1968 in der westeuropäischen Literatur - Ines Gamelas - E-Book

1968 in der westeuropäischen Literatur E-Book

Ines Gamelas

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Beschreibung

Diese komparatistische Studie untersucht und vergleicht literarische Darstellungen der 1968er-Studentenbewegung und des Generationenkonfliktes anhand von sechs exemplarischen Prosawerken, die zwischen 1968 und 1979 in der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Portugal publiziert wurden: Lenz von Peter Schneider, Heißer Sommer von Uwe Timm, Derrière la vitre von Robert Merle, I giorni del dissenso von Giorgio Cesarano, Condenados a vivir von José María Gironella und Sem Tecto, entre Ruínas von Augusto Abelaira. Nach der zeithistorischen und literaturgeschichtlichen Kontextualisierung dieser Werke wird danach gefragt, wie der Generationenkonflikt, der politische Aktivismus und die sexuelle Revolution thematisch und formensprachlich bearbeitet sind. Das Buch weitet damit die Forschung zur »literarisierten Revolte« (R. Schnell) auf Westeuropa aus.

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Seitenzahl: 597

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inês Gamelas

1968 in der westeuropäischen Literatur

Der Generationenkonflikt und die akademischen Unruhen in Prosawerken zwischen 1968 und 1979

Umschlagabbildung: Celso Assunção © 2021

 

Die vorliegende Studie wurde 2020 am Fachbereich 05 Sprache, Literatur, Kultur der Justus-Liebig-Universität Gießen und von der Universität Aveiro im Rahmen eines internationalen Cotutelle-Vertrages als Dissertation angenommen.

 

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT.

 

© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

ISBN 978-3-7720-8749-3 (Print)

ISBN 978-3-7720-0136-9 (ePub)

Inhalt

Einleitung1 Historischer und kultureller Rahmen der akademischen Unruhen und des Generationenkonfliktes der 1960er-Jahre in Westeuropa1.1 Das soziokulturelle Brodeln im Westeuropa der späten 1960er-Jahre1.2 Die Bundesrepublik: die Herausbildung einer Alternativkultur1.3 »Sois jeune et tais toi«: der Ausbruch des Mai 68 in Frankreich1.4 Die italienische 1968er-Bewegung: ein langer und heftiger Frühling1.5 Öffnung vs. Beharren: die Dissidenz der jungen Spanier in den 1960er-Jahren1.6 Portugal in den 1960er-Jahren: eine Bühne für Utopie1.7 Schlussbemerkungen2 Darstellung der Prosawerke2.1 Lenz von Peter Schneider und Heißer Sommer von Uwe Timm2.1.1 Peter Schneider und Uwe Timm: die literarisierte Revolte in der Bundesrepublik2.1.2 Erzählstrategien2.1.3 Ereignisse der Studentenrevolte in Lenz und in Heißer Sommer2.1.4 Liebe und Sexualität: die Revolution der Sitten2.2 Derrière la vitre von Robert Merle2.2.1 Derrière la vitre und die literarische Darstellung der französischen Studentenbewegung2.2.2 Erzählstrategien2.2.3 Der Vorabend des akademischen Aufruhrs in Nanterre: der Fokus von Derrière la vitre2.2.4 »S’il y a quelqu’un qui vit dans la terreur de ressembler à ses parents, c’est moi«: einige Aspekte der sexuellen Revolution und des Sittenwandels2.3 I giorni del dissenso von Giorgio Cesarano2.3.1 I giorni del dissenso im Kontext der 1968er-Literatur in Italien2.3.2 Erzählstrategien2.3.3 »questa patata che scotta«: die Mailänder Studentenbewegung in I giorni del dissenso2.3.4 »voler essere tra vestiti capelli e barbe una razza diversa«: Anmerkungen zur sexuellen Befreiung und zum Sittenwandel2.4 Condenados a vivir von José María Gironella2.4.1 Die Darstellung des Generationenkonfliktes der 1960er-Jahre im Spanien Francos in Condenados a vivir2.4.2 Erzählstrategien2.4.3 Darstellungen des Widerstands der jungen Generation2.4.4 Von verwöhnten Kindern zu jungen Rebellen: die sexuelle Revolution und der Sittenwandel2.5 Sem Tecto, entre Ruínas von Augusto Abelaira2.5.1 Das Portugal von 1968 in Sem Tecto, entre Ruínas2.5.2 Erzählstrategien2.5.3 Die Sichtweise der jungen und der nicht mehr jungen Figuren auf die politischen Unruhen von 19682.5.4 »E o que era tabo, desejo angustiado, consciência pecaminosa, já hoje o não é«: Zeichen der sexuellen Revolution und des Sittenwandels3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken3.1 Generationenkonflikt3.2 Politischer Aktivismus3.2.1 Gegen die Ordinarienuniversität3.2.2 Für die Meinungs- und Pressefreiheit3.2.3 Für den Arbeiterkampf3.2.4 Für die Veränderung der Welt3.2.5 Mal engagierter, mal weniger engagiert3.3 Sexuelle Revolution und Sittenwandel3.3.1 Erfahrungen3.3.2 Reflexionen3.3.3 Kinder vs. Eltern3.3.4 Schlussbemerkungen3.4 Aktion und ReflexionFazitLiteraturverzeichnis

Meinen Eltern

Danksagung

Verschiedene Werke, zahlreiche Sprachen, ein Netzwerk von interessierten und engagierten Menschen – und eine Dissertation wird geboren. Ihnen allen gegenüber, Forschern und Freunden, die zur Verwirklichung dieser Arbeit beigetragen haben, möchte ich meine wahrhafte Dankbarkeit zum Ausdruck bringen.

Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Rahmen eines internationalen Cotutelle-Vertrages zwischen der Universität Aveiro und der Justus-Liebig-Universität Gießen entstanden ist und die ich im Februar 2020 in Aveiro verteidigt habe. Beiden Universitäten danke ich für ihre dafür erstmals eingegangene Partnerschaft. Eine Übersetzung der Abgabefassung dieser Dissertation ins Portugiesische steht auf Anfrage im Repositorium der Universität Aveiro zur Verfügung.

Ich danke aufrichtig Frau Prof. Dr. Maria Teresa Cortez von der Universität Aveiro: Dank ihrer vorbildlichen wissenschaftlichen Betreuung sowie ihrer permanenten Hingabe konnte diese Studie entstehen. Ich bedanke mich für ihre Unterstützung und Ermutigung zu dieser Idee seit der Masterarbeit und für die Tatsache, dass sie diese durch internationales Wasser führen konnte, immer überzeugt, diese Arbeit in einen sicheren Hafen bringen zu können.

Besonders dankbar bin ich auch Herrn Prof. Dr. Joachim Jacob von der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seit dem Moment, in dem wir uns in Gießen zum ersten Mal trafen, zeigte er großes Interesse an diesem Projekt und schlug vor, es im Rahmen einer Cotutelle durchzuführen. Im Laufe dieses internationalen gemeinsamen Weges hat er immer sein Wissen, seine Kommentare und Vorschläge mit mir geteilt, die zweifelsohne meine Arbeit sehr bereicherten.

Mein herzlicher Dank geht auch an Dr. Sabine Großkopf, die Hochschuldozentin, die ich 2008 in Hamburg kennenlernte und die entscheidend sowohl für die Inspiration als auch für das kontinuierliche und sorgfältige Begleiten dieser Studie über 1968 war – ohne diese unermüdliche Biene wäre diese Arbeit nicht aus dem Bienenstock gekommen.

Ein sehr herzliches Wort des Dankes geht nicht zuletzt an Christian, Jennifer und João für die Unterstützung, die über die aufmerksame und geduldige Lektüre meiner Arbeit weit hinausging, an Márcia Neves und Silvia Brunetta für die Hilfe bei der Überprüfung der französischen und italienischen Übersetzungen, an Herrn Prof. Dr. Paulo Pereira von der Universität Aveiro für den Vorschlag, Sem Tecto, entre Ruínas zu untersuchen, und für seine Betreuung während der Masterarbeit sowie an die vielen Professoren und Forscher des International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) für den ständigen Ideenaustausch an der Justus-Liebig-Universität Gießen.

Dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) danke ich für zwei Kurzstipendien in den Jahren 2015 und 2017 sowie der Fundação Portuguesa para a Ciência e a Tecnologia (FCT) [Portugiesische Stiftung für Wissenschaft und Technologie] für die finanzielle Unterstützung durch ein Doktorandenstipendium.

Sehr dankbar bin ich dem Narr Francke Attempto Verlag für die Aufnahme meines Buches in sein Programm und der VG Wort für die Übernahme der Druckkosten.

Schließlich danke ich meinem Partner und meiner Familie für die Liebe und die Anteilnahme, die sie immer im Laufe dieser Zeit zeigten. Sie sind der Leuchtturm, dessen Licht mein Leben orientiert.

Einleitung

Die Atmosphäre der Unruhen und der Jugendrevolte, die sich in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre verstärkte und ausbreitete, war ein beispielloses weltweites Phänomen. Junge Menschen aus zahlreichen Ländern rebellierten gegen das Establishment und führten eine Protestkultur an, die die ältere Generation auf den verschiedensten Ebenen in Frage stellte: Familie, tradierte Lebensweisen, gesellschaftliche Vorgaben, sexuelle Normen, Universität, nationale und internationale Politik, Konservatismus, Autoritarismus, alles wurde kritisiert. Der Diskurs des Widerstands internationalisierte sich dank der weltweit durch die Medien verfügbaren Informationen. Er fand in der provokativen Haltung der Jungen den Antrieb, der dazu beitrug, aus dem Jahr 1968 ein mythisches Jahr zu machen. 1968 war in der Tat ein Jahr, in dem die herrschenden Werte auf eine explosive Weise herausgefordert waren und ein Jahr eines einzigartigen Generationenkonfliktes, der historisch zum Symbol der Befreiung der Jugend wurde.1 Zuerst in den Universitäten und danach auf den Straßen der großen Städte bekundeten die jungen Menschen ihren Willen, die Gesellschaft auf der politischen Ebene zu verändern und mit dem Establishment zu brechen. Diese Spaltung wurde auch im Privatleben deutlich, wo die junge Generation sei es durch die Musik, durch die Kleidung oder sei es durch die sexuelle Befreiung alternative Verhaltensweisen auslebte. Trotz der Unterschiede zwischen den politischen Systemen und Lebenswirklichkeiten der verschiedenen Länder sowie zwischen den Protestzielen, die in jedem Land von den jungen Menschen ausgewählt wurden, um ihre Empörung zu äußern, sticht doch eine gemeinsame Widerstandshaltung der jungen Generation Westeuropas hervor.2 Diese Neigung zum Widerstand und zum Protest kennzeichnet den Generationenkonflikt jener Epoche. Aus der Sicht der jungen Menschen verkörpern die Eltern die herrschende soziale Ordnung, während die neue Generation vorgibt, der Motor des gesellschaftlichen Wandels zu sein, indem sie sich am Aufbau einer erneuerten und von dem Wertekanon der älteren Generation befreiten Welt beteiligt.

