2030 - Mauro Guillén - E-Book
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2030 E-Book

Mauro Guillén

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Beschreibung

 Die Zukunft ist näher als wir denken. Und sie kann sehr sicher vorausgesagt werden: Dieses Buch beschreibt, wie wir 2030 leben und arbeiten werden.    Mehr Rentner als Kindergartenkinder, eine größere Mittelklasse in Subsahara-Afrika und Asien als in Europa und den USA, Klimawandel und  KI, Kryptowährungen als Hauptzahlungsmittel … Eins ist klar: Unser Leben wird 2030 ganz anders aussehen. Die globalen Machtzentren werden sich ebenso verschoben haben wie unsere eigene Gesellschaft eine andere sein wird. So wird es aller Voraussicht nach 2030 erstmals mehr vermögende Frauen als Männer geben. Leicht verständlich und zugleich wissenschaftlich fundiert erzählt der renommierte Trendforscher Mauro Guillén, was auf uns zukommt – und wie wir uns darauf einstellen können.    

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Seitenzahl: 495

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Mauro F. Guillén

2030

Die Welt von morgen

Aus dem Englischen von Stephan Pauli

Hoffmann und Campe

Einige Zahlen und Fakten

Geburtsort der nächsten industriellen Revolution: Subsahara-Afrika

Grund: zwei Millionen Quadratkilometer fruchtbares, aber noch nicht kultiviertes Agrarland

Die Größe von Westeuropa: zwei Millionen Quadratkilometer

 

Anteil von Frauen am Vermögen der Erde im Jahr 2000: 15 Prozent

Anteil von Frauen am Vermögen der Erde im Jahr 2030: 55 Prozent

Wären die Lehman Brothers die Lehman Sisters gewesen: Die globale Finanzkrise hätte vermieden werden können

 

Anzahl der Menschen, die 2017 hungern mussten: 821 Millionen

Anzahl der Menschen, die 2030 hungern werden: 200 Millionen

Anzahl der Menschen, die 2017 adipös waren: 650 Millionen

Anzahl der Menschen, die 2030 adipös sein werden: 1,1 Milliarden

Prognostizierter Anteil der US-Amerikaner, die 2030 adipös sein werden: 50 Prozent

 

Anteil der Erdoberfläche, die 2030 von Städten bedeckt sein wird: 1,1 Prozent

Anteil der Weltbevölkerung, die 2030 in Städten leben wird: 60 Prozent

Anteil der Städte am weltweiten CO2-Ausstoß im Jahr 2030: 87 Prozent

Anteil der Stadtbewohner weltweit, die 2030 von steigenden Meeresspiegeln bedroht sein werden: 80 Prozent

 

Der größte mittelständische Verbrauchermarkt heute: Vereinigte Staaten und Westeuropa

Der größte mittelständische Verbrauchermarkt 2030: China

Anzahl der Menschen, die 2030 in die Mittelschicht aufsteigen: 1 Milliarde

Anzahl der Menschen, die derzeit in den Vereinigten Staaten der Mittelschicht angehören: 223 Millionen

Anzahl der Menschen, die 2030 in den Vereinigten Staaten der Mittelschicht angehören werden: 209 Millionen

Einleitung

Die Uhr tickt

»Die Leute sehen gewöhnlich das, was sie sehen wollen, und hören das, was sie hören wollen.«

Harper Lee, Wer die Nachtigall stört

Wir schreiben das Jahr 2030.

In Westeuropa ist es von Paris bis Berlin ungewöhnlich heiß. Das Ende der Rekordtemperaturen dieses Sommers ist nicht in Sicht, und die internationale Presse gibt sich zunehmend alarmiert. Rehema ist gerade in ihrer Heimatstadt Nairobi gelandet. Sie kommt aus London, wo sie zwei Wochen bei entfernten Verwandten verbracht hat. Da sie Großbritannien durch die Augen von Einwanderern sehen konnte, erhielt sie einen faszinierenden Einblick in die Vielfalt der Welt, die sie dort umgab. Während sie durch den Flughafen läuft, sinniert sie darüber, wie sehr sich ihre Heimat von jenem Land unterscheidet, das vor noch nicht einmal einem Jahrhundert zu den unangefochtenen Kolonialmächten auf dem Kontinent zählte. Sie war schockiert, als sie sah, dass die Briten immer noch Bargeld benutzen. In Kenia ist das Bezahlen mit Smartphones lange schon die Regel, das Smartphone hat die Brieftasche ersetzt. Auf der Heimfahrt scherzt sie mit dem Taxifahrer über die seltsamen Reaktionen der Briten, wenn sie davon sprach, dass sie seit ihrem sechsten Lebensjahr zusammen mit ihren Nachbarskindern eine Online-Schule »besucht« hatte.

Tausende Kilometer entfernt wartet Angel im John-F.-Kennedy-Flughafen von New York auf ihre Zollabfertigung. In zwei Wochen will sie an der New York University einen zweijährigen naturwissenschaftlichen Magisterstudiengang beginnen. Während sie wartet, liest sie die aktuelle New York Times, die mit einem Artikel darüber aufmacht, dass in den Vereinigten Staaten zum ersten Mal in der Geschichte mehr Großeltern als Enkelkinder leben – eine Wirklichkeit, die für Angel in starkem Gegensatz zur Situation zu Hause auf den Philippinen steht. Wie sich herausstellt, vermieten Zehntausende ältere amerikanische Bürger, die sich im Alltag von Robotern unterstützen lassen, einzelne Zimmer in ihren Eigenheimen, um über die Runden zu kommen – vor allem seit die Renten ihnen keine finanzielle Sicherheit mehr garantieren, wie dies so viele Jahre selbstverständlich war. Angel blättert zu einem ziemlich reaktionären Gastkommentar, der sich darüber beklagt, dass amerikanische Frauen mittlerweile einen höheren Anteil am Gesamtvermögen im Land besitzen als Männer, ein Trend, den der Autor des Artikels mit Blick auf die Zukunft der US-Wirtschaft beunruhigend findet. Angel hat viel Zeit. Sie kann fast die ganze Zeitung lesen, da die Schlange für Ausländer lang ist und sich nur langsam bewegt. Gleichzeitig werden US-Bürger und Menschen mit Aufenthaltserlaubnis zügig durch die Kontrollen geschleust. Angel schnappt das Gespräch zweier Männer auf, die sich darüber unterhalten, wie Amerikaner sich bei der Einreise eine ausgeklügelte Blockchain-Technologie zunutze machen. Sie erlaubt es ihnen, die Umsatzsteuer auf Waren, die im Ausland erworben wurden, geltend zu machen und gleichzeitig ein selbstfahrendes Auto zu bestellen, das kurz nach der Gepäckaufnahme bereitsteht.

***

2020: »China wird in allem die Nummer eins sein.«

Diesen Satz hört man heute oft. Ein weiterer lautet, dass die Vereinigten Staaten und China in absehbarer Zukunft um die globale Vorherrschaft streiten werden. In beiden Behauptungen steckt jeweils ein Körnchen Wahrheit, doch sie zeigen kaum das ganze Bild. Im Jahr 2014 verblüffte Indien die Welt, als es erfolgreich eine Raumsonde in die Umlaufbahn des Mars brachte. Dieses Kunststück war noch keinem Land im ersten Anlauf gelungen. Seit Beginn des Weltraumzeitalters war weniger als die Hälfte aller von den Vereinigten Staaten, Russland und Europa gestarteten Missionen erfolgreich, was Indiens Leistung wirklich herausragend erscheinen lässt. Noch dazu erzielte die indische Weltraumforschung diesen Erfolg mit einem Budget von nur 74 Millionen US-Dollar.

Um einige Vergleichszahlen zu bemühen: Eine einzige Space-Shuttle-Mission verbrennt gut und gerne 450 Millionen US-Dollar. Die Produktion des Films Interstellar verschlang 165 Millionen US-Dollar, und immerhin 108 Millionen US-Dollar waren nötig, um Der Marsianer in ein Kino ganz in Ihrer Nähe zu bringen.

Die Inder bewiesen, dass auch sie über The Right Stuff verfügen, um mit einem Buchtitel von Tom Wolfe zu sprechen. Sie zeigten, dass sie eine technologische Macht von Weltformat sind. Die Marsmission war kein Glückstreffer. Tatsächlich war es bereits das zweite Mal, dass Indien an den etablierten Supermächten der Welt vorbeigeprescht war. 2009 erbrachte seine erste Mondmission erstmalig den Beweis, dass es auf dem Erdtrabanten Wasser gibt, »offensichtlich konzentriert auf die Pole und womöglich von Solarwinden gebildet«, wie der Guardian berichtete. Die NASA benötigte zehn Jahre, um Indiens Ergebnisse unabhängig zu bestätigen.

Die meisten von uns wuchsen in einer Welt auf, in der die Erforschung des Kosmos ein kostspieliges Unterfangen war, das von Raketenwissenschaftlern entworfen, von den beiden Supermächten, den USA und der UdSSR, mit enormem Aufwand finanziert und von heroischen Astronauten sowie fähigen Spezialisten durchgeführt wurde. Die vergleichsweise komplexe und kostspielige Natur von Raumfahrtmissionen wurde als gegeben hingenommen (wie auch, welche Länder die notwendigen Kapazitäten hatten). Doch diese Wirklichkeit ist heute Geschichte.

Es war einmal eine Zeit, in der die Welt nicht nur fein säuberlich in wohlhabende und rückständige Volkswirtschaften aufgeteilt war, sondern in der es auch viele Kinder gab, in der die Arbeiter die Rentner zahlenmäßig weit übertrafen und Menschen danach strebten, Häuser und Autos zu besitzen. Unternehmen mussten sich nicht mit den Märkten jenseits von Europa oder den Vereinigten Staaten befassen, um erfolgreich zu sein. Gedrucktes Geld war das gesetzliche Zahlungsmittel für alle Schulden, ob öffentlich oder privat. In der Schule hatten wir gelernt, dass es gewisse Spielregeln zu beachten galt. Wir wuchsen in der Annahme auf, dass sich die Regeln dieses Spiels nicht ändern würden, und in diesem Bewusstsein traten wir unsere ersten Jobs an, gründeten Familien, sahen unsere Kinder das Haus verlassen und gingen in Rente.

