44 Briefe an Gustav Meyrink - Alois Mailänder - E-Book

44 Briefe an Gustav Meyrink E-Book

Alois Mailänder

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Beschreibung

Dass Gustav Meyrink (1868-1932) der Verfasser des Bestsellers Golem und satirischer zeitkritischer Erzählungen war, ist bekannt. Als Schriftsteller okkultistischer Literatur hat er einen Namen. Daneben war er aber auch ein Pionier des Yoga, der sich Jahrzehnte lang theoretisch und praktisch mit verschiedenen Formen des Yoga, der Meditation, der Mystik und der Alchemie befasst hat. Aus Meyrinks Leben, das seiner Schriftstellerei voranging, ist noch vieles unentdeckt geblieben. So auch sein über Jahre andauernder Austausch mit seinem geistlichen Begleiter, dem christlichen Mystiker Alois Mailänder. Aus ihrer Korrespondenz sind 44 Briefe aus der Zeit von 1892 bis 1905 von Mailänder an Meyrink erhalten geblieben, die neue Details zur Prager Lebensphase des Schriftstellers ans Licht bringen.

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Alois Mailänder (1843-1905), ein christlicher Mystiker, war für viele Künstler aus dem Münchener und Wiener Milieu ein persönlicher Führer im inneren Leben. Mailänder vertrat eine Methode, die in demjenigen, der sich darauf einließ, „das innere Wort” erwecken sollte. Die hier vorgelegten Briefe Mailänders sind ein wertvolles Selbstzeugnis eines Menschen, über den viel gemutmaßt und doch noch so wenig gewusst wird.

Gustav Meyrink (1868-1932) suchte in der Zeit zwischen 1892 und 1905 Alois Mailänder mehrfach auf und erprobte dessen mystischen Pfad. Die hier veröffentlichten Briefe berichten Details aus dem Prager Lebensabschnitt, über den wenig bekannt ist und sprechen von der Dynamik, die den Bankier Gustav Meyer zum Schriftsteller hat werden lassen.

Abbildung 1: Alois Mailänder 1896

Mein besonderer Dank gilt

der Bayerischen Staatsbibliothek für die Erlaubnis, die Briefe von Alois Mailänder an Gustav Meyrink zu veröffentlichen.

Herrn Dr. Nino Nodia von Abteilung Handschriften und Alte Drucke / Nachlassreferat der Bayerischen Staatsbibliothek für seine freundliche Unterstützung.

meiner Frau Claudia Heidger für ihr sorgfältiges Korrekturlesen.

Herrn Rolf Leonhard Speckner aus Hamburg für wertvolle sachdienliche Hinweise.

Frau Birgit Liljestrom aus Wuppertal für Sachinformationen zur Fabrikantenfamilie Gebhard aus Elberfeld.

Herrn Olaf Räderer aus Vorarlberg für seine Vermittlung zur Oskar R.Schlag Stiftung.