Die Literatur blieb nicht unberührt von dieser Welle der Rebellion. Es gibt eine beachtliche Anzahl von Prosawerken in verschiedenen nationalen Literaturen in Westeuropa, die den Generationenkonflikt und die Studentenrevolte in den Vordergrund rücken. In diesen Werken, die ab 1968 und im Laufe der 1970er-Jahre erscheinen, werden die individuellen und die kollektiven Erfahrungen von Jungen und nicht mehr Jungen verarbeitet, die das soziopolitische Umfeld von Krise und Aufruhr am Ende der 1960er-Jahre in allen seinen zahlreichen Facetten erleben. Der diegetische Fokus jedes einzelnen dieser Texte betont den nationalen Raum, in dem sich die mit der Revolte verbundenen Ereignisse abspielen, was aber eine Öffnung zur anderen Seite der Grenzen nicht ausschließt. Gerade weil die 1968er-Bewegung und die Protestkultur am Ende der 1960er-Jahre einen transnationalen Charakter haben, gibt es Berührungspunkte, die sich auf verschiedenen Ebenen durch diese Werke ziehen.

In der vorliegenden Arbeit unternehme ich es, die Darstellung der Jugend und die literarische Verarbeitung des Generationenkonfliktes am Ende der 1960er-Jahre in Westeuropa durch eine exemplarische Auswahl von Prosawerken, die zwischen 1968 und 1979 geschrieben und/oder publiziert wurden, zu untersuchen und zu vergleichen. In der Reihe der ausgewählten Prosatexte sind dies Werke aus der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Portugal. Es sind fünf Räume mit einem unterschiedlichen soziopolitischen Kontext, in denen aber durchgehend die junge Generation, der die Protagonisten der verschiedenen Texte angehören, die Führungsrolle des Widerstands und des Protestes gegen den Status quo einnimmt. Das Ziel ist die Durchführung einer interdisziplinären und transnationalen Studie, die sich mit der »literarisierte[n; IG] Revolte« (Schnell, 2003: 388) in den ausgewählten Texten beschäftigt, d.h. eine Untersuchung der literarischen Darstellungen der Studentenunruhen und des Generationenbruchs sowie der soziokulturellen und politischen Spaltungen jener Epoche. Der Begriff literarisierte Revolte, der von Ralf Schnell geprägt wurde, erscheint zum ersten Mal im Band Literatur der Bundesrepublik: Autoren, Geschichte, Literaturbetrieb (1986). Schnell identifiziert eine Reihe von Texten (vor allem Romane und Erzählungen), die die politischen und soziokulturellen Ereignisse der Studentenbewegung von 1968 in der Bundesrepublik zum Thema der Literatur machen (vgl. Schnell, 2003: 388f.). In meiner Arbeit wird dieser Begriff im weiteren Sinne verwendet, da er über die Grenzen der deutschen Literatur hinausgeht und für Prosawerke aus Westeuropa gilt, die ebenfalls die Protestkultur, die Studentenrevolte und den Generationenkonflikt am Ende der 1960er-Jahre fiktionalisieren. Indem das Konzept der literarisierten Revolte erweitert wird, werden die Gemeinsamkeiten und Einzelheiten, wie auch die Unterschiede und Ähnlichkeiten der Darstellung des Generationenkonfliktes und der akademischen Unruhen in den Texten der deutschen, französischen, italienischen, spanischen und portugiesischen Literatur erforscht.

Der komparatistische Ansatz fokussiert die literarische Behandlung verschiedener Fragen, die alle Texte durchziehen. Unter diesen Fragen sind besonders relevant: die Zeichen von Bruch und Spaltung, die die Beziehung zwischen den Generationen in den 1960er-Jahren prägen; der politische Aktivismus der jungen Menschen und ihr Wille, die Gesellschaft zu verändern; das Ausleben der sexuellen Revolution; und schließlich die narrativen Optionen bei dem Aufbau der Erzählung, die eher die Fiktionalisierung der turbulenten Zeiten vor und nach 1968 oder eher die Reflexion über diese Zeiten in den Vordergrund stellen. In dieser komparatistischen Gegenüberstellung werden ebenfalls die Erzählstrategien im Hinblick auf die Erzählsituationen, den narrativen Aufbau und den Diskurs betrachtet.

 

Bevor ich die Auswahlkriterien des literarischen Korpus dieser Arbeit erkläre, werde ich kurz die Gründe nennen, die zum Ausschluss der in den Staaten des Warschauer Paktes veröffentlichten Texte aus dieser Zeit geführt haben. Der erste Grund liegt in meinen Kenntnissen von Fremdsprachen: Da ich die Sprachen dieser Länder nicht beherrsche, wäre es unmöglich gewesen, jene Texte – und die entsprechende Sekundärliteratur – im Original zu lesen. Der zweite Grund liegt in der politischen Lage. Unbestreitbar erlebten auch einige der Staaten des kommunistischen Lagers wie Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei im Jahre 1968 einen sogenannten Frühling der Jugendrevolte, mit Zusammenstößen zwischen Studenten und den Ordnungskräften. Dennoch war die Lebenswirklichkeit in diesen Ländern eine andere als in der Mehrzahl der westeuropäischen Länder. Die deutlichen Unterschiede in der Geschichte, Politik und Kultur der Länder des Warschauer Paktes und Westeuropas in den Zeiten des Kalten Krieges würden eine eigene Untersuchung erfordern.

Selbst im westeuropäischen Raum gibt es große Variationen in der literarischen Verarbeitung der Studentenrevolte. Als deutlichstes Beispiel dafür sei Großbritannien genannt. Auch in die englische Literatur fanden die Studentenunruhen von 1968 Eingang, vor allem in campus novels wie Changing Places (1975) von David Lodge und The History Man (1975) von Malcom Bradbury.3 Aber der satirische Blick dieser und anderer englischer Romane auf die akademische Welt und auf die Studentenbewegung (vgl. Moseley, 2007: 110) ist weit entfernt von der vorherrschenden engagierten Orientierung der Erzählprosa Kontinentaleuropas. Aus diesem Grund wird die englische Literatur in dieser Studie nicht berücksichtigt.

Für die Auswahl jedes Werkes in das Textkorpus dieser Arbeit gab es diverse Kriterien. Das Hauptkriterium liegt in der Zentralität des Generationenkonfliktes und des von der jungen Generation angeführten akademischen und politischen Aufruhrs in der Diegese jedes Werkes. Außer diesem Kriterium sei bemerkt, dass nur zwischen 1968 und Anfang der 1970er-Jahre verfasste Werke ausgewählt wurden. Daher sind alle behandelten Werke gleich 1968, also noch im Jahr der Studentenrevolte, oder einige Jahre später geschrieben.4 Diese zeitliche Eingrenzung zielt darauf ab, einen Vergleich der Verarbeitung des Generationenkonfliktes und der Studentenrevolte zu ermöglichen, der die zeitliche Nähe des Verfassens der Texte zu den Ereignissen von 1968 mitberücksichtigt. So fiel die Wahl auf die folgenden Werke: Lenz (1973) von Peter Schneider, Heißer Sommer (1974) von Uwe Timm, Derrière la vitre (1970) [Hinter Glas] von Robert Merle, I giorni del dissenso (1968) [Die Tage des Dissenses] von Giorgio Cesarano, Condenados a vivir (1971) [Zum Leben verurteilt] von José María Gironella und Sem Tecto, entre Ruínas (1979) [Ohne Dach, zwischen Ruinen] von Augusto Abelaira.5

Gemeinsamkeiten in den Biographien oder in der literarischen Laufbahn der Autoren und ihrer Werke boten sich auch für die Analyse als interessant an, waren aber kein ausschlaggebendes Auswahlkriterium. Nachdem sie Ende der 1960er-Jahre als Studenten aktiv an der Studentenbewegung in Westdeutschland beteiligt waren, veröffentlichten Peter Schneider und Uwe Timm mit Lenz und Heißer Sommer zwei Werke, die die Studentenrevolte literarisch verarbeiten und in denen sich einige autobiographische Spuren ihrer Erlebnisse im Widerstand finden. Giorgio Cesarano und Augusto Abelaira waren am Ende der 1960er-Jahre schon ältere Autoren, beide in ihren Vierzigern und mit mehreren Veröffentlichungen. Sie verfolgten aufmerksam die Proteste der jungen Menschen in Italien, in Portugal und auch in ganz Westeuropa. Das war auch der Fall von José María Gironella, zu der Zeit schon über fünfzig, und Robert Merle mit über sechzig, zwei Schriftsteller mit einer etablierten literarischen Karriere. Trotz der Altersunterschiede ist ihnen jedoch allen gemeinsam eine mehr oder weniger sichtbare Sympathie mit den Idealen der politischen Linken (die einzige Ausnahme ist der spanische Autor) und das Interesse, die zeitgeschichtlichen Ereignisse in die Literatur zu tragen. Darüber hinaus teilen sie eine literarische Grundeinstellung, die von einem auffallenden historischen Bewusstsein und von der Verbindung der Literatur mit der Gesellschaft gekennzeichnet ist.

