9/11 - Mitchell Zuckoff - E-Book
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9/11 E-Book

Mitchell Zuckoff

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Beschreibung

Geschichten, die man nie mehr vergisst: Es ist ein ganz normaler Dienstag im September. Die kleine Christine freut sich auf ihren ersten Flug zu ihren Großeltern. John – Pilot bei United Airlines – verlässt im Morgengrauen leise das Haus, um Frau und Kinder nicht zu wecken. Und der Architekt Ron nutzt die Fahrt mit der Fähre, um sich auf ein Meeting im World Trade Center vorzubereiten … 9/11 ist das entscheidende Ereignis unseres Jahrhunderts. Nach 20 Jahren ist es Teil unserer Geschichte geworden. Erst jetzt kann man angemessen davon erzählen. Mitchell Zuckoff rekonstruiert jede Minute dieses Morgens aus der Perspektive derjenigen, die das Schlimmste erlebt haben. Er folgt den Passagieren und Besatzungsmitgliedern in den vier Flugzeugen; den Menschen, die in den brennenden Zwillingstürmen und im Pentagon gefangen sind; den Rettungskräften, die ungeheuer tapfer, aber oft vergeblich ihr eigenes Leben für das anderer aufs Spiel setzen; den ahnungslosen Passanten, auf die der Tod in Shanksville, Pennsylvania, buchstäblich vom Himmel niederregnet. Zuckoff erzählt Geschichten von Leid, Verlust, Mut und Selbstlosigkeit, die niemanden unberührt lassen. Ein dokumentarisches Meisterwerk – episch und zugleich zutiefst persönlich. »Seit der Lektüre dieses Buchs kommt es mir vor, als sei ich dabei gewesen: saß in der Falle eines brennenden Stockwerks, eingeklemmt zwischen Möbelstücken und herabstürzendem Gips, verzweifelte im geschlossenen, stehengebliebenen Lift oder suchte als einer der Helfer meinen Weg durch Asche und Staub. Bilder, die im Kopf bleiben.« Petra Gerster Endnoten übersetzt von Heide Franck

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Seitenzahl: 1046

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Mitchell Zuckoff

9/11

Der Tag, an dem die Welt stehen blieb

Aus dem Englischen von Tobias Schnettler

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Motto][Karten]Einleitung »Die Finsternis der Ignoranz«Prolog »Eine eindeutige Kriegserklärung«Teil 1 Sturz vom HimmelKapitel 1 »Stille ist was Gutes«Kapitel 2 »Er ist NORDO«Kapitel 3 »Ein schöner Tag zum Fliegen«Kapitel 4 »Ich glaube, wir werden entführt«Kapitel 5 »Keine Sorge, Dad«Kapitel 6 »Der Beginn des Dritten Weltkriegs«Kapitel 7 »Vorsicht vor Einbruch ins Cockpit«Kapitel 8 »Amerika wird angegriffen«Kapitel 9 »Gib ihm Mut«Kapitel 10 »Los geht’s«Teil 2 Sturz zu BodenKapitel 11 »Wir brauchen dich«Kapitel 12 »Was hab ich für ein Glück!«Kapitel 13 »Rette mich, Gott!«Kapitel 14 »Wir werden Brüder fürs Leben sein«Kapitel 15 »Die wollen uns umbringen, Jungs«Kapitel 16 »Die haben das Pentagon in die Luft gejagt«Kapitel 17 »Ich glaube, die Gebäude stürzen ein«Kapitel 18 Sie stürmen vor, wo die Tapfersten fliehnKapitel 19 »Merken Sie sich diesen Namen«Kapitel 20 »Das ist euer Flugzeugabsturz«Kapitel 21 »Mayday, Mayday, Mayday!«Teil 3 Aufstieg aus der AscheKapitel 22 »Ihre Schwester und Nichte werden niemals einsam sein«AnhangDie GefallenenZeitlicher Ablauf der wichtigsten Ereignisse des 11. September 2001DanksagungAnmerkungenAusgewählte BibliographieRegister

Für meine Kinder –

und die aller anderen

Die Verheerungen manch eines längst vergangenen Waldbrandes lassen sich noch heute an den Narben ablesen, die am Baum zurückgeblieben sind. Das genaue Jahr des Brandes und eine Vorstellung seiner Intensität sind ins Holz eingeschrieben, oft überwuchert von lebendigem Gewebe und verborgen vor dem flüchtigen Betrachter.

Der Waldpathologe J.S. Boyce, 1921[1]

Einleitung»Die Finsternis der Ignoranz«

Am 28. Oktober 1886 fuhr Präsident Grover Cleveland zu einer tränenförmigen Insel im Hafen von New York, um Frankreichs Geschenk der Freiheitsstatue offiziell entgegenzunehmen. Unter bleiernem Himmel und bei leichtem Nebel beendete der Präsident seine Rede mit einer Hommage an die Fackel der in Kupfer gewandeten Dame und an ihre symbolische Kraft: »Ein Strahl des Lichts soll die Finsternis der Ignoranz und der Unterdrückung des Menschen durchbrechen, bis die Freiheit die Welt erleuchtet.«[2]

Würdenträger schlugen feierlich die allerletzten Nieten ein, während Kriegsschiffe Kanonen abfeuerten. Am Ufer, in Lower Manhattan, brachen die Zuschauer in Jubel aus. Kopfsteinpflasterstraßen erzitterten von wiehernden Pferden und Trommelschlägen und leuchteten von Blumenständen voller Blüten. Blaskapellen marschierten wie Soldaten auf dem Weg zur Front, und Kinder kletterten Laternenpfähle hinauf, um nicht niedergetrampelt zu werden.

Besucher, die vom Spektakel angezogen wurden, legten den Kopf in den Nacken, um die unvorstellbar großen Gebäude zu betrachten, die über ihnen emporragten. Weil ihn diese in den Himmel guckenden Landeier amüsierten, kam einem Büroboten in einem der hohen Türme eine verwegene Idee. Er öffnete ein Fenster und warf einige Bahnen des schmalen Papiers hinaus, auf denen normalerweise das trunkene Schwanken der Aktienkurse notiert wurde. Seine Freunde taten es ihm nach.

»In kürzester Zeit war die Luft weiß von sich windenden Luftschlangen«, bemerkte ein Reporter der New York Times. »Hunderte davon verfingen sich im Netz der Stromkabel und bildeten ein verschneites Dach, und andere fielen herab und wurden von der Menge aufgefangen.«

Der Spaß war ansteckend. Ernste Männer der Finanzwelt wurden wieder zu Jungs und drückten sich an die Bürofenster, um Papier auf die Menge herabzurollen. »Es nahm kein Ende«, schrieb der Times-Reporter. »Jedes Fenster schien eine Papierfabrik zu sein, die sich windende Streifen Papier ausspuckte. Das war die neue Art, in der Wall Street zu feiern.«[3]

Und so wurde die Wall-Street-Variante der Konfettiparade geboren.

Im Laufe der nächsten einhundertundfünfzehn Jahre segelten zahllose Tonnen Konfetti feierlich aus Hochhausfenstern auf einen Abschnitt des Lower Broadway herab, der als Canyon of Heroes bekannt wurde – als Schlucht der Helden. Stürme aus Papier wurden zu Ehren von mehr als zweihundert Entdeckern und Präsidenten, Kriegshelden und Sportlern, Astronauten und religiösen Figuren, Berühmtheiten von Einstein bis Earhart, von Churchhill bis Kennedy, von Mandela bis zu den Mets heraufbeschworen.

Dann kam der 11. September 2001.

Aufgerissen, in Flammen stehend, von innen immer schwächer werdend, spuckten die Zwillingstürme des World Trade Center Papier aus wie eine verletzte Pulsader Blut. Rechtsurkunden und Mitarbeitereinschätzungen. Gehaltsabrechnungen, Geburtstagskarten, Speisekarten. Zeitpläne und Blaupausen, Fotos und Kalender, Buntstiftzeichnungen und Liebesbriefe. Manche im Ganzen, manche zerrissen, manche brennend. Ein einzelner Fetzen Papier aus dem Südturm, der wie eine Flaschenpost aus einem sinkenden Schiff geworfen wurde, erfasste den Schrecken dieses Tages. Dort stand, neben einem blutigen Fingerabdruck, in hektischer Handschrift geschrieben:

84. Stock

Büro West

12 Pers. eingeschlossen[4]

Nach dem Papier kamen die Menschen. Nach den Menschen die Gebäude. Nach den Gebäuden die Kriege. Die Asche kühlte ab, doch nicht die Wut. Jahrelang konnten New Yorker keine Konfettiparade ertragen, vor allem nicht so nah an dieser heiligen Lücke, die Ground Zero getauft wurde.[5] Doch mit der Zeit wird das Undenkbare oft erträglich.

