ich je gehört habe“, stellte Aktan fest. Er blickte Manfred Thaler und seine Frau an, die auf der Couch saßen, einander im Arm hielten und hofften, dass Aktan und sein Team ihr Kind retteten und die Zuständigkeit der Mordkommission auch für Entführungsfälle kein böses Vorzeichen war. „Und Sie haben wirklich keinen Schimmer, von wem das ist?“

Thaler schüttelte den Kopf.

„Oder wissen Sie, was das soll, Frau Thaler?“

„Non! Je ne sais rien!“ Sie brach in Tränen aus. Zum vierten Mal seit der Ankunft von Aktans Team.

„Herr Thaler?“

Der Mann schüttelte mit verkniffenem Gesicht erneut den Kopf. Aktan war sich nicht sicher, ob die Verkniffenheit der Situation oder dem hysterischen Geheul seiner Frau geschuldet war, das ihnen allen auf die Nerven ging. Ben Eggers, der angeforderte Notfallpsychologe, war noch nicht eingetroffen.

„Nein“, beantwortete Thaler Aktans Frage und sah auf seine Armbanduhr. „Das heißt ...“ Er schüttelte zum dritten Mal den Kopf.

„Was? Wissen Sie etwas oder nicht?“

„Nein, ich weiß nichts. Jedenfalls nichts Konkretes. Der Einzige, dem ich so eine Aktion zutrauen würde, ist mein ehemaliger Geschäftspartner. Aber erstens hat der mich schon vor vier Jahren beinahe fertiggemacht, und zweitens würde er Geld verlangen und nicht so eine hirnrissige Forderung stellen.“ Er machte eine ungeduldige Handbewegung. „Sollte ich nicht langsam mit dem Spiel anfangen?“

„Nun bleiben Sie mal ganz ruhig.“ Michael Kohler, der die Fangschaltung an Thalers Laptop und der PC-Station installierte, war die Ruhe selbst und strahlte das auch aus. „Bevor ich hier nicht fertig bin, können Sie sowie nicht anfangen. Keine Sorge, das schaffen wir schon bis zwei Uhr.“ Michael lächelte ihm beruhigend zu. „Wir machen das schon.“

„Hoffentlich.“ Thaler blickte Aktan an. „Sie haben doch Erfahrung mit so was?“

„Haben wir. Wie ist das nun mit Ihrem Partner?“

Aktan wartete auf eine Erklärung, doch Thaler schwieg und tätschelte die Schulter seiner Frau in dem vergeblichen Versuch, sie zu beruhigen. Sein Hemd hatte an der Schulter bereits einen großen nassen Fleck von ihren Tränen.

„Gehen wir das Ganze mal der Reihe nach an. Wie heißt Ihr Partner?“

„Expartner. Takumi Saito.“

„Ein Japaner?“

„Ja. Eigentlich ...“ Thaler schüttelte den Kopf. „Verdammt, wir müssen doch irgendwas tun!“ Er blickte sich gehetzt um.

„Wir sind doch schon dabei, Herr Thaler. Dazu müssen wir jedes Detail wissen, auch Dinge, die Ihnen vielleicht unwichtig vorkommen. Blinder Aktionismus hilft Ihrer Tochter nicht.“

Thaler nickte. „Sie haben recht. Entschuldigung.“ Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Ja, also die Sache mit Takumi. Ursprünglich waren wir Freunde. Das dachte ich zumindest. Ich habe in Mannheim studiert. Betriebswirtschaft mit Schwerpunkt Marketing.“ Er wischte sich wieder über das Gesicht.

„Ach, das ist aber ein Zufall.“ Aktan lächelte. „Ich stamme auch aus Mannheim. Stadtteil Jungbusch. Meine Familie wohnt immer noch dort.“

Das erwähnte er nicht, um sinnlos zu plaudern, sondern um Thaler ein bisschen zu beruhigen und in ihm ein Gefühl von Gemeinsamkeit zu erwecken, damit er zumindest in Aktan einen Verbündeten sah und sich nicht von lauter „Fremden“ umzingelt fühlte. Aktan war seiner Frau zuliebe nach Berlin gezogen. Naila war das einzige Kind ihrer Eltern. Denen hätte es das Herz gebrochen, wenn sie nach Mannheim gezogen wäre. Also hatte Aktan sich nach Berlin versetzen lassen. Aber er vermisste Mannheim manchmal immer noch.

„Ihr Partner hat auch in Mannheim studiert?“, nahm er den Faden wieder auf.

Thaler nickte. „Informatik an derselben Uni. Wir haben beide ein Faible für Mangas; dadurch haben wir uns kennengelernt und irgendwann mit dem Gedanken gespielt, nach dem Studium damit was Zündendes zu machen. Daraus wurde aber zunächst nichts, denn nach dem Abschluss haben sich unsere Wege getrennt, weil ich nach Berlin gezogen bin. Ich hatte hier ein lukratives Jobangebot. Vor gut vier Jahren stand Takumi plötzlich vor meiner Tür. Er hatte eine tolle Idee für ein Manga-basiertes Computerspiel. Aber um es zu realisieren und zu vermarkten, brauchte er Geld. Ich verstehe zwar nicht viel von Computerspielen, aber von Marketing. Die Idee war fantastisch, nach meiner Marktanalyse absolut einwandfrei und vor allem sehr gewinnträchtig. Also haben Takumi und ich unsere Zwei-Mann-Firma gegründet: Thaler-Rengo. Rengo ist das japanische Wort für Union. Ich klapperte mit unserem Konzept die Banken ab, sorgte für Kredite und das Vorabmarketing und holte Sponsoren ins Boot. Takumi entwickelte das Spiel.“

„Dieses TRENIGMARIS.“

Thaler schüttelte den Kopf. „Ein anderes. Wir hatten ihm noch keinen Namen gegeben. Im Nachhinein weiß ich auch, warum er darauf bestanden hat, denn ein halbes Jahr vor dem Launch“, Thaler ballte die Faust und biss die Zähne so stark zusammen, dass Aktan sie knirschen hörte, „ist er mit dem Spiel verschwunden, hat sämtliche Entwicklungsdateien von unseren Servern gelöscht und mich mit einem Riesenberg Schulden sitzen lassen, für den ich als persönlich haftender Gesellschafter geradezustehen hatte.“

„Ich nehme an, Sie haben ihn verklagt?“

Thaler nickte. „Das hätte ich getan, wenn er auffindbar gewesen wäre. Takumi ist untergetaucht. Drei Monate später brachte eine japanische Firma ein Computerspiel auf den Markt, das mit dem identisch ist, das er entwickelt hat. Da ich dank seiner Hinterlist, sämtliche Dateien zu löschen, nicht beweisen kann, dass er das Spiel für Thaler-Rengo entwickelt hat, konnte ich nichts dagegen tun. Natürlich habe ich einen Anwalt konsultiert, aber der sagte, dass ich keine Chance hätte, einen solchen Prozess zu gewinnen. Einmal mangels Beweisen, dass das Spiel ursprünglich für Thaler-Rengo gedacht war, zum anderen weil Takumi japanischer Staatsbürger ist und außerdem unauffindbar. Offenbar hat er keinen festen Wohnsitz. Zumindest nicht unter seinem Namen.“ Wieder ballte er die Faust. „Der Kerl hat doppelt abkassiert. Von mir das Geld, mit dessen Hilfe er das Spiel überhaupt entwickeln konnte, dann das Geld, das er von der japanischen Firma dafür bekommen hat. Und bestimmt ist er auch noch am Gewinn beteiligt.“

„Und was hat es mit diesem Spiel auf sich – TRENIGMARIS?“

Thaler warf wieder einen Blick auf die Uhr. „Das ist doch jetzt vollkommen unwichtig, Herr Sunay. Finden Sie meine Tochter, bevor die Zeit abläuft!“

Das dürfte unmöglich sein, da es bis jetzt keinen Anhaltspunkt dafür gab, wo man nach dem Kind suchen sollte. Aktan musste Thaler überzeugen, dass sie ohne seine Auskünfte auch kaum einen finden würden. Er blickte Michael Kohler an, der sich immer noch an Thalers Laptop zu schaffen machte.