Überlingen, im Juni 2020

Inhaltsverzeichnis

Gustav Meyrink und Alois Mailänder

Briefe: Alois Mailänder an Gustav Meyrink

Brief vom 10.April 1893

Brief vom 23.September 1893

Brief vom 13.Januar 1894

Brief vom 18.Januar 1894

Brief vom 15.Februar 1894

Brief vom 22.März 1894

Brief vom 20.April 1894

Brief vom 27.Dezember 1894

Brief vom 20.Juli 1895

Brief vom 1.August 1895

Brief vom 28.September 1895

Brief vom 27.Februar 1896

Brief vom 14. März 1896

Brief vom 23. März 1896

Brief vom 8. April 1896

**Brief vom 2.Oktober 1896

Brief vom 17. Oktober 1896

Brief vom 24. November 1897

Brief vom 27. Dezember 1897

Brief vom 2. Januar 1898

Brief vom 12.April 1898

Brief vom 23.April 1898

Brief vom 16.Juli 1898

Brief vom 13.August 1898

Brief vom 4.April 1899

Brief vom 1.Oktober 1899

*Brief vom 7.Oktober 1899

Brief vom 21.Dezember 1899

Brief vom 3.Januar 1900

Brief vom 8.Februar 1900

Brief vom 14.April 1900

Brief vom 15.Juni 1900

Brief vom 9.Juli 1900

Brief vom 13.Oktober 1900

Brief vom 23.Dezember 1900

Brief vom 18.Mai 1901

Brief vom 13.Juni 1901

Brief vom 10.September 1901

Brief vom 16.August 1902

*Brief vom 12.September 1902

*Brief vom 26.Dezember 1902

Brief vom 19.April 1903

Brief vom 15.September 1903

Brief vom 21.September 1903

Briefe von Alois Mailänder an Hedwig Meyer

Mailänder an Hedwig Meyer – 17.Dez. 1896

Mailänder an Hedwig Meyer – 22.Dez. 1900

Mailänder an Hedwig Meyer - 28.Juni 1901

Briefe von „Gabriele” an Gustav Meyrink

Crescentia an Ruben - 11.April 1893

Crescentia an Ruben - 31.März 1895

Crescentia an Ruben - 8.August 1895

Crescentia an Ruben - 25.Juni 1897

Weitere Briefe und Mitschriften aus dem Bruderheim.

Ruth an Maria - 28.November 1894

Ruth an Maria - 23.Dezember 1894

Mitschrift vom 30.März 1895

Mitschrift vom 7.November 1897

Spuren im Leben von Gustav Meyrink

„Die Verwandlung des Blutes”

Typoskript vom 7.August 1930

Editionsbericht

Zu den Briefen an Gustav Meyrink

Zu den Briefen an Hedwig Meyer

Zu den Briefen von „Gabriele”

Mitschriften

Verzeichnisse

Personenverzeichnis

Literaturverzeichnis

I Gustav Meyrink und Alois Mailänder

Wie wurde aus dem Bankier Gustav Meyer in Prag der Schriftsteller Gustav Meyrink (1868 - 1932), der mit seinen Erzählungen und Romanen sein Publikum fesseln konnte? Einen Bestsellerautor lernt man normalerweise durch das Werk kennen, mit dem er berühmt wurde. Viele interessieren sich für Gustav Meyrink seines geheimnisvollen, spannenden Romans „Golem” (1916) wegen.

Bei mir war es anders. Ich beschäftigte mich mit der Frage, auf welchen verborgenen, oft verschlungenen Wegen der Yoga- Gedanke im 19.Jahrhundert nach Europa kam. Im Verlauf meiner Recherchen tauchte der Name Gustav Meyrinks auf. Das machte mich neugierig. Ich lernte ihn kennen als einen der ersten, die sich im neunzehnten Jahrhundert schon ernsthaft mit der Theorie und vor allem mit der Praxis des Yoga auseinandergesetzt haben. So erwachte in mir dann auch ein Interesse für den Schriftsteller Gustav Meyrink. Beides gehört zusammen. Meyrink war ein bedeutender Erzähler und Schriftsteller. Aber auch seine Einsichten in den Yoga sind so bedeutsam, dass man aus ihnen nur lernen kann. Die Entdeckungsgeschichte des Yoga in Europa lässt sich nicht schreiben, ohne ihn zu erwähnen. Meyrink betrieb den Yoga mit solcher Ausdauer und unerbittlichen Hartnäckigkeit, dass man darüber genau so erschaudert wie über die geheimnisvoll gruseligen Szenen seiner Erzählungen.

Gustav Meyrink hatte über seine Freundschaft mit Friedrich Eckstein in Wien einen direkten Zugang zu indischem Gedankengut bekommen. Der sieben Jahre ältere Friedrich Eckstein (1861–1939) war ein interessanter Mensch, ein unermüdlicher „Networker” in der kulturellen Szene Wiens, immer bestens informiert und neugierig zu erfahren, was vor sich ging. Sein soziales Umfeld war groß. Über fünfzig Jahre lang pflegte er die vielseitigsten Kontakte zu nahezu allen bedeutenden Kulturträgern der Stadt Wien. Täglich war er in seinem Standquartier, dem Literatencafé Griensteidl (später im Café Imperial), wo man ihn im Austausch mit den Intellektuellen und Künstlern der Stadt antreffen konnte. Er betrieb eine regelrechte „Ideenbörse”. Hier traf man Industrielle, Musiker, Literaten, Politiker aller Couleur, Sozialisten, Frauenrechtlerinnen, konservative Vertreter aller Stände, Freimaurer, aufgeklärte Theologen, Ärzte, Psychologen und Mathematiker. Wien war um die Jahrhundertwende ein Umschlagplatz aller progressiven Ideen und Friedrich Eckstein ein Katalysator.