Wie zu bemerken ist, umfasst das Textkorpus dieser Arbeit wenigstens jeweils ein Werk der analysierten literarisch-kulturellen Räume. Der Grund für die stärkere Präsenz deutscher Werke liegt im besonders häufigen Vorkommen der literarisierten Revolte in der deutschsprachigen Literatur. Obwohl die Jugendrevolte in Europa am Ende der 1960er-Jahre (und Anfang der 1970er-Jahre) sich quer durch viele Länder zieht, hat ihre literarische Verarbeitung mehr Bedeutung im deutschen Raum, wo die Anzahl von Werken, die sich diesem Thema widmen, ungleich größer ist als in den anderen Literaturen Westeuropas. Mit Lenz und Heißer Sommer wurden zwei Werke ausgewählt, die von der Kritik als die repräsentativsten Texte der literarisierten Revolte in der Bundesrepublik angesehen werden (vgl. Cornils, 2000: 116). Außerdem ergänzen sich beide Texte auf gewisse Weise im Hinblick auf die fiktionale Darstellung der 1968er-Zeit (vgl. Götze, 1981: 379; Rinner, 2013: 36). Von den französischen Romanen, die gleich nach 1968 die diversen Facetten der Studentenbewegung und die Erfahrungen der jungen Aktivisten während des Mai 68 in Frankreich verarbeitet haben, ist Derrière la vitre der einzige, der bei der Fiktionalisierung der Revolte das universitäre Milieu betont (vgl. Combes, 1984: 148; Combes, 2008: 161; Eichelberg, 1987: 23). Für Italien fiel die Wahl auf I giorni del dissenso von Giorgio Cesarano, eines der wenigen Beispiele der italienischen Literatur, das die Universitätsrevolte von 1968 in Mailand herausstellt. In Spanien und in Portugal sind Condenados a vivir und Sem Tecto, entre Ruínas Einzelfälle von Werken, die noch in den 1970er-Jahren die Atmosphäre des Widerstands der jungen Generation in die Literatur einfließen lassen. Sie stellen nicht die Proteste und die Stimmung des Aufruhrs in den Universitäten in den Mittelpunkt, sondern eher den Generationenkonflikt und die unterschiedlichen Weltsichten von Eltern und Kindern in der spanischen und portugiesischen Gesellschaft der 1960er-Jahre.

 

Bis heute wurde noch keine vergleichende Studie zur literarischen Bearbeitung der Studentenunruhen und der Generationenkonflikte in den 1960er-Jahren in Westeuropa durchgeführt, die mehrere Werke aus verschiedenen nationalen Literaturen betrachtet. Auch sonst gibt es nur wenige literaturwissenschaftliche Studien zu diesem Thema.6 Darüber hinaus beziehen sich die wenigen diesbezüglichen Veröffentlichungen auf einen einzelnen literarischen Raum und beschränken sich in der Regel auf die Analyse eines einzigen Werkes. Im Folgenden wird die wichtigste Sekundärliteratur vorgestellt, die sich mit den in dieser Arbeit untersuchten Prosawerken befasst.

Die meisten Studien über Werke und Autoren der 1968er-Jugendrevolte sind bislang in Deutschland erschienen. Die Aufmerksamkeit der Germanistik begann in den 1970er-Jahren, kurz nach dem Erscheinen von Klassenliebe (1973) von Karin Struck, Lenz (1973) und Heißer Sommer (1974), Werken, die im Laufe der Jahren emblematisch werden (vgl. Schnell, 1986: 284f.).7 In den zwei darauffolgenden Jahrzehnten gibt es mit der Ausnahme von Ralf Schnell – der in einem kurzen Unterkapitel in seinen Literaturgeschichten nach 1945 über die literarisierte Revolte schrieb; vgl. Die Literatur der Bundesrepublik: Autoren, Geschichte, Literaturbetrieb (1986): 284–288 und Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945 (1993): 420–4248 – nur wenige Untersuchungen über den Widerhall der Studentenrevolte in der bundesdeutschen Literatur. Dennoch gibt es fünf umfassende Studien, die Werke verschiedener deutscher Autoren vergleichend analysieren.9 Die erste, von Keith Bullivant verfasst und betitelt Realism Today. Aspects of the Contemporary West German Novel (1987), befasst sich mit Texten, die die Erfahrungen der jungen Menschen während der Unruhen am Ende der 1960er-Jahre im Rahmen der »Neuen Subjektivität« oder »Neuen Innerlichkeit« in den Vordergrund rücken. Die zweite ist die Dissertation des polnischen Germanisten Andrezej Talarczyk, der 1988 an der Universität Stettin mit der Arbeit Die Studentenbewegung als Thema der Literatur der BRD promovierte.10 Eine weitere Studie, Der poetische Mensch im Schatten der Utopie: Zur politisch-weltanschaulichen Idee der 68’er Studentenbewegung und deren Auswirkung auf die Literatur (1990) von Alois Prinz, beschäftigt sich mit der Frage der Utopie, die sich durch die Prosawerke über die Studentenbewegung von Peter Schneider und Uwe Timm sowie durch Nicolas Borns Die erdabgewandte Seite der Geschichte (1976) zieht. In Politisierung der Literatur – Ästhetisierung der Politik (1992) konzentriert sich Martin Hubert auf Heißer Sommer, Lenz und Die Reise (1977) von Bernward Vesper. Zwei Jahre später wird das Buch Abschied von der Revolte: Studien zur deutschsprachigen Literatur der siebziger Jahre (1994) veröffentlicht. Ingeborg Gerlach analysiert darin Texte von Autoren wie Karin Struck, Peter Schneider, Uwe Timm und Peter-Paul Zahl (unter anderen) und ordnet sie der »Neuen Subjektivität« zu.

Abgesehen von diesen Studien ist das Interesse der Germanisten an der literarisierten Revolte bis zum Ende der 1990er-Jahre gering ausgeprägt. Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts nimmt es wieder zu.11 Ingo Cornils ist einer der Forscher, die sich dieser Thematik am intensivsten gewidmet haben. Von besonderer Bedeutung sind ›(Un-)erfüllte Wirklichkeit‹. Neue Studien zu Uwe Timms Werk (2006) – eine zusammen mit Frank Finlay herausgegebene Sammlung, die sich ausschließlich mit dem Werk von Uwe Timm befasst – und Writing the Revolution: The Construction of ‹1968› in Germany (2016).12 Susanne Rinner ist eine weitere wichtige Forscherin. In ihrem Aufsatz »From Student Movement to the Generation of 1968: Generational Conflicts in German Novels from the 1970s and the 1990s« (2010) analysiert sie die deutsche Studentenrevolte der 1960er-Jahre in Lenz und Heißer Sommer und untersucht sie diese vergleichend mit späteren Werken der beiden Autoren. Diese komparatistische Gegenüberstellung wird in der Studie The German Student Movement and the Literary Imagination: Transnational Memories of Protest and Dissent (2013) wieder aufgenommen und erstreckt sich mithilfe eines literatur- und kulturwissenschaftlichen Ansatzes auf Texte von Peter Schneider, Uwe Timm, Bernhard Schlink, Ulrike Kolb, Irmtraud Morgner und Emine Sevgi Özdamar.13

Dazu gibt es umfassende Veröffentlichungen über einzelne deutsche Autoren der 1968er-Generation (vgl. Rinner, 2010: 139). Besonders Peter Schneider und Uwe Timm, die wichtigsten Vertreter dieser Autorengeneration (vgl. ebd.: 141), haben die Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaftler auf sich gezogen. Hervorzuheben sind Peter Schneiders Erzählung ›Lenz‹: Zur Entstehung eines Kultbuches. Eine Fallstudie (1997) – eine umfassende Analyse der Erzählung Lenz von Markus Meik –, Zwischen Dableiben und Verschwinden: Zur Kontinuität im Werk von Peter Schneider (2006) von Petra Platen und drei Studien über das Gesamtwerk von Uwe Timm zur Studentenbewegung: Die 68er-Revolte im Werk von Uwe Timm (2009) von Sabine Weisz, (Ent-)Mythologisierung deutscher Geschichte: Uwe Timms narrative Ästhetik (2012) von Kerstin Germer und ›Erinnern führt ins Innere‹: Erinnerung und Identität bei Uwe Timm (2015) von Simone Christina Nicklas. Obwohl keine dieser Studien sich ausschließlich auf die Darstellung des Generationenkonfliktes und des akademischen Aufruhrs konzentriert, wie es in dieser Arbeit geschehen soll, dienen sie als Analysehilfe bei meiner Untersuchung von Lenz und Heißer Sommer.

Was den literarischen und kulturellen Raum Frankreichs betrifft, ist die Zahl der Publikationen deutlich geringer und konzentriert sich fast ausschließlich auf die literarische Verarbeitung der Ereignisse vom Mai 68. Patrick Combes war der erste, der eine umfassendere Studie über die Fiktionalisierung der 1968er-Revolte in der französischen Literatur veröffentlichte: Littérature & le mouvement de Mai 68. Écriture, mythes, critique, écrivains 1968–1981 (1984), in der er ungefähr fünfzig Werke (vor allem Romane) über den Mai 68 und die Erfahrungen bei den Jugendprotesten am Ende der 1960er-Jahre identifiziert. Sowohl in dieser als auch in einer weiteren Studie, 2008 veröffentlicht und betitelt Mai 68, les écrivains, la littérature, hebt Combes den Roman Derrière la vitre von Robert Merle hervor. Auch Ingrid Eichelberg, eine deutsche Romanistin, beschäftigte sich in den 1980er-Jahren mit der französischen Studentenrevolte und den Ereignissen vom Mai 68 in der Literatur und veröffentlichte drei Studien dazu: Mai ’68 in der Literatur. Die Suche nach menschlichem Glück in einer besseren Gesellschaft (1987),14Mai 1968: une crise de la civilisation française; anthologie critique de documents politiques et littéraires (1986) und L’écriture de Mai 68 (1987), die zwei letzten auf Französisch geschrieben zusammen mit Wolfgang Drost. Margaret Attack beschäftigte sich in May 68 in French Fiction and Film: Rethinking Society, Rethinking Representation (1999) auch mit dem Roman von Robert Merle, den sie damals für den berühmtesten über den Mai 68 hielt (vgl. Attack, 1999: 33). Die Lektüre dieser Studien bestärkte meine Entscheidung für Derrière la vitre, einen Roman, der erst in den letzten Jahren eine größere Aufmerksamkeit der Forschung erlangte.15

In Italien gibt es wenige Publikationen über italienische Autoren, die den Aufruhr von 1968 und die Protestkultur der jungen Menschen in Literatur verwandelten, und noch weniger sind die, die das Werk Giorgio Cesaranos erwähnen, eines wenig bekannten Schriftstellers. Unter denen, die sich dem literarischen Schaffen zu 1968 in Italien widmen und die I giorni del dissenso unter den Werken der 1960er- und 1970er-Jahre hervorheben, die sich mit der Studentenbewegung und dem akademischen Aufruhr beschäftigen, gehören besonders: Linea rossa: Intellettuali, letteratura e lotta di classe, 1965–1975 (1982) und der Sammelband Cercando il ’68. Documenti, cronache, analisi, memorie (2012), beide von Giampaolo Borghello, Letteratura italiana d’oggi, 1965–1985 (1987) von Giuliano Manacorda und der Aufsatz »Il percorso letterario di Giorgio Cesarano« (2011) von Giorgio Luzzi.