Michael nickte ihm zu. „Schaltung steht. Sobald sich die Entführer über den Laptop oder das Telefon melden, fangen wir sie.“ Mit dem Telefon hatte sich ein zweites Team beschäftigt und eine Fangschaltung eingerichtet.

Thaler sprang auf. „Worauf warten wir dann noch?“

Aktan machte eine beschwichtigende Handbewegung. Bevor er etwas sagen konnte, kam Michaels Kollege Lukas Jung und stellte einen Laptop auf den Tisch vor die Staatsanwältin. Sigrid Paulus war die oberste Instanz bei den Ermittlungen und hatte wie Aktan und sein Team Bereitschaft gehabt, weshalb sie für diesen Fall zuständig war. Aktan stellte sich neben sie und sah ihr über die Schulter.

„Die Aufzeichnungen der Überwachungskameras von der Terrasse. Die Typen sind mit einem Motorboot vom See gekommen.“ Lukas drückte die Entertaste. Die Aufzeichnung wurde abgespielt und gleichzeitig an Hauptkommissarin Rebecca Goldberg und die Leute in der sofort eingerichteten Einsatzzentrale im Präsidium am Platz an der Luftbrücke übertragen. Goldberg hatte die Einsatzleitung der BAO, der besonderen Aufbauorganisation, die bei Kindesentführungen unverzüglich gebildet wurde.

Das Grundstück der Thalers lag am Halensee und hatte hinter dem Haus einen Zugang zum Wasser. Aktan bat Thaler und seine Frau, sich die Aufzeichnungen anzusehen. Haus und Grundstück waren in einer Weise mit Überwachungskameras bestückt, dass jeder Winkel erfasst wurde. Vorbildlich, aber es hatte die Entführung nicht verhindern können.

Eine Kamera zeigte Monique Thaler, wie sie auf der Terrasse mit ihrer Tochter spielte. Nach einer Weile setzte sie das Mädchen in den Laufstall und ging ins Haus. Keine Minute später kam das Boot in Sicht, das mit drei Leuten besetzt war. Sie trugen dunkelblaue Overalls und hatten sich Sturmhauben aufgesetzt. Zwei Personen sprangen an Land. Einer rannte auf die Terrasse, während der andere mit einer Maschinenpistole in der Hand die Aktion sicherte. Der Dritte blieb im Boot. Der Mann, der auf die Terrasse zulief, warf einen Briefumschlag in den Laufstall, ehe er dem Kind die Hand auf den Mund presste – Monique Thaler wimmerte, als sie das sah –, es aus dem Laufstall hob und mit ihm zurück zum Boot rannte. Mit aufheulendem Motor drehte es vom Ufer ab und verschwand Sekunden später aus dem Erfassungsbereich der Kameras. Das Ganze hatte keine zwei Minuten gedauert.

Offenbar hatten die Entführer die ganze Aktion nicht nur von langer Hand geplant, sondern auch das Haus schon eine Zeit lang beobachtet, sonst hätten sie nicht den perfekten Moment abpassen können.

„Eindeutig Profis“, stellte Sigrid Paulus fest.

Sie trat auf die Terrasse hinaus. Aktan folgte ihr. Ein Teil von Vera Kalininas Team war damit beschäftigt, den Laufstall zu untersuchen, ob es daran Fingerabdrücke oder Faserspuren gab, die nicht von den Thalers stammten. Weitere Teammitglieder untersuchten akribisch den Boden vor der Terrasse.

Sigrid Paulus beschattete die Augen und blickte zum See. „Die haben sich wahrscheinlich bei der Insel versteckt und gewartet, bis der Zeitpunkt günstig war.“ Sie deutete auf die gegenüberliegende Seite des Sees.

Dem Grundstück der Thalers direkt gegenüber befand sich eine kleine Insel, kaum fünfzig Meter lang und höchstens halb so breit. Im Schatten der dort bis ans Ufer wachsenden Bäume, deren Zweige teilweise so tief hingen, dass sie beinahe das Wasser berührten, hatte sich das dunkle Motorboot problemlos verstecken können. Von dort konnte man die Terrasse bequem einsehen, besonders wenn man ein Fernglas nahm.

„Die Route, die sie genommen haben, ist auch klar“, meinte Aktan. „Hinter dem See ist die Trabener Straße.“ Er deutete nach rechts. „Die sind bestimmt schräg übern See Richtung Friedenthalpark. Ungefähr hundert Meter hinter dem letzten Haus geht der Weg zum Park bis fast ans Wasser. Ich wette, die haben da mit dem Auto gewartet und über die Trabener Straße die Fliege gemacht. Auf dieser Seite ist zu viel Trubel, beim Ristorante und dem Hallenbad. Und um zur Halenseestraße zu kommen, müssten sie am Park vorbei. Da sind bei diesem Wetter zu viele Leute, die sie hätten sehen können.“

„Ich lasse das überprüfen.“ Sigrid Paulus griff zum Smartphone und rief in der Zentrale an. „Frau Goldberg, wir brauchen ein Team Trabener Straße und Friedenthalpark. Das Kind wurde mit einem Motorboot über den See entführt und wahrscheinlich dort in einem Wagen abtransportiert. Lassen Sie die Anwohner befragen, ob denen was aufgefallen ist.“

Aktan wusste, dass das nicht viel bringen würde – mitten in den Sommerferien bei herrlichem Wetter, und der Zeitpunkt der Entführung war gegen elf Uhr gewesen. Die Hälfte der Leute, die am See wohnten, war verreist, die andere Hälfte tummelte sich im Halensee-Freibad, im Park oder anderswo im Freien oder waren zu Hause mit Kochen beschäftigt. Wenn die Entführer klug waren, wovon Aktan ausging, hatten sie, wahrscheinlich noch bevor sie das andere Ufer erreicht hatten, die Sturmhauben abgenommen, die Overalls ausgezogen und die Waffen verborgen, sodass sie, falls man sie gesehen hatte, nur drei Männer mit einem Kind gewesen waren.

Aber selbst wenn sie aufgefallen waren, würde es dauern, bis die Kollegen jemanden gefunden hätten, der sie gesehen hatte und beschreiben konnte. Aktan kehrte mit der Staatsanwältin ins Haus zurück und wandte sich an die Thalers.