Im neunzehnten Jahrhundert war Wien neben Berlin, Paris und London auch ein Zentrum ostasiatischer Forschung. Hier lehrte der berühmte Indologe Georg Bühler, ein Professor mit charismatischer Ausstrahlung. Daneben Karl Eugen Neumann, der an der ersten deutschen Übersetzung des buddhistischen Pali Kanons arbeitete. Den Lehrstuhl für Indologie (heute: Institut für Südasien-, Tibet- und Buddhismuskunde) gab es in Wien schon seit 1845. Was hier gefunden, spekuliert und begeistert weitererzählt wurde, erfuhr Gustav Meyrink kurze Zeit darauf durch seinen Horchposten vor Ort, Friedrich Eckstein. Davon fasziniert, las er die ersten englischsprachigen Übersetzungen alter ehrwürdiger Yogatexte und er bezeugt, dass er zeitweise bis zu acht Stunden täglich verschiedene Techniken des Yoga selbst geübt habe1. Wer sich im neunzehnten Jahrhundert mit Yoga beschäftigen wollte, konnte dies nur autodidaktisch tun. Heute gibt es Yogakurse an jeder Volkshochschule. Gustav Meyrink hat sich schon hundert Jahre zuvor selbständig, aufgrund seiner Lektüre und im Austausch mit Freunden, konsequent und mit hartnäckigem Willen ausgerüstet, in dieser Disziplin geübt. Seine Werke künden davon – wenn man zwischen den Zeilen zu lesen vermag. Aus Wien erhielt er Anregungen, Hinweise auf interessante Literatur und Studienmaterial. In Prag traf er sich regelmäßig mit guten Freunden und pflegte mit ihnen den Austausch über Fragestellungen und innere Erfahrungen in der 1891 gegründeten Loge „Zum Blauen Stern“2. Man tauschte sich aus über alles, was es an neuen, faszinierenden Themen gab. Man nannte es „Okkultismus”: paranormale Erscheinungen, Spukphänomene, Traum und Präkognition, Fakirtum, christliche Mystik und fernöstliche Yogatechnik. In den rund zehn Jahren, die Gustav Meyrink in Prag lebte, trat er äußerlich als Bohemien und Bürgerschreck auf. In seinem privaten Leben aber war er von einer unbändigen Suche nach Sinn erfüllt. Erlebnisse suchte er in sehr unterschiedlichen Zirkeln: Bei Theosophen, Freimaurern, Illuminaten – bei wahren Experten und bei solchen, die vorgaben, wahre Experten zu sein. In satirischer Weise und mit trefflichen Worten charakterisierte er später entlarvend das bunte Milieu, in dem er sich damals bewegte3. Meyrink korrespondierte mit dem Wiener Theosophen Carl Polykarp zu Leiningen-Billigheim (1860-1899) über den „Kerning – Orden“, mit dem Theosophen und Erforscher der Hermetik, G.R.S.Mead, mit William Wynn West­cott, dem Begründer des Golden Dawn und mit Yohn Yarker, der erloschene freimaurerische Orden wieder zum Leben erwecken wollte4. Was suchte Meyrink in diesen Zirkeln? Er formulierte später „... dass hinter dem Trieb zum Okkultismus der Hang zur Freiheit im Menschenherzen steht”5. Spuren dieser Suche findet man überall im literarischen Werk Meyrinks. Das weist die schöne Meyrink-Biographie von Hartmut Binder auf6.