Ähnlich ist es mit der Forschung zum Werk von José María Gironella in Spanien, besonders zum Roman Condenados a vivir. Die einzige Ausnahme scheint die Doktorarbeit von Pedro Fernandez-Blanco mit dem Titel José María Gironella, romancier témoin de son époque (1985) zu sein, in der er die Figuren und die Themen in jedem einzelnen Roman des umfangreichen Gesamtwerkes von Gironella analysiert. In der vorliegenden Arbeit werde ich diese Studien gelegentlich erwähnen und heranziehen und zugleich versuchen, nicht nur neue Wege der Forschung zu den Werken Cesaranos und Gironellas zu eröffnen, sondern auch die Relevanz dieser zwei Autoren für die literarische Behandlung der Studentenunruhen und des Generationenkonfliktes in Italien und Spanien hervorzuheben.

Was die Analyse des Romans von Abelaira betrifft, ist die Aufgabe, die ich mir vorgenommen habe, identisch. Von den wenigen vorhandenen Studien über Sem Tecto, entre Ruínas wird deutlich, dass sie den Roman nur aus der Sicht der Elterngeneration untersuchen und die junge Generation und ihren Willen nach Veränderung nicht beachten. Publikationen wie »Augusto Abelaira: a Palha e o Resto« (1986), Um Romance de Impoder. A Paragem da História na Ficção Portuguesa Contemporânea (1994) – beide von Luís Mourão –, Entre a Utopia e o Apocalipse: Augusto Abelaira e o Fim da História (2003) von Carlos Machado sowie Imagens Líquidas na Obra de Augusto Abelaira: Sujeito e História na Pós-Modernidade (2007) und »De Brandão a Abelaira: um tempo de desesperança« (2008) von Edimara Luciana Sartori untersuchen vor allem die Darstellungen von Machtlosigkeit, Trägheit und Verzweiflung, die sich in Sem Tecto, entre Ruínas im Zusammenhang mit der älteren Generation finden lassen.

 

Nach diesem ersten Forschungsüberblick sollen die in dieser Arbeit angewandten theoretischen und methodologischen Prämissen vorgestellt werden. Da der Fokus der Analyse sich auf die Fiktionalisierung des Generationenkonfliktes und der soziopolitischen Unruhen von 1968 konzentriert, stützt sich meine Studie der ausgewählten Prosawerke auf einen vergleichenden kulturwissenschaftlichen Ansatz.

Die gegenwärtige Methodologie zur Untersuchung literarischer Werke mithilfe eines kulturwissenschaftlichen Ansatzes beruht auf dem Konzept der Interdisziplinarität. Die kulturwissenschaftliche Neuorientierung der Literaturwissenschaft wird von immer mehr Forschern der Anglistik, Germanistik und Romanistik umgesetzt – besonders im Bereich der Untersuchungen, die einen vergleichenden Zweck haben (vgl. Nünning/Sommer, 2004: 9) – mit dem Ziel, den sprachenübergreifenden und interdisziplinären Dialog zu verstärken.16 Im Sammelband Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft (2004) stellen Ansgar Nünning und Roy Sommer fest, dass eine kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft nicht nur ihre Berechtigung hat, sondern auch von großer Bedeutung in der Gegenwart ist, indem sie erlaubt, das Wertesystem, die Normen und Perspektiven sowie die Kollektivvorstellungen zu untersuchen, die sich in literarischen Texten zeigen (vgl. ebd.: 19).17 Die kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft bedeutet keineswegs, die in der Literatur- und in der Kulturwissenschaft vorhandenen Analyseparadigmen außer Acht zu lassen. Im Gegenteil: Was Ansgar Nünning und Roy Sommer als »einen neuen Diskurs« (ebd.: 10) der Annäherung von Literatur- und Kulturwissenschaft bezeichnen, das berücksichtigt die Besonderheiten beider Disziplinen. Auf diese Weise werden die in dieser Arbeit analysierten Werke in ihrer Qualität als kulturelle Dokumente und als literarische Texte verstanden. Es wird angestrebt, auf ihre Singularität zu achten, die unbestreitbar durch die Fiktionalität und durch einen einzigartigen semiotischen Charakter geprägt ist.

Im Rahmen dieser theoretischen und methodologischen Ausrichtung muss der Beitrag von Doris Bachmann-Medick erwähnt werden, die die »Hybridisierung« bei der Analyse literarischer Texte verteidigt (vgl. Bachmann-Medick, 2004: 156) und die sich dabei Analyseinstrumente anderer Disziplinen der Sozial- und Geisteswissenschaften bedient.18 Dennoch soll diese »Hybridisierung« die Vorgehensweise jeder einzelnen Disziplin nicht in Frage stellen. Für den konkreten Fall der Literaturwissenschaft bemerkt die Autorin, dass nur eine kulturwissenschaftliche Sichtweise, die die Eigenart des jeweiligen literarischen Textes berücksichtigt, dazu beitragen könne, die Verbindungen zwischen kultureller Bedeutung und Textualität zu erkennen, nämlich das, was die Fiktionalisierung, die wirkungsästhetischen Strategien und die stilistischen und formalen Innovationen betrifft (vgl. ebd.).19

Mein Interesse für die kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft wird durch die in den Prosawerken dieser Arbeit vorliegende Verbindung zwischen literarischem und politisch-soziokulturellem Diskurs gerechtfertigt: Die Zeitgeschichte ist mit der Fiktion verwoben und die Ereignisse der Epoche spielen eine herausragende Rolle in der Entwicklung, dem Verhalten und der Mentalität der unterschiedlichen Figuren der einzelnen Werke. In ihrer Interpretation von »Kultur als Text« verteidigt Doris Bachmann-Medick, dass die literatur- und kulturwissenschaftliche Hermeneutik der Gegenwart nicht von den sozialen Ereignissen und von den Handlungszusammenhängen, die zu einer gewissen wahrgenommenen Realität gehören, getrennt werden darf (vgl. Bachmann-Medick, 2014: 77). Auch im Sammelband Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse (2010), herausgegeben von Vera und Ansgar Nünning, wird erwähnt, dass die kulturelle Dimension eines literarischen Textes (beziehungsweise der kulturelle Kontext, der soziale Hintergrund und die soziokulturelle Umgebung) bei der literarischen Analyse durch ein Verfahren des wide reading berücksichtigt werden muss (vgl. Hallet, 2010: 293f.). Dieses Verfahren, das eine ausgedehnte komplementäre Lektüre ermöglicht, auch durch den Zugang zu nicht-literarischen Texten, ist besonders wichtig bei der Analyse literarischer Texte mit einer starken zeitgeschichtlichen und soziokulturellen Komponente, wie es bei den Prosawerken dieser Arbeit der Fall ist. Indem ich den Schwerpunkt meiner Studie auf die Darstellungen der Jugend und auf die literarische Bearbeitung des soziopolitischen Aufruhrs der Jugendrevolte lege, beabsichtige ich, zu untersuchen, auf welche Weise jedes der ausgewählten Werke nicht nur dazu beiträgt, das kulturelle Gedächtnis der zeitgeschichtlichen, politischen und sozialen Ereignisse von 1968 herauszukristallisieren, sondern auch ein originelles Bild des Generationenkonfliktes und der Studentenunruhen am Ende der 1960er-Jahre zu schaffen: originell, denn es ist nicht in den Zwängen der geschichtswissenschaftlichen und soziologischen Perspektive gefangen, sondern geht vom kritischen und persönlichen Blick eines jeden Autors aus, der die der Literatur eigene kreative Freiheit dazu benutzt, Wirklichkeiten zu konstruieren, die sich nicht darauf beschränken, die reale Welt, von der sie erzählen, widerzuspiegeln.20

Ausgehend von dem Bild, das jedes einzelne Werk vom Generationenkonflikt und der Studentenrevolte bietet, liegt das Ziel meiner Studie auf der Darstellung eines heterogenen und vielfältigen Porträts der Berührungspunkte und Divergenzen, die bei der Fiktionalisierung der Erlebnisse der Jungen und nicht mehr Jungen im Laufe der 1960er-Jahre vorkommen. Auf diese Weise, und dem komparativen Charakter der vorliegenden Studie entsprechend, wird den jüngsten Tendenzen und methodologischen Ansätzen im Rahmen der Vergleichenden Literaturwissenschaft spezielle Aufmerksamkeit gewidmet. Diese Disziplin, so Steven Tötösy de Zepetnek, steht in der Tradition der Förderung interdisziplinärer und interkultureller Studien von Literatur und Kultur (vgl. Tötösy de Zepetnek, 2003: 235).