Im Februar 2012 gewannen die New York Giants als Außenseiter den Super Bowl. Zehntausende Footballfans kamen zusammen, um zu feiern, nur wenige Blocks von der Stelle entfernt, wo am One World Trade Center Stahlrohre als überwältigender »Freedom Tower« in den Himmel ragten, ein trotziger Mittelfinger an die Feinde Amerikas, höher und kühner als die kastenartigen Zwillinge, auf deren geheiligte Fußabdrücke das neue Gebäude herabblickte. Als die siegreichen Giants vorbeirollten und ihre Fans auf der Straße tanzten, flatterten sechsunddreißig Tonnen geschredderten Papiers auf sie herab.

An Konfetti gemessen, hatte die Rückkehr zum »Normalzustand« nur etwas mehr als zehn Jahre gedauert.

 

Mit der Zeit werden Nachrichten zu Geschichte. Und Geschichte, so hat einmal jemand gesagt, ist das, was anderen Menschen passiert ist.[6] Für all jene, die den 11. September erlebt haben, mag die Zeit die Wut und die Trauer abschwächen, die auf den Tod und die Zerstörung folgten, als Terroristen vier Passagierflugzeuge in Lenkraketen verwandelten. Doch die Erinnerungen sterben nicht. Der Schmerz, den die verheerendsten Terroranschläge der amerikanischen Geschichte ausgelöst haben, sitzt zu tief. Er hat psychische Narben hinterlassen, die uns jeden Tag dazu zwingen, an das davor und das danach zu denken und uns auf eine Welt einzustellen, die durch die Sicherheitscheckpoints physisch verändert und durch jede Erwähnung des »homeland« psychologisch verändert ist – ein Wort, das vor den Ereignissen des Tages, der in den USA als »9/11« bekannt ist, nur selten benutzt wurde.[7] (Die Abkürzung aus Monat und Tag wurde vor allem deshalb zur allgemein gültigen Abkürzung für die Anschläge, weil die Ziffernfolge dieselbe ist wie die des landesweiten Notrufsystems: 9–1–1; es lässt sich nicht sagen, ob die Terroristen das Datum aus diesem Grund ausgewählt haben.)

Schon jetzt hat eine komplette Generation keine unmittelbaren Erinnerungen an den 11. September, trotz der alltäglichen Auswirkungen auf ihr Leben. Der Historiker Ian W. Toll beschrieb diese Entwicklung in Bezug auf einen anderen schockierenden feindlichen Angriff, der ebenfalls zum Krieg führte: den Angriff auf Pearl Harbor, sechzig Jahre zuvor. »Der Lauf der Zeit nimmt die schneidende Dringlichkeit des Überraschungsangriffs hinweg und verhüllt sie in Schichten aus Erzählung und retrospektiver Beurteilung«, schrieb Toll. »Die Rückschau ermöglicht uns, die Krise einzuschätzen, doch sie nimmt uns zugleich die Fähigkeit, die unmittelbaren Sorgen derer nachzuempfinden, die sie durchleiden mussten.« Er zitierte John H. McGoran, einen Seemann auf dem dem Untergang geweihten Kriegsschiff USSCalifornia: »Wenn man es nicht selbst miterlebt hat, gibt es keine Worte, die es angemessen beschreiben können; wenn man dabei war, sind keine Worte nötig.«[8]

Auch wenn Worte scheitern können, sind sie unsere einzige Hoffnung, das Versinken des 11. September in die Untiefen der Geschichte hinauszuzögern. Das ist das Ziel dieses Buches. Es folgt dem Ansatz, die Geschichte dieses chaotischen Tages in drei Teilen zu erzählen: Die Ereignisse in der Luft, am Boden sowie das, was im Anschluss geschah. Der Fokus liegt dabei auf den einzelnen Akteuren, ihren Erfahrungen und Taten, von heldenhaft über herzzerreißend bis mörderisch. Für jeden Bericht, der hier aufgeführt ist, gibt es tausend andere, die ebenso wichtig sind. Ich habe versucht, Geschichten auszuwählen, die den Tag in seiner ganzen Tiefe und Breite abbilden, ohne dieses Buch in eine Enzyklopädie zu verwandeln. Das Ziel ist es, solchen Lesern eine frische Perspektive zu liefern, für die die Anschläge noch immer »News« sind, und für alle andere so etwas wie Erinnerungen zu schaffen.

Eine weitere Hoffnung ist persönlicher Art: Einigen der Menschen Namen zu geben, die direkt von diesen Ereignissen betroffen waren. Unter den beinahe dreitausend Männern, Frauen und Kindern, die am 11. September getötet wurden, ist wohl niemand, den man als vertrauten Namen bezeichnen könnte. Das »bekannteste« Opfer ist vielleicht der sogenannte Falling Man, der beim Sturz aus dem Nordturm des World Trade Center fotografiert wurde.[9] Doch selbst er bleibt für die meisten Menschen namenlos, ein anonymes Symbol.

 

Der Ursprung dieses Buches geht auf den Tag selbst zurück. Am 11. September 2001 schrieb ich, als Reporter des Boston Globe, die Titelgeschichte über die Anschläge, mit Unterstützung mehrerer Dutzend Kollegen. Mein Ansatz war zugleich historisch und lokal: beide entführten Flugzeuge, die die Zwillingstürme trafen, waren vom Logan International Airport in Boston gestartet. Fünf Tage später veröffentlichte ich, mit Hilfe von vier Reportern, eine Geschichte mit dem Titel »Six Lives«, die als Modell für dieses Buch dient.[10] Darin wurden die Geschichten von sechs Menschen miteinander verwoben, die von der Entführung des American Airlines Fluges 11 und der Katastrophe im Nordturm betroffen, dafür verantwortlich oder auf andere Weise damit verbunden waren. Wie wir damals erklärten, war die Geschichte so angelegt, dass sie »die gemeinschaftliche Erfahrung einer Nation [aufdeckt], erzählt anhand ihrer Erinnerungen und der Erinnerungen ihre Nächsten. Sie ist zugleich ein Denkmal für all jene, die getötet wurden, und ein Bericht über die, die überlebt haben.«

Vor einigen Jahren habe ich »Six Lives« an der Boston University besprochen, wo ich Journalismus unterrichte und wo mindestens achtundzwanzig Opfer des 11. September ihren Abschluss gemacht haben.[11] Als ich anschließend mit meinem Freund und Agenten Richard Abate sprach, teilten wir die Befürchtung, dass viele meiner Studenten, genauso wie einige unserer eigenen Kinder, nur eine geringe oder gar keine persönliche Verbindung zum 11. September verspürten. Manchen erschienen die Ereignisse so weit weg wie der Erste Weltkrieg. Diese Erkenntnis führte zu einer Idee: Ich könnte »Six Lives« ausbauen, so dass es nicht nur den ersten Flug und den ersten Turm umfasste, sondern alle vier Flüge und ihre außerplanmäßigen Ziele, gemeinsam mit den Wellen, die sie körperlich und emotional schlugen. Die Zeit würde nicht als Auslöscher, sondern als Verbündeter dienen, würde Informationen und eine Perspektive liefern, die erst in den Jahren seit dem 11. September möglich geworden war, um die Erzählung zu vertiefen, die zugleich zugänglich und wahr bleiben würde.

Wo wir gerade von Wahrheit sprechen: Dieses Buch befolgt strenge Regeln der erzählenden Nonfiction. Es nimmt sich keinerlei Freiheiten in Bezug auf Fakten, Zitate, Personen oder Chronologien heraus. Beschreibungen von Ereignissen und Personen basieren auf Erzählungen aus erster Hand oder auf zuverlässigen Quellen, die überprüft wurden und die, wo es angemessen ist, in den Endnoten genannt sind. Alle erwähnten Gedanken und Gefühle stammen jeweils von der Person, in deren Kopf sie entstanden sind, festgehalten in Interviews, persönlichen Berichten oder anderen Primärquellen.

Die Anschläge vom 11. September gehören zu den am meisten bearbeiteten Ereignissen der Geschichte. Es sollte daher nicht überraschen, dass die Geschichte einiger Personen in diesem Buch bereits anderswo erzählt wurde. Einige sind Thema ganzer Bücher, darunter Rick Rescorla, Welles Crowther, Father Mychal Judge, der ehemalige Anti-Terrorismus-Experte des FBI, John O’Neill, und zahlreiche Helden des United Flug 93. Manche der hier verwendeten Berichte basieren auf Aussagen, die beim Prozess gegen das al-Qaida-Mitglied Zacarias Moussaoui im Jahr 2006 getätigt wurden, der sich schuldig bekannte, an der Planung der Anschläge vom 11. September beteiligt gewesen zu sein. Ich habe Informationen aus Regierungsdokumenten, Polizeiberichten, Gerichtsprotokollen, Büchern, Zeitschriften, Dokumentationen sowie Sendungen und Online-Artikeln von zuverlässigen Quellen verwendet, die jeweils genannt sind, wo es angemessen ist. Vor allem stütze ich mich auf meine eigenen Interviews mit den Überlebenden, den Familien und Freunden der Umgekommenen, mit Zeugen, Ersthelfern, Regierungsvertretern, Wissenschaftlern und Soldaten.