Ein Thema aber hat bisher noch nicht den Stellenwert gefunden, das ihm zukommt: Meyrinks jahrelange Beziehung zu Alois Mailänder, Meyrinks geistlichem Begleiter in der Prager Zeit. Wer war Alois Mailänder? Der Kontakt zu diesem Menschen wurde Meyrink durch Friedrich Eckstein vermittelt. Alois Mailänder aufzusuchen, war ein Geheimtipp, der im theosophischen Milieu und in Künstlerkreisen Wiens und Münchens weitergereicht wurde. Dort las man die Abhandlungen von Joseph Görres über christliche und orientalische Mystik, man interessierte sich für die Stigmatisationen der Katharina Emmerich, man diskutierte über Hellsichtigkeit und Präkognition in Träumen, man erschauderte beim Anhören von Spukgeschichten. Wer ernsthaft diese Dinge erforschen wollte, der trat der Psychologischen Gesellschaft bei, suchte Kontakt zum „Geisterbaron” Schrenck-Notzing, oder schloss sich einem theosophischen Freundeskreis an, in dem darüber gesprochen wurde. Meyrinks Interesse am Okkultismus hielt an. Noch im Jahr 1920 wurde seine Teilnahme an psychologisch- okkultistischen Experimenten in Sitzungsberichten der „Psychologischen Gesellschaft” vermerkt7.

Alois Mailänder (1843–1905) war ein einfacher Mann, der sich in einer mechanischen Weberei in Kempten im Allgäu als Vorarbeiter mühsam seinen Lebensunterhalt verdiente. Er konnte kaum lesen oder gar schreiben, wurde aber wegen seiner mystischen Begabung zwischen 1885 und 1905 von vielen Künstlern und Theosophen aus dem Münchener Milieu aufgesucht. Um Alois Mailänder und seine Familie herum sammelte sich eine Gruppe von Menschen, die das Leben der Hausgemeinschaft zeitweise teilen durfte. Diese Gemeinschaft zog immer mehr interessierte Menschen an, sodass ihr Gemeindeleben durch Außenstehende immer mehr gestört wurde. Dies mag ein Grund sein, warum die Hausgemeinschaft im von Kempten im Allgäu in das weit entfernte hessische Dorf Dreieichenhain in der Nähe von Frankfurt am Main umgezogen ist. Hier lebte die Gemeinschaft weitgehend ungestört, wenngleich sie von der Dorfbevölkerung wegen der vielen Unbekannten, die von irgendwoher auftauchten nach einiger Zeit wieder irgendwohin abreisten bisweilen misstrauisch beäugt wurde. Durch eine Stiftung wurde die Hausgemeinschaft in Dreieichenhain von wohlhabenden Mäzenen wirtschaftlich getragen, sodass die aufreibende Fabrikarbeit aufgeben werden konnte. Nur einzelne Schüler wurden fortan eingeladen, die über Tage oder gar Wochen am Gemeindeleben teilnehmen durften und in dieser Zeit von Alois Mailänder geistlich begleitet wurden. Über lange Zeiten hinweg betreute Mailänder mit seinem Rat diejenigen, die er als seine „Schüler” aufgenommen hatte. Er nahm lange nicht jeden als seinen Schüler an; manch einer wurde abgewiesen.

Wer als Schüler aufgenommen wurde, dem hielt Mailänder über Jahre hinweg seine Treue. Wer als Schüler aufgenommen war, der berichtete dem geistlichen „Führer” in regelmäßigen Abständen von seinem inneren Leben, von Fortschritten und Rückschlägen, von inneren Erlebnissen, von Lebenskrisen und von seinen Lebensumständen. Sofern es möglich war, besuchte man Mailänder regelmäßig in längeren Zeitabständen oder man hielt zumindest brieflich Kontakt zu ihm. Aus der Zeit, in der Gustav Meyrink Schüler von Alois Mailänder war, sind 44 Briefe erhalten, die Mailänder für Gustav Meyrink diktiert hat. Die dazu gehörigen Briefe Meyrinks an Mailänder sind verschollen.

Mailänder war ein Mensch, der von seinen Schülern außerordentlich geschätzt wurde. Er nannte sich „Bruder Johannes“. Öffentlich wurde über ihn nicht gesprochen. Im Gegenteil: Jeder, der als Schüler von diesem Mann angenommen wurde, musste versprechen, darüber in der Öffentlichkeit zu schweigen. An diese eiserne Regel hielten sich zu seinen Lebzeiten alle seine Schüler. Erst nach seinem Tod sprach der eine oder andere über ihn, aber auch dann nur in einer anonymisierenden Weise und stets im Verschweigen von Mailänders bürgerlichem Namen. Auf diese Weise wurde er von seinen Schülern gegen die Öffentlichkeit durch ein Schweigegebot abgeschirmt. Wer sein Schüler sein wollte, musste geloben, nichts über ihn und über seinen Unterricht anderen Menschen mitzuteilen. Auch trachteten Mailänders wohlhabende Mäzene danach, ihren Lehrer ganz „für sich” zu haben, um sich exklusiv von ihm beraten zu lassen. Es bestand ja auch eine Gefahr, dass Mailänder in der Öffentlichkeit von beißender Kritik hätte überzogen werden können. Dies hatte man am Beispiel der stigmatisierten Bäuerin Katharina Emmerich beobachtet. So wollte man Mailänder vor dem Zugriff der Sensationslüsternen und der Kritiksucht der Intellektuellen schützen. Er sollte die Möglichkeit haben, in aller Ruhe seinen inneren Weg zu gehen und in Muße seine Schüler zu begleiten.