Die Forscher César Domínguez, Haun Saussy und Darío Villanueva unterstreichen in Introducing Comparative Literature. New Trends and Applications (2015), dass die Vergleichende Literaturwissenschaft am Ende des 20. Jahrhunderts in ein »neues Paradigma« eintrat, das eine eher kulturwissenschaftliche Interpretation der Literatur voraussetzt (vgl. Domínguez/Saussy/Villanueva, 2015: 13).21 Diese Interpretation soll nicht nur auf den literarischen Text als solchen, sondern auch auf den Kontext seiner Entstehung, seine Rezeption und auch auf soziale Faktoren achten, deren Analyse auch über nationale Grenzen hinausgehen sollte (vgl. ebd.). Darüber hinaus heben diese Forscher hervor, dass es noch eine andere Dimension gibt, die im Rahmen des »neuen Paradigmas« berücksichtigt werden muss: »It consists, basically, in the imperative of abandoning of any supposed genetic relation to justify comparative analysis, and attending to the empirical evidence that is available to us« (ebd.: 15). Wie sie verdeutlichen, bezieht sich diese »empirische Evidenz« auf ein gemeinsames Element zwischen zwei literarischen Systemen oder zwischen einem literarischen Werk und einem Werk aus einem anderen künstlerischen Bereich, ohne dass eine Abhängigkeit zwischen zwei oder mehr Werken unterstellt wird (vgl. ebd.). Diese Perspektive der Vergleichenden Literaturwissenschaft ist besonders hilfreich in der vergleichenden Gegenüberstellung von Darstellungen, Themen oder Stoffen, die diversen literarischen Texten gemeinsam sind, unabhängig von ihrer Gattung (vgl. Nebrig, 2012: 91–96).

In diesem Rahmen hat diese Arbeit das Ziel, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Texten verschiedener Literaturen zu untersuchen, die sich mit dem Generationenkonflikt, den akademischen Unruhen und der Studentenrevolte der 1960er-Jahre befassen und diese bearbeiten. Konkret wird dabei dem methodologischen Vorschlag von Peter Zima gefolgt, der ein Analysemodell der intertextuellen Beziehungen vorstellt, welches auf eine Differenzierung zwischen »typologischem Vergleich« und »genetischem Vergleich« beruht.22 So wie Zima erklärt (der Ausführung von Gerhard R. Kaiser folgend): »Während der genetische Vergleich als Kontaktstudie […] Ähnlichkeiten zum Gegenstand hat, die durch Kontakt, d.h. durch direkte oder indirekte Beeinflussung entstehen, werden im Rahmen eines typologischen Vergleichs Ähnlichkeiten untersucht, die ohne Kontakt aufgrund von analogen Produktions- oder Rezeptionsbedingungen zustande kommen« (Zima, 2011: 105; Hervorhebung im Original). In der vorliegenden Arbeit sind die Beziehungen zwischen den Texten typologischer Natur und der Vergleich wird in diesem Rahmen stattfinden.

 

Nach der Vorstellung der methodologischen Koordinaten sollen nun die Struktur und die Gliederung dieser Arbeit verdeutlicht werden.

Im ersten Kapitel werden die Studentenrevolte und der Aufruhr der jungen Generation von 1968 sowie die Vorgeschichte und die Nachwirkungen der Folgejahre dargestellt. Damit werden die wichtigsten Momente und Ereignisse in Westeuropa zunächst im Allgemeinen und dann spezifisch in jenen Ländern identifiziert, in denen die untersuchten literarischen Werke entstanden sind. Diese geschichtliche und soziokulturelle Kontextualisierung der außerliterarischen Wirklichkeit folgt den Prinzipien des wide reading. Da die zeitgeschichtlichen Ereignisse dieser Epoche mit der Diegese eines jeden Werkes verwoben sind und eine hervorgehobene Rolle in der Entwicklung, dem Verhalten und dem Charakter der unterschiedlichen Figuren spielen, ist diese Kontextualisierung essentiell.

Danach folgt die Einführung in jedes einzelne Werk. Nach der kurzen geschichtlichen und literarischen Einordnung der ausgewählten Texte liegt der Fokus auf den Erzählstrategien sowie auf Aspekten wie der Verknüpfung der Fiktion mit der Zeitgeschichte und den Wahrnehmungen der akademischen Unruhen und der Revolte gegen das Establishment auf öffentlicher und privater Ebene. Diese Einführung der unterschiedlichen Texte dient dazu, das Hauptkapitel dieser Arbeit vorzubereiten, d.h. das dritte Kapitel, das dem Vergleich der Darstellungen des Generationenkonfliktes und des akademischen, politischen und soziokulturellen Aufstands gewidmet ist.

Im dritten Kapitel erfolgt eine systematische Gegenüberstellung der ausgewählten Werke, wobei relevante Fragen, die alle Texte durchziehen, hervorgehoben werden (siehe S. 15). Zunächst werden die Profile der Generation der Eltern und der Kinder verglichen und dabei die Differenzierungen des Generationenkonfliktes analysiert. Die beiden folgenden Unterkapitel leiten über zum Vergleich der Darstellungen der Jugend, indem zwei grundlegende Fragen untersucht werden: die Frage des politischen Aktivismus der jungen Generation und die der sexuellen Befreiung und der Revolution der Sitten in den 1960er-Jahren. Im vierten und letzten Unterkapitel wird versucht, die Strategien bei dem Aufbau der Erzählung einander vergleichend gegenüberzustellen, besonders was die Aktion – meistens mit den Studentenunruhen und dem Bruch der jungen Menschen mit dem Establishment verbunden – oder was die Reflexion über die Zeit des Wandels betrifft. Die Erforschung all dieser Fragen mittels einer vergleichenden kulturwissenschaftlichen Lektüre dient der Untersuchung der Berührungspunkte und der Divergenzen in den verschiedenen literarischen Bearbeitungen der Atmosphäre von Bruch und Spaltung am Ende der 1960er-Jahre.

Dadurch dass die vorliegende Arbeit fünf literarische Räume untersucht, wird die Erforschung der interliterarischen und interkulturellen Beziehungen der literarisierten Revolte in einem größeren internationalen Maßstab weiter vorangetrieben. Ich hoffe, dass diese transnationale Perspektivierung neue Sichtweisen für eine vergleichende Lektüre von Schlüsseltexten der deutschen, französischen, italienischen, spanischen und portugiesischen Literatur eröffnet, die durch den Generationenkonflikt und die akademischen, politischen und soziokulturellen Unruhen in Westeuropa am Ende der 1960er-Jahre verbunden sind.

1Historischer und kultureller Rahmen der akademischen Unruhen und des Generationenkonfliktes der 1960er-Jahre in Westeuropa

Die Zeit der akademischen Unruhen und des Generationenkonfliktes am Ende der 1960er-Jahre ist ein zentraler Aspekt der Diegese jedes der in dieser Arbeit analysierten Prosawerke. Die geschichtlichen Ereignisse des Jugendprotestes gegen das Establishment sind nicht nur miteinander im Erzählfaden verwoben, sondern sie spielen auch eine Hauptrolle für das Verhalten, die Mentalität und den Lebenslauf der verschiedenen Figuren in jedem Text. Seien sie durch aktivistische Überzeugungen bedingt oder lediglich durch Neugier, die Ereignisse der sogenannten »Neuen Zeiten« zu begleiten, bleiben viele der jungen und nicht mehr jungen Figuren nicht unbetroffen von den Vorkommnissen jener Epoche und fühlen das Bedürfnis, die nationale und internationale Wirklichkeit auf eine kritische Weise zu lesen.

Da die Darstellung des Generationenkonfliktes und der ideologischen Brüche in der Handlung jedes Prosatextes über die nationalen Grenzen hinausgeht und sich nicht allein auf die Unruhen des Jahres 1968 beschränkt, ist es notwendig, die verschiedenen ökonomischen, soziopolitischen und kulturellen Faktoren der 1960er-Jahre zu berücksichtigen. Durch den supranationalen Charakter dieser Faktoren können die Gemeinsamkeit der Erfahrungen, die die junge Generation der roaring sixties überall in den unterschiedlichen Ländern in Westeuropa erlebte, besser hervorgehoben werden. In diesem Kapitel wird somit eine historische, politische und soziokulturelle Darstellung vorgenommen, die sich sowohl auf einen transnationalen als auch auf einen zeitlich breiter angelegten Rahmen bezieht. Ihr Ziel ist es, die Vorläufer dieses Jahres des Aufruhrs sowie einige der Konsequenzen der Zeit danach zu erörtern.1 Angesichts der Besonderheiten der Herkunftsländer der einzelnen Prosawerke wird auch eine ausführliche Schilderung der landesspezifischen historischen Ereignisse gegeben. Diese soll die Entstehung und die Entwicklung der Studentenbewegung und des Generationenkonfliktes der 1960er-Jahre in der Bundesrepublik Deutschland, in Frankreich, Italien, Spanien und Portugal verdeutlichen.