„Herr Thaler, Frau Thaler, ist Ihnen einer der Entführer auf dem Video bekannt vorgekommen?“

„Wie denn?“, fauchte Thaler und deutete auf den Bildschirm, auf dem der leere Laufstall im Standby zu sehen war. „Die Typen haben Masken getragen, falls es Ihnen entgangen sein sollte.“

Aktan blieb vollkommen ruhig. Dies war nicht der erste Entführungsfall, den er vor Ort betreute. Die Angehörigen waren immer außer sich und reagierten abwechselnd verzweifelt, aggressiv, niedergeschlagen oder völlig irrational. Und oft genug alles zusammen. Er hatte sogar einmal erlebt, dass die Mutter eines von seinem Vater entführten Jungen mit den Fäusten auf ihn eingeschlagen hatte, weil er ihrer Meinung nach nicht schnell genug arbeitete.

„Vielleicht kommt Ihnen etwas an der Art bekannt vor, wie sich einer von ihnen bewegt hat? Auch daran kann man Menschen zuverlässig erkennen.“

Thaler schüttelte den Kopf. Seine Frau ebenfalls. Sie schluchzte und drückte ihr Gesicht gegen die Schulter ihres Mannes. Er streichelte mechanisch ihren Rücken.

„Bitte, Herr Sunay, ich muss dieses Spiel beginnen. Denn ich glaube kaum, dass Sie meine Tochter in der verbliebenen Viertelstunde bis zwei Uhr finden können. Sie haben doch gesagt, dass Ihre Leute die Entführer aufspüren können, sobald die sich in das Spiel einklinken.“

„Nur den, der mit Ihnen spielt, Herr Thaler“, korrigierte Aktan. „Ich will Ihnen nichts vormachen. Es gibt keine Garantie dafür, dass der sich am selben Ort befindet wie Ihre Tochter. Besonders im Hinblick darauf, dass es sich bei den Entführern um eine gut organisierte Gruppe zu handeln scheint, die aus mindestens drei Leuten, wahrscheinlich aber mehr besteht.“

„Oh Gott!“ Thaler warf einen Blick an die Decke und schluckte. Die Angst um sein Kind stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er fuhr sich mit der Hand zum wiederholten Mal darüber.

„Und deshalb“, Aktan ließ seine Stimme eindringlich klingen, „brauchen wir vorab so viele Informationen von Ihnen wie möglich. Kurz vor zwei werden Sie mit dem Spiel beginnen. Dann sehen wir weiter.“

Thaler ballte die Fäuste. „Aber ich kann dieses verfluchte Spiel nicht spielen! Schon gar nicht Level sieben gewinnen. Keiner kann das!“

Aktan sah ihn an. „Wie soll ich das verstehen?“

Thaler machte eine fahrige Handbewegung. „Als das Spiel in den Verkauf kam und innerhalb eines halben Jahres zu einem Renner wurde, hat meine Firma ein weltweites Preisausschreiben lanciert. Level sieben ist der höchste Schwierigkeitsgrad. Wer es als Erster schafft, diesen Level online zu knacken, erhält hunderttausend Euro. Das war vor über zwei Jahren. Nachdem sich niemand gemeldet hat, um den Preis zu kassieren, haben wir die Aktion im letzten Dezember eingestellt. Aber glauben Sie mir, wenn das jemandem inzwischen gelungen wäre, hätte sich derjenige gemeldet, allein schon wegen des damit verbundenen Prestiges.“

Aktan schüttelte den Kopf. Die Forderung der Entführer ergab immer weniger Sinn. Falls Thalers Behauptung stimmte, dass niemand das Spiel gewinnen konnte, war sein Versagen programmiert und damit auch der Tod seines Kindes. Ihm kam der Verdacht, dass es den Entführern gar nicht um das Spiel ging, sondern nur darum, Thaler zu quälen. In dem Fall war das Kind möglicherweise schon tot. Ein entsetzlicher Gedanke. Den offenbar auch Sigrid Paulus hatte, wie er an ihrem Gesichtsausdruck erkannte.

„Herr Thaler, Ihr Expartner Takumi Saito. Könnte er dahinterstecken?“, fragte sie.

Thaler schüttelte den Kopf. „Die Möglichkeit besteht natürlich, aber welchen Grund sollte er haben? Er hat doch mit seinem Spiel auf der anderen Seite der Welt mehr Erfolg, als er sich je hat träumen lassen.“

„Er könnte neidisch auf Ihren Erfolg sein. Wie ging das damals weiter, nachdem er Sie im Stich gelassen hat? Sie sagten, Sie hätten auf einem riesigen Schuldenberg gesessen.“

Thaler nickte. „Nicht nur das. Ein paar Leute hatten in das Spiel und seine Vermarktung bereits investiert. Das Geld hat Takumi auch abgeräumt. Er hatte schließlich als mein Teilhaber Zugang zum Firmenkonto. Ich musste ein Spiel präsentieren oder den Leuten ihr Geld zurückzahlen, das nicht mehr da war. Also habe ich eine Top-Programmiererin beauftragt, ein Spiel zu entwickeln, das den Vorankündigungen entsprach.“ Er zuckte mit den Schultern. „In diesem Punkt war es ein Glück, dass Takumi darauf bestanden hatte, die Vorankündigungen relativ vage zu halten und dem Spiel noch keinen Namen zu geben. Das hatte er natürlich getan, damit er behaupten konnte, dass sein Spiel nicht das ist, das er für Thaler-Rengo entwickelt hat.“

„Wie habe ich mir das vorzustellen?“

Thaler machte eine ungeduldige Handbewegung und sah zum zigsten Mal auf die Uhr. „Das waren nur so Appetizer wie: Sie suchen das ultimative Computerspiel? Sie suchen eine Herausforderung? In so und so viel Tagen ist es so weit. Und so weiter. Mit noch ein paar Hooks, die die Zielgruppe neugierig machen sollte. Dazu hatten wir ein Logo und ein paar interessante Manga-Figuren entworfen, die Takumi natürlich nicht für sich verwendet hat, um untermauern zu können, dass er für uns ein ganz anderes Spiel entwickelt hatte. Auf der Basis dieses Materials hat die Programmiererin das Wunder fertiggebracht, in nur vier Monaten TRENIGMARIS zu entwickeln. Das Spiel ist auf dem Markt eingeschlagen wie eine Bombe. Es hat auf Anhieb beim Deutschen Entwicklungspreis für Computerspiele den Newcomer Award gewonnen. Und ich gebe zu, es hat mich mit Genugtuung erfüllt, dass es erfolgreicher ist als Takumis Spiel.“

Für Aktan klang das nach einem verdammt guten Motiv für den ehemaligen Partner, Thaler eins auszuwischen. Zumindest passte die Forderung mit dem Spiel dazu.

Der Meinung war auch Sigrid Paulus. „Wir überprüfen diesen Takumi Saito.“ Sie griff wieder zum Smartphone und wies Rebecca an, über Saito alles herauszufinden, was möglich war.

„Herr Thaler, gibt es noch jemand, der ein Motiv haben könnte?“, fragte Aktan.

Der zögerte, ehe er den Kopf schüttelte. „Da fällt mir niemand ein.“

Aktan hatte das Gefühl, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Thaler konnte ihm nicht in die Augen sehen, was meistens ein Zeichen war, dass jemand etwas zu verbergen hatte.

„Und ganz ehrlich, Herr Sunay, ich traue das nicht mal Takumi zu. Er ist zwar ein geldgieriger Mistkerl, aber gerade deshalb würde er, wie ich schon sagte, von mir Geld erpressen und nicht so eine idiotische Forderung stellen. Besonders da er genau weiß, dass ich mit solchen Computerspielen nichts am Hut habe. Was soll denn das Ganze? Wieso soll ich unbedingt hier im Haus am Laptop spielen? Wieso soll ich das Spiel gewinnen? Und wieso diese Frist von zwölf Stunden?“ Thaler blickte verzweifelt von ihm zur Staatsanwältin und wieder zurück.