Heute wüsste man nichts mehr von Alois Mailänder, wenn nicht einige seiner Schüler nach seinem Tod über ihn berichtet hätten. Von nun an fühlten sie sich von ihrem Schweigegebot entbunden. Die ersten Schilderungen zum Leben und zu der Art der geistlichen Führung, die Mailänder gab, verdanken wir seinen Schülern Gustav Meyrink und Karl Weinfurter. Sie begannen um 1930 von ihm zu reden. Doch in ihren Schilderungen wagten sie noch nicht, Mailänders Namen auszusprechen. Der geistliche Lehrer, von dem Meyrink und Weinfurter nun berichteten, bekam erst 1956 ein Gesicht, als Briefe aus dem Nachlass von Wilhelm Hübbe-Schleiden gefunden wurden, die den anonymen „Lehrer” mit dem Bürger Alois Mailänder aus Dreieichenhain identifizierten. Von daher ist zu verstehen, dass das geschichtliche Quellenmaterial zu Alois Mailänder erst nach und nach freigelegt wurde. Was im in unserer Darstellung über Mailänder ausgebreitet wird, beruht auf folgenden Quellen:

Im „Ortssippenbuch“ von Dreieichenhain, Mailänders letztem Wohnort, findet man Karteieinträge zu ihm und zu den Mitgliedern seiner Hausgemeinschaft in Dreieichenhain8. Diesen Einträgen sind Verwandtschaftsbeziehungen und Lebensdaten zu entnehmen.

Abbildung 2: Auszug aus dem „Ortssippenbuch” von Dreieichenhain

Von Alois Mailänder selbst sind folgende Zeugnisse erhalten:

Zuerst sind da die

44 Briefe

von Alois Mailänder an Gustav Meyrink aus der Zeit zwischen 1892 und 1903, die wir in der hier vorliegenden Sammlung präsentieren

9

.

Abbildung 3: Ausschnitt aus dem Nachlassverzeichnis von Gustav Meyrink. Die hier angeführten Personenbezeichnungen sind teilweise falsch. („Gabriele” meint Crescentia Gabele, statt „Mena” muss es „Hedwig Aloysia Meyer” heißen).

Dann gibt es Mitschriften aus den Versammlungen der Hausgemeinschaft, in denen Mailänder erbauliche Ansprachen hielt

10

: Einzelne Äußerungen Mailänders wurden ausschnitthaft zusammengefasst, von Mailänder autorisiert und dann als Sammlung mit dem Titel „

Seelenlehre

“ handschriftlich in der Schülerschaft verbreitet. Technisch lief das so ab, dass den Schülern ein Exemplar anvertraut wurde, das diese dann handschriftlich kopieren durften, bevor sie es wieder zurückgeben mussten. Manchmal wurde man von Mailänder angewiesen, die Sammlung einem anderen Schüler weiter zu leiten. Im Brief vom 11.April 1893 wurde Meyrink von „Gabriele” in dieser Weise angeleitet, Mailänders „Seelenlehre” einem Schüler nach Hamburg (Bernhard Hubo?) zu senden. Eine Abschrift der „Seelenlehre” im Nachlass von Wilhelm Hübbe-Schleiden ist erhalten geblieben

11

.

Eine andere Sammlung von Aufzeichnungen aus Mailänders Autorenschaft erhielt den Titel „

Formenlehre

“. Von dieser Sammlung ist im Nachlass von Hübbe-Schleiden nur ein kleiner Bruchteil erhalten. Hier handelt es sich um eine Sammlung von bildhaften Begriffen, denen eine bestimmte Symbolik zugeschrieben wurde

12

.