Diese uns vertraute Welt verschwindet zusehends. Wir sehen uns mit einer verwirrenden neuen Wirklichkeit konfrontiert. Schon bald wird es in den meisten Ländern mehr Großeltern als Enkelkinder geben; in ihrer Summe werden Mittelschichtmärkte in Asien jene in den Vereinigten Staaten und Europa zusammen übertreffen; Frauen werden mehr Vermögen besitzen als Männer; und wir werden feststellen, dass es mehr Industrieroboter als Arbeiter geben wird, mehr Computer als menschliche Gehirne, mehr Sensoren als menschliche Augen und mehr Währungen als Länder.

Das wird die Welt von 2030 sein.

Ich habe in den letzten Jahren darüber geforscht, wie die Welt in einem Jahrzehnt aussehen wird. Als Professor der Wharton School sorge ich mich nicht nur um den künftigen Zustand der Wirtschaft, sondern auch darum, wie Arbeiter und Konsumenten von der Lawine an Veränderungen, die auf uns zurollt, betroffen sein könnten. Ich habe viele Vorträge zu den in diesem Buch vorkommenden Themen gehalten – vor leitenden Angestellten, politischen Entscheidungsträgern und Führungskräften, aber auch vor Studenten und Schülern. Ich habe zudem zu Zehntausenden von Menschen über Social-Media-Kanäle und in Online-Kursen gesprochen. Und immer haben die Menschen mit einer Mischung aus Verwirrung und Angst auf die Zukunftsaussichten reagiert, die ich vor ihnen ausbreitete. Dieses Buch bietet einen Fahrplan, mit dem man gut durch die vor uns liegenden Turbulenzen kommt.

Niemand weiß mit Sicherheit, was die Zukunft bringen wird. Falls Sie es wissen, lassen Sie es mich wissen – wir werden zusammen richtig viel Geld verdienen. Doch wenn Vorhersagen auch nie hundertprozentig exakt sein können, so können wir doch eine Reihe von relativ sicheren Annahmen darüber aufstellen, was im kommenden Jahrzehnt passieren wird. So ist zum Beispiel die Mehrheit der Menschen, die von den Vorhersagen in diesem Buch betroffen sind, bereits geboren. Wir können ganz allgemein beschreiben, was wir von ihnen als Konsumenten in Abhängigkeit von ihrem voraussichtlichen Bildungsabschluss oder den gegenwärtigen Mustern ihrer Social-Media-Aktivitäten erwarten. Wir können auch mit angemessener Genauigkeit berechnen, wie viele Menschen achtzig oder neunzig Jahre alt werden. Und wir können vielleicht sogar mit ausreichender Überzeugung vorhersagen, dass ein bestimmter Prozentsatz an Senioren eine Pflegekraft benötigen wird – ob dies ein Mensch oder ein Roboter sein wird, sei dahingestellt. Was Letzteren anbelangt, so können Sie davon ausgehen, dass er verschiedene Sprachen mit mehreren Akzenten sprechen wird, dass er keine Vorurteile hegen, keinen Urlaub nehmen und seine Patienten weder finanziell noch anderweitig ausnutzen wird.

Die Uhr tickt. Das Jahr 2030 ist nicht irgendein ferner Punkt in einer unvorhersehbaren Zukunft. Es wartet gleich um die Ecke, und wir müssen uns sowohl auf die Möglichkeiten, die es bietet, als auch auf die Herausforderungen, vor die es uns stellt, vorbereiten. Um es in einem Satz zusammenzufassen: Die Welt, wie wir sie heute kennen, wird bis 2030 verschwunden sein.

Für viele von uns ist diese Entwicklung nicht nur verwirrend, sondern zutiefst beunruhigend. Bedeutet sie unseren Niedergang? Oder ist sie der Anfang einer neuen Blütezeit? Dieses Buch will dabei helfen, einen Überblick zu gewinnen über die Fülle an Variablen, die für diese Entwicklung verantwortlich sind. Grundsätzlich gilt: Jedes Ende markiert einen Neuanfang und steckt voller Möglichkeiten zum Besseren. Wir können daher optimistisch in die Zukunft blicken – wenn wir lernen, die Trends zu antizipieren, uns zu engagieren, statt uns abzuwenden, wenn wir es wagen, wirksame Entscheidungen für uns, unsere Kinder, Lebenspartner, künftigen Familien, Firmen und so weiter rechtzeitig zu fällen. Denn die Veränderungen betreffen uns alle.

***

Es ist hilfreich, sich epochale Transformationen als langsame Prozesse vorzustellen, bei denen jede winzige Veränderung uns so lange einem Paradigmenwechsel näherbringt, bis plötzlich alles ganz anders ist. Wir vergessen gerne, dass diese kleinen Veränderungen kumulativ sind. Stellen Sie sich vor, wie ein Gefäß sich tropfenweise füllt und das tropf-tropf-tropf ein Gefühl davon vermittelt, wie die Zeit vergeht. Wenn schließlich mit einem Mal das Wasser überfließt, fühlen wir uns überrumpelt.

Man bedenke, dass um 2030 Südasien (Indien, Bangladesch, Pakistan, Bhutan u.a.) und Subsahara-Afrika um den Titel der bevölkerungsreichsten Region der Welt wetteifern werden. In den letzten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, als Ostasien (China, Südkorea, Japan u.a.) diese Auszeichnung für sich beanspruchte, sah das noch ganz anders aus. Es stimmt, dass mit der Zeit in Ländern wie Kenia und Nigeria weniger Kinder geboren werden, doch kommen sie dort im Vergleich zu anderen Erdteilen immer noch in weitaus größerer Zahl zur Welt. Gleichzeitig erhöht sich die Lebenserwartung der Menschen in diesen Regionen beträchtlich.

Man könnte ins Feld führen, dass die reinen Bevölkerungszahlen nicht viel besagen. Aber multiplizieren wir diese zusätzlichen Menschen einfach mit dem Geld, das diese Menschen in den kommenden Jahren vielleicht in ihren Taschen haben werden, dann zeigt sich, dass um 2030 herum asiatische Märkte – selbst wenn man Japan nicht mitrechnet – so groß sein werden, dass das gesamte Gravitationszentrum des globalen Konsums sich nach Osten verlagern wird. Unternehmen werden also keine andere Wahl haben, als sich an den Markttrends in diesem Teil der Welt zu orientieren. Dabei werden die meisten neuen Produkte und Dienstleistungen die Vorlieben asiatischer Konsumenten widerspiegeln.

Halten wir einen Augenblick inne und denken wir darüber nach. Was wäre, wenn wir diesen Trend an ein paar weitere, miteinander in Verbindung stehende Entwicklungen koppeln. Weniger Kinder in den meisten Teilen der Welt bedeuten, dass wir dort kontinuierlich auf eine schnell alternde Bevölkerung zusteuern. Ein Großteil dieses demographischen Wandels wird von der Tatsache befördert, dass immer mehr Frauen einen Schulabschluss machen, einer geregelten Arbeit (und nicht nur einem einfachen Job) nachgehen – und weniger Kinder bekommen. Es wird schon bald mehr Millionärinnen als Millionäre geben. Zudem wird der Wohlstand urbaner werden: Die Bevölkerung von Städten wächst jede Woche um 1,5 Millionen Bewohner. Obwohl Städte nur 1 Prozent der weltweiten Landfläche bedecken, leben in ihnen 55 Prozent der Weltbevölkerung, die 80 Prozent des weltweiten Energieverbrauchs (und des CO2-Ausstoßes) verursachen. Deshalb werden Städte an vorderster Front gegen den Klimawandel kämpfen.

Gleichzeitig haben die verschiedenen Generationen sehr verschiedene Sehnsüchte und Erwartungen. Als Hauptvertreter der sogenannten »Sharing Economy« gelten die »Millennials«, also die um die Jahrtausendwende Geborenen, die dem Gedanken von Besitz und Eigentum kritisch gegenüberstehen. Doch die Aufmerksamkeit, die ihnen gewidmet wird, scheint mir unangemessen. Innerhalb eines Jahrzehnts werden die über Sechzigjährigen die zahlenmäßig größte Generation darstellen. Sie besitzen heute schon 80 Prozent des Vermögens in den Vereinigten Staaten. Das wird zum Aufstieg eines »Marktes der Grauhaarigen« führen – der größten Verbrauchergruppe überhaupt. Große wie kleine Unternehmen sollten ihre Aufmerksamkeit auf ältere Bürger richten, wollen sie in den kommenden Jahren nicht an Relevanz verlieren.

Sehen wir uns Abbildung 1 an. Sie zeigt einen Prozess zusammenhängender kleiner Veränderungen. Isoliert betrachtet wird keine von ihnen zu einem Wandel von wahrhaft globalen Ausmaßen führen. Wir werden wahrscheinlich mit jeder einzelnen dieser Veränderungen gut leben können, solange wir sie von den anderen getrennt halten. Menschen verstehen es hervorragend, Dinge mental aufzuspalten. Dies ist ein unbewusster Abwehrmechanismus. Wir benutzen ihn, um kognitive Dissonanzen – das Unwohlsein und die Ängste, die durch sich widerstrebende Trends, Ereignisse, Wahrnehmungen oder Gefühle verursacht werden – zu vermeiden. Die mentale Spaltung hat vor allem den Zweck, die Dinge voneinander getrennt zu halten, damit wir durch ihr Zusammenspiel nicht überfordert werden.

Eine alternde Bevölkerung wird sowohl in Amerika als auch in Westeuropa zum Normalfall. Gleichzeitig treiben jüngere Generationen den Aufstieg der Mittelschicht in den Schwellenländern voran. Diese unterscheidet sich in ihrer Art radikal von allen Konsumentengruppen, wie wir sie bislang gekannt haben. So ist sie zum Beispiel viel mehr auf den sozialen Aufstieg bedacht. Breitet diese Mittelschicht sich aus, häufen immer mehr Frauen Wohlstand an. Männer und Frauen nehmen urbane Lebensweisen an und lösen in Städten auf der ganzen Welt die größten Migrationsströme aus, die die Welt je gesehen hat.