„Wir müssen alles über Ihren gewöhnlichen Tagesablauf erfahren, Herr Thaler“, bat Sigrid Paulus. „Aber jetzt müssen Sie das Spiel beginnen, sobald Herr Kohler fertig ist.“

„Fertig“, sagte Michael aufs Stichwort. „So, Herr Thaler. Das läuft jetzt wie folgt. Sie schalten den Laptop ein, einschließlich der Webcam. Ich habe das Mikro deaktiviert. Das heißt, dass die Entführer Sie zwar sehen, aber nicht hören können und entsprechend auch nicht hören, was Sie sagen beziehungsweise was um Sie herum gesprochen wird. Da die Typen verlangt haben, dass Sie auf keinen Fall die Polizei rufen, haben Sie das angeblich auch nicht getan. Das heißt“, er sah Thaler eindringlich in die Augen, „dass Sie nach Möglichkeit keinen von uns ansehen.“ Er lächelte. „Da man aber reflexartig denjenigen ansieht, mit dem man spricht, dürfen Sie dann immer nur einen von uns ansehen, niemals aber von einem zum anderen schauen. Da die Typen wissen, dass Ihre Frau im Haus ist, werden sie glauben, dass Sie mit ihr reden. So weit verstanden?“

Thaler nickte. Aktan bezweifelte, dass das mit dem Nichtansehen tatsächlich klappte. Reflexe ließen sich nur schwer unterdrücken. Thaler war äußerst gestresst und vor Sorge um seine Tochter einer Panik nahe. Höchstwahrscheinlich würde er den Fehler begehen, vor dem Michael ihn gewarnt hatte. Man konnte nur hoffen, dass das den Entführern nicht auffiel. Andernfalls …

„Gut. Alles, was Sie auf Ihrem Bildschirm sehen, wird auch auf meinen Laptop übertragen.“ Michael deutete auf ein Gerät, das er auf den Wohnzimmertisch gestellt hatte. „Ich kann also alles sehen, was Sie und Ihr Spielgegner tun. Sobald Ihr Gegner online ist, verfolgen wir sein Signal. Mit etwas Glück schnappen wir ihn in der nächsten halben Stunde. Schließlich haben wir das SEK in Bereitschaft.“

Man sah Thaler an, dass ihn das in keiner Weise beruhigte. Seine Frau ebenfalls nicht, die wieder anfing zu weinen, nachdem sie die letzten Minuten still und beinahe katatonisch vor sich hin gestarrt hatte. Verdammt, wo blieb Ben Eggers?

„Was ist, wenn das nicht klappt?“

„Für den Fall spielen Sie das Spiel, Herr Thaler.“ Michael drückte beruhigend seinen Arm. „Ich coache Sie. Zumindest bis Level drei kriege ich das problemlos hin.“

„Sollte es so weit kommen, dass Sie über die ersten Züge hinaus spielen müssen“, fügte Aktan hinzu, „werden Sie Ihre Spielzüge unter dem Vorwand, sie vorher genau zu durchdenken, so lange es geht verzögern. Das gibt uns die Zeit, die Entführer zu finden.“ Er sah ihn eindringlich an. „Sind Sie bereit?“

„Nein.“ Thaler schüttelte heftig den Kopf. „Weil ich ein ganz mieses Gefühl dabei habe. Aber“, er tat einen tiefen Atemzug, „was sein muss, muss sein. Also beginnen wir.“

Das Klingeln eines Smartphones, das lautstark die Marseillaise spielte, ließ alle zusammenfahren. Monique Thaler schnappte sich das Gerät, das auf dem Beistelltisch neben der Couch lag und hatte die Empfangstaste gedrückt, bevor jemand sie daran hindern konnte.

„Allô! – Ah, Drini! Quelqu'un a enlevé notre enfant!“ Sie heulte los.

Aktan riss ihr das Smartphone aus der Hand und unterbrach die Verbindung. So weit reichte sein Schulfranzösisch, dass er verstanden hatte, dass die Frau jemanden von der Entführung erzählt hatte. „Frau Thaler, Sie dürfen mit niemandem über die Entführung sprechen. Das könnte Ihr Kind gefährden. Wer war das?“

„C’est Drini, ma sœur.“ Sie versuchte, Aktan das Smartphone wegzunehmen, das erneut die Marseillaise erklingen ließ.

„Oh bitte, Herr Sunay, lassen Sie meine Frau mit ihrer Schwester telefonieren. Drini steht ihr sehr nahe. Mit ihr zu sprechen, könnte einen beruhigenden Einfluss haben.“

Aktan hörte sehr wohl das eindringliche Flehen in Thalers Äußerung. Dennoch zögerte er.

„Lassen wir Frau Thaler mit ihrer Schwester telefonieren, Herr Sunay“, wies Sigrid Paulus ihn an. „Sie braucht jetzt jeden Trost, den sie bekommen kann.“

Aktan hörte an ihrem Unterton, dass sie hoffte, dass Monique Thaler ihnen nicht im Weg sein und sich hoffentlich auch weniger hysterisch benehmen würde, solange sie damit beschäftigt war, mit ihrer Schwester zu telefonieren.

„Wir werden die Schwester natürlich überprüfen.“ Sie wandte sich an Monique Thaler. „Wie heißt sie?“

„Drini Leclerc.“

Aktan reichte ihr das Smartphone, denn die Marseillaise wurde immer lauter. Monique Thaler flüchtete in einen Sessel im Wohnzimmer, zog die Beine hoch, schlang einen Arm darum und berichtete ihrer Schwester unter einem Schwall von Tränen, was sich zugetragen hatte. Aktan verstand, dass die Schwester anbot, sofort nach Berlin zu kommen, denn Monique lehnte ab mit den Worten, dass der Weg von Paris nach Berlin zu weit wäre und die Polizei ihr Kind bestimmt schnell finden würde. Die darauf folgende Tränenflut strafte ihre zur Schau gestellte Zuversicht jedoch Lügen.

Aktan wandte sich an Thaler. „Fangen wir an.“

 

 

13.56 Uhr

Thaler nahm am Schreibtisch seines Arbeitszimmers Platz und klappte den Laptop auf. Aktan konnte vom Wohnzimmer aus durch die offene Tür sehen, dass seine Hände zitterten. Er setzte sich neben Michael und blickte zusammen mit ihm gebannt auf den Bildschirm des Laptops, hielt aber weit genug Abstand, dass Michael ungestört arbeiten konnte. Sigrid Paulus sprach mit Rebecca Goldberg und wies sie an, eine Französin namens Drini Leclerc in Paris zu überprüfen und zu dem Zweck notfalls die Hilfe des BKA in Anspruch zu nehmen.

Thaler ging ins Internet und wählte die Website von TRENIGMARIS an. Bevor er auf den Button „Neues Spiel“ klicken konnte, öffnete sich bereits das entsprechende Fenster. Ein Schriftfeld wurde eingeblendet.

Willkommen zu TRENIGMARIS, Manfred Thaler! Sie spielen gegen Black Knight. Überlegen Sie Ihre Züge sorgfältig. Wenn Sie verlieren, stirbt Ihre Tochter.