Trotz meiner Bemühungen und jahrelanger Nachforschungen bleiben manche Fragen noch immer ohne Antwort. Bestimmte Details und Abschnitte des Ablaufs sind vage oder umstritten. Ich habe einige dieser Lücken und Differenzen im Text oder in den Anmerkungen angesprochen. Ich habe keine unbegründeten Mutmaßungen und keine Pseudowissenschaft aus dem Metier der Verschwörungstheorie rund um den 11. September berücksichtigt. Fakten sind stur und mächtig: Dies ist eine wahre Geschichte.

 

Die grundlegende Aufgabe des Journalismus, von der alltäglichen Berichterstattung bis zur erzählenden Geschichtsschreibung, besteht darin, sechs grundsätzliche Fragen zu beantworten: wer, was, wo, wann, warum und wie. Weil die Motivation das große Rätsel der menschlichen Existenz ist, ist das »warum« in der Regel die schwierigste dieser Fragen. Etwa so: »Warum haben Terroristen, die behaupteten, im Auftrag des Islam zu handeln, kommerzielle Passagierflugzeuge entführt, um sie am 11. September in US-amerikanische Zivil- und Regierungsziele zu steuern?«

Indem ich mich vor allem auf den Tag selbst konzentriere, überlasse ich eine tiefere Auseinandersetzung mit dieser Frage anderen. Leser, die sich eingehender mit dem »warum« beschäftigen möchten, sollten sich weitere Werke ansehen. Drei besonders lesenswerte sind Steve Colls exzellentes Ghost Wars: The Secret History of the CIA, Afghanistan, and Bin Laden, from the Soviet Invasion to September 10, 2001; Terry McDermotts Perfect Soldiers: The 9/11 Hijackers: Who They Were, Why They Did It; und Lawrence Wrights mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnetes Buch The Looming Tower: Al-Qaida and the Road to 9/11.

Wright zeichnet die Mächte, die Vordenker und die Ausführenden der am 11. September auftretenden Art des Dschihad nach, eines arabischen Wortes, das sich mit »Anstrengung« übersetzen lässt. Seine Leistung lässt sich nicht auf einige Zeilen reduzieren, doch er beschreibt meisterhaft die Einstellung der für die Anschläge Verantwortlichen:

Das Christentum – vor allem die missionierende amerikanische Variante – und der Islam waren offensichtlich konkurrierende Religionen. Mit den Augen von Männern betrachtet, die spirituell im siebten Jahrhundert verankert waren, war das Christentum nicht bloß ein Rivale, sondern der Erzfeind. Für sie waren die Kreuzzüge ein noch andauernder historischer Prozess, der niemals beendet sein würde, bis zum endgültigen Sieg des Islam.[12]

Wright bietet außerdem Einsichten über die Männer, die die Entführungen durchführten:

Radikalismus entsteht für gewöhnlich in der Lücke zwischen steigenden Erwartungen und sinkenden Möglichkeiten … Wut, Verbitterung und Erniedrigung trieb junge Araber dazu an, nach dramatischen Lösungen zu suchen. Das Märtyrertum versprach solchen jungen Männern eine ideale Alternative zu einem Leben, das so arm an Belohnungen war. Ein glorreicher Tod erwartete den Sünder, dem, wie es heißt, mit dem ersten Spritzer Blut vergeben sein würde, und er würde noch vor seinem Tod ins Paradies eintreten.[13]

Von den anderen hervorragenden Büchern über den 11. September, darunter die, die in der ausgewählten Bibliographie aufgeführt sind, verdienen es einige, hier hervorgehoben zu werden: The Ground Truth: The Untold Story of America Under Attack on 9/11 von John Farmer, dem Berater der Kommission zum 11. September, fasst zusammen, wie die Regierung und Verantwortliche des Militärs sich um die Öffentlichkeit verdient machten (und sie hinters Licht führten); The Eleventh Day: The Full Story of 9/11 von Anthony Summers und Robbyn Swan ist eine beeindruckende Darstellung von Informationen über die Ereignisse; und 102 Minutes von Jim Dwyer und Kevin Flynn von der New York Times hält, was der Untertitel verspricht: The Untold Story of the Fight to Survive inside the Twin Towers. Der Abschlussbericht der Kommission zur Untersuchung des 11. September ist eine wichtige Quelle, genauso wie die umfangreichen Stellungnahmen der an der Kommission Beteiligten, die Transkripte der Anhörungen und die Monographien. Ich habe sehr von der Arbeit des ehemaligen Kommissionsmitglieds Miles Kara profitiert, der noch immer die sehr aufschlussreiche Webseite »9–11 Revisited« betreibt, unter www.oredigger61.org

Auf den nachfolgenden Seiten ist es mein Ziel, das Versprechen einzulösen, das ich 2001 mit »Six Lives« gegeben habe: all denen ein Denkmal zu setzen, die getötet wurden, und von denen zu berichten, die überlebt haben. Und noch ein weiteres: Verständnis bei denen zu erzeugen, die nachfolgen.

Mitchell Zuckoff, Boston

Prolog»Eine eindeutige Kriegserklärung«

Dieses Buch könnte fast vier Jahrzehnte vor dem 11. September beginnen, im Jahre 1966, als Ägypten den fanatisch anti-westlichen Autor Sayyid Qutb hinrichtete, dessen Werk zwei Generationen von islamistischen Terrorgruppen als Inspiration diente. Oder noch weiter zurück, im Jahre 1918, mit der Niederlage des letzten großen islamischen Imperiums, des Osmanischen Reiches.[14] Oder noch weiter, im Jahre 1798, als Napoleon Bonaparte Ägypten besetzte. Oder siebenhundert Jahre davor, mit dem Beginn der Kreuzzüge. Oder wiederum fünfhundert Jahre davor, dem Punkt, an dem die Muslime glauben, dass die ersten Zeilen des Korans dem Propheten Mohammed offenbart wurden. Oder noch einmal mehr als zweitausend Jahre davor, mit der Geburt Abrahams.

Wenn es um historisches Erzählen geht, kann kein Buch all das enthalten, was vorher geschehen ist. Doch jede Geschichte muss irgendwo beginnen. In diesem Fall nehmen wir ein relativ frisches Datum: den 23. Februar 1998. An diesem Tag sprach ein undurchsichtiger vierzigjähriger islamischer Militanter namens Osama bin Laden eine Fatwa aus, ein zorniges religiöses Dekret. Sein Dekret erklärte den Vereinigten Staaten und all ihren Bürgern den Krieg, wo immer sie oder ihre Interessen zu finden waren.

Die Fatwa ging per Fax bei einer arabischen Zeitung in London ein und war von bin Laden unterzeichnet, einem saudischen Erben eines im Bauwesen erwirtschafteten Vermögens, der zu der Zeit in Afghanistan lebte, sowie drei anderen kampfeslustigen islamischen Führern, aus Ägypten, Pakistan und Bangladesch. Ihre Erklärung ging von einer militanten Interpretation des Dschihad aus, von der sie behaupteten, sie verpflichte jeden Muslim, heilige Gebiete mit Gewalt gegen Feinde zu verteidigen. Zwei Jahre zuvor hatte bin Laden eine enger gefasste Fatwa ausgesprochen, die auf militärische Ziele ausgerichtet war und dazu aufrief, amerikanische Truppen aus Saudi-Arabien zu vertreiben: »Verjagt den Feind, erniedrigt und besiegt, von den Heiligtümern des Islam.« Die neue Fatwa ging deutlich weiter.