1.1Das soziokulturelle Brodeln im Westeuropa der späten 1960er-Jahre

Die 1968er-Studentenbewegung und die Protestkultur der jungen Generation am Ende der 1960er-Jahre nahmen weltweit eine einzigartige Gestalt an und wurden somit zur »ersten globalen Revolte« (Kraushaar, 2000: 19) nach dem Zweiten Weltkrieg.1 Die Vielzahl der Protestorte, die Originalität der Protestaktionen und die Intensität der Unruhen sind prägende Zeichen der 1968er-Studentenbewegung. Sie erreichte ihren symbolischen Höhepunkt 1968, das als Schlüsseljahr des Aufruhrs bekannt wurde (vgl. Marwick, 1998: 585). 1968 war nicht nur für den Protest gegen die etablierten Werte entscheidend, sondern gab auch ein Zeichen für eine einzigartige soziokulturelle Wende der westlichen Welt. Provokation, Konfrontation und Widerstand internationalisierten sich und verwandelten sich in Parolen der jungen Menschen. Sie gaben der erneuernden Geisteshaltung Ausdruck, die eine ganze Generation zusammengebracht hat. Wie Mark Kurlansky in 1968: The year that rocked the world (2004) schreibt:

What was unique about 1968 was that people were rebelling over disparate issues and had in common only that desire to rebel, ideas about how to do it, a sense of alienation from the established order, and a profound distaste for authoritarianism in any form. […] The rebels rejected most institutions, political leaders, and political parties. (Kurlansky, 2004: xvii)

Diese »Rebellen« waren vorwiegend junge Menschen in ihren Zwanzigern, hauptsächlich Studenten, deren Familien meist der Mittel- und Oberschicht angehörten und die sich als Kraft politischer und soziokultureller Veränderung behaupten wollten, indem sie sich von den etablierten Weltanschauungen, Lebensstilen wie auch von den verschiedenen Formen, in Gemeinschaft zu sein, zu unterscheiden beabsichtigten. Diese jungen Protestler der 1960er-Jahre gehörten zwar verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen soziokulturellen Wirklichkeiten an und hatten daher auch landesspezifische Protestziele. Aber der Wille, die Gesellschaft zu verändern und mit dem Status quo zu brechen, vereinte die junge Generation auf der Suche nach einer Utopie von transnationalem Wandel. Die Grenzen jedes Landes überschreitend hat sich diese Utopie teils latenter, teils offenkundiger in vielen westeuropäischen Ländern verbreitet.2 Trotz der bestehenden Divergenzen in den politischen Systemen wurde der Kampf der Aktivisten überall spürbar, sowohl in den demokratischen Gesellschaften als auch in Ländern, die sich in Westeuropa noch unter dem diktatorischen Joch befanden – was der Fall in Spanien und Portugal war. In der Sichtweise der europäischen Protestler basierte das Hauptproblem auf der Diskrepanz zwischen der Realpolitik, die von ihnen als dysphorisch wahrgenommen wurde, und dem Bild von Ruhe und Wohlstand, welches durch die Regierung verbreitet wurde. Ende der 1960er-Jahre waren die Bundesrepublik, Frankreich und Italien – zusammen mit dem Vereinigten Königreich – die am höchsten entwickelten Ökonomien in Westeuropa. Sie alle wurden von Verfechtern des Kapitalismus und konservativen Regierungen, parlamentarischen Mehrheiten oder großen Koalitionen geführt, so dass die rebellierenden Studenten sie als autoritär, manipulierend und desinteressiert an der Schaffung von Alternativen kritisierten. Selbst im totalitären Spanien und Portugal hatte sich dieses Bild von friedlichen und wohlhabenden Ländern verbreitet. Hier jedoch war der Begriff, den die jungen Menschen von Propaganda und Manipulation hatten, ein ganz anderer und trotz der Repression demonstrierten sie und organisierten verschiedene Protestaktionen gegen die herrschenden Regime.3

Diese gemeinsame Widerstandsbereitschaft kennzeichnet wiederum die ideologische und soziokulturelle Generationenspaltung jener Zeit. Für die jungen Menschen repräsentierte die ältere Generation real und symbolisch die herrschende Ordnung, die von bürgerlichen, traditionellen und konservativen Vorstellungen geleitet wurde. Sie sahen in dieser Ordnung eine Kultur der Oberflächlichkeit und des Scheins, die sie beenden wollten, und profilierten sich als Verteidiger einer Erneuerung. Ihr Ziel war es, eine neue Welt zu erbauen, eine Welt, die auf Kreativität, Freiheit und auch auf politischem und gesellschaftlichem Engagement beruht. Diese neue Ordnung predigte das Ende des West-Ost-Konfliktes des Kalten Krieges und somit eine gerechtere und humanere globale Gesellschaft. Wie Rudi Dutschke, einer der Anführer der westdeutschen Studentenbewegung am Ende der 1960er-Jahre, behauptete:

Jede radikale Opposition gegen das bestehende System, das uns mit allen Mitteln daran hindern will, Verhältnisse einzuführen, unter denen die Menschen ein schöpferisches Leben ohne Krieg, Hunger und repressiver [sic!] Arbeit führen können, muß heute notwendigerweise global sein. Die Globalisierung der revolutionären Kräfte ist die wichtigste Aufgabe der ganzen historischen Periode, in der wir heute leben und an der menschlichen Emanzipation arbeiten. (Dutschke, 1968: 85)

Zur Entstehung der Widerstandsbereitschaft der jungen Generation und ihrer Kritik an der Gesellschaft trugen historische, soziopolitische und kulturelle Faktoren bei, die sich überall in Westeuropa manifestierten und die jungen Leute vereinigten. In seiner Analyse der Vorläufer von 1968 charakterisiert Laurent Joffrin den ökomischen Kontext der Nachkriegszeit und hebt ähnliche Merkmale dieser jungen Generation vor:

Dans l’après-guerre occidental, les « baby-boomers » reçoivent d’emblée, par le hasard de l’histoire, des traits marquants, communs à des millions d’enfants sur trois continents. Ils ne connaîtront plus la guerre sur leur sol […]. Ils grandiront dans une atmosphère de croissance rapide et régulière. Ils vivront tous les effets, culturels, bienfaisants ou pervers, de la « société d’abondance ». […] Nés dans la pénurie, les « baby-boomers » sont nubiles dans un début d’abondance et adultes dans la prospérité. (Joffrin, 2008: 36f.)

[In der Nachkriegszeit im Westen haben die »Babyboomer« sofort, durch historischen Zufall, markante Züge bekommen, die Millionen von Kindern auf drei Kontinenten gemeinsam sind. Sie werden keinen Krieg im eigenen Land kennen lernen […]. Sie werden in einem Umfeld schnellen und beständigen Wachstums groß werden. Sie werden alle Effekte, kulturell, wohltuend oder pervers, der »Überflussgesellschaft« erleben […]. In Mangelzeiten geboren, wurden die »Babyboomer« in einem anfänglichen Kontext von Überfluss zu Jugendlichen und im Wohlstand Erwachsene.]

Der Zerstörung durch den Zweiten Weltkrieg folgte in Europa eine Zeit des physischen und psychischen Wiederaufbaus. Sie war angetrieben durch Bevölkerungswachstum in städtischen Bereichen und durch eine beispiellose Industrialisierung.4 Das Klima von allgemeinem Wachstum, Wohlstand und Sicherheit (vgl. Flores/De Bernardi, 2003: 92) verbunden mit der Wahrnehmung von soziopolitischer Stabilität der 1950er-Jahre bereitete den Boden für die Entstehung der Überflussgesellschaft. Die Babyboomer, die in der Konsumgesellschaft erzogen wurden, in der der Kapitalismus und standardisierte Verhaltensregeln dominierten, hatten die Gelegenheit, nicht nur den technologischen Fortschritt zu verfolgen, sondern auch die Vorteile des modernen Luxus zu genießen. Viele von diesen Vorteilen wurden durch die Industrialisierung für einen Großteil der Bevölkerung zugänglich. Der Fernseher, zum Beispiel, wurde damals zum allmächtigen Massenkommunikationsmittel und Unterhaltungsmedium (vgl. Marwick, 1998: 80f.). Außerdem wurden Vorteile wie schicke Modekleidung, Urlaubsreisen ins Ausland, der Kauf eines eigenen Autos und andere äußere Statusmerkmale zu Symbolen einer Scheinwelt, die die Mentalität der bürgerlichen Schichten im Europa der 1950er- und 1960er-Jahre prägten. Gemäß der anerkannten Standards des American way of life wurde das materielle Besitztum conditiosine qua non sowohl für einen außergewöhnlich hohen Sozialstatus als auch für einen vom Komfort geprägten Lebensstil.5 Dieser Lebensstil sollte durch ein konservatives Verhalten, durch Moralvorstellungen und gutes Benehmen eingehalten werden.6

Auf der einen Seite ermöglichte der wirtschaftliche Aufschwung eine allgemeine Verbesserung der Lebensbedingungen in Westeuropa, aber auf der anderen Seite endete er in einem ideologischen Zwiespalt, der ein erstes Zeichen war für den Antagonismus zwischen Eltern und Kindern. Die Herausbildung einer Kultur des Konsums und der bürgerlichen Werte in den 1950er-Jahren und bis zur Mitte der 1960er-Jahre (vgl. Judt, 2010: 485), das verbreitete Szenario politischer Stagnation sowie ein Paradigmenwechsel im Wirtschaftsbereich waren in den Augen der jungen Menschen zentrale Aspekte, die Ende der 1960er-Jahre den Weg für Aufruhr bereiteten.7

1966, 1967 und 1968 erlebten die Bundesrepublik, Frankreich, das Vereinigte Königreich und Italien – alle damaligen Antriebskräfte der westeuropäischen Ökonomie – eine Rezession, die der erste systemische Krisenmoment des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg war. Nach dem Klima des wirtschaftlichen Optimismus der 1950er- bis zur Mitte der 1960er-Jahre, die für viele der goldene Zeitraum des Kapitalismus war (vgl. Flores/De Bernardi, 2003: 22), folgte eine Verlangsamung der Industrialisierung in ganz Europa, die direkte Auswirkungen im Finanzsektor dieser Länder hatte. Da die Regierungen sich gezwungen sahen, das Haushaltsdefizit zu kontrollieren, investierten sie weniger in den Sozialstaat und in den öffentlichen Sektor und optierten sie für Lohnsenkungen und für Steuererhöhungen bei den Arbeiterklassen. Diese waren es, die am meisten unter der Krise litten. Die negativen Folgen dieser Politik manifestierten sich im Anstieg der Arbeitslosenzahlen, in einer starken Inflationsrate und in der Verschlechterung der Lebensbedingungen der Ärmsten.

All diese Maßnahmen und ihre sozialen Konsequenzen brachten eine Unzufriedenheit in die Gesellschaft, die ein wichtiges Fundament der 1968er-Studentenbewegung wurde. Angesichts der Unfähigkeit der Regierungen, auf die ökonomische Krise zu reagieren und grundlegende Änderungen in der parteipolitischen Ideologie vorzunehmen, wurde die Unzufriedenheit der jungen Generation zuerst im akademischen Milieu und danach auf den Straßen großer Städte lauter. Diese Generation drückte ihre Empörung über den zunehmenden sozialen Abstieg und ihren Willen zu einer radikalen Transformation der vorherrschenden Institutionen aus.

Der Protest der jungen Leute Ende der 1960er-Jahre in Westeuropa wurde in den Universitäten entzündet, wo die Studenten nach einer grundlegenden Reform der akademischen und administrativen Strukturen des Hochschulsystems verlangten.8 Unter den Fahnen des Studentenkampfes verbreiteten sich besonders die Forderungen nach einer größeren Anpassung des Curriculums an die außeruniversitäre Wirklichkeit, nach Öffnung des Lehrkörpers zu dringenden Themen der Aktualität und nach mehr Investitionen im Bildungsbereich.9 Auf der anderen Seite wurden die hohe Zahl von Studenten pro Professor, das Fehlen von Stipendien und die geringe Rate von Neueinstellungen aufgrund von Kürzungen im Bildungsetat als Zeichen des Niedergangs der europäischen Hochschulen identifiziert. Die Universitäten beruhten auf veralteten Modellen, die nicht zu den neuen Zeiten passten, die der zunehmenden Zahl von Studenten kaum eine Ausbildung mit Qualität boten und ihnen die Teilhabe an Hochschulpolitik verwehrten. In einem Manifest, das 1968 veröffentlicht wurde, beschrieb der italienische Studentenführer Guido Viale die Wirklichkeit der damaligen Universitäten (in Italien und nicht nur dort), wie sie die Studenten erlebten:

[…] per la maggioranza degli studenti […] l’Università funziona come strumento di manipolazione ideologica e politica teso ad instillare in essi uno spirito di subordinazione rispetto al potere (qualsiasi esso sia) ed a cancellare, nella struttura psichica e mentale di ciascuno di essi, la dimensione collettiva delle esigenze personali e la capacità di avere dei rapporti con il prossimo che non siano puramente di carattere competitivo. (Viale, 2008: 77)

[[…] für die Mehrheit der Studenten […] funktioniert die Universität als Instrument für ideologische und politische Manipulation und dies mit dem Ziel, ihnen einen Geist von Unterordnung unter die Macht (egal welcher Art) einzutrichtern sowie die kollektive Dimension der persönlichen Forderungen und die Fähigkeit, mit dem Nächsten Beziehungen zu führen, die nicht nur rein kompetitiv sind, aus der psychischen und mentalen Struktur jedes Studenten zu löschen.]

Geleitet durch einen reformistischen Geist setzten sich die Studenten für eine demokratische Erneuerung der Universitäten ein und forderten öffentlich eine höhere Autonomie der Hochschulen bei den Verwaltungsentscheidungen, die frei von staatlichen Einflüssen bleiben sollten.10 Durch originelle Protestformen, wie Barrikaden, Sit-ins, Fakultätsbesetzungen, Parolen und Massendemonstrationen auf den Campus der Universitäten, versuchten sie, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf die ihrer Auffassung nach fehlende Freiheit der Meinungsäußerung – sowohl innerhalb der akademischen Welt als auch in der Öffentlichkeit – zu erregen und rebellierten sie gegen die pseudodemokratische Farce, in der sie zu leben glaubten.11

Sowohl im Kampf gegen den Autoritarismus des Establishments als auch durch die Zurückweisung des standardisierten bürgerlichen Lebens – welches sie als konservativ, kleinlich, beklemmend und repressiv betrachteten (vgl. Morin et al., 2008: 14) – verlangten die jungen Leute mehr Transparenz und Befreiung der sozialen Kommunikationsmedien.12 Sie forderten auch die Herabsetzung des Wahlalters – damals durfte man erst mit 21 Jahren wählen –, so dass sie aktiv am nationalen Entscheidungsprozess teilnehmen konnten. Außerdem solidarisierten sie sich mit den Arbeitern und Angestellten bei Streiks und Demonstrationen für mehr soziale Gerechtigkeit. Dies erwähnen Martin Klimke und Joachim Scharloth in ihrer Einführung zum Sammelband 1968 in Europe: A History of Protest and Activism (2008):

Decrying the alienation and the lack of democratic participation in their societies, students from Western Europe largely blamed capitalism for the rise of technocratic and authoritarian structures. […] In this process, the universities could serve as «centers of revolutionary protest» to prevent domestic repression, connect to the working class, and transform the underlying roots of society […]. (Klimke/Scharloth, 2008: 1)

Entscheidend für die Vereinigung der europäischen jungen Leute und für die Verbreitung ihrer Proteststimmung war auch die Rolle der Studentenführer. Einer linken Ausrichtung treu, sei diese marxistisch, kommunistisch oder anarchistisch, engagierten sie sich auch in den Medien für eine Verstärkung des Aufruhrs. Rudi Dutschke, Daniel Cohn-Bendit, Mario Capanna oder Tariq Ali gaben Ende der 1960er-Jahre der Proteststimmung ein Gesicht. Und dank ihrer Stimmen und ihrer Initiativen wurden Mobilisierungsformen entwickelt und die Koordination der gemeinsamen Ideen und ihrer Verbreitung in den verschiedenen nationalen Bewegungen geleistet.13

Es sei daran erinnert, dass der allerorts vorhandene Zugang zu den verschiedensten Informationen in den Medien ̶ vor allem im Fernsehen14 – zum Interesse der Studenten für die Probleme der unterdrückten Völker und sozial Marginalisierten beitrug. So vereinten sie sich bei internationalen Protestaktionen. Der Kampf gegen Rassendiskriminierung und die Forderungen nach dem Ende der diktatorischen Regime, die selbst in europäischen Ländern wie Spanien und Portugal fortbestanden, sind Beispiele des Aufstands der jungen Menschen für eine gerechtere, freiere und egalitärere Gesellschaft. Außerdem fügten sich die Unterstützung von Befreiungsbewegungen der sogenannten Dritten Welt und die Verehrung von revolutionären Führern wie Che Guevara und Fidel Castro in den antiautoritären Kampf der jungen Generation damals ein. Dessen Ziel war es, koloniale und imperialistische Unterdrückung und Tyrannei, besonders in Afrika und Lateinamerika, zu beenden.15

Im Kontext des antiimperialistischen Engagements der jungen Generation stand kein historisches Ereignis der 1960er-Jahre so sehr im Fokus der Kritik wie der Vietnamkrieg. Beim Hinterfragen der Legitimität der amerikanischen Bombenangriffe auf Vietnam, die sowohl durch das Fernsehen seit 1965 als auch durch Fotos weltweit übertragen wurden, betrachteten die Studenten diesen Krieg als den Katalysator des Protestes gegen die weltweite US-Hegemonie (vgl. Kraushaar, 2000: 24). Arthur Marwick beschreibt es folgendermaßen:

The Vietnam War – the attempt of the Americans to bolster the corrupt regime in South Vietnam against Communist North Vietnam and the Communist Vietcong in South Vietnam – waging a brutal campaign against ordinary villagers, killing hostages, using napalm, defoliants and other poisons, and then carrying the bombing raids to North Vietnam was the biggest single cause of protests and demonstrations [in the USA and Western Europe; IG]. (Marwick, 1998: 15)

Sprechchöre und der dabei wiederholte Ausruf des Namens des vietnamesischen Widerstandsführers Ho-Chi-Minh in den Hörsälen verschiedener westeuropäischer Hochschulen (vgl. Frei, 2008: 213) sowie die Verbreitung des Mottos »Make love, not war« waren sowohl für die US-amerikanischen jungen Protestler als auch für die europäischen ein Ventil für ihre Empörung gegen den Vietnamkrieg. Tatsächlich, und gemäß der Prophezeiungen Herbert Marcuses,16 der damals als der geistige Vater der internationalen Studentenbewegung betrachtet wurde (vgl. Joffrin, 2008: 95), sollte die rebellierende europäische junge Generation in die Fußstapfen der US-amerikanischen treten und in die Haut junger Revolutionäre schlüpfen:

Diese Jungen und Mädchen teilen nicht mehr die repressiven Bedürfnisse nach den Wohltaten und nach der Sicherheit der Herrschaft – in ihnen erscheint vielleicht ein neues Bewußtsein, ein neuer Typus mit einem anderen Instinkt für die Wirklichkeit, fürs Leben und fürs Glück; sie haben die Sensibilität für eine Freiheit, die mit den in der vergreisten Gesellschaft praktizierten Freiheiten nichts zu tun hat und nichts zu tun haben will. (Marcuse, 1967: 6)

Der politische Aktivismus der 1968er-Studentenrevolte wurde von einer kulturellen Revolution begleitet, in der verschiedene Experimente im Rahmen eines interkontinentalen Phänomens gemacht wurden. Dieses wurde als »Gegenkultur« bekannt und umfasst laut Arthur Marwick die verschiedenen Formen, Aktivitäten und Verhältnisse, die von den Lebensweisen und Werten der sogenannten mainstream culture abweichen oder diese in Frage stellen (vgl. Marwick, 1998: 12).17 Die Vorliebe der jungen Menschen für Provokation und für die Zurückweisung der etablierten Sitten und Gebräuche – die sowohl in den USA als auch in Westeuropa als Quintessenz der 1968er-Gegenkultur betrachtet wurde (vgl. Tanner, 2008: 75) – war charakteristisch für die Suche nach kreativen und avantgardistischen Alternativen zu der Doktrin des traditionellen und konservativen Ethos ihrer Eltern. Indem sie der Vorstellungskraft Raum gab, fand die junge Generation durch bunte und gewagte Kleidung, durch den Schock der visuellen Künste und den subversiven Klang des Beats und des Rock’n’Rolls die Ausdrucksformen einer internationalen Protest- und Widerstandssprache. Jeans und lange Haare, die Ausstrahlung der pazifistischen Strömung flower power ebenso wie die frenetischen Rhythmen der Beatles und Rolling Stones, neben den Protestliedern von Bob Dylan und Joan Baez, sind nicht nur einige Zeichen des Verschmelzens der Popkultur mit politischen Motivationen, sondern sie trugen auch zur Kennzeichnung der jungen, rebellischen 1968er-Generation bei. Darüber hinaus kannte das Westeuropa der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre eine wachsende Hippiebewegung, in der Musikgruppen mit psychedelischer Musik und Erfahrungen mit Drogen – unter anderem mit LSD – bei den jungen Leuten beliebt waren. Damit strebten die jungen Männer und Frauen nach einer Horizonterweiterung jenseits der Welt ihrer Eltern.18

Es war in diesem Kontext intensiver Provokation und Proteste gegen konservative Sitten und Gebräuche, dass die sexuelle Revolution stattfand – eine Revolution, die im Streben der jungen Menschen nach Freiheit und Emanzipation verankert war. Was vorher ausschließlich in die Privatsphäre gehört hatte, wurde öffentlich gemacht. Teile der jungen Generation machten spontanes Ausleben von Sexualität öffentlich und machten aus Permissivität ein Schlüsselelement der Gegenkultur der 1960er-Jahre im Westen: »‹Permissiveness› […] [refers to; IG] a general sexual liberation, entailing striking changes in public and private morals and […] a new frankness, openness, and indeed honesty in personal relations and modes of expression« (Marwick, 1998: 18).

Mit einer Verknüpfung von Öffentlichem und Privatem, von Persönlichem und Politischem kam es Ende der 1960er-Jahre in Westeuropa zu einer Verbreitung des hedonistischen peace & love – einer Weltanschauung, die vom Genießen der Empfindungen und von der Hervorhebung der Emotionen und Instinkte geprägt war. Das Erleben des gegenwärtigen Augenblicks, des Hier und Jetzt, wurde zu einem Imperativ, der die freie Liebe verteidigte, d.h. das Erleben von Beziehungen ohne Beschränkungen, Verbote oder Verbindlichkeiten.19 Dem zementierten rigiden Lebensentwurf der Älteren, so sahen es die Jungen, stellten sie ihr alternatives Modell entgegen: eine tolerantere und offenere Gesellschaft angesichts der sexuellen Freiheiten des Einzelnen, frei von moralischen Vorurteilen. Unter der Schirmherrschaft von Transparenz und Öffnung der Mentalitäten wurden nicht nur Tabuthemen wie die Pille, Kondome und Abtreibung, die zum Alltagsleben vieler Menschen der jungen Generation gehörten, sondern auch Fragen bezüglich Rollenstereotypen und Familienmodellen öffentlich diskutiert.

Dank der Infragestellung soziokultureller Konventionen und einer Zurschaustellung des Intimlebens der 1968er-Generation hat der Feminismus am Ende der 1960er-Jahre an Bedeutung gewonnen. Noch mehr Widerhall bekam er in den 1970er-Jahren (vgl. Schulz, 2008: 281f.). Aktivistinnen wie die Französin Simone de Beauvoir, die Deutschen Alice Schwarzer und Helke Sander, die Italienerin Carla Lonzi und die Britin Sheila Rowbotham brachten die nationalen Feministinnengruppen zu einem gemeinsamen Anliegen zusammen. Sie orientierten sich an einem Kampf für das Engagement der Frau in der Gesellschaft, für die Gleichheit der Rechte zwischen Männern und Frauen, für gleichen Lohn in den Fabriken und im Dienstleistungssektor und für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch.20

Durch mehr oder weniger durchdachte politische Überzeugungen motiviert oder lediglich um einen Gegensatz zu einer ihrer Meinung nach ökonomisch entfremdeten Gesellschaft zu setzen, wurde die Kultur des sex, drugs & rock’n’roll zu einem verbreiteten, identifizierenden Merkmal der jungen Generation Ende der 1960er-Jahre.21 Kühn und vielfältig verstärkte die Gegenkultur den Aufruf zum Widerstand der 1968er-Generation und präsentierte sich damit als moderne Alternative zum reaktionären und traditionsverhafteten Establishment im Europa der Nachkriegszeit:

Sovversione e protesta hanno coinvolto la sfera pubblica e quella privata, la dimensione collettiva e lo spazio individuale. Politica e musica, droga e religione, arte e sesso hanno formato per il mondo giovanile un intreccio che ha cambiato in profondo la propria vita: era inevitabile che la baby boom generation riversasse quel mutamento sull’intera società, e cercasse di farlo rapidamente e dovunque. (Flores/De Bernardi, 2003: 115; Hervorhebung im Original)

[Subversion und Protest erreichten die öffentliche und private Sphäre, die kollektive Dimension und den persönlichen Raum. Politik und Musik, Drogen und Religion, Kunst und Sexualität verknüpften sich so auf eine Weise in der Welt der jungen Menschen, die das Leben selbst so tief veränderte: Es war unvermeidlich, dass die Baby-Boomer-Generation diese Veränderungen in die ganze Gesellschaft trug und dies schnell und überall.]

Wie die Historiker Marcello Flores und Alberto De Bernardi im letzten Zitat aufzeigen, kannte der revolutionäre Charakter der jungen Europäer keine Grenzen. So sehr die Art Protest auszudrücken auch variierte, sie beruhte doch immer auf derselben Utopie von Veränderung. Es war diese Utopie, die die Identität der jungen Deutschen, Franzosen, Italiener, Spanier und Portugiesen am Ende der 1960er-Jahre definierte.

Nach der Präsentation der allgemeinen historischen, politischen und soziokulturellen Umstände und Bedingungen des generation gap Westeuropas soll jetzt eine detaillierte Darbietung des »extratextuellen Kontext[es; IG]« (Danneberg, 2007: 334) folgen. Dieser Kontext liegt den Darstellungen des studentischen Aufruhrs und des Generationenkonfliktes in den einzelnen Prosawerken zugrunde und stellt den Hintergrund ihrer Narrative dar.

1.2Die Bundesrepublik: die Herausbildung einer Alternativkultur

Am Anfang der 1960er-Jahre war die Bundesrepublik eine junge Republik, die erst wenig älter als eine Dekade war. Sie erlebte eine Realität, die durch eine solide Regierung und durch eine ungehemmte Kraft der Industrie geregelt wurde, angetrieben vom Wirtschaftswunder der 1950er-Jahre. Dieses Phänomen großen wirtschaftlichen Wachstums, das in den Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft fundiert war (vgl. Ambrosius, 1989: 56f.), hatte direkte soziale Auswirkungen. Sie bestanden nicht nur in einem allgemeinen finanziellen Wohlstand, sondern auch im Wandel der Sitten und des Lebensstils vieler deutscher Familien, die die Gelegenheit hatten, die Annehmlichkeiten der Konsumgesellschaft zu erleben und die bürgerlichen Konzepte der »Kultur des Scheins« anzunehmen.1

Mitte der 1960er-Jahre begann jedoch der wirtschaftliche Optimismus erste Zeichen eines Abflauens zu zeigen. Die Prognosen eines Einbruchs des ökonomischen und finanziellen Booms – und dessen unheilvollen Konsequenzen im sozialen Bereich – führten zu einer Infragestellung sowohl der kapitalistischen Grundfesten der Überflussgesellschaft als auch der politischen Realität des Landes. Rolf Uesseler beschreibt diesen historischen Wendepunkt:

Die Bundesrepublik und die meisten westlichen Länder befanden sich Mitte der 60er Jahre in einer Situation, in der auf einmal – aus scheinbar unerfindlichen Gründen – all das nicht mehr funktionieren wollte, was bis dahin so reibungslos geklappt hatte: steigender Wohlstand, Vollbeschäftigung, Abwesenheit von Wirtschaftskrisen, allseits vorhandener moralischer Grundkonsens und somit allgemeine Zufriedenheit und ein verbindendes Wir-Gefühl. (Uesseler, 1998: 15)

Seit dem Anfang der Ära Adenauer im Jahre 1949 war die Christlich Demokratische Union (CDU) – entweder allein oder in Koalitionen – an der Macht und seitdem bestimmte sie die Politik der Bundesrepublik der 1950er- und 1960er-Jahre. Mit dem Verfall des wirtschaftlichen Aufschwungs und dem Beginn der »ersten wirklichen Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit« (Ambrosius, 1989: 63) im Jahre 1966 wurde diese Mitterechtspartei zur Zielscheibe der Kritik. Diese Kritik kam hauptsächlich von Studenten, die entschlossen waren, einen Protest, den Knut Hickethier als »Protest gegen den CDU-Staat« bezeichnete, in Angriff zu nehmen: »[ein Staat; IG], den man nicht nur als vermufft und angestaubt, sondern auch als zu wenig offen, zu wenig weltläufig und zu wenig modern fand« (Hickethier, 2003: 19). Die Proteststimmung wuchs Ende 1966 mit der Entstehung einer neuen Koalitionsregierung aus den beiden größten Parteien der Bundesrepublik: die Christlich Demokratische Union (CDU) und die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD). Diese »Große Koalition«, als die sie damals bekannt wurde, wurde zu einem Symbol der Verständigung zwischen zwei politischen Parteien, die ursprünglich unterschiedliche Ideologien und Perspektiven für die Regierungsarbeit hatten. Mit ihrer Bildung wurde jedoch zugleich auch ein Problem geschaffen, denn dadurch fehlte im Parlament gegenüber der absoluten Mehrheit eine tatsächliche Opposition. Dieses einheitliche politische Bild rief auch außerhalb des Parlaments Oppositionsbewegungen hervor. Die bedeutendste war die Außerparlamentarische Opposition (APO), eine Bürger- und Studenteninitiative, die zusammen mit dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) in den Universitäten die Avantgarde der soziopolitischen Alternative bildete.2

Es war in diesem aufgeladenen Kontext, dass im Sommer 1967 anlässlich des Schahbesuchs ein Ereignis stattfand, das den Auslöser für die deutsche Studentenbewegung bildete: der Tod des Studenten Benno Ohnesorg. Ohne Vorwarnung wurde Ohnesorg am 2. Juni von der Polizei erschossen, als er an einer vom SDS organisierten Demonstration persischer und deutscher Studenten teilnahm.3 Seine Tötung führte zu einer beispiellosen Protestwelle (vgl. Klimke, 2008: 97): Studenten, Intellektuelle und Kritiker des Establishments drückten ihre Missbilligung der Brutalität des Polizeiansatzes aus und nahmen an großen Demonstrationen teil, die 1967 und 1968 in vielen Universitätsstädten der Bundesrepublik stattfanden.