„Die haben Ihren Laptop gehackt“, stellte Michael trocken fest. „Und zwar schon vor einer geraumen Weile. Schauen wir mal, wer dahintersteckt.“

Er tippte mit rasanter Geschwindigkeit auf seinen Laptop ein. Zur selben Zeit erschien auf Thalers Bildschirm die nächste Botschaft.

Das Spiel beginnt. Die Zeit läuft.

Gleichzeitig wurde am oberen linken Rand ein schwarzes Feld eingeblendet, das mit roter Schrift den Gesamtcountdown anzeigte: 11:59:59, 11:59:58, 11:59:57 ...

Darunter wurde ein Block sichtbar, der den Countdown für jeden einzelnen Level anzeigte.

 

Level 1: 14.00 – 15.42 Uhr. 1:41:55, 1:41:54 ...

Level 2: 15.42 – 17.24 Uhr. 00:00:00

Level 3: 17.24 – 19.06 Uhr. 00:00:00

Level 4: 19.06 – 20.48 Uhr. 00:00:00

Level 5: 20.48 – 22.30 Uhr. 00:00:00

Level 6: 22.30 – 00.12 Uhr. 00:00:00

Level 7: 00.12 – 02.00 Uhr. 00:00:00

 

Für Level 7 hatten die Entführer in ironischer Großzügigkeit sechs Minuten mehr Zeit eingeräumt.

Ein Spielbrett tauchte auf. Es zeigte zunächst ein schachbrettähnliches Muster, das Felder mit verschiedenen handgezeichneten Figuren aufwies. Sekunden später wurde das Bild blau, als tauche es in Wasser ein, ehe es nach hinten klappte und eine bunte Landschaftsanimation zeigte. Am linken unteren Rand des Bildschirms erschien ein rotes Startfeld, auf dem rotgekleidete Fantasyfiguren im Manga-Stil erschienen. Jede wurde mit einem Meer von Lichteffekten und von einem Donnerschlag untermalt in Szene gesetzt. Am rechten Rand wurde ein blaues Startfeld eingeblendet mit den gleichen Figuren in blauer Kleidung. Zwischen den beiden Feldern leuchtete ein knallgelber Schriftzug auf: LEVEL 1, der nach ein paar Sekunden erlosch. Ein Oktaeder kam ins Bild. Einige Seiten waren mit Punkten in verschiedener Anzahl versehen, auf den anderen Flächen befanden sich Abbildungen von einer Figur, die einer menschlichen Spinne glich, einem Sensenmann und anderen.

Ein roter Cursorpfeil klickte auf eine weibliche Figur, die ein Schwert in der Hand hielt und schob sie auf ein rundes Feld zu Beginn eines aus grünen Quadraten bestehenden, kreuz und quer über das sichtbare Spielfeld verlaufenden Pfades. Ein Doppelklick auf den Oktaeder wirbelte ihn durch die virtuelle Luft. Er fiel zu Boden und zeigte auf den dem Bildschirm zugewandten Flächen ein leeres Feld und drei Punkte. Die rotgekleidete Schwertschwingerin sprang mit einem eleganten Satz drei Felder nach vorn. Das blaue Startfeld leuchtete auf.

„Was mache ich jetzt?“ Thaler klang panisch.

„Sie klicken eine Ihrer Figuren an und danach den Oktaeder“, erklärte Michael. „Auf Level eins funktioniert das Spiel so ähnlich wie Mensch ärgere dich nicht. Sie müssen alle Ihre Figuren, die Ihr Gegner Ihnen während des Spiels nicht aus dem Feld geschlagen hat, ins Zielfeld bringen, bevor er seine letzte reingebracht hat. Dafür gibt es ein paar Tricks. Aber um ins Spiel zu kommen, müssen Sie den ersten Zug nach dem Vorbild Ihres Gegners tun. Nehmen Sie ebenfalls Ihre Schwertkämpferin. Aber warten Sie noch ein paar Sekunden.“

Michael tippte wie besessen auf seiner Tastatur, während er Thaler Anweisungen gab. „Verdammte Scheiße!“, knurrte er Sekunden später so leise, dass nur Aktan und Sigrid Paulus ihn verstehen konnten. „Die Kerle sind schlau. Und sie wissen, was sie tun.“

„Soll heißen?“, wollte Aktan wissen.

„Die haben ihr Signal über ich weiß nicht wie viele Proxyserver über die ganze Welt umgeleitet.“ In einem zweiten Fenster rief er eine schematische Darstellung auf, die den Verlauf des Signals zeigte, das quer über die Weltkarte hin und her sprang. „China, Polen, Schweiz, New York, Russland, Japan, Italien, Indien, Ghana – oh, was ganz Exotisches: Kiribati.“

Das Signal hüpfte weiter. Michael blickte die Staatsanwältin an.

Sigrid Paulus seufzte frustriert. Auch Aktan wusste, was das bedeutete. Um die Identität der sich hinter den ausländischen Servern verbergenden Usern herauszufinden – von denen mit größter Wahrscheinlichkeit kein einziger etwas mit den Entführern zu tun hatte –, mussten sie sich zunächst an das BKA wenden. Das würde via Interpol mit den Dienststellen in den betreffenden Ländern Kontakt aufnehmen und um Amtshilfe ersuchen. Die wiederum würden, falls sie die Amtshilfe gewährten, anhand der von Michael gelieferten Daten die Standorte der Server ausfindig machen und ermitteln, ob die betreffenden Leute etwas mit der Entführung zu tun hatten. Nur um mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festzustellen, dass jemand sich über offene Hotspots in ungeschützte WLAN-Netze eingeklinkt hatte. Selbst wenn tatsächlich einer der Server zu den Entführern gehören sollte – Aktan zählte inzwischen dreiundzwanzig auf dem Bildschirm – würde dessen Ermittlung erheblich länger dauern als die zwölf Stunden, die man Thaler zur Verfügung gestellt hatte. Tage, um genau zu sein. Somit schied diese Möglichkeit, den Standort der Entführer zu finden, aus.

„Also, Herr Thaler, machen Sie Ihren Zug“, wies Michael ihn an. Er blickte Aktan und die Staatsanwältin an und flüsterte: „Die wissen, dass wir hier sind.“

„Wie meinst du das?“ Aktan flüsterte ebenfalls.

Michael deutete auf den Bildschirm. „Die würden sich kaum solche Mühe machen, ihre Spur zu verwischen, wenn sie nicht damit rechnen würden, dass Profis hinter ihnen herschnüffeln. Die haben sich immense Mühe gegeben, die ganze Chose generalstabsmäßig zu planen. Deshalb gehe ich davon aus, dass die wissen, dass Thaler weder die Kenntnis noch das Equipment hat, um deren Signal rechtswidrig hackend zurückzuverfolgen. Wenn sie nur mit Thaler rechnen würden, hätte es genügt, wenn dieser Black Knight eine anonymisierte IP-Adresse benutzte. So eine ist extrem schwer zu knacken. Das Signal rund um die Welt über bis jetzt dreiundzwanzig Proxyserver zu leiten heißt, mit Kanonen auf eine Mücke zu schießen. Meiner Meinung nach bedeutet das, dass die wissen oder zumindest damit rechnen, dass Thaler trotz des Verbots die Polizei einschaltet. Und sie wollen uns erstens beschäftigen und uns zweitens unmöglich machen, ihren Standort zu finden. Dafür spricht auch, dass sie nicht fragen, warum das Mikro nicht funktioniert.“ Er nickte nachdrücklich. „Die gehen davon aus, dass wir hier sind. Und wenn ihr mich fragt, haben wir ihnen das mit dem deaktivierten Mikro bestätigt. Mist, verdammter!“

Das ergab keinen Sinn. Wenn die Entführer drohten, das Kind zu töten, wenn Thaler die Polizei einschaltete, gleichzeitig aber damit rechneten, dass er das trotzdem tat ... Aktan wagte kaum, den Gedanken zu Ende zu denken, dass das Mädchen in dem Fall möglicherweise schon tot war. Was ihn wieder zu der Frage brachte, welchem Zweck diese absurde Forderung mit dem Spiel diente.