In blumiger Sprache erklärte die Fatwa vom Februar 1998, dass drei Hauptvergehen eine globale Kriegserklärung rechtfertigten: (1) die Präsenz amerikanischer Truppen im heiligsten Gebiet des Islam, der Arabischen Halbinsel; (2) der von den USA angeführte Krieg im Irak; und (3) die US-amerikanische Unterstützung Israels, insbesondere der Kontrolle Israels über Jerusalem. »All diese Verbrechen und Sünden, die die Amerikaner begangen haben«, so die Stellungnahme, »sind eine eindeutige Kriegserklärung an Allah, seinen Boten und die Muslime.« Als Reaktion sprachen bin Laden und seine Unterstützer einen Befehl aus: »Die Entscheidung, die Amerikaner und ihre Verbündeten zu töten – ob Zivilisten oder Militär – ist die persönliche Pflicht eines jeden Muslims, in jedem Land, in dem es möglich ist … Mit Allahs Hilfe rufen wir jeden Muslim, der an Allah glaubt und die Belohnung ersehnt, dazu auf, Allahs Befehl nachzukommen und die Amerikaner zu töten und ihr Geld zu plündern, wo und wann immer sie es finden.«[15]

Zu dem Zeitpunkt, als er seine schärfere Fatwa aussprach, war der bärtige, schlacksige bin Laden für die amerikanischen Geheimdienste kein Unbekannter. Zwischen 1996 und 1997 erfuhren US-Behörden, dass er seine eigene Terrorgruppe leitete und 1992 an einem Anschlag auf ein Hotel im Jemen beteiligt gewesen war, in dem US-amerikanisches Militär untergebracht war.[16] Sie fanden außerdem heraus, dass bin Laden 1993 eine Rolle beim »Black Hawk Down«-Abschuss von US-Army-Helikoptern in Somalia gespielt hatte und dass er möglicherweise 1995 einen Autobombenanschlag in Riad organisiert hatte, bei dem fünf Amerikaner umkamen, die für die saudische Nationalgarde arbeiteten. Nach der Fatwa stieg bin Ladens Bedrohungsprofil bei US-Behörden dramatisch an, vor allem als ihn Quellen, sechs Monate später, für die beinahe zeitgleichen Bombenanschläge auf die amerikanischen Botschaften in Nairobi, Kenia, und Dar es Salaam im benachbarten Tansania verantwortlich machten, bei denen mehr als zweihundert Menschen getötet wurden. Als Reaktion auf diese Anschläge autorisierte der damalige Präsident Bill Clinton einen Angriff mit Tomahawk-Raketen auf sechs Ziele in Afghanistan. Amerikanische Entscheidungsträger glaubten, dass bin Laden an einem dieser Zielorte sein würde, doch er war Stunden zuvor abgereist, offenbar gewarnt von pakistanischen Behörden.[17]

Bin Laden war Auslöser zahlreicher Diskussionen um die Frage, ob man ihn besser töten oder gefangen nehmen solle, auch noch, als ein Großes Geschworenengericht in New York ihn 1998 in absentia für eine Verschwörung mit dem Ziel eines Angriffs auf US-Verteidigungseinrichtungen anklagte.[18] Im Jahr 1999 gab es die erste formelle Beschreibung seiner Terrorgruppe, die den Namen al-Qaida trug, oder »die Basis«, durch US-Geheimdienstkreise – ganze elf Jahre nach der Gründung der Gruppe.[19] Die Aufmerksamkeit machte sie nur mutiger. Im Oktober 2000 schlug bin Laden erneut zu, als ein kleines, mit Sprengstoff beladenes Boot ein Loch in einen Zerstörer der US Navy riss, die USSCole, als diese vor der Küste des Jemen betankt wurde.[20] Die Explosion tötete siebzehn Besatzungsmitglieder und verletzte Dutzende weitere.

Doch obwohl sie versuchten, bin Laden im Auge zu behalten, obwohl die Warnsignale zu unüberhörbaren Sirenen wurden, begriffen die Verantwortlichen der amerikanischen Politik und der Geheimdienste nie in vollem Umfang, wie entschlossen er war, seine Fatwa durch Massenmord in den USA selbst umzusetzen. Trotz klarer Hinweise – die sich im Sommer 2001 zunehmend verdichteten – und ernsthafter Ermittlungsbemühungen einige weniger Einzelpersonen, war die Reaktion der US-Regierung insgesamt von verpassten Verbindungen, ausgelassenen Gelegenheiten und übersehenen Anzeichen der bevorstehenden Katastrophe bestimmt. Ein Geheimdienstapparat, der dazu geschaffen war, russische Männer in billigen Anzügen und mit nuklearen Sprengköpfen zu überwachen, wusste nicht, was er mit einem fanatischen Saudi in wehenden Umhängen anfangen sollte, der Fatwas per Faxgerät aussprach.

Selbst wenn man die Rückschau herausrechnet, gibt es überwältigende Beweise für das umfassende und letztlich verheerende Versäumnis der US-Regierung, die Anschläge des 11. September vorherzusehen. Dafür gibt es zahlreiche Beipiele, aber betrachten Sie nur eines. Mehrere Monate vor dem 11. September schrieb der für Analysen zuständige Leiter des Anti-Terror-Zentrums der US-Regierung: »Es wäre ein Fehler, die Terrorismusabwehr als eine Aufgabe neu zu definieren, die mit ›katastrophalem‹, ›großangelegtem‹ oder ›Super-‹Terrorismus zu tun hätte, da diese Etiketten nicht den Großteil des Terrorismus beschreiben, mit dem es die USA vermutlich zu tun haben werden, oder die Kosten, die der Terrorismus in Bezug auf US-Interessen verursachen wird.«[21] Genau diese Etiketten – »katastrophal«, »großangelegt«, »Super-Terrorismus« – waren die perfekte Beschreibung dessen, was bald darauf passieren würde.

 

Während die Regierung und die Geheimdienstvertreter schon vor und vor allem nach seiner Fatwa im Februar 1998 versuchten, bin Laden in den Griff zu bekommen, wusste der durchschnittliche Amerikaner so gut wie nichts über ihn und seine Anhänger. Zum einen lag das an dem Land, in dem bin Laden sich aufhielt. Unter Journalisten stand Afghanistan lange Zeit für jedes Thema, das zu weit weg war, als dass es Amerikaner wirklich interessierte.

Wenn bin Ladens Name doch einmal in den amerikanischen Medien auftauchte, konzentrierten sich die Journalisten vor allem auf seinen Reichtum. Meist wurde er ungefähr so beschrieben: »Ein viele Millionen schwerer saudischer Dissident, den das State Departement als ›einen der wichtigsten Geldgeber islamistischer extremistischer Aktivitäten in der heutigen Welt‹ bezeichnet hat.«[22] Nur selten legten die Beiträge nahe, dass er als Anführer einer Terrorgruppe eine direkte Gefahr für die USA darstellte, auch wenn sich ein Artikel der New York Times aus dem Jahre 1997 vorsichtig in diese Richtung bewegte, indem er bemerkte, »aktuelle Berichte« würden darauf hinweisen, dass bin Laden ein Haus in Pakistan bezahlt habe, in dem der Kopf hinter einem Bombenanschlag auf das World Trade Center untergeschlüpft war, bei dem 1993 sechs Menschen getötet und mehr als eintausend verletzt worden waren.[23] Doch im Allgemeinen hätte zum Zeitpunkt der Fatwa auch ein belesener Amerikaner leicht behaupten können, wenig über bin Laden zu wissen und sich noch weniger Sorgen seinetwegen zu machen. Vor seiner Kriegserklärung war sein Name in gerade einmal fünfzehn Artikeln der New York Times erwähnt worden, manchmal sogar nur am Rande. Die meisten anderen amerikanischen Medien erwähnten ihn noch seltener, wenn überhaupt.

Sogar bin Ladens Fatwa vom Februar 1998, die sich gegen alle Amerikaner richtete, blieb von den meisten amerikanischen Nachrichtenagenturen unbeachtet. Die erste eindeutige Bezugnahme in der Times kam beinahe sechs Monate später, in Form einer dahingeworfenen Zeile in einer Geschichte über die Suche nach möglichen Verantwortlichen für die Anschläge auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania: »Anfang dieses Jahres hatten Mr. bin Laden und eine Gruppe extremistischer muslimischer Geistlicher ihre Anhänger dazu aufgerufen, Amerikaner zu töten.«[24] Der Artikel ging schnell zu anderen Fragen über und erwähnte bloß, dass bin Laden der Hauptverdächtige für den Bombenanschlag auf die Khobar Towers im Jahre 1996 sei, einen Apartmentkomplex in Saudi-Arabien, bei dem neunzehn amerikanische Piloten getötet wurden. Doch 1999 ruderte ein Artikel der New York Times zurück und spielte die Bedrohung, die er darstellte, dramatisch herunter. Ein Abschnitt des Textes lautete wie folgt:

In ihrem Krieg gegen Mr. bin Laden beschreiben die amerikanischen Behörden ihn als gefährlichsten Terroristen der Welt. Doch Reporter der New York Times und der PBS-Sendung »Frontline« haben in gemeinschaftlicher Arbeit festgestellt, dass er weniger der Anführer von Terroristen ist als eine Inspiration für sie. Feinde und Unterstützer, von Mitgliedern der saudischen Opposition bis zu aktuellen und ehemaligen Vertretern der amerikanischen Geheimdienste sagen, er verfüge möglicherweise nicht über die globale Macht, die ihm amerikanische Behörden zugeschrieben haben.[25]