In diesen Städten wird es gleichzeitig immer mehr Erfinder und Unternehmer geben, die an neuen Technologien arbeiten, die traditionelle Technologien »disruptiv« vom Markt verdrängen. Ganz neue Möglichkeiten des Wohnens und Arbeitens, des Produzierens und Konsumierens werden sich eröffnen. Woraus sich wiederum alternative Bezahlkonzepte entwickeln, die dezentraler verwaltet werden und einfacher zu verwenden sind. Einige dieser Trends sind bereits heute zu beobachten, doch werden sie erst um 2030 voll durchschlagen. (Sie alle beschleunigen und verstärken sich jedoch, wenn ein unvorhersehbares Ereignis wie die Covid-19-Pandemie eintritt, auf die ich im Nachwort genauer eingehen werde.)

Nun erhalten wir aus dieser linearen Darstellung der Veränderungen, die um uns herum stattfinden, zwar eine ordentliche und praktische Kapitelreihenfolge für dieses Buch – doch so funktioniert die Welt in der Realität natürlich nicht.

Von Anthropologen und Soziologen wissen wir, dass wir die Komplexität der Welt immer und zwangsläufig reduzieren, indem wir sie auf einige wenige Kategorien herunterbrechen. Nur so können wir eine Übersicht gewinnen, um Entscheidungen zu fällen und Strategien zu entwickeln, die letztlich unser Überleben sichern.

Auch Firmen und Organisationen denken so. Sie sortieren die Überfülle an Informationen in eine übersichtliche Anzahl von Kategorien. Sie stecken Kunden in Schubladen wie »Innovatoren«, »Early Adopters« (»Frühe Anwender«) und »Laggards« (»Nachzügler«). Sie klassifizieren Produkte nach ihrem gegenwärtigen Marktanteil und potenziellem Wachstum als »Stars«, »Cash Cows«, »Dogs« oder »Question Marks« (»Fragezeichen«). Und sie betrachten ihre Angestellten als »Team-Player« oder »Karrieristen«, beurteilen sie nach ihren Einstellungen, ihrem Verhalten und ihrem Potential. Doch wer immer und ausschließlich in den ewig gleichen Kategorien denkt, ist blind für neue Möglichkeiten.

Um ein Beispiel zu nennen: Neben der Glühbirne, dem Telefon und dem Automobil war die Erfindung des »Ruhestands« eine der großen Errungenschaften des späten neunzehnten Jahrhunderts – ein Lebensabschnitt, in dem wir uns unseren Hobbys und unserer Familie widmen und die Gelegenheit haben zu ernten, was wir im Leben gesät haben. Aus dieser Epoche stammt unsere Vorstellung vom Leben als einer Folge von unterschiedlichen Stadien – Kindheit, Arbeit, Ruhestand –, die wir hoffentlich alle zu ihrer Zeit genießen werden.

Mit dem Geburtenrückgang und dem neuen Kräftespiel der Generationen muss unsere künftige Gesellschaft sich mit dieser traditionellen Vorstellung neu auseinandersetzen. Auch Senioren sind Konsumenten mit unterschiedlichen Lebensstilen, und sie können neue Technologien mindestens genauso schnell annehmen wie Millennials. Denken wir an die virtuelle Realität, an künstliche Intelligenz oder Roboter und wie diese Technologien unseren Lebensabend revolutionieren werden. Womöglich müssen wir die traditionelle Vorstellung von den Lebensstadien ganz aufgeben. Anders als in der Vergangenheit kann es sein, dass wir vor der Rente noch mehrmals zurück in die Schule gehen und neue Fertigkeiten erwerben müssen. Man denke an die Schlagzeile, mit der 2019 die New York Times aufmachte: »Wegen Mangel an Kindern – Südkoreanische Schule nimmt analphabetische Großmütter auf«.

Ich empfehle, dass wir ein lineares, zuweilen »vertikal« genanntes Denken wie in Abbildung 1 vermeiden. Stattdessen sollten wir Veränderungen »lateral« betrachten. Der Erfinder und Berater Edward de Bono entwarf das Konzept des lateralen Denkens, dem es nicht darum geht, »mit bereits existierenden Elementen zu spielen, sondern das versucht, ebendiese Elemente zu verändern«. Im Wesentlichen geht es darum, Fragen in einen neuen Zusammenhang zu stellen und Probleme »seitwärts« anzugehen. Durchbrüche kommen nicht zustande, indem man sich innerhalb der etablierten Paradigmen bewegt, sondern indem man vorgefasste Meinungen aufgibt und Regeln ignoriert – kurz: wenn man kreativ wird. Pablo Picasso und Georges Braque erfanden den Kubismus, indem sie in ihrer Malerei die allgemein anerkannten Regeln der Perspektive und der Anatomie über Bord warfen. Le Corbusier hob die moderne Architektur erst aus der Taufe, als er Mauern wegließ, um riesige offene Räume zu schaffen, Fenster über die volle Länge einer Fassade laufen ließ und Stahl, Glas und Beton in ihrer eigenen Eleganz zur Schau stellte, statt sie hinter Fassaden zu verstecken. »Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, dass man nach neuen Landschaften sucht«, schrieb Marcel Proust, »sondern dass man mit neuen Augen sieht.«

Tatsächlich kann laterales Denken durch eine solche »periphere Wahrnehmung« noch erweitert werden – ein Konzept, das meine Kollegen an der Wharton School, George Day und Paul Schoemaker, entwickelt haben. Wie das menschliche Sichtvermögen können auch Firmen und andere Organisationsformen nicht effektiv sein, solange sie die schwächeren Signale aus der Peripherie ihres unmittelbaren Zentrums weder bemerken noch interpretieren.

So machte etwa das 1888 gegründete Unternehmen Kodak im zwanzigsten Jahrhundert mit dem Verkauf von Filmmaterial riesige Gewinne. Zu Beginn der 1990er Jahre erkannten seine Ingenieure die ungeheuren Möglichkeiten der Digitalfotografie, doch die Führungsebene des Unternehmens dachte kurzfristiger und glaubte, die Menschen würden auch in Zukunft gedruckte Bilder bevorzugen. Das Ergebnis? Im Jahr 2012 meldete Kodak Konkurs an. Die Firma fiel einem Phänomen zum Opfer, das Richter Taylor in Harper Lees Roman Wer die Nachtigall stört mit den Worten auf den Punkt bringt: »Die Leute sehen gewöhnlich das, was sie sehen wollen, und hören das, was sie hören wollen.« Für das Unerwartete, das Ungewöhnliche sind sie blind.

In Abbildung 2 sehen wir eine alternative graphische Darstellung dessen, was auf der Welt vor sich geht:

Die breiten Pfeile, die im Uhrzeigersinn verlaufen, entsprechen der linearen Darstellung der miteinander verbundenen Trends, repräsentieren also im Wesentlichen das in Abbildung 1 Dargestellte, nur in Kreisform. Es wäre ein Fehler, wenn man sich nur auf diese linearen Verbindungen konzentrieren würde. Denn jeder Trend in den acht »Blasen« beeinflusst die anderen sieben. Ich werde jede dieser lateralen Verbindungen in den folgenden Kapiteln untersuchen und zeigen, wie diese Trends auf der ganzen Welt im Entstehen begriffen sind – und vor allem, wie sie sich bis 2030 vereinen werden.

Hier ein praktisches Beispiel von lateralem Denken: Das Online-Portal Airbnb steht im Wettstreit mit Hotels. Gleichzeitig versucht es, den Banken die Kunden wegzuschnappen. Wie das? Viele Rentner merken irgendwann, dass ihre Ersparnisse für einen sorgenfreien Ruhestand nicht ausreichen werden. Viele von ihnen besitzen allerdings eine wichtige Wertanlage: ihr Eigenheim. Nun gibt es verschiedene Möglichkeiten, das eigene Haus zu Geld zu machen, ohne es zu verkaufen. Der traditionelle Ansatz wäre, eine Hypothek aufzunehmen, was allerdings bedeutet, dass man künftig Schulden hat und zu monatlichen Zahlungen verpflichtet ist. Eine weitere Möglichkeit wäre es, gegen eine Leibrente eine Umkehrhypothek aufzunehmen, doch dann würden die Kinder das Elternhaus nicht mehr erben können.

Hier kommt Airbnb ins Spiel. Eltern erwachsener Kinder können leerstehende Zimmer an Reisende vermieten, die sich für eine bestimmte Zeit in der Region aufhalten. Dieses Arrangement ist für beide Seiten – Eltern wie Kinder – von Vorteil. Die Eltern könnten öfter ihre Kinder besuchen oder auf Reisen gehen und in dieser Zeit das ganze Haus an Urlauber vermieten. So oder so verdienen sie Geld und können ihr Haus behalten. Airbnb wäre nicht so erfolgreich, wenn das Unternehmen nicht auf mehrere, sich miteinander verbindende Trends reagieren würde: die abnehmende Geburtenrate, die längere Lebenserwartung, die unsichere Rente, den weltweiten Gebrauch von Smartphones und Apps sowie das wachsende Interesse daran zu teilen, statt zu besitzen. Wir werden alle diese miteinander verwobenen Trends kennenlernen und sehen, wie sie sich bis 2030 entwickeln.

Die Welt von morgen wird eine Welt neuer Möglichkeiten, aber auch neuer, unbekannter Gefahren sein, die uns alle, Individuen, Firmen und Organisationen, vor große Herausforderungen stellt. Im Schlusskapitel werde ich zeigen, dass wir diese Herausforderungen ganz anders angehen müssen, als wir dies in der Vergangenheit getan haben, und ich werde Ihnen, den Leserinnen und Lesern, ganz konkrete Tipps und Ratschläge an die Hand geben, wie Sie mit lateralem Denken die neuen Trends für sich nutzen können.

Und denken Sie daran, dies alles wird in unserer Lebenszeit stattfinden. Die neue Welt wartet bereits an der nächsten Ecke.