Von Mailänders Schülern sind einige ausführliche Schilderungen erhalten. Der Theosoph und Mailänder – Schüler Franz Hartmann hat schon zu dessen Lebzeiten einiges davon veröffentlicht, obwohl das der Übereinkunft mit Mailänder eigentlich widersprach. Deshalb hat Hartmann anonymisierend über Mailänder und seinen Kreis gesprochen, so dass man aus seinen Veröffentlichungen nicht entnehmen kann, wer gemeint war:

1885: eine erste Ankündigung über die geistliche Hausgemeinschaft Mailänders.

13

1886: „An Interview with a German“

14

(Alois Mailänder).

1886: Ein Aufsatz von Hartmann über die Art und Weise, in der Mailänder arbeitete: „Occultism in Germany”

15

1900: Biographisches über Hartmanns Beziehung zu Mailänder und dessen Hausgemeinschaft sowie „Auszüge aus verschiedenen Briefen“ von Mailänder

16

.

Ausführliche Auskunft inhaltlicher Art gaben auch noch zwei weitere Schüler von Alois Mailänder: Gustav Meyrink und Karl Weinfurter. Der Schriftsteller Gustav Meyrink hat seine Äußerungen zu Mailänder in eine sehr persönlich gehaltene biographische Skizze17 eingebracht, in der er seinen eigenen inneren Werdegang schilderte. Dabei beschrieb er, welche Bedeutung Mailänder für ihn hatte.

Der deutsch-tschechische Schriftsteller Karl Weinfurter, der sich als einen der letzten Schüler von Mailänder bezeichnete, hat sehr ausführlich über ihn berichtet. Weinfurter hat in seinem Buch „Der brennende Busch” neben wichtigen biographischen Einzelheiten die Art der Schulung beschrieben, die Mailänder mit seinen Schülern betrieb18. Man merkt den Abhandlungen Meyrinks und Weinfurters an, dass diese beiden Schüler ihrem Lehrer einmal recht nahe gestanden haben müssen. Was später zu Mailänder gesagt wurde, ist aus zweiter Hand.

Die Literatur bezieht sich oft auf Aussagen von

Emil Bock

, einen Priester der Christengemeinschaft. Bock würdigte in seinen „Studien zum Lebenslauf Rudolf Steiners” in einem längeren Kapitel Alois Mailänder als christlichen Mystiker und betonte, dass einige Schüler Mailänders nach dessen Tod besonders engagierte Anthroposophen wurden. Der Aufsatz von Bock sticht dadurch hervor, dass er die bürgerlichen Namen von Alois Mailänder und Nikolaus Gabele nennen kann. - Bock hatte Einblick in den Nachlass von Hübbe-Schleiden genommen.

19

Allerdings war Bocks Recherche nur flüchtig. Bock ist vieles entgangen; unter anderem, dass sich im Nachlass Hübbe-Schleidens ein Exemplar von Mailänders „Seelenlehre” befindet.

Auch

Herbert Hahn,

ein Waldorflehrer aus Stuttgart, erwähnte in seiner Steiner-Biographie (1961) Alois Mailänder bei seinem bürgerlichen Namen. Er bezeichnete Mailänder als einen Wegbegleiter von vielen, die später Anhänger von Rudolf Steiner geworden sind

20

.

Aufgrund des hier aufgelisteten Quellenmaterials kann man sich eine erste Vorstellung davon machen, wer Alois Mailänder war und welche Bedeutung er für seine Schülerinnen und Schüler gehabt hatte.

Alois Mailänder ist 1843 als uneheliches Kind in einem Teilort von Ravensburg im Hinterland des Bodensees geboren worden. Seine Mutter war Saisonarbeiterin aus Tirol, die später in einer mechanischen Weberei von Kempten im Allgäu Arbeit fand. Dort arbeitete später auch ihr Sohn Alois, erst als einfacher Weber, dann als Vorarbeiter an mechanischen Webstühlen. Die Arbeit war anstrengend. Zehn Stunden stand man im Lärm der Webstühle, die man sorgfältig beobachten, warten und beschicken musste. Wenn das Garn zu Ende war oder ein Fehler auftrat, musste man sofort handeln. Als Einzelkind einer alleinstehenden Arbeiterin aufzuwachsen war ein hartes Schicksal. Alois hat nie die Schule besuchen können. Wahrscheinlich wurde er von klein an am Arbeitsplatz der Mutter für Handreichungen herangezogen.