Doch auch in den Jahren vor dem 11. September gab es einige Journalisten, die bin Ladens Bereitschaft, seine Fatwa gewaltsam umzusetzen, finsterer einschätzten. Der Washington Post-Reporter Walter Pincus schrieb zwei Tage nach bin Ladens Kriegserklärung einen scharfsinnigen Text, in dem er einen CIA-Vermerk zitierte, aus dem hervorging, dass die Verantwortlichen der US-Geheimdienste die Drohung ernst nahmen.[26] Eine ähnlich vorausschauende Ausnahme war ABCs John Miller, der bin Laden im Mai 1998 in einem Trainingslager in Afghanistan interviewte. In diesem Gespräch wiederholte bin Laden seine Fatwa und sagte, er werde nicht zwischen zivilen und militärischen Zielen unterscheiden. Als er später darüber schrieb, merkte Miller bedauernd an, dass sein Interview kaum öffentliche Aufmerksamkeit bekam: »Wir hatten unsere kleine Geschichte, und ein paar Wochen später stellte sich Osama bin Laden Amerika in ein paar wenigen Minuten vor. Nur wenige schenkten ihm Beachtung. Bloß ein weiterer arabischer Terrorist.«[27]

Ein Historiker, der sehr wohl Notiz von der Fatwa nahm, war Bernard Lewis, ein angesehener, wenn auch nicht unumstrittener Intellektueller, der sich mit den Beziehungen zwischen dem Islam und dem Westen beschäftigte und den Ausdruck »Kampf der Kulturen« geprägt hatte. In der Zeitschrift Foreign Affairs kam Lewis 1998 zu dem Schluss:

Für die meisten Amerikaner ist die Kriegserklärung [bin Ladens] ein Hohn, eine krasse Verzerrung des Wesens und der Ziele der amerikanischen Präsenz in Arabien. Sie sollten außerdem wissen, dass die Erklärung für viele – vielleicht die meisten – Muslime eine ebenso groteske Verzerrung der Grundsätze des Islam und sogar der Doktrin des Dschihads darstellt … An keiner Stelle schreiben die dem Islam zugrundeliegenden Texte Terrorismus und Mord vor. An keiner Stelle erwägen sie das wahllose Abschlachten unbeteiligter Passanten. Dennoch sind manche Muslime bereit, die extreme Interpretation der Religion, die diese Erklärung vornimmt, gutzuheißen, einige wenige sogar bereit, sie umzusetzen. Und Terrorismus braucht nur einige wenige.[28]

Lewis’ Warnung blieb weitgehend ungehört.

Im Sommer 2001 hatte nicht jeder in den Vereinigten Staaten Vertrauen in den Zustand der Nation, doch viele genossen – oder nahmen sie als selbstverständlich hin – die Privilegien eines Lebens als Bürger der letzten Supermacht zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts.[29] Sie hatten den längsten ununterbrochenen Wirtschaftsboom in der Geschichte des Landes erlebt, und es schien, als würde die Ausbreitung der amerikanischen Kultur, der politischen Ideen und der Geschäftsinteressen noch bis in die entferntesten Ecken der Welt für immer fortdauern. So gut wie niemand lag nachts wach wegen einer Drohung, die aus einer Höhle in Afghanistan kam. Eine Gallup-Umfage vom 10. September 2001 stellte fest, dass weniger als ein Prozent der Amerikaner Terrorismus als größte Sorge der Nation betrachtete.[30]

Sie wussten nicht, dass bereits ein Countdown lief. Neunzehn Anhänger bin Ladens, radikalisierte junge arabische Männer, die in den USA lebten, wachten am 11. September 2001 auf, entschlossen, die Fatwa zu erfüllen. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden würde das Ergebnis der Umfrage nicht mehr das gleiche sein, genauso wenig wie alles andere.

Teil 1Sturz vom Himmel

Kapitel 1»Stille ist was Gutes«

10. September 2001

CAPTAIN JOHN OGONOWSKIAmerican Airlines Flug 11

»Dad, du musst mir bei Mathe helfen!«[31]

John Ogonowskis älteste Tochter, Laura, rief nach ihrem Vater, sobald er das Farmhaus der Familie im ländlichen Dracut, Massachusetts betreten hatte.

»Laura!«, brüllte ihre Mutter, Margaret »Peg« Ogonowski zurück. »Lass ihn erst mal ankommen!«

John, fünfzig Jahre alt, 1,83 m groß und gutaussehend wie ein Junge vom Land, sah seine Frau und seine sechzehnjährige Tochter an. Sein Lächeln zog tiefe Furchen in die rötliche Haut um seine blauen Augen herum. Das Abendessen würde bald fertig sein, und Peg nahm an, dass John nicht nur froh war, zu Hause zu sein, sondern auch müde. Als am 10. September 2001 die Dunkelheit einsetzte, war er gerade vom Logan International Airport in Boston nach Hause gefahren, nachdem er am Steuer eines American Airlines-Fluges von Los Angeles nach Boston gesessen hatte. Einen Tag zuvor war er mit dem American Airlines Flug 11 nach Westen geflogen, einer täglichen Nonstop-Verbindung von Boston nach Los Angeles.

Nach dreiundzwanzig Jahren als Berufspilot bestand Johns normales Ritual, wenn er nach Hause kam, darin, direkt ins Elternschlafzimmer zu gehen und seine marineblaue Pilotenuniform mit den silbernen Streifen an den Ärmeln auszuziehen. Dann schlüpfte er in eine ölverschmierte Jeans, zog ein Arbeitshemd an und ging in die riesige Scheune der mehr als fünfzig Hektar großen Familienfarm, die fünfzig Kilometer nördlich von Boston lag, unweit der Grenze zu New Hampshire. Von Natur aus still und immer glücklich, wenn er mit seinen schwieligen Händen arbeiten konnte, inhalierte John das Parfüm der frischen Heuballen und entspannte sich, während er einer der endlosen Aufgaben nachging, die dazugehörten, wenn man ein Farmer war, der nebenbei Jets flog.

Doch an diesem Tag wich John, zu Pegs Überraschung, von seinem Ritual ab. Das Umziehen und die Arbeit würden warten müssen. Noch in Uniform setzte er sich mit Laura und ihren Geometrie-Problemen an die Küchentheke. »Nicht vergessen«, sagte er seinen Mädchen oft, »Mathe macht Spaß.« Dann verdrehten sie die Augen, doch sie hörten es gerne, wenn er das sagte.

Als die Hausaufgaben erledigt waren, aß die Familie Hähnchenschnitzel, gefolgt von Johns Lieblingsnachtisch, Eiscreme. Am Abendessen nahmen an diesem Tag außerdem noch Pegs Eltern teil, die aus New York zu Besuch waren, Al, der Bruder seines Vaters, der in der Nähe lebte, sowie ihre jüngeren Töchter Caroline, vierzehn, und Mary, elf.

Während des Essens fiel Peg auf, dass an Johns Uniformhemd etwas fehlte. »Bist du ohne deine Epauletten zur Arbeit gegangen?«, fragte sie. »Ich musste tanken«, sagte John. Er hatte die Schulterstücke abgenommen, um nicht wie ein Angeber auszusehen, wie einer dieser Piloten, die zu glauben schienen, das alle Welt ihnen salutieren müsse.

Johns Bescheidenheit und sein stilles Selbstvertrauen hatten Peg neunzehn Jahre zuvor angezogen, als sie eine junge Flugbegleiterin für American Airlines gewesen war. John war als Flugingenieur zur Fluggesellschaft gekommen, nachdem er im Vietnamkrieg bei der Air Force gewesen war und C-141-Transportflugzeuge über den Pazifik geflogen hatte. Auf dem Rückflug hatte er manchmal mit Flaggen verhüllte Särge an Bord gehabt. In seinen ersten Jahren bei American war John etwas, was es nur selten gab: ein unverheirateter Pilot, gutaussehend und jedem gegenüber respektvoll. Auf einem Flug, der in Phoenix startete, drängte eine kluge ältere Flugbegleiterin Peg dazu, ihn anzusprechen. Als sie in Boston landeten, hatte er ihre Nummer.

Weniger als ein Jahr darauf waren sie verheiratet. Als das Jahrzehnt zu Ende ging, war John zum Captain befördert worden, Peg war ebenfalls aufgestiegen, und sie hatten drei Töchter. Das alles, und dazu die White Gate Farm, wo sie Heu produzierten und die Früchte von dreihundert Blaubeerbüschen und einer Plantage von fünfzig Pfirsichbäumen ernteten, die John selbst gepflanzt hatte. In jedem Frühling säten sie Kürbisse und Mais aus, die ein paar Kilometer entfernt auf der Farm von Johns Eltern verkauft wurden, wo er mit acht Jahren das Traktorfahren gelernt hatte. Peg scherzte oft, der John Deere-Oldtimer in ihrer Scheune sei der Zweitjet ihres Piloten-Ehemannes.