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Während wir noch sehr unter den Auswirkungen einer Jahrhundert-Epidemie leiden, zeichnet sich heute bereits ab, dass mit Covid-19 eine Epoche des technologischen Wandels begonnen hat. Selbsternannte Experten verkünden darüber hinaus den Niedergang des Einzelhandels, das Ende des Personennahverkehrs und die Umkehrung der Globalisierung. Zwar glaube auch ich, dass die Narben dieser Krise noch lange spürbar sein werden, doch ist es wichtig, nicht zu übertreiben und mit den Prognosen vorsichtig zu sein, solange wir nicht alle Fakten beisammenhaben. E-Commerce, Homeoffice und antiglobale Tendenzen wie etwa Protektionismus und Ausländerfeindlichkeit sind derzeit in der Tat vorherrschende Trends, doch führen sie nicht unbedingt in jene Richtung, die diese Experten vorhersagen.

Anders als frühere Pandemien wird diese vorrangig bereits existierende Trends beschleunigen, sei es die Übernahme technologischer Neuerungen, die Alterung der Bevölkerung, den Aufstieg von Frauen in bedeutende gesellschaftliche Positionen oder die Transformation von Schwellenländern in die größten Verbrauchermärkte der Welt. Deutschland wird von der Beschleunigung jener Trends, die ich in diesem Buch im Detail beschreibe, sehr wahrscheinlich eher profitieren als darunter leiden. Seine Wirtschaft ist sowohl im europäischen als auch im globalen Kontext konkurrenzfähig, und das Land besitzt eine hochqualifizierte Bevölkerung, ein wichtiger Faktor in der Transformation der Wissensökonomie. Doch fehlt es nicht an Herausforderungen, denen es sich stellen muss, darunter eine alternde Bevölkerung, Energieabhängigkeit und eine Schlüsselrolle bei der Vermittlung zwischen Ost und West sowie Nord und Süd.

Ich erinnere mich an meine Reisen nach Deutschland Ende der achtziger und in den neunziger Jahren. In meiner Studentenzeit verbrachte ich zwei Sommer als Stipendiat in Gießen und Wuppertal. Es war eine Zeit des Wandels und der Hoffnung mit der deutschen Wiedervereinigung und dem europäischen Integrationsprozess. Die Wirtschaft war nicht unbedingt in bester Verfassung, um es milde auszudrücken. Der Technologie-Sektor wuchs nicht in demselben Maß wie in den Vereinigten Staaten und Japan. Südkorea und zunehmend auch China stellten eine ernstzunehmende Bedrohung für den traditionell starken Produktionsstandort Deutschland dar. Lohnzurückhaltung, Automatisierung und Produktivitätszuwachs standen auf der Tagesordnung. Um die Jahrhundertwende wuchs die Wirtschaft zwar stark, jedoch nur, um sich inmitten einer europäischen Malaise wiederzufinden, die mit den zunehmenden Problemen der südlichen und östlichen Randgebiete ihren Anfang nahm. Trotz dieser Schwierigkeiten erfreute sich die deutsche Wirtschaft weiterhin einer niedrigen Arbeitslosigkeit und eines globalen Wachstums. Heute rühren die Probleme von den rasch wachsenden Volkswirtschaften in den Schwellenländern Asiens mit ihrer neuen Betonung des Inlandsverbrauchs, während Europa als Ganzes stagniert.

Um die Herausforderungen und Chancen zu erkennen, die durch die globalen Transformationen des kommenden Jahrzehnts in großem Stil auf uns zukommen werden, möchte ich auf einige der auffälligsten Trends eingehen, die in diesem Buch beschrieben werden: auf die bereits erwähnte Tatsache, dass wir auf eine Welt zusteuern, in der es mehr Großeltern als Enkelkinder geben wird. In Deutschland wird die Zahl der über Sechzigjährigen von 24 Millionen im Jahr 2020 auf 28,2 Millionen im Jahr 2030 steigen. Diese Bevölkerungsgruppe wird bis 2030 den weltweit größten Verbrauchermarkt stellen. Etwa 60 Prozent des gesamten Vermögenswerts werden Menschen gehören, die über sechzig sind, und der durchschnittliche Sechzigjährige in Europa wird sich einer Lebenserwartung von weiteren vierundzwanzig Jahren erfreuen. Hieraus erwachsen Chancen, die kaum eine Firma oder Marke verstreichen lassen wird.

Zu den Folgen dieser Entwicklung gehört es, dass jenes Stufenmodell (Kindheit – Arbeit – Ruhestand), dem Otto von Bismarck vor 140 Jahren den Weg bahnte, an seine Grenzen stoßen wird. Das Modell erscheint aufgrund zweier Entwicklungen unzeitgemäß: Zum einen leben wir heute länger. Zu Bismarcks Zeiten betrug die Lebenserwartung in Deutschland weniger als fünfzig Jahre, heute liegt sie bei über achtzig Jahren. Zum anderen altert das Wissen, das wir uns in Schule und Studium aneignen, aufgrund des technischen Fortschritts immer schneller. Wir werden künftig nicht nur einmal im Leben die Schule besuchen, sondern mehrmals dorthin zurückkehren müssen. Die Menschen werden sogar mehrere berufliche Laufbahnen einschlagen und immer seltener bei einer bleiben. Staaten wie Unternehmen werden sich auf diese neue Wirklichkeit einstellen und auf völlig neue Weise über Arbeit nachdenken müssen.

Eine weitere demographische Verschiebung, die die Welt verändern wird, hat mit den Frauen zu tun. Ich habe bereits angedeutet, dass der Geburtenrückgang in erster Linie mit dem Zugang von Frauen zur Bildung zusammenhängt, was ihnen wiederum neue Chancen auf dem Arbeitsmarkt eröffnet. Infolgedessen verdienen heute mehr Frauen ihr eigenes Geld, sparen es und legen es gut an. Zudem leben Frauen im Schnitt sechs Jahre länger als Männer. Dies alles führt dazu, dass der Wohlstand in den kommenden Jahren bei Frauen insgesamt schneller wachsen wird als bei den Männern. Meine Prognose lautet, dass bis zum Jahr 2030 mehr als die Hälfte des Weltvermögens in den Händen von Frauen liegen wird. Man bedenke die Folgen für die Wirtschaft (angesichts der Tatsache, dass Männer und Frauen zum Beispiel unterschiedliche Konsummuster aufweisen), für zwischenmenschliche Beziehungen und sogar für die Politik. Das Ende des Patriarchats wurde schon viele Male ausgerufen. Doch jetzt ist es so weit. In 41 Prozent aller amerikanischen Haushalte verdient die Ehefrau heute bereits mehr als ihr Ehemann. Für das Jahr 2030 schätzt die Regierung der Vereinigten Staaten, dass dies in mehr als 50 Prozent aller Haushalte der Fall sein wird. Diese Situation unterscheidet sich radikal von jener, in der ich aufgewachsen bin.

Nirgends ist das Ausmaß dieser Transformation sichtbarer als in der Welt der Technologie. Durch die Pandemie hat der Gebrauch von digitalen Plattformen in Schule, Studium und Arbeit sowie beim Konsum und in der Freizeit rasant zugenommen. Doch dies sind nicht die einzigen Technologien, deren Entwicklung durch Corona beschleunigt wurde. Der Ansporn zur Automatisierung ist größer geworden. Unternehmen haben verstanden, dass auf Roboter in Zeiten von Naturkatastrophen – und dazu zählen auch Notfälle im Gesundheitswesen – mehr Verlass ist als auf Menschen. Im Zeitalter des »Social Distancing« müssen sich auch die Beziehungen zwischen Kunden und Angestellten im Dienstleistungssektor ändern. Die Automatisierung eröffnet hier neue Möglichkeiten. Wir sind also Zeugen einer Trendwende, die dazu führen wird, dass es schon bald mehr Roboter als Angestellte geben wird.

In den folgenden Kapiteln werde ich außerdem zeigen, dass wir schon bald mehr Computer – oder, um genau zu sein, mehr Mikroprozessoren – haben werden als menschliche Gehirne. Das sogenannte »Internet der Dinge«, die »Blockchain-Technologie« und andere revolutionäre digitale Verfahren werden die Wirtschaft verändern, aber auch die Art und Weise, wie Unternehmen und Organisationen intern arbeiten und welche Beziehungen sie zu ihren Zulieferern und zu den Kunden pflegen. Es wird nicht so sehr darum gehen, Menschen durch künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen zu ersetzen, sondern darum, durch die Arbeitsteilung zwischen Menschen und digitalen Geräten den Arbeitern und Angestellten höhere Lebensstandards zu ermöglichen. Es ist richtig, dass der Einsatz von Automatisierung und künstlicher Intelligenz oft Arbeitsplätze vernichtet. Technologische Arbeitslosigkeit ist nicht länger eine drohende Zukunftsperspektive, sondern oft bereits harte Realität. Deshalb diskutiere ich in diesem Buch die Vorzüge von Strategien, die Steuern auf Roboter vorschlagen und die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens fordern.

Und schließlich kommen wir noch zu einem Punkt, der die größten Transformationsbrüche hervorrufen könnte: die Möglichkeit, dass wir statt der wenigen, von Staaten und ihren Zentralbanken ausgegebenen Währungen eine Vielzahl von Kryptowährungen verwenden werden, mit denen wir unsere Rechnungen bezahlen und in denen wir unsere Ersparnisse anlegen.

Geld gehört zu einer sehr kurzen und exklusiven Liste von Erfindungen, die die Welt grundlegend verändert haben. Es steht dort in einer Reihe mit der Beherrschung des Feuers, der Erfindung des Rads, der Druckerpresse und der Dampfmaschine sowie der Entwicklung von Antibiotika. Gleichwohl glaube ich nicht, dass Kryptowährungen sich als solche durchsetzen werden, und zwar aus dem einfachen Grund, weil souveräne Staaten es nie zulassen werden, dass man sie in zu vielen Bereichen einsetzt. Sie können kein Interesse daran haben, die Kontrolle über die Geldpolitik und das Geldvolumen zu verlieren. Man stelle sich vor, wie die Bundesbank und die Europäische Zentralbank darüber denken würden. Ich glaube, Kryptowährungen werden nur dann überdauern, wenn sie mit Coupons, Anreizen, »Smart Contracts« und anderen Komponenten gebündelt werden, die wie »digitale Münzen« fungieren. Das ist die Zukunft, der sich nur wenige Staaten und Zentralbanken entgegenstellen werden, sobald sie erst einmal das gewaltige Potential erkannt haben, das eine weitaus effizientere Wirtschaft zur Folge haben wird.