Nach eigenen Angaben hat Mailänder als junger Erwachsener eine tiefe Lebenskrise erlitten. Diese Lebenskrise mag mit seiner ersten Ehe zusammenhängen. Im „Ortssippenbuch Dreieichenhain“, dem Ort, in dem Mailänder von 1890 bis zu seinem Tode 1905 lebte, ist verzeichnet, dass Alois Mailänder zweimal verheiratet war und einen Sohn namens „Peter“ gehabt habe, von dem allerdings jegliche Geburts- und Todesdaten fehlen21. Hatte Alois Mailänder seine erste Frau und seinen Sohn auf tragische Weise verloren? Darüber ist nichts berichtet. Als er in tiefster Krise war, so sagte Mailänder später, sei ein einfacher Mann, ein Schreiner namens Prestel, von sich aus auf ihn zugekommen und habe ihm geistlichen Beistand geleistet. Womit ihm geholfen worden sei, sagte er nicht. Und wer dieser „Prestel“ war, kann man auch nicht mehr herausfinden. In Kempten leben noch heute viele Menschen mit dem Namen „Prestel“.

Die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Ehepaaren Mailänder und Gabele waren sehr eng. Alois Mailänder und sein Schwager Nikolaus Gabele waren beide verwitwet. Mit 27 Jahren heiratete Mailänder in zweiter Ehe die Schwester von Nikolaus Gabele, ein Jahr darauf wiederum heiratete Nikolaus Gabele in zweiter Ehe die Schwester von Mailänders verstorbener Ehefrau aus erster Ehe.

Als Mailänder 33 Jahre alt war (1876), hatte er ein religiöses Erweckungserlebnis22. Von diesem Zeitpunkt an nannten sich alle in der Familie „Bruder und Schwester im Herrn“. Auch verwendete man biblische Namen füreinander. Alois Mailänder wurde »Bruder Johannes« genannt, seine Frau Karoline erhielt den „Geistnamen” »Ruth«, sein Schwager Nikolaus Gabele, »Salomo«, und seine Schwägerin Crescentia Gabele, »Gabriele«. Dieses Gebaren wurde beibehalten und später erhielten auch alle Schüler Mailänders biblische „Geistnamen“, mit denen sie angeredet wurden. Gustav Meyrink zum Beispiel erhielt anfänglich den Namen »Ruben«, der später zu »Ruben Juda« erweitert wurde. Die familiäre Hausgemeinschaft wurde geöffnet zu einem „Heim“, in das andere Menschen zur Schriftlesung, zum gemeinsamen Gebet oder auch zur Meditation von individuellen Mantren einbezogen wurden.

Die Landbezirke Kempten und Ravensburg gehörten politisch zum Land Württemberg und wurden kirchlicherseits von Stuttgart aus verwaltet. Die religiöse Atmosphäre in diesen Enklaven war streng evangelisch, pietistisch, oft geprägt von der „Korntaler Reform“. Das persönliche Verhältnis der Seele zu Gott wurde mehr gepflegt als der Kirchgang. In diesem Milieu spielten Privatoffenbarungen eine große Rolle. Es werden die Namen von Jakob Lorber (1800-1860), von Johann Heinrich Jung-Stilling (1740-1817), von Emanuel Swedenborg (1688-1772) und Jakob Boehme (1575-1624) erwähnt. Auch das katholische Umfeld der evangelischen Enklave war sehr fromm, es war geprägt von der „Allgäuer Erweckungsbewegung”, die auf den charismatischen Theologen Michael Sailer (1753-1832) zurückgeht. In einem Brief, den Mailänders Schwägerin Crescentia Gabele an Gustav Meyrink schrieb (Brief vom 8.August 1895), werden die Anhänger Jakob Boehmes in der Philadelphian Society von England, Jakob Pordadge und dessen Nachfolgerin Jane Leade, erwähnt.

Wie es dazu kam, dass Mailänder über seinen kleinen Umkreis in Kempten hinaus wahrgenommen wurde, ist ungeklärt. Ein frühes Zeugnis von Mailänder als bedeutendem Mystiker gab der Theosoph Franz Hartmann [1885/86/87-1900]. In Donauwörth geboren, ist Hartmann in Kempten aufgewachsen. Hartmanns Vater praktizierte dort als Arzt. Wie Hartmann mit Nikolaus Gabele und danach mit Alois Mailänder bekannt wurde, berichtete Hartmann in folgenden Worten:

„Im Frühjahr 1885 reiste ich mit H. P. Blavatsky nach Neapel und wurde bald darauf mit einer kleinen Familie von christlichen Mystikern bekannt, die unter sich einen Kreis bildeten, der sich mit der Förderung des innerlichen Lebens beschäftigte.”23 Und er fährt fort:

„Die Familie von S. [Salomo] war mir nicht ganz fremd; meine Eltern hatten schon zwanzig Jahre früher mit ihr in Beziehungen gestanden“24.

Wenn man die Liste von Mailänders Schülern durchgeht, findet man einige von ihnen im Raum München. Dort lebte auch Hartmanns Schwester, Baronin Caroline von Spreti mit ihrem Mann Adolf Graf von Spreti. Nach dem Zeugnis von Emil Bock bekam der damalige Präsident der Theosophischen Societät, Wilhelm Hübbe-Schleiden, über das Ehepaar von Spreti einen Zugang zum Kreis um Alois Mailänder25. Spretis hatten Kontakte zum Künstlermilieu, in dem Gabriel von Max eine große Rolle spielte. Dieser war ein bedeutender Maler, der die romantische Kunstauffassung seiner Zeit prägte. Er hatte einen Lehrstuhl inne an der der Kunstakademie von München. Gabriel von Max stand im Zentrum der romantischen Bewegung in Bayern. Er wurde bekannt durch Gemälde mit religiösem Inhalt, die oft Motive aus der Volksfrömmigkeit aufgriffen. Eines seiner heute noch bekannten Gemälde stellt Katharina Emmerich aus Dülmen dar, die schlichte Bäuerin, die wegen ihren Visionen in den Mittelpunkt heftiger gesellschaftlicher Kontroversen geraten war. An ihren Händen und auf ihrer Stirn hatten sich die Wundmale Jesu gezeigt. Die Romantiker bewegte diese Lebensgeschichte tief; was man hier beobachten konnte, mobilisierte ein ganzes Spektrum von Fragen im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Bewusstseinszuständen, welche die Seele im Traum, in Präkognition, im Hellsehen und beim Somnambulismus einnimmt. Gabriel von Max war auch dem Spiritismus gegenüber aufgeschlossen. Er war befreundet mit dem Privatgelehrten Carl Freiherr du Prel (1839-1899), der eine „Psychologische Gesellschaft” zur wissenschaftlichen Erforschung dieser Phänomene gegründet hatte. Auch der „Geisterbaron” Albert von Schrenck-Notzing (1862-1929) spielt hier eine Rolle, dessen Seancen von Thomas Mann und Gustav Meyrink aufgesuchte wurden. Beide, Maler Gabriel von Max und Carl du Prel, wurden Mitglied der 1884 gegründeten Theosophischen Societät Germania, die im Hause des Malers in Ambach am Starnberger See ihre zweite Mitgliederversammlung mit der Anwesenheit von H.P.Blavatsky feierte.26

Aufgeschlossene und suchende Menschen aus diesem Milieu wurden auf eine bisher noch unbekannt gebliebene Weise mit dem einfachen Webergesellen Alois Mailänder bekannt. Von den Herrschaften aus der Stadt wurde Mailänder neugierig beäugt, bestaunt, abfällig beurteilt und von einigen auch verehrt. Die Tatsache, dass er immer mehr in den Fokus von Neugierigen geriet, die aus der Hauptstadt zu ihm aufs Land hinaus pilgerten, veranlasste dann seine engsten Verehrer, ihn „aus dem Verkehr zu ziehen”. Man wollte ihn abschirmen gegen die Gaffer, die auf Sensation aus waren. Man wollte vermeiden, dass ihm dasselbe Schicksal zuteil würde wie Katharina Emmerich, die so in den Mittelpunkt neugieriger Blicke geraten war, dass sie keine Ruhe mehr fand.