John und Peg blieben auch nach ihrer Hochzeit bei American Airlines. John flog an zwölf Tagen im Monat und Peg arbeitete ungefähr genauso viel. Sie wechselten sich mit ihren Flugzeiten ab, so dass immer einer von ihnen bei den Mädchen sein konnte. Wenn das nicht klappte, sprangen ihre Familien ein. John hatte einen Großteil seiner Karriere auf internationalen Routen verbracht, doch die Nachtflüge zehrten an seinen Kräften, und er war erst kürzlich in der Boeing 767 neu zertifiziert worden, dem breit gebauten Stolz der American Airlines-Inlandsflotte. In letzter Zeit war er regelmäßig die Strecke Boston–Los Angeles geflogen, oft mit Flug 11, den auch Peg schon hunderte Male begleitet hatte.

John sollte schon am nächsten Morgen wieder fliegen, ein weiterer sechs-Stunden-Flug nach Kalifornien, doch er entschied, dass er nicht so schnell wieder von zu Hause aufbrechen wollte, nachdem er gerade erst von der Westküste gekommen war. Außerdem würden Vertreter der Landwirtschaftsbehörde und ein Team der Tufts University am Morgen zur Farm kommen, um über ein Programm zu sprechen, das John sehr am Herzen lag.[32] Er und Peg hatten fünf Hektar Land bereitgestellt, damit aus Kambodscha eingewanderte Bauern dort Pak Choi, Wasserspinat, Amarant und andere traditionelle asiatische Gemüsesorten anbauen konnten, um sie auf dem Markt zu verkaufen und ihre Familien zu ernähren. John pflügte den Boden für die Einwanderer und holte sich nur selten die monatliche Pacht in Höhe von zweihundert Dollar ab. Er errichtete Gewächshäuser, die früher im Jahr bepflanzt werden konnten, stellte Wasser aus dem Teich der Farm zur Verfügung und klärte die Neu-Amerikaner über den erbarmungslosen Boden New Englands auf, über Krankheiten, die die Ernte bedrohten, und die kurze Pflanzsaison. Schon bald wurde die White Gate Farm der Ogonowskis zur ersten »Mentorenfarm« für Einwanderer. Doch als ein Reporter vorbeikam, hob John nur die Leistung der Kambodschaner hervor: »Diese Leute kümmern sich besser um ihren halben Hektar als die meisten Yankee-Farmer sich um ihre ganzen fünfzig Hektar kümmern.«[33]

Nach dem Abendessen setzte sich John an seinen Computer im Fernsehzimmer. Er loggte sich ins Dienstplan-System von American Airlines ein, in der Hoffnung, dass ein anderer Pilot einen weiteren Flug übernehmen würde. Bei einer Übereinstimmung würde Johns Einsatzplan auf dem Bildschirm grün aufleuchten und er würde am 11. September auf der Farm bleiben können. Er versuchte es mehrere Male, immer mit demselben Ergebnis.

»Ich kriege nur rotes Licht«, erklärte er Peg.

Die Farm-Besichtigung würde ohne ihn stattfinden, während John wieder einmal als Pilot des American Airlines Fluges 11 unterwegs sein würde, nonstop von Boston nach Los Angeles.

PETER, SUE KIM UND CHRISTINE HANSONUnited Airlines Flug 175

Im Jahre 1989 navigierte eine strahlende junge Frau im Slalom durch eine Hausparty, sie schlängelte sich durch die Menge, um einem entschlossenen jungen Mann mit rötlichen Dreadlocks und Sommersprossen auszuweichen, der einen ganzen Schrank voll Batik-T-Shirts besaß.[34] Peter Hanson war ganz süß, doch Sue Kim war nicht an einem zu spät geborenen Hippie interessiert, der sie unbedingt davon überzeugen wollte, dass die Musik der Grateful Dead mit den Werken Mozarts vergleichbar sei.

So etwas passierte Sue, einer koreanischen Amerikanerin der ersten Generation, regelmäßig. Es passte, dass ein neugieriger, emotionaler Mann wie Peter ihr auf einer Party begegnete und sofort von ihrer Intelligenz und ihrem überschäumenden Temperament verzaubert war. Weil Sue so gern lachte, stellten die Leute sich vor, dass sie ein glückliches Leben geführt haben musste. Doch das stimmte nicht.

Als Sue zwei war, schickten ihre überarbeiteten Eltern sie von Los Angeles nach Korea, damit sie bei ihrer Großmutter lebte. Vier Jahre später kehrte sie in die USA zurück und erfuhr, dass sie nun zwei kleine Brüder hatte, die nicht von ihren Eltern fortgeschickt worden waren. Ihre Mutter starb, als Sue fünfzehn war, und sie half mit, ihre Brüder großzuziehen. Später beging ihr Vater Selbstmord, nachdem man Krebs bei ihm festgestellt hatte. Unter ihrer gelassenen Fassade sehnte sich Sue nach den festen Bindungen einer Familie.

Nach der Hausparty arrangierte Peter Gelegenheiten, Sue wiederzusehen, während er seinen Master in Betriebswirtschaft machte. Als Peter das Gefühl hatte, dass sein Werben um Sue Erfolg haben könnte, schnitt er seine Dreadlocks ab, steckte sie in eine Tüte und gab sie seiner Mutter, Eunice. Sie verstand: Peter wollte Sue zeigen, dass er einen guten Ehemann abgeben würde. Es war ein großer Schritt in Richtung Eigenverantwortlichkeit für den freigeistigen Dreiundzwanzigjährigen. Seine Eltern fürchteten, dass er für die Ehe noch nicht ganz bereit war, doch er wollte nicht mehr warten.

»Wenn ich sie mir jetzt nicht schnappe, ist sie nicht mehr da«, erklärte Peter seiner Mutter. Eunice half ihm, einen Verlobungsring auszuwählen. Sue sagte ja und nahm damit nicht nur Peter, sondern gleichzeitig auch seine Hingabe an die Grateful Dead an. Ihre Eheringe waren alt, Erbstücke von den Eltern von Peters Vater Lee.

Peter machte seinen MBA an der Boston University und wurde Vice President im Vertrieb eines Softwareunternehmens in Massachussetts. Er hielt engen Kontakt mit seinen Eltern, mit denen er als Junge um die Welt gereist war und manchmal die Konzerte seiner Lieblingsband besucht hatte, bei denen alle ausgelassen miteinander tanzten. Auch nachdem er die Verantwortlichkeiten eines Erwachsenen angenommen hatte, blieb Peter ein Witzbold. Einmal, als Eunice ans Telefon der örtlichen Naturschutzbehörde ging, für die sie arbeitete, hörte sie am anderen Ende der Leitung eine ernste Männerstimme. Der Mann verlangte die Erlaubnis, neben einem Teich auf seinem Gelände ein Gebäude zu errichten. Eunice erklärte ihm ruhig den Prüfvorgang und die notwendigen Genehmigungen, doch der Anrufer bestand wütend auf seinen Rechten als Landbesitzer. Er regte sich immer weiter auf, bis Eunice schließlich erkannte, dass es Peter war.

Unterdessen machte Sue eine beeindruckende Karriere als Wissenschaftlerin. Sie hatte einen Abschluss in Biologie an der University of California, Berkeley, erworben und war anschließend nach Boston gezogen, um ihren Master in Medizin zu erlangen. Von Peter ermutigt, strebte Sue einen Doktortitel in Immunulogie an. Sie arbeitete mit speziell gezüchteten Mäusen, um die Rolle bestimmter Moleküle für Asthma und Aids zu erforschen. Im Herbst sollte Sue ihre Dissertation verteidigen, doch dass sie bestehen würde, war allen klar. Ihr Doktorvater sah Sue schon, wie sie sich dem Lehrkörper der Boston University anschließen würde.[35]

Neben ihren Karrieren kümmerten sich Peter und Sue auch um ihre Tochter, Christine, die im Februar 1999 geboren wurde. Sie sah aus wie eine Mini-Version von Sue, ein Kind, das man einfach knuddeln musste, und teilte Peters Liebe zur Musik. Christines zweiter Vorname lautete Lee, nach ihrem Großvater väterlicherseits. Heimlich besorgte Sue Schwangerschaftstests, weil sie hoffte, Christine einen kleinen Bruder und Peters Eltern einen Enkelsohn zu schenken.