„Sitzt einer von den Proxys hier in Berlin?“

Michael schnaufte und schüttelte den Kopf. „Ganz sicher nicht. Ich will dich nicht mit Einzelheiten langweilen, die du sowieso nicht verstehst, aber jeder halbwegs gewiefte Hacker ist in der Lage, ein Signal so zu verschleiern, dass er in diesem Raum sitzen könnte und ich trotzdem von seinem PC die Meldung bekäme, dass er in China hockt.“

„Kannst du das knacken?“

„Ja. Wenn ich erstens alle Vorschriften und Gesetze missachte und zweitens erheblich mehr Zeit hätte als zwölf Stunden.“ Er schüttelte den Kopf. „Nicht zu machen in der kurzen Zeit. Tut mir leid.“

Auf dem Bildschirm war der Oktaeder so gefallen, dass er wieder eine leere Seite und drei Punkte zeigte. Die blaugekleidete Schwertkämpferin sprang auf dasselbe Feld wie die rote. Bildgewaltig wurde ein kurzer Kampf der beiden Frauen mit klirrenden und funkensprühenden Schwertern gezeigt, ehe die blaue Kriegerin der roten das Schwert ins Herz stieß. Sie fiel zu Boden. Aus dem Erdreich tauchten maulwurfähnliche Gestalten auf, die die Leiche im Zeitraffer in einer Trauerprozession unter die Erde trugen.

„Hervorragend“, kommentierte Michael an Thaler gewandt. „Den Zug haben Sie gewonnen. Gleich erhalten Sie einen Bonus.“

Auf dem Bildschirm erschien eine Frauengestalt, die nur spärlich bekleidet war und sehr sexy aussah, mit üppigen Brüsten und straffen Schenkeln. Um die Hüfte trug sie einen goldenen Gürtel mit sieben großen Perlen, auf denen verschiedene Symbole erschienen.

„Ist das Spiel eigentlich jugendfrei?“, murmelte Sigrid Paulus, erwartete aber keine Antwort.

„So, Herr Thaler, Sie schnappen sich jetzt Ihre Belohnung“, wies Michael ihn an. „Klicken Sie den Boten an. Das ist die männliche Figur mit der Schriftrolle in der Hand. – Gut. Und jetzt klicken Sie auf die Perle am Gürtel der Fee, auf der der Drache abgebildet ist. – Prima.“

Der Bote auf dem Bildschirm wurde etliche Felder weiter auf dem grünen Pfad auf ein Feld mit der Aufschrift Dragon’s Lair abgesetzt, das direkt neben einer Höhle lag, aus der ein Drache finster blickte und dem Boten eine Drachenschuppe reichte, die dieser sich um den Hals hängte.

„Und was soll das?“ Thaler blickte kurz auf, ehe ihm wieder einfiel, dass er nach Möglichkeit nicht zu den Beamten hinsehen sollte.

„Der Bote ist, wie Sie vielleicht schon gesehen haben, die einzige Figur, die nicht bewaffnet ist. Das heißt, er kann sich nicht gegen die gegnerischen Figuren wehren, was später im Spiel noch relevant sein wird. Durch die Drachenschuppe ist er jetzt unverwundbar. Das bedeutet, dass er auch nicht mehr von einer anderen Figur, die auf demselben Feld zu stehen kommt wie er, aus dem Spiel geschlagen werden kann und in jedem Fall durchkommt.“

Thaler knurrte etwas Unverständliches. „Langsam wird mir klar, warum ich von Anfang an dieses Spiel nicht verstanden habe. Ist nicht meine Welt.“ Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen wünschte er sich in diesem Moment aber nichts sehnlicher, als dass es seine Welt wäre, damit er seine Tochter retten könnte.

Aktan riss sich von dem Geschehen auf dem Bildschirm los, das ihn zu faszinieren begann. Eigentlich waren Computerspiele auch nicht sein Ding. Das hier schien ihm jedoch recht interessant zu sein.

„Herr Thaler, wären Sie normalerweise sonnabends um diese Zeit zu Hause?“

„Nein, in der Firma. Am Sonnabend arbeitet dort niemand. Deshalb habe ich dann die erforderliche Ruhe, um die Wochenberichte und die Zwischenbilanzen zu lesen. Unter der Woche komme ich selten dazu. Und wenn ich die Arbeit mit nach Hause nehme“, er warf seiner Frau einen liebevollen Blick zu, „bin ich ständig abgelenkt und werde damit kaum fertig. Deshalb die Sonnabendschicht.“

Das wussten garantiert auch die Entführer. Durch die Entführung seiner Tochter hatten sie ihn aus der Firma gelockt und nagelten ihn jetzt mit dem Spiel hier im Haus fest, um in der Firma freie Bahn zu haben, die ihr eigentliches Ziel war.

„Herr Thaler, was gibt es in Ihrer Firma, hinter dem irgendjemand her sein könnte?“

Thaler sah auf. „Was meinen Sie?“

„Nicht hersehen!“, warnte Aktan.

Thaler senkte den Blick und starrte auf den Bildschirm.

„Gibt es irgendwelche Unterlagen bei Ihnen? Aufzeichnungen über Entwicklungen, Prototypen von neuen Spielen – irgendwas, das zu stehlen lohnen würde.“

Thaler blickte wieder auf, senkte aber sofort den Kopf. „Sie glauben, dass jemand mich mit der Entführung weggelockt hat, um in die Firma einzubrechen?“

„Die Möglichkeit besteht. Also, gibt es dort etwas, auf das irgendjemand es abgesehen haben könnte?“

„Klar. Suchen Sie sich was aus. Der Game-Markt ist heiß umkämpft. Wenn die Konkurrenz wüsste, was wir als Nächstes planen, könnten sie uns zuvorkommen und ein Spiel nach unseren Idee entwickeln, noch ehe es bei uns die Marktreife erreicht hat. Besonders wenn es ihnen gelänge, die Entwürfe zu kopieren. Aber dagegen haben wir vorgesorgt. Die Firma ist mit Sicherheitstechnik vom Feinsten ausgestattet. Kennen Sie die Fernsehserie ‚Bones, die Knochenjägerin’?“

„Ja.“

„Da muss jeder Mitarbeiter des Instituts, der einen bestimmten Bereich betreten will, seine Kennkarte registrieren lassen, sonst gibt es Alarm. So was Ähnliches ist auch in der Firma installiert. – Herr ... eh ...“, offenbar fiel ihm Michaels Name nicht ein, „da ist ein Bogenschütze aufgetaucht. Was mache ich jetzt?“