Diese Transformationen werden Deutschland wie den Rest Europas und die ganze Welt verändern. Die einzelnen Staaten können auf diese Veränderung nur auf eine Weise reagieren: Sie müssen sich noch viel stärker als bisher mit dem Rest der Welt verbinden, um ihre Bevölkerung an den gewaltigen Chancen teilhaben zu lassen, die sich hier auftun. Protektionismus und Populismus – von Ausländerfeindlichkeit ganz zu schweigen – sind auf lange Sicht kontraproduktiv. Die beste Strategie besteht darin, die Gesellschaft und die Wirtschaft mit den globalen Trends in Einklang zu bringen. Davon abgesehen müssen Europa und die Vereinigten Staaten alles daransetzen, den größten politischen Fehler der letzten zwei Jahrzehnte zu korrigieren – nämlich jene zu vergessen, die bislang unter der Globalisierung zu leiden hatten.

Die Herausforderungen, die vor uns liegen, in Angriff zu nehmen, bedeutet zunächst einmal, sie als solche zu erkennen. Die Welt ist in einem grundlegenden Wandel begriffen. Das sind keine Fake News. Die Uhr kann nicht zurückgedreht werden. Die einzig mögliche Antwort auf den Wandel ist der Wandel selbst. Erst wenn wir diese Realität als solche annehmen, können wir die Entscheidungen treffen, die erforderlich sind, um unsere Zukunft zu gestalten. Das ist die Botschaft dieses Buches: Üben Sie sich in Selbsterkenntnis und werden Sie aktiv.

1Folge den Babys

Bevölkerungsrückgang, der afrikanische Babyboom und die nächste industrielle Revolution

»Ein Baby kommt nicht nur mit einem Mund und einem Magen zur Welt, sondern auch mit zwei Händen.«

Edwin Cannan, britischer Wirtschafts- und Bevölkerungswissenschaftler

Es scheint erschreckend, mit welcher Geschwindigkeit die Weltbevölkerung wächst. Im Jahr 1820 gab es eine Milliarde Menschen auf der Erde. Ein Jahrhundert später waren es zwei Milliarden. Nach einem kurzen Stillstand in Folge der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs erreichte die Wachstumsrate eine atemberaubende Geschwindigkeit: drei Milliarden bis 1960, vier Milliarden bis 1975, fünf Milliarden bis 1987, sechs Milliarden im Jahr 2000 und sieben Milliarden im Jahr 2010. »Geburtenkontrolle oder ein Wettlauf in das Vergessen?« lautete der Slogan auf dem Umschlag von Paul und Anne Ehrlichs einflussreichem Buch Die Bevölkerungsbombe aus dem Jahr 1968. Seither waren Regierungen auf der ganzen Welt und große Teile der Öffentlichkeit höchst besorgt über etwas, das sie für unausweichlich hielten: Wir werden den Planeten überfluten und uns damit selbst vernichten (und mit uns Millionen von Pflanzen und Tierarten).

Tatsächlich aber werden wir im Jahr 2030 mit einem Mangel an Kindern konfrontiert sein.

In den nächsten Jahrzehnten wird die Weltbevölkerung nicht einmal halb so schnell wachsen, wie sie dies zwischen 1960 und 1990 getan hat. In einigen Ländern wird die Zahl ihrer Bewohner sogar abnehmen (wenn sie keine sehr hohen Zuwanderungsraten zulassen). So bekamen amerikanische Frauen seit den frühen 1970er Jahren im Schnitt weniger als zwei Kinder – eine Quote, die nicht ausreicht, um eine konstante Bevölkerungszahl zu garantieren. Dasselbe gilt für viele andere Länder. Menschen in so unterschiedlichen Ländern wie Brasilien, Kanada, Schweden, China und Japan fragen sich zunehmend, wer für die Ältesten sorgen und wer ihre Rente bezahlen soll.

Da die Geburtenraten in Ostasien, Europa und Nord- wie Südamerika sinken, während sie in Afrika, im Nahen Osten und in Südasien langsamer steigen als bisher, verändert sich das globale Gleichgewicht wirtschaftlicher und geopolitischer Macht. Man bedenke: Für jedes Baby, das heute in einem hochentwickelten Land geboren wird, werden mehr als neun in Schwellen- und Entwicklungsländern geboren. Anders gesagt werden für jedes in den Vereinigten Staaten geborene Baby 4,4 in China, 6,5 in Indien und 10,2 auf dem afrikanischen Kontinent geboren. Hinzu kommt, dass aufgrund einer verbesserten Ernährung und Gesundheitsvorsorge in den ärmsten Teilen der Welt immer mehr Kinder das Erwachsenenalter erreichen und ihrerseits wieder Kinder bekommen. Vor einem halben Jahrhundert starb in afrikanischen Ländern wie Kenia oder Ghana eines von vier Kindern, bevor es vierzehn Jahre alt wurde, heute weniger als eines von zehn. Diese rasanten Veränderungen der relativen Bevölkerungen in verschiedenen Teilen der Welt werden nicht nur davon bestimmt, wer mehr Babys bekommt, sondern auch, wessen Lebenserwartung schneller zunimmt. So ging man zum Beispiel davon aus, dass Menschen, die in den 1950er Jahren in den am wenigsten entwickelten Regionen der Welt geboren wurden, dreißig Jahre kürzer leben als jene aus den fortschrittlichsten Ländern. Heute beträgt dieser Unterschied noch siebzehn Jahre. Zwischen 1950 und 2015 ging die Sterblichkeitsrate in Europa nur um 3 Prozent zurück, in Afrika jedoch um sage und schreibe 65 Prozent. Die Lebenserwartung in ärmeren Ländern nähert sich aufgrund niedrigerer Sterblichkeit derjenigen in den reichen Ländern in allen Altersgruppen an.

Abbildung 3 zeigt den Anteil an der Weltbevölkerung in verschiedenen Regionen zwischen 1950 und 2017 sowie, nach Berechnungen der Vereinten Nationen, die entsprechenden Vorhersagen für das Jahr 2100.

Betrachten wir einmal das Jahr 2030. In diesem Jahr wird Südasien (mit Indien) seine Stellung als bevölkerungsreichste Region gefestigt haben. Afrika wird zur zweitgrößten Region aufsteigen, während Ostasien (mit China) auf den dritten Rang zurückfallen wird. Europa, das 1950 noch den zweiten Platz innehatte, wird hinter Südostasien (wozu unter anderem Kambodscha, Indonesien, die Philippinen und Thailand gehören) und Lateinamerika auf dem sechsten Platz landen.

Internationale Migrationsströme können diese epochalen Veränderungen zum Teil abschwächen, weil Menschen aus Teilen der Welt mit einem Geburtenüberschuss in andere mit niedrigen Geburtenraten abwandern werden. Tatsächlich ist dies in der Geschichte der Menschheit wiederholt geschehen, zum Beispiel, als viele Südeuropäer in den fünfziger und sechziger Jahren nach Nordeuropa einwanderten. Doch diesmal wird die Migration, die aus obiger Grafik ersichtlichen Entwicklungen nicht aufwiegen können. Ich betone das, weil zu viele Regierungen dieser Welt entschlossen zu sein scheinen, neue Mauern zu errichten – ob nun althergebracht mit Zäunen und Stacheldraht oder mithilfe moderner Technologien wie Laser und chemischen Detektoren zur Überwachung von Grenzübergängen, oder mit beidem.

Doch selbst wenn diese Mauern nie gebaut werden oder sich als wirkungslos erweisen sollten, veranschaulicht unsere Grafik, dass die Folgen der Migration keinen größeren Einfluss auf die Bevölkerungstrends haben werden. Ausgehend von gegenwärtigen Migrations- und Bevölkerungsentwicklungen wird Subsahara-Afrika – also jene rund fünfzig afrikanischen Länder, die nicht an das Mittelmeer grenzen – bis zum Jahr 2030 die Weltregion sein, in der die zweitmeisten Menschen leben. Einmal angenommen, das Migrationsvolumen verdoppelt sich in den nächsten zwanzig Jahren, dann werden doppelt so viele Migranten den Eintritt obiger Prognosen nur verzögern. Sie werden die Bevölkerungstrends, die zum Ende der Welt, wie wir sie kannten, führen werden, nicht umkehren, sondern lediglich um etwa drei Jahre auf das Jahr 2033 verschieben.

Frauen und Kinder regieren die Welt

Was also steckt hinter der globalen Verlangsamung des Bevölkerungswachstums? Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten. Schließlich gehört zur Zeugung von Babys eine allseits bekannte Methode, die ebenso einfach zu praktizieren wie überaus beliebt ist. Lassen Sie mich zunächst etwas über meinen eigenen Stammbaum erzählen. Eine meiner Ururgroßmütter in Spanien war einundzwanzig Mal schwanger und brachte neunzehn Kinder zur Welt. Ihr erstes wurde geboren, als sie neunzehn Jahre alt war, und ihr letztes, als sie zweiundvierzig war. Als das Land sich entwickelte und Frauen einen besseren Zugang zu Bildung erlangten, wurden die Familien kleiner, bis hin zu einem oder zwei Kindern pro Frau.

Man muss sich vor Augen führen, dass in einigen Teilen der Welt – und dazu gehören Afrika, der Nahe Osten und Südasien – Millionen von Frauen in ihrem Leben fünf, zehn oder sogar noch mehr Kinder zu Welt bringen. Doch im Durchschnitt sinkt mit der Zeit auch in den Entwicklungsländern die Zahl der Babys pro Frau, und zwar aus denselben Gründen, aus denen sie vor zwei Generationen auch in der hochentwickelten Welt stark zurückging. Frauen stehen heute mehr Möglichkeiten offen, als nur den Haushalt zu führen. Um diese Möglichkeiten auch tatsächlich zu ergreifen, bleiben sie länger in der Schule und entscheiden sich in vielen Fällen für eine Hochschulausbildung. Dies wiederum führt dazu, dass sie erst später Mütter werden. Die veränderte Rolle der Frau in der Wirtschaft – und allgemeiner in der Gesellschaft – ist der wichtigste Faktor, warum die Geburtenraten weltweit sinken. Frauen bestimmen zunehmend, was auf der Welt geschieht.

Betrachten wir etwa den Fall der Vereinigten Staaten, wo die Prioritäten von Frauen sich rapide verschoben haben. In den fünfziger Jahren heirateten amerikanische Frauen im Schnitt mit zwanzig. Männer heirateten im Schnitt mit zweiundzwanzig. Heute sind sie siebenundzwanzig beziehungsweise neunundzwanzig. Auch das Durchschnittsalter erstgebärender Frauen stieg auf achtundzwanzig. Diese Veränderung ist zum Großteil längeren Ausbildungszeiten geschuldet. Heute machen mehr Frauen ihren Highschool-Abschluss, und viele von ihnen besuchen anschließend eine Universität. In den fünfziger Jahren hatten etwa 7 Prozent der Frauen zwischen fünfundzwanzig und neunundzwanzig Jahren einen Universitätsabschluss, halb so viele wie Männer. Heute liegt der Anteil der Frauen, die einen Universitätsabschluss machen, bei fast 40 Prozent, während nur 32 Prozent der Männer ein Studium beenden.

Unser schwindendes Interesse an Sex

Die menschliche Bevölkerungsentwicklung neigt dazu, chaotisch zu verlaufen. Über Jahrtausende war das Bevölkerungswachstum an den Zugang zu Nahrung, den Ausbruch von Kriegen, die Verbreitung von Krankheiten und die Auswirkungen natürlicher Katastrophen geknüpft. Philosophen, Theologen und Wissenschaftler haben Jahrhunderte mit der Frage gerungen, wie viele Menschen von den Ressourcen der Erde ernährt werden können. Im Jahr 1798 warnte Reverend Thomas Robert Malthus, ein britischer Professor für politische Ökonomie und Ahnherr der modernen Demographie, vor einem exponentiellen Anstieg der Weltbevölkerung. Zu Malthus’ Zeit betrug die Weltbevölkerung unter einer Milliarde (heute 7,5 Milliarden). Malthus – wie viele seiner Zeitgenossen – fürchtete, die Gattung Mensch riskiere durch Überbevölkerung die eigene Auslöschung. »Die Bevölkerungszahl«, schrieb er, »übersteigt die Möglichkeiten der Erde, die Lebensgrundlagen der Menschen zu sichern, in einem solche Maße, dass ein vorzeitiger Tod des menschlichen Geschlechts auf die eine oder andere Art die Folge sein wird.«

Im Nachhinein können wir sagen, dass Malthus das Potential von Erfindungen und Innovationen unterschätzt hat, die letztlich zu einer erstaunlichen Erhöhung der Agrarerträge geführt haben. Zudem sah er nicht die enormen Möglichkeiten internationaler Handelsbeziehungen, die dank schnellerer und billigerer überseeischer Transportwege zu einer verbesserten Lebensmittelversorgung führten. Er betonte allerdings zu Recht, dass Bevölkerung und Nahrung zwei Seiten einer Medaille sind.

Was Malthus sich aber wohl nie hätte träumen lassen, ist die Tatsache, wie sehr moderne Technologien unser Bedürfnis nach Sex verringern sollten. Die Verbindung zwischen beiden ist verblüffend einfach. Je mehr alternative Unterhaltungsformen uns zur Verfügung stehen, desto weniger häufig haben wir Sex. Moderne Gesellschaften bieten eine ganze Palette an Unterhaltungsmöglichkeiten, von Radio und Fernsehen bis hin zu Videospielen und Social Media. In einigen entwickelten Ländern wie den Vereinigten Staaten ist die Häufigkeit sexueller Aktivitäten in den letzten Jahrzehnten immer weiter zurückgegangen. Eine in der Fachzeitschrift Archives of Sexual Behavior veröffentlichte Studie kam zu dem Ergebnis, dass »amerikanische Erwachsene 2010 etwa neunmal weniger Sex im Jahr hatten als in den späten 1990er Jahren« – ein Rückgang, der sich vor allem unter verheirateten Amerikanern und solchen mit festen Partnern bemerkbar machte. Im entsprechenden Alter hatten »jene, die in den 1930er Jahren geboren wurden (die sogenannte ›stille Generation‹), am häufigsten Sex, jene, die in den 1990ern geboren wurden (die ›Millennials‹ und die sogenannte Generation ›iGen‹), am wenigsten.« Die Studie schloss mit dem Ergebnis, dass »Amerikaner weniger häufig Sex haben aufgrund einer zunehmenden Anzahl an Individuen ohne feste Partner oder Ehepartner und einer rückläufigen Sexualfrequenz unter jenen mit Partnern«.

Ein amüsantes Beispiel, das die Bedeutung alternativer Unterhaltungsformen für unseren Geschlechtstrieb zeigt, hat mit einem Stromausfall zu tun. Im Jahr 2008 brach auf der ostafrikanischen Insel Sansibar einen ganzen Monat lang die Stromversorgung zusammen. Betroffen war allerdings nur jener Teil der Insel, in dem die Häuser mit dem Stromnetz verbunden waren. Die restliche Bevölkerung verwendete weiter ihre Dieselgeneratoren. Diese Situation verschaffte Forschern ein einzigartiges »natürliches Experiment«, anhand dessen sie die Wirkung des Stromausfalls auf das Zeugungsverhalten der Menschen studieren konnte: Die »Experimentalgruppe« der Stromnetzkunden musste einen Monat ohne Elektrizität auskommen, für die »Kontrollgruppe« mit ihren Dieselgeneratoren änderte sich nichts. Neun Monate später wurden innerhalb der »Experimentalgruppe« 20 Prozent mehr Babys als üblich geboren, während ein vergleichbarer Anstieg in der »Kontrollgruppe« ausblieb.

Geld regiert die Welt

Es überrascht nicht, dass auch Geld bei unseren Kinderwünschen eine große Rolle spielt. Im Jahr 2018 gab die New York Times eine Studie in Auftrag, die herausfinden sollte, warum Amerikanerinnen weniger oder überhaupt keine Kinder bekommen. Vier der fünf wichtigsten Gründe hatten mit Geld zu tun. »Die Gehälter steigen nicht so schnell wie die Lebenshaltungskosten. Kommen dann noch Studienkredite dazu, ist es einfach sehr schwer, sich ein solides finanzielles Fundament zu schaffen – selbst wenn man auf dem College war, einen festen Arbeitsplatz hat und über zwei Einkommen verfügt«, bemerkte David Carlson, ein verheirateter, berufstätiger Neunundzwanzigjähriger, dessen Frau wie er arbeitet. Auch junge Menschen aus Familien mit niedrigen Einkommen haben Angst davor, eine Familie zu gründen, wenn dies bedeutet, dass sie dafür auf bestimmte kostspielige Konsumgüter verzichten müssen. Brittany Butler aus Baton Rouge in Louisiana etwa ist die Erste in ihrer Familie, die eine höhere Schule besucht hat. Mit zweiundzwanzig geht es ihr zunächst darum, einen Hochschulabschluss in Sozialarbeit zu machen, ihren Studienkredit abzubezahlen und in einer sicheren Gegend zu wohnen. Kinder müssen warten.

In den 1960er Jahren schlug der Ökonom Gary Becker von der Universität Chicago einen grundlegend neuen Weg vor, wie man über die Familienplanung nachdenken sollte. Eltern, so Becker, wägen ab zwischen der Quantität und der Qualität bei der Kinderfrage. Wenn zum Beispiel das Familieneinkommen steigt, kaufen die Menschen womöglich ein zweites oder drittes Auto. Doch würde sich ihre finanzielle Situation bis ins Unendliche verbessern, würden sie sich dennoch kein Dutzend oder noch mehr Autos zulegen. Sie kaufen auch kein Dutzend Kühlschänke oder Waschmaschinen. Becker argumentierte, dass Einkommensverbesserungen Menschen dazu brächten, ihr Augenmerk nicht mehr auf die Quantität, sondern vermehrt auf Qualität zu richten. Sie würden ihre Klapperkisten also durch neue größere oder luxuriösere Limousinen oder SUVs ersetzen. Im Fall von Kindern bedeute dies, dass sie sich für weniger Kinder entscheiden, diesen aber eine qualitativ bessere Erziehung zuteilwerden lassen. »Die Abwägung zwischen Quantität und Qualität in der Kinderfrage«, schrieb er, »ist der wichtigste Grund, warum die effektiven Ausgaben für Kinder mit dem Einkommen steigen.«

Beckers Forschungen im Bereich des menschlichen Verhaltens brachten ihm 1992 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ein, und obwohl seine Behandlung eines dermaßen komplexen Gegenstands wie der Fertilität die Rolle von Vorlieben und kulturellen Normen und Werten vernachlässigte, brachte er einen gesellschaftlichen Trend genau auf den Punkt: Viele Eltern geben ihr Geld heute lieber für eine kleine Anzahl an Kindern aus – sei es, dass sie ein Sparkonto für ihr Studium anlegen oder ihre außerschulischen Aktivitäten finanzieren. Der Soziologe Philip Cohen von der Universität Maryland erklärt es so: »Wir wollen mehr in jedes einzelne Kind investieren, um ihm die besten Möglichkeiten zu geben, in einer zunehmend von Ungleichheit geprägten Umwelt mitzuhalten.« So gesehen sind die Kinder Investitionsobjekte mit Kapitalwert und Gewinnraten.

Um zu verstehen, wie Eltern entscheiden, wie viele Kinder sie gerne haben würden, lohnt es sich auszurechnen, wie viel sie für jedes einzelne Kind ausgeben. Im Jahr 2015 berechnete die Regierung der Vereinigten Staaten, dass die durchschnittliche amerikanische Familie die atemberaubende Summe von 233610 Dollar ausgibt, um ein Kind bis zum Alter von siebzehn Jahren großzuziehen. Dieser Betrag kann sich leicht verdoppeln, wenn man die Bezahlung von Hochschulgebühren miteinbezieht. Ich habe auf meinem Laptop eine Tabelle, auf der ich jedes Jahr unser Familieneinkommen und unsere Ausgaben eintrage. Es ist durchaus bemerkenswert, wenn man feststellt, dass meine Frau und ich am Ende die erstaunliche Summe von einer halben Million Dollar für jedes unserer zwei Kinder aufwenden werden, unter der Annahme, dass sie ihren Abschluss an einer teuren Universität machen werden. Ich habe eine zweite Tabelle mit denselben Daten erstellt, nur habe ich darin meine zwei Töchter aus den Berechnungen gestrichen. Am Ende der zweiten Tabelle stehen statt zweier hochgebildeter Töchter ein Lamborghini und ein Ferienhaus an der Atlantikküste von New Jersey.

Können »Big Brother«-Regierungen unseren Kinderwunsch beeinflussen?

Vor wenigen Jahren versuchte die Regierung von Singapur, diese Frage auf die Probe zu stellen. Sie zeigte sich besorgt, dass Paare dieses kleinen, aber wohlhabenden Inselstaats, dessen Bevölkerung zu drei Vierteln aus ethnischen Chinesen besteht, auf Kinder verzichten, um sich die fünf wichtigsten Statussymbole leisten zu können: Autos, Kreditkarten, Eigentumswohnungen, die Mitgliedschaft im Country Club und immer gut gefüllte Bankkonten. Regierungsbeamte schrieben einen Brief an eine Auswahl kinderloser verheirateter Paare, in dem sie anführten, wie notwendig es für das Land sei, eine junge Bevölkerung zu haben, die das Wachstum seiner expandierenden Wirtschaft sichere. Daneben enthielt das Schreiben noch ein ungewöhnliches Angebot: eine kostenlose Urlaubsreise nach Bali, die den Paaren nach Ansicht der Regierung dabei helfen könne, in die richtige Stimmung zu kommen. Die Paare, die natürlich gerne ein paar Tage an einem Traumstrand verbringen wollten, ergriffen die Gelegenheit beim Schopf. Sie traten ihren Urlaub an, hielten sich jedoch nicht an ihren Teil der Abmachung – es wurden keine Babys gezeugt, zumindest nicht genug, um die Regierungsbeamten zufriedenzustellen. Das Pilotprogramm wurde nach neun Monaten eingestellt.

Auch die Volksrepublik China hat versucht, die Bevölkerungsentwicklung zu beeinflussen, mit seiner drakonischen Ein-Kind-Politik. In den späten 1970er Jahren, als das Land unter einer rückständigen und chaotischen kollektivistischen Wirtschaft litt, kamen Reformer unter Führung von Deng Xiaoping zu dem Schluss, dass das rasante Bevölkerungswachstum des Landes nur zu einer fortgesetzten Armut führen könne. Sie hatten die chinesische Geschichte genau studiert: Zwischen 1500 und 1700 wuchs die Bevölkerung des Landes in etwa derselben Geschwindigkeit wie in Westeuropa, viel schneller jedoch im achtzehnten Jahrhundert, während eines langen Zeitraums des Friedens und Wohlstands, als sich die landwirtschaftlichen Erntemengen in nie dagewesener Form vervielfachten. Während dieser Zeit vergrößerten sich die Erträge von Reis- und Weizenfeldern um das Zwei- oder sogar Dreifache. Neue Pflanzen aus Amerika wie Mais und Süßkartoffeln halfen ebenfalls, die Produktivität zu steigern. So erhöhte sich der Lebensstandard in Teilen Chinas sogar früher als in England, dem Geburtsort der Industriellen Revolution. Doch zwischen 1800 und 1950verlangsamte sich das Bevölkerungswachstum am unteren Jangtse. Dies hatte mit der Übernutzung der Böden, aber auch mit politischen Unruhen, Bürgerkriegen sowie ausländischen Interventionen und Invasionen zu tun.

Doch dann – und trotz der schrecklichen Hungersnot, die der »Große Sprung nach vorn« der fünfziger Jahre und die Umsiedlungen der Kulturrevolution in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts verursachten – wuchs die Bevölkerung der Volksrepublik China in den zwei Jahrzehnten zwischen 1950 und 1970 um jeweils zwischen 120 und 150 Millionen Menschen. China stand damals kurz davor, als erstes Land der Welt mehr als eine Milliarde Einwohner zu zählen. Deng und seine Anhänger nahmen an, das Land werde seinem wirtschaftlichen Ruin entgegensteuern, würde man nichts dagegen unternehmen. Im Jahr 1979 wurde die für alle verbindliche Ein-Kind-Politik eingeführt.

Damit erwiesen sich die politischen Entscheidungsträger als einigermaßen realitätsfremd. Denn auch in China war die Geburtenrate schon seit den sechziger Jahren gefallen, und das aus denselben Gründen, die auch in anderen Teilen der Welt für diese Entwicklung bestimmend waren: Verstädterung, bessere Bildungs- und Arbeitsmarktchancen für Frauen sowie eine zunehmende Präferenz, lieber weniger Kindern bessere Chancen zukommen zu lassen, als möglichst viele von ihnen zu bekommen. Die politischen Entscheidungsträger hatten es versäumt, lateral über das Problem nachzudenken.

Vergegenwärtigen wir uns folgende Zahlen: Im Jahr 1965 lag die Geburtenrate im städtischen China noch bei etwa sechs Kindern pro Frau. Als 1979 die Ein-Kind-Politik in Kraft trat, war sie dort bereits auf 1,3 Kinder pro Frau gefallen, weit unter das sogenannte »Ersatzniveau der Fertilität« von mindestens zwei Kindern pro Frau, bei dem die Bevölkerungszahlen konstant bleiben. Gleichzeitig lag Mitte der sechziger Jahre die Geburtenrate im ländlichen China bei zirka sieben Kinder pro Frau und fiel bis 1979 auf drei. Während der Zeit der Ein-Kind-Politik ging die städtische Geburtenrate von 1,3 auf 1,0 zurück, die ländliche von 3 auf 1,5. Die Demographen des China Journals sahen dies durchaus: »Der Hauptanteil des chinesischen Geburtenrückgangs kann nicht auf die Ein-Kind-Politik zurückgeführt werden.« Der Rückgang hatte vor allem damit zu tun, dass die Menschen aufgrund sich verändernder Umstände andere Entscheidungen trafen, weniger mit der Staatsbürokratie. »Die Ein-Kind-Kampagne war lediglich politisch motiviert und basierte auf Pseudowissenschaft, demographisch notwendig war sie nicht«, so die Schlussfolgerung der Experten.

Im Jahr 2015 gab China diese Politik ganz auf. Wird das Bevölkerungswachstum in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt nun wieder anziehen? Der Nobelpreisträger und Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen bemerkt, dass der »Fortschritt der Frauen Chinas Ein-Kind-Politik überflüssig machte«. Chinesische Frauen erhalten weiterhin verstärkt Zugang zu Bildung und haben gute berufliche Aufstiegschancen, weshalb ein Anstieg der Geburtenrate eher unwahrscheinlich ist. Zum Vergleich bewegt sich die Geburtenrate in den Nachbarstaaten Taiwan und Südkorea – wo eine ähnliche Politik nie existierte – auf einem Niveau von etwa 1,1 Kindern pro Frau, weit unter Chinas derzeitigem Niveau von 1,6. Die Losung »Wirtschaftliche Entwicklung ist das beste Verhütungsmittel« bewahrheitet sich letztendlich in China genauso wie überall sonst auf der Welt.

Paradoxerweise wird die chinesische Ein-Kind-Politik vor allem von generationaler Bedeutung sein: Bis 2030 wird China 90 Millionen Menschen weniger im Alter von fünfzehn bis fünfunddreißig haben, und 150 Millionen mehr im Alter über sechzig. Das Land erlebt den weltweit größten und schnellsten Prozess einer Bevölkerungsalterung. Wir werden die Folgen dieser gewaltigen generationalen Veränderungen in Kapitel 2 analysieren.

Die unerwarteten Nutznießer von Chinas Ein-Kind-Politik

Dieser Tage sind die Zeitungen voll mit Geschichten über Handelsdefizite, erschlichene Technologien und chinesische Spione, die sich als seriöse Geschäftsleute ausgeben. »Eine von fünf Firmen gibt an: China hat geistiges Eigentum gestohlen«, lautet 2019 eine Schlagzeile im Magazin Fortune. Vielen Beobachtern mag es so scheinen, als wäre China auf seinem Weg an die Spitze des globalen Marktes nur darauf aus, die Vereinigten Staaten und andere westliche Länder übers Ohr zu hauen. Nur wenigen Politikern oder Journalisten ist es je in den Sinn gekommen, dass Chinas Ein-Kind-Politik für die Verbraucher westlicher Länder ein regelrechter Glücksfall gewesen sein könnte.

In einem faszinierenden Beispiel lateralen Denkens fanden Wirtschaftswissenschaftler eine überraschende Verbindung zwischen Geburtenraten und Ersparnissen. Solange sie Gesetz war, schuf die Ein-Kind-Politik ein Ungleichgewicht von etwa 20 Prozent mehr jungen Männern als Frauen, wobei traditionell Jungen favorisiert wurden. »Deformierte Geschlechterverteilung stiftet bei Eheschließungen in China Chaos« lautete 2017 eine Schlagzeile im Economist. Und die New York Times titelte: »In China wartet auf Millionen von Männern ein einsamer Valentinstag«. Eltern entschieden, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. »Aufgrund eines verschärften Wettbewerbs auf dem Heiratsmarkt erhöhen Haushalte mit einem Sohn ihre Sparrate in der Hoffnung, die Chancen ihres Sohnes, eine Frau zu finden, zu erhöhen« – so die Wirtschaftswissenschaftler Shang-Jin Wie und Xiaobo Zhan, nachdem sie eine Fülle an Daten analysiert hatten. »Die zunehmend ungleiche Geschlechterverteilung von 1990 bis 2007 erklärt etwa 60 Prozent des tatsächlichen Zuwachses privater Ersparnisse im selben Zeitraum.« Dieses Phänomen war so weit verbreitet, dass China nicht nur eine ganze Bandbreite an Fabrikwaren exportierte, sondern auch seine überschüssigen Ersparnisse. Das unersättliche Konsumverhalten von Amerikanern wurde hauptsächlich durch Familiensparbücher finanziert. Ohne das chinesische Geschlechterungleichgewicht und das damit zusammenhängende hohe Sparniveau hätten Amerikaner in den vergangenen zwei Jahrzehnten höhere Zinsen auf ihre Hypotheken und Verbraucherkredite zahlen müssen. Hätten sich zum Beispiel die Zinsen für eine über dreißig Jahre laufende Hypothek auf 6 Prozent statt auf 5 Prozent belaufen, dann wären die monatlichen Raten um etwa 25 Prozent höher ausgefallen, und es hätte viel weniger Geld für andere Anschaffungen zur Verfügung gestanden. Die Kosten für einen Hauskauf in San Francisco haben also tatsächlich etwas damit zu tun, ob in China der sprichwörtliche Sack Reis umfällt.

Das chinesische Geschlechterungleichgewicht hat auch den Konsum in der neuen Digitalwirtschaft beeinflusst. Man bedenke nur, wie viel Geld Menschen für Online-Dating-Dienste in unterschiedlichster Form ausgeben. Dating-Plattformen haben heute weltweit Hunderte von Millionen Kunden, die dort jährlich etwa 5 Milliarden US-Dollar ausgeben. Die Menschen strömen ihnen auf der Suche nach potenziellen Ehepartnern, romantischen Beziehungen oder One-Night-Stands in Scharen zu. Doch ist es bezeichnend, wenn man die Unterschiede im Kaufverhalten nach Ländern auffächert. In China fallen nur 2 Prozent der Gesamtausgaben an für Partnersuche auf Dating-Apps, die zwanglose Zusammenkünfte vermitteln, während in Europa und den Vereinigten Staaten 21 Prozent an Plattformen wie Ashley Madison, C-Date, First Affair, Victoria Milan und Tinder gehen, die genau dies anbieten. Dagegen teilen sich in China Ehevermittlungsinstitute wie Baihe oder Jiayuan 85 Prozent der Umsätze, im Vergleich zu nur 40 Prozent in Europa und den Vereinigten Staaten. Diese Unterschiede sind leicht erklärt. Für chinesische Männer ist es wichtiger, eine Langzeitpartnerin zu finden (statt eines One-Night-Stands), da das Geschlechterungleichgewicht so etwas wie eine nationale Krise hervorgerufen hat. Es kann auch nicht überraschen, dass chinesische Frauen wählerischer geworden sind. In einem Experiment, für das auf einer der größten chinesischen Dating-Plattformen gefälschte Profile von Männern und Frauen erstellt wurden, besuchten »Männer aller Einkommensklassen unsere weiblichen Profile aus den unterschiedlichen Einkommensklassen zu mehr oder weniger gleichen Anteilen«, so die Autoren der Studie. »Dagegen besuchten Frauen aller Einkommensklassen bevorzugt unsere männlichen Profile aus den höheren Einkommensklassen … Unsere männlichen Profile aus den höchsten Einkommensklassen wurden zehnmal so oft besucht wie jene aus der untersten Einkommensklasse.«

Interessanterweise bewegt sich das Geschlechterungleichgewicht in anderen Ländern in die entgegengesetzte Richtung. In Russland herrscht ein Defizit an jungen Männern, da, zumeist aufgrund exzessiven Alkoholmissbrauchs, viele von ihnen vorzeitig sterben. Das Problem erscheint so gravierend, dass der Mangel an Männern im heiratsfähigen Alter Frauen in einigen Regionen Sibiriens dazu bewogen hat, die Regierung aufzufordern, Polygamie zu legalisieren. Laut der Anthropologin Caroline Humphrey von der Universität Cambridge sind sibirische Frauen zunehmend davon überzeugt, dass »ein halber Mann besser ist als gar keiner«. Sie argumentieren, so Humphrey, »die Legalisierung der Polygamie wäre ein Gottesgeschenk. Sie würde ihnen das Recht auf finanziellen und körperlichen Beistand des Mannes sichern, ihren Kindern Legitimität verleihen und ihnen das Recht auf Sozialhilfe gewähren.« Wenn man bedenkt, dass in China mehr Männer und in Russland mehr Frauen leben, würde die ideale Lösung zweifellos lauten, dass die beiden Länder eine Art Tauschgeschäft vereinbaren. Leider ist das chinesische Geschlechterungleichgewicht siebenmal so groß wie das russische, da in China so viel mehr Menschen leben. Vermittlungs-Apps werden es richten müssen.

New Kids on the Block: der afrikanische Babyboom

Während die Bevölkerungszahlen in Europa, Nord- und Südamerika und Ostasien nicht einmal auf konstantem Niveau gehalten werden können, nehmen sie in Subsahara-Afrika zu, wenngleich nicht mehr so schnell wie in der Vergangenheit. Dennoch wird prognostiziert, dass seine Bevölkerung von heute 1,3 Milliarden auf zwei Milliarden bis 2038 und auf 3 Milliarden bis 2061 wachsen wird. Einige Forscher sagen voraus, dass ein großer Krieg oder eine verheerende Epidemie Afrikas demographischen Schwung bremsen könnte. Die bewaffnete Auseinandersetzung mit den höchsten Opferzahlen in der Geschichte war der Zweite Weltkrieg, der 50 bis 80 Millionen Menschen das Leben kostete, doch er berührte Afrika nur am Rand. Die globale Aidsepidemie kostete bislang 36 Millionen Menschen das Leben, zwei Drittel davon in Afrika, wobei Südafrika, Nigeria, Tansania, Äthiopien Kenia, Mosambik, Uganda und Simbabwe am härtesten betroffen waren. Und doch sieht man oben in Abbildung 3, dass die Bevölkerungskurve für Afrika in den achtziger und neunziger Jahren, als die Epidemie am schlimmsten wütete, kaum sichtbare Dellen aufweist. Deshalb würde nur ein gewaltiger Krieg oder eine Epidemie, die 100 Millionen Menschen dahinrafft, das im Vergleich mit anderen Weltteilen deutlich höhere Bevölkerungswachstum des Kontinents signifikant beeinflussen.

Die Befürchtung drängt sich auf, dass Afrika seine prognostizierte Bevölkerung unmöglich versorgen könnte. Doch wer so denkt, vergisst, wie groß Afrika wirklich ist. Kartografische Darstellungen des Kontinents in unseren Schulbüchern verschleiern seine wahre Größe im Vergleich zur nördlichen Hemisphäre. Abbildung 4 zeigt, dass Afrikas Landmasse etwa so groß ist wie jene von China, Indien, West- und Osteuropa, den Vereinigten Staaten und Japan zusammen.

Natürlich gibt es in Afrika riesige, zu weiten Teilen unbewohnbare Wüsten. Doch gilt dies genauso für alle anderen Länder auf der Karte (mit Ausnahme von Japan). Sogar in Europa gibt es Wüsten – der Filmklassiker Lawrence von Arabien wurde nicht auf der arabischen Halbinsel, sondern vor allem in Südspanien gedreht. Und selbst wenn man die ungeheure Ausdehnung afrikanischer Wüsten berücksichtigt, enthält der Kontinent immer noch den weltweit größten Anteil an brachliegenden, jedoch für die landwirtschaftliche Entwicklung geeigneten Landflächen. Angesichts der Größe Afrikas erscheint eine Überbevölkerung unwahrscheinlich. Auf dem Kontinent leben derzeit 1,3 Milliarden Menschen. In den anderen Ländern auf dieser Karte leben heute bereits 3,5 Milliarden. Gegenwärtig ist die Bevölkerungsdichte in Asien dreimal so hoch wie in Afrika und viermal so hoch wie in Europa.

Keine Frage, Afrikas Bevölkerungswachstum hält verschiedene hartnäckige Probleme bereit. Der Kontinent ist Austragungsort zahlreicher schwerwiegender religiöser und ethnischer Konflikte. Jahrzehntelange, vom Kalten Krieg befeuerte Unruhen fügten der Infrastruktur des Kontinents verheerende Schäden zu. Insbesondere politische und soziale Institutionen – von Regierungsstrukturen über Justizsysteme und Zivilgesellschaften – litten immens oder konnten sich nie richtig entwickeln, was zur weltweit höchsten Konzentration sogenannter »gescheiterter Staaten« führte. Etwa die Hälfte von Afrikas vierundfünfzig souveränen Staaten wird von politischem Chaos, Anarchie und Gesetzlosigkeit heimgesucht. Ein Großteil der Abwanderungsbewegungen von ländlichen Gegenden in die Städte und von dort ins vorwiegend europäische Ausland ist auf Konflikte und Gewalt zurückzuführen, die nicht nur die persönliche Sicherheit, sondern auch die wirtschaftliche Entwicklung der Länder bedrohen.

Afrika ist also nicht frei von Gefahren, doch die möglichen Erträge für die eigene wachsende Bevölkerung sind gewaltig. Aufgrund seiner zunehmend hohen Bevölkerungszahl kann Afrika von den westlichen Industrieländern nicht länger ignoriert werden. Seine Reichtümer werden eine globale Rolle spielen, im Guten wie im Schlechten. Wenn alles gutgeht, wird Afrika zum Wohl der ganzen Welt zu einer Quelle von zukunftsweisenden Innovationen werden. Sollten die Dinge sich zum Schlechten wenden, werden die Konsequenzen weltweit zu spüren sein. Demographie ist nicht »Schicksal«, und doch prägt sie das Leben der Menschen.

Hunger bekämpfen in Afrika als riesige Chance

Die meisten Menschen glauben, dass die größten unternehmerischen Erfolgsaussichten im Dienstleistungssektor lägen und mithilfe technologischer Plattformen oder Apps verwirklicht werden könnten. Lassen Sie uns lateral über Afrikas Bevölkerungswachstum nachdenken. Der Weltbank zufolge wird die afrikanische Landwirtschaft bis 2030