Lee und Eunice kamen oft aus Connecticut zu Besuch. Als Eunice einmal mit einem gebrochenen Fuß ankam, rief Christine, »Ich helf dir, Namma! Warte hier!« Sie lief nach oben und kam mit einem bunten Pflaster zurück, das sie auf Eunices Gips klebte. Lee bereitete es Freude, Christine und Peter im Garten arbeiten zu sehen. Das kleine Mädchen versprach den jungen Bäumen, dass sie und ihr Papa ihnen helfen würden, groß und stark zu werden. Wenn sie vor dem Essen beteten, bestand Christine auf dem Lied einer Fernsehserie über Barney, einen lilafarbenen Dinosaurier: »I love you, you love me, we’re a happy family. With a great big hug, and a kiss from me to you, won’t you say you love me too?« Wenn ihre Großeltern ein Wort falsch sagten, ließ Christine sie noch einmal von vorne anfangen.

Anfang September musste Peter geschäftlich nach Kalifornien fliegen, also entschieden sie, einen Familienurlaub daraus zu machen und Sues Großmutter und Brüder zu besuchen. Am Wochenende vor ihrem Flug am 11. September erzählte Christine Eunice, wie sehr sie sich auf die bevorstehende Reise freue, auf der sie auch Disneyland besuchen wollten. In einem Telefonat sagte Christine ihrer Großmutter, sie würden nach Kalifornien reisen, um dort Mickey Mouse und Pluto zu besuchen. Dann sprach Christine einen noch größeren Wunsch aus: »Ich will zu euch nach Hause, Namma!«

Am Abend des 10. September schlief Christine in ihrem neuen Große-Mädchen-Bett, neben ihrem Lieblingsstofftier, Peter Rabbit mit Karotte. Bevor sie am nächsten Morgen das Hause verließ, deckte sie Peter zu, damit er in Sicherheit war, bis zu ihrer Rückkehr.

BARBARA OLSONAmerican Airlines Flug 77

Unter den heißen Scheinwerfern der C-SPAN-Fernsehsendung »Washington Journal« schlug der Moderator Peter Slen die Septemberausgabe 2001 der Zeitschrift Washingtonian auf.[36] Die Kamera zoomte auf eine Schlagzeile, »Die 100 mächtigsten Frauen in Washington«. Dann schwenkte sie quer durchs Studio auf die umstrittene Konservative Barbara Olson, ihr telegenes Lächeln auf die höchste Stufe gedreht, ihr strahlend blondes Haar auf den Schultern ihres roten Blazers drapiert. Slen fragte Barbara: »Wieso werden Sie hier als einflussreiche Politikinsiderin geführt?«

Barbara wusste es ganz genau, doch sie gab sich bescheiden: »Ich weiß es nicht. Die haben mich ja da mit reingenommen.« Sie wechselte das Thema und erzählte von einem Mittagessen, bei dem sich die von der Zeitschrift Geehrten kürzlich darüber unterhalten hatten, wer die erste Präsidentin werden könnte. Die überwältigende Mehrheit der mächtigsten Frauen Washingtons nannte Hillary Clinton. Die Einzige, die diese Meinung nicht teilte, war Barbara, die gerade ihr zweites Buch fertig gestellt hatte, in dem sie die US-Senatorin aus New York und ehemalige First Lady in der Luft zerriss.

»Was bedeutet es, in dieser Stadt über Einfluss zu verfügen?«, fragte Slen. »Wie erlangt man Einfluss? Durch Macht, durch die eigene Position, durch Geld oder durch die Person, die man heiratet?«

Diese Frage hatte eine sexistische Komponente, die all jenen Zuschauern entging, die nicht wussten, dass Barbaras Ehemann einer der mächtigsten Juristen des Landes war: US-Generalstaatsanwalt Ted Olson, der wichtigste Rechtsberater des Weißen Hauses. Präsident George W. Bush hatte ihm den Posten gegeben, nachdem Olson erfolgreich vor dem US-Supreme Court dafür argumentiert hatte, die Neuauszählung der Stimmen in Florida bei den Wahlen 2000 zu beenden, eine Entscheidung, die dazu führte, dass Bush Präsident wurde.

Barbara ging über diesen Nadelstich hinweg und antwortete lachend, der einzige Weg zu Einfluss sei langjährige Arbeit. Sie war es gewohnt, dass man sie fragte, ob eine glamouröse Frau, die Jaguar fuhr und eine Schwäche für Stilettos hatte, einen Platz im Zentrum der politischen Welt verdiente. Doch Barbara war fünfundvierzig, hatte sich den Rang einer Partnerin in einer bekannten Kanzlei erarbeitet und zog Selbstvertrauen aus der Tatsache, dass sie, bevor sie Ted kennengelernt hatte, eine professionelle Balletttänzerin gewesen war, die Law School geschafft und bei den US Attorneys in Washington Drogenfälle zur Anklage gebracht hatte. Außerdem hatte sie als wichtigste Beraterin für den Untersuchungsausschuss des Repräsentantenhauses gedient, das US House Committee on Oversight and Government Reform.[37]

In den fünf Jahren, die sie bereits mit Ted verheiratet war – seine dritte und ihre zweite Ehe –, war Barbaras Einfluss als eine Hälfte eines Washingtoner »power couples« immer weiter gewachsen. In ihrem Haus in Virginia gaben sie riesige Partys für die konservative Elite.[38] Sie und ihr Mann teilten die Liebe zu Shakespeare, Poesie, Oper, moderner Kunst und ihren australischen Schäferhunden: Reagan, nach dem amerikanischen Präsidenten, und Maggie, nach der britischen Premierministerin, Margaret Thatcher.

Als die C-SPAN-Sendung Anrufe von Zuschauern entgegennahm, wurde deutlich, wie sehr Barbara auf Seiten der eigenen Partei stand. Nachdem ein Anrufer überschwänglich ihren Bestseller über Hillary Clinton gelobt hatte, Hell to Pay, attackierte ein anderer Anrufer Barbara dafür, dass sie die Clintons kritisierte. Wochen zuvor hatte sich Barbara in der Washington Post dafür entschuldigt, die verstorbene Mutter des ehemaligen Präsidenten als »Säuferin, die sich von Männern ausnutzen lässt« beschrieben zu haben.

Der Anrufer schalt sie: »Miss Olson, Sie müssen lernen, menschlicher zu sein. Sie sind ein böser Mensch … Sie werden nicht lang überleben. Sie haben zu viel Hass und den Teufel in sich.«

Barbara hörte sich die Attacke lächelnd an, wenn auch nicht mehr ganz so strahlend wie zuvor. Ihre blauen Augen trübten sich kurz, als sie die Kritik und die unheilvolle Prophezeiung wegblinzelte. »Na ja, wir haben ja den ersten Zusatzartikel«, erwiderte Olson. »Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung. Ich trage keinen Hass in mir.«

Als die Sendung zu Ende war, machte Barbara nahtlos mit ihrem Leben weiter. Sie musste für eine Reise nach Los Angeles packen, wo ihr nächster Auftritt als Gesicht des Konservatismus auf sie wartete: Es war vorgesehen, dass sie in der Sendung Politically Incorrect with Bill Maher auftrat. Ihr Flug war für Montag angesetzt, den 10. September.

Barbara entschied, dass dieser Zeitplan ihr nicht passte. Auch wenn sie dann kaum Zeit haben würde, vom Flughafen in Mahers Studio zu kommen, beschloss sie, den Flug um einen Tag zu verschieben. Ted Olson würde am Dienstag, dem 11. September, 61 Jahre alt werden. Bevor sie nach Kalifornien aufbrach, wollte Barbara neben ihm aufwachen und ihm zum Geburtstag gratulieren.

CEECEE LYLESUnited Airlines Flug 93

Als es am Montag, dem 10. September, auf Mitternacht zuging, lag CeeCee Lyles auf einem Futonbett in einer winzigen Wohnung in der Nähe des Newark International Airport in New Jersey, die sie sich mit vier anderen United Airlines-Flugbegleiterinnen teilte.[39] Sie hielt einen Teddybär an sich gedrückt, den sie Lorne getauft hatte, und sprach über ihr Mobiltelefon mit dem Namensvetter des Bären, ihrem Ehemann Lorne Lyles, der zu Hause in Florida war.

CeeCee war dreiunddreißig, 1,69 m groß, hatte leuchtend braune Augen und liebte schöne Kleider, die ihre sportliche Figur betonten. Jahre zuvor war sie Lorne aufgefallen, als sie beide einen Sohn zum Baseballtraining begleiteten. Er kippte beinahe aus seinem Auto, als sie an ihm vorbeiging. »Mann! Ist die schön!«, dachte er.[40]

CeeCees Weg zum Glück mit Lorne war alles andere als gerade verlaufen, und das Mobiltelefon war ihre Rettungsleine, wenn die Arbeit sie von ihm wegführte. Sie redeten stundenlang, oft fünf oder sechs Mal am Tag, manchmal sogar zehn oder fünfzehn Mal. Der Trost, den die Stimme des anderen spendete, war genauso wichtig wie die Themen: die Söhne, je zwei aus vorherigen Beziehungen; CeeCees Arbeit in Flughäfen und Flugzeugen; Lornes als Polizist in Nachtschicht in Fort Myers, Florida. Wenn sie nicht über die Arbeit und die Kinder sprachen, ging es um Rechnungen, um Dinge, die erledigt werden mussten, und darum, wie sehr sie einander vermissten. Lorne sagte, sie sprachen endlos, über »alles und nichts«.[41]

CeeCee hatte erst weniger als ein Jahr zuvor als Flugbegleiterin bei United angefangen, auf Lornes Drängen hin, der bemerkt hatte, wie sehr ihre bisherigen Jobs sie emotional belasteten, erst als Gefängniswärterin in Miami und dann als Polizistin auf den Straßen von Fort Pierce, Florida. Als sie anfingen, miteinander auszugehen, war Lorne Polizeidisponent in Fort Pierce gewesen, sie hatten sich also in gewisser Weise über Funk verliebt, verzaubert vom Klang der Stimme des anderen.

In ihren sechs Jahren bei der Polizei hatte CeeCee ihr gutes Aussehen einsetzen können, als sie sich für verdeckte Ermittlungen als Prostituierte ausgab, doch es gefiel ihr besser, Frauen und Kindern zu helfen, die Opfer von Gewalt und Drogen geworden waren. Sie schaute oft bei der Bible Way Soul Saving Station vorbei, wo ihr Onkel Pastor war, und wurde zu einem Vorbild für die Frauen im christlichen Frauenhaus, das zwei ihrer Tanten gegründet hatten. Ihre Freundlichkeit kannte jedoch Grenzen und machte Härte Platz, wenn sie mit Kriminellen zu tun hatte. CeeCee glänzte in einem Überlebenstraining für Fortgeschrittene, bei dem es um Nahkampf und Festnahmetechniken ging. Bevor sie im Mai 2000 Lorne heiratete, übernahm CeeCee Sonderschichten und arbeitete in einem zweiten und dritten Job, damit sie ihre Söhne ernähren konnte, Jerome und Jevon, um die sich ihr Leben drehte. Sie achtete darauf, dass sie sich auf die Schule konzentrierten, brachte ihnen Baseball bei und erwartete, dass sie auf dem Basketballfeld um jeden Ball kämpften.

Ihr neuer Job als Flugbegleiterin ermöglichte es CeeCee, sich ihren Traum zu erfüllen und zu reisen, neue Menschen kennenzulernen und abgebrühte Verbrecher gegen den gelegentlichen betrunkenen Geschäftsmann einzutauschen. Als weiterer Vorteil des Jobs machten sie und ihre Familie an freien Tagen Ausflüge und nutzten freigebliebene Plätze, um nach Indianapolis zu fliegen, wo Lornes zwei Söhne, Justin und Jordan, mit ihrer Mutter lebten. Genau das hatten sie am Wochenende zuvor getan, bevor sie zurückgekehrt waren, damit CeeCees Söhne am Montag in die Schule gehen konnten.

Als der Sommer 2001 verging, schüttete CeeCee der Frau ihr Herz aus, die sie großgezogen hatte, Carrie Ross, die zugleich CeeCees Adoptivmutter und ihre Tante war. CeeCee erwähnte harte Zeiten in ihrem Leben und schrieb, dass sie gerade so glücklich sei wie noch nie. Sie liebte ihren neuen Job als Flugbegleiterin und war überzeugt, dass Ross’ Liebe und Unterstützung sie zu diesem Hochpunkt ihres Lebens geführt hatten.

Bevor sie am 10. September nach Newark flog, räumte CeeCee stapelweise Wäsche weg und füllte den Kühlschrank mit selbsgekochten Mahlzeiten. Sie hasste es, von ihrer Familie getrennt zu sein, doch sie und Lorne wollten Florida nicht verlassen, um zu ihrem Basisflughafen in New Jersey zu ziehen. Also tat sich CeeCee mit einer kleinen Gruppe anderer Flugbegleiterinnen zusammen, von denen jede $150 im Monat für die Absteige in Newark bezahlte, und wartete ab, bis sie lang genug dabei sein würde, um ihren Dienstplan mitbestimmen zu können.

Am Montagmorgen, dem 10. September, fuhr Lorne CeeCee zum Flughafen in Fort Myers, brachte sie zum Gate, küsste sie zum Abschied und fing einen neuen Tag voller Telefonate an. CeeCee kam erst um elf Uhr abends in der Wohnung in Newark an, und es würde eine kurze Nacht werden. Sie war für einen frühen Flug von Newark aus eingeteilt, der um 08:00 Uhr Richtung San Francisco starten sollte. Obwohl ihre Energie nachließ, wollte sie nicht aufhören, mit Lorne zu sprechen.

Zwei Stunden nach Beginn ihres letzten Gesprächs am 10. September, das ins erste Gespräch des 11. September überging, schlief CeeCee ein, ihr Telefon und den Teddybären-Lorne an sich gedrückt. Der echte Lorne legte auf, fest davon überzeugt, dass sie schon bald wieder miteinander sprechen würden.

MAJOR KEVIN NASYPANYNortheast Air Defense Sector, Rome, NY

Dreiundvierzig Jahre alt, stämmig gebaut und für sein loses Mundwerk bekannt, verfügte Kevin Nasypany über einen Namen, der sich mit New Jersey reimte, das unerschütterliche Selbstvertrauen eines Militärpiloten und ein Bernhardinergesicht mit Schnurbart.

Als er am 10. September aufwachte, hatte Nasypany alle Hände voll zu tun.[42] Er und seine Frau Dana hatten fünf Kinder, drei Mädchen und zwei Jungs zwischen fünf und neunzehn, und Dana war im siebten Monat schwanger. Dazu besaßen sie einen süßen schokoladenbraunen Labradorwelpen, den Nasypany für dümmer als Brot hielt. Ihr weitläufiges viktorianisches Haus in Upstate Waterville, New York, brauchte einen Anstrich, im übergroßen Garten wartete viel Arbeit, und ein halbfertiges Badezimmer musste zu Ende renoviert werden. Außerdem musste jemand ihren oberirdischen Pool für den Winter abdecken, eine Aufgabe, von der Nasypany lauthals verkündete, sie gehe ihm auf den Sack.

Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, musste er noch dazu die Leben von gut einhundertmillionen Amerikanern beschützen.

Nasypany war Major der Air National Guard und arbeitete als Einsatzleiter im Northeast Air Defense Sector, kurz NEADS. NEADS war ein Teil der North American Aerospace Defense Command, kurz NORAD, der militärischen Organisation, der die beängstigende Aufgabe zukam, den Luftraum über den USA und Kanada zu schützen.

Verteidigung lag Nasypany, der einer der wichtigsten Defensivspieler seines College-Eishockeyteams gewesen war.[43] Er und sein NEADS-Team standen für den Fall parat, dass feindliche Langstreckenbomber und Interkontintalraketen es in den US-Luftraum hineinschaffen sollten, sowie für einen ganzen Katalog weiterer Gefahren in der Luft, zum Beispiel Flugzeugentführungen. Nasypany war sieben Jahre zuvor zu NEADS gekommen, nachdem er sich bei der Air Force das Rufzeichen »Nasty« verdient und während des Zweiten Golfkriegs Monate in einem Radarflugzeug über Irak, Kuwait und Saudi-Arabien verbracht hatte.

An Werktagen fuhr Nasypany seinen Nissan Stanza die vierzig Kilometer bis zum Hauptquartier von NEADS, einem gedrungenen Aluminiumbunker, der an ein UFO aus einem 1950er-Science-Fiction-Film erinnerte. Es war die letzte noch aktive Einrichtung in einer militärischen Geisterstadt, auf dem Gelände der stillgelegten Griffiss Air Force Base in Rome, New York. Der entlegene Standort passte: Im großen Ganzen der amerikanischen Militärprioritäten war die Verteidigung des eigenen Luftraumes eine Art Nebenschauplatz geworden, für die hauptsächlich Teilzeitpiloten und -offiziere der Air National Guard abgestellt wurden.

In Acht-Stunden-Schichten, rund um die Uhr und dreihunderfünfundsechzig Tage im Jahr hockten Nasypany und mehrere hundert Offiziere, Überwachungstechniker, Kommunikationsspezialisten und Waffentechniker im grünen Licht altmodischer Radarschirme und Computermonitore. Klobige Tonbandgeräte speicherten das von ihnen Gesagte, während sie nach potenziellen Bedrohungen über Washington, D.C., sowie siebenundzwanzig Bundestaaten im Nordosten, an der mittleren Atlantikküste und im mittleren Westen Ausschau hielten.[44]

Eine der vielen Herausforderungen für