„Abwarten und Tee trinken.“ Michael blieb wie immer völlig gelassen, obwohl die Geschwindigkeit, mit der er auf der Tastatur tippte, sich steigerte. „Wir schinden Zeit. Bis zum Ablauf des Ultimatums haben wir noch elf Stunden und achtundvierzig Minuten, wie man uns freundlicherweise ständig einblendet. Das ist noch lange hin.“

Aktan hörte an seinem Tonfall, dass Michael damit nur Thaler und auch dessen Frau beruhigen wollte, selbst aber nicht oder nur unter Vorbehalt daran glaubte. Aktan senkte seine Stimme wieder zu einem Flüstern. „Was ist?“

„Die lassen das Signal über die Proxys rotieren, und zwar mit einer Geschwindigkeit, dass nicht mal die Kollegen vor Ort die dingfest machen könnten. Zumindest nicht ohne erheblichen Aufwand und Zeit. Der Typ, gegen den wir spielen, könnte theoretisch im Haus nebenan oder auf der anderen Seite der Welt sitzen.“

Was zu Takumi Saito passen würde. „Herr Thaler, Sie wollten mir was über die Sicherheitsvorkehrungen Ihrer Firma erzählen.“

Thaler wischte sich über die Stirn. Er schwitzte, was aber nicht an der sommerlichen Temperatur lag, die draußen herrschte, denn das Innere des Hauses wurde durch eine Klimaanlage angenehm temperiert. „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Jede Tür ist mit einem Code gesichert, und jeder Mitarbeiter hat seinen eigenen Code. Zusätzlich braucht man einen Sicherheitsschlüssel, und für die inneren Bereiche, wo die Entwicklungsleute an den neuen Spielen arbeiten, braucht man eine Sonderfreigabe. Am Wochenende werden diese Räume außerdem mit Alarmanlagen und Laserschranken gesichert. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn es jemandem gelingen sollte, da einzubrechen.“

Bedauerlicherweise hatten die Entführer, vielmehr der oder die Leute, die hinter dem Ganzen steckten, wahrscheinlich die technischen Möglichkeiten, solche Sicherheitsvorrichtungen zu knacken. Oder sie hatten einen Mitarbeiter in ihre Gewalt gebracht, der Zugang zu diesen Bereichen hatte, und würden ihn zwingen, die mit seinen Codes und Schlüsseln zu öffnen.

Sigrid Paulus rief Rebecca in der Zentrale an und wies sie an, mehrere Streifenwagen zu Thalers Firma zu schicken, nachdem sie sich von ihm die Adresse hatte geben lassen.

„Sagen Sie, Herr Thaler, sind die Überwachungskameras hier am Haus immer eingeschaltet? Auch tagsüber?“, fragte sie anschließend.

Thaler nickte. „Meine Frau hat ein hohes Sicherheitsbedürfnis, seit wir letztes Jahr einen Burschen erwischt haben, der von der anderen Seite herübergeschwommen ist, obwohl Baden im See wegen der Keimbelastung verboten ist, und einfach an unserem Ufer sonnenbaden wollte. Vielleicht hatte er auch anderes im Sinn. Wir haben ihn verscheucht. Seitdem laufen die Kameras rund um die Uhr. Es hat aber keinen weiteren Zwischenfall gegeben. Auch keinen Einbruch oder so. Bis heute war alles in Ordnung.“

Sigrid Paulus wandte sich an Monique Thaler. Sie hatte das Telefonat mit ihrer Schwester beendet und hockte mit angezogenen Beinen im Sessel. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, würde sie jeden Moment wieder in Tränen ausbrechen.

„Frau Thaler, können Sie mir sagen, was Sie normalerweise sonnabends tun?“

Sie blickte die Staatsanwältin verständnislos an. „C’est complètement peu important. Das ist doch völlisch unwischtig. Finden Sie mon bébé, je vous implore!“

Sigrid Paulus lächelte mitfühlend. „Genau dafür brauche ich Ihre Hilfe. Wenn wir verstehen, warum man ausgerechnet Ihre Tochter entführt hat, können wir sie schneller finden. Werden Sie uns dabei helfen?“

Monique Thaler nickte. „Bien sûr. Was isch tue an samedi? Solange Monfree ist in die Betrieb, isch spiele mit mon bébé oder gehe spazieren mit ihr vor dem Mittag. Dann isch mache Essen für Marie-Claire. Nach dem Essen isch bringe sie ins Bett für une petite sieste. Und während sie schläft, isch telefoniere mit ma sœur oder isch male.“

Sie deutete auf ein paar Bilder an den Wänden, farbenfrohe Landschaftsgemälde in klassischem Stil. Soweit Aktan das beurteilen konnte, hatte sie tatsächlich Talent.

„Die sind sehr schön.“

„Merci.“

„Und das tun Sie jeden Sonnabend?“

Sie nickte.

„Haben Sie ein Kindermädchen?“

„Oui. Aber Simone ’at frei am Wochenend’. Und bevor Sie fragen, non, es ’at nie gegeben Probleme mit ihr, kein Streit, nischt einmal ein unfreundlisches Wort.“

„Wie heißt diese Simone mit Nachnamen? Und wo wohnt sie?“

„Simone Bergfeld in Belziger Straße zweiundvierzig.“

Diesmal übernahm Aktan die Aufgabe, diese Information an Rebecca weiterzugeben. Rebecca hatte bereits ein paar Eckdaten über Monique Thalers Schwester in Erfahrung gebracht. Drini Leclerc arbeitete als erfolgreiche Malerin in Paris, betrieb ein Atelier und verdiente laut den auf ihrer Website ausgewiesenen Preisen für ihre Gemälde wohl ziemlich gut. Sie und Monique waren Zwillinge und hatten das Atelier nach ihrem Kunststudium gemeinsam gegründet als Auftragsatelier für Porträtmalerei. Offenbar hatte sich Monique daraus zurückgezogen, denn laut Website lief das Atelier nur noch auf den Namen ihrer Schwester.

„Frau Thaler, ist Ihnen in der letzten Zeit etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“, erkundigte sich Sigrid Paulus. „Auch wenn Sie es für unbedeutend gehalten haben, kann uns jedes Detail weiterhelfen.“

Die Französin stützte die Stirn in die Hand und dachte nach. „Non, isch ’abe nischt bemerkt etwas.“

„Vielleicht Leute, die sich in der Straße herumgetrieben haben, obwohl sie hier nichts zu suchen haben? Oder einen fremden Wagen, der auffallend oft vorbeigefahren ist? Seltsame Anrufe?“

„Non! Rien!“ Monique klang ungehalten. Sie warf der Staatsanwältin einen verzweifelten Blick zu. „Wer tut so was? Und warum?“

Das war die Eine-Million-Euro-Frage. Sigrid Paulus lächelte Monique beruhigend zu. „Das finden wir heraus, Frau Thaler.“

Die Marseillaise unterbrach, was sie noch hatte sagen wollen, und Monique widmete sich wieder einem tränenreichen Telefonat mit ihrer Schwester.

„Michael, wie sieht es aus?“, fragte Aktan, nachdem er sein Gespräch mit Rebecca beendet hatte.

„Da ich den Standort des Gegenspielers nicht ermitteln kann, komme ich hier nicht weiter.“ Michael flüsterte wieder. „In dem Erpresserbrief steht doch, dass Thaler während des Spiels Hinweise auf den Aufenthaltsort seiner Tochter erhält. Solange wir keine anderen Anhaltspunkte haben, sollten wir das Spiel forcieren, um möglichst schnell an diese Hinweise zu kommen.“

„Hast du nicht gesagt, dass du es nur bis Level 3 kannst?“ Aktan flüsterte ebenfalls.

„Stimmt. Aber je nachdem, welche und wie viele Hinweise wir bekommen, genügen die vielleicht schon, um uns den Ort zu verraten.“

„In Ordnung“, entschied Sigrid Paulus. „Machen wir es so.“

„Okay, Herr Thaler“, sagte Michael. „Wir ändern unsere Strategie und werden massiv, um dem Gegner die Hinweise zu entlocken, die zum Aufenthaltsort Ihrer Tochter führen sollen. Wir müssen aufpassen. Der Bogenschütze ist gefährlich. Bringen Sie Ihren ins Spiel. Klicken Sie auf den Oktaeder. Nur beim ersten Zug müssen Sie zuerst irgendeine Figur anklicken. Bei jedem weiteren Zug entscheiden Sie erst nach dem, was Sie gewürfelt haben, welche Figur Sie mit dem Ergebnis ziehen wollen.“

Thaler gehorchte. Der Oktaeder wirbelte und fiel so, dass er auf der einen, dem Spieler zugewandten Seite eine Frau mit vier Beinen, vier Armen, zu einem ausgebreiteten Spinnennetz geformten Haaren und einer Maske auf dem Gesicht zeigte. Die netzartigen Haare füllten auch die zweite sichtbare Fläche.

„Klicken Sie Ihren Bogenschützen an, Herr Thaler.“

Sekunden später landete der blaugekleidete Bogenschütze auf einem Feld mit der Aufschrift Mother Spider. Aus dem Netz des danebenliegenden Feldes heraus schälte sich die gleiche Spinnenfrau, die auf der Oktaederfläche abgebildet war. Ein Stachel fuhr aus ihrem Hintern, dessen Spitze auf die Brust des Bogenschützen deutete. Eine Schriftrolle erschien in ihrer Hand, die sie entrollte. Dadurch wurde der Text darauf sichtbar: Ich bin stärker als die Sonne, doch schwächer als der Wind. Darunter erschien ein Eingabefeld mit einem blinkenden Cursor.

„Was soll das denn jetzt?“ Thaler klang erschrocken.

„Wer auf dem Feld der Spinnenmutter landet, erhält eine Rätselfrage.“ Michael klang gelassen wie immer. „Wenn sie richtig gelöst wird, bleibt die Figur im Spiel und rückt ein Feld weiter vor. Bei einer falschen Antwort wird sie vom Giftstachel der Spinnenfrau getötet und scheidet aus. Schreiben Sie ‚Wolke‘ ins Eingabefeld.“

Thaler zögerte. „Sind Sie sicher, dass das richtig ist? Das erscheint mir ...“

„Absolut. Die Wolke verdunkelt die Sonne, ist also stärker als sie, wird aber vom Wind hin und her getrieben, ist also schwächer als er. Vertrauen Sie mir, Herr Thaler. Ich spiele das Spiel nicht zum ersten Mal. Auf Level eins sind die Fragen noch ziemlich einfach, auch wenn es dafür einen so großen Pool gibt, dass ich bis jetzt noch nie dieselbe Frage zum zweiten Mal hatte. Ihre Programmiererin hat da echt tolle Arbeit geleistet.“

Aktan fragte sich, warum Thaler errötete und nicht darauf antwortete.

Thaler tippte „Wolke“ ein. Die Spinnenfrau verschwand, und der Bogenschütze sprang per Animation auf das nächste Feld. Ein Foto erschien auf dem Bildschirm, das die Siegessäule zeigte. Ein Chat-Feld wurde eingeblendet. Am Zaun der Aussichtsplattform finden Sie einen blauen Zylinder und darin den ersten Hinweis. Schicken Sie Ihre Frau. Sie spielen weiter.

Thaler starrte erst auf den Text, dann Aktan, Michael und Sigrid Paulus entsetzt an und vergaß, dass er auf keinen Fall von einer Person zur anderen sehen durfte. „Was zum Teufel soll das denn?“

Das fragte sich Aktan auch. Noch etwas, das keinen Sinn ergab.

„Was jetzt?“ Thaler standen dicke Schweißperlen auf der Stirn. Er atmete heftig.

„Sie bleiben ruhig sitzen und tun so, als würden Sie Ihrer Frau die Anweisung übermitteln“, wies Sigrid Paulus ihn an. „Nicht vergessen, dass die Entführer Sie über die Webcam beobachten. Um alles andere kümmern wir uns. Sie spielen gleich mit Herrn Kohlers Hilfe weiter. Und bitte, sehen Sie nach Möglichkeit keinen von uns an.“

Thaler fuhr sich über das Gesicht und wischte die danach schweißnasse Hand an der Hose ab. Er schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht! – Oh Gott, ist mir übel!“

Der Mann stand offenbar kurz davor, die Nerven zu verlieren.

„Herr Thaler, bitte bleiben Sie ganz ruhig“, mahnte Aktan und bemühte sich, seine Stimme sanft und beruhigend klingen zu lassen. „Die Sicherheit Ihrer Tochter hängt davon ab, dass Sie die Nerven behalten. Atmen Sie tief durch. Je schneller Sie weiterspielen und die nächsten Hinweise erhalten, desto schneller finden wir Ihre Tochter. Schaffen Sie das?“

Thaler starrte ihn an. Sein Blick sagte, dass er mit der Situation komplett überfordert war. „Im Barfach steht eine Flasche Glenkinchie. Würden Sie mir die bitte bringen?“

Aktan hielt es für keine gute Idee, dass Thaler Alkohol trinken wollte. Man sah ihm seine Befürchtung wohl an, denn Thaler schüttelte den Kopf.

„Keine Soge, ich besaufe mich nicht. Aber ich brauche jetzt einen Schluck. Bitte.“

Sigrid Paulus nickte zustimmend. Aktan ging zum Wohnzimmerschrank und öffnete das Barfach. Von zwei Etagen verspiegelter Stellflächen blinkte ihm, von der darin befindlichen Lampe angeleuchtet, eine Batterie Whiskyflaschen entgegen. Er zählte siebzehn verschiedene Sorten. Die meisten waren noch versiegelt und nur drei bereits angebrochen, aber noch relativ voll. Eine davon trug die Aufschrift Glenkinchie. Er nahm die Flasche und ein Glas aus dem Seitenfach und reichte beides über den aufgeklappten Bildschirm, damit die Entführer über die Webcam nicht sehen konnten, dass die reichende Hand einem Mann gehörte. Auch wenn diese Vorsichtsmaßnahme wahrscheinlich sowieso sinnlos war.

Thaler nahm nur die Flasche und ignorierte das Glas. Er zog den Korken heraus, setzte sie an den Mund und nahm einen langen Zug, ehe er sie verschloss und zur Seite stellte. „Danke.“ Er warf einen Blick auf seine Frau.

Monique Thaler war immer noch in das Gespräch mit ihrer Schwester vertieft, hatte die Augen geschlossen und offensichtlich ihre Umgebung ausgeblendet.

„Soll meine Frau wirklich diese Nachricht abholen? Das steht sie nicht durch.“

„Nein, das erledigen wir.“ Sigrid Paulus griff zum Smartphone.

„Aber die Leute beobachten uns doch offensichtlich. Wenn die feststellen, dass nicht Monique losfährt, um ... Verdammt, was dann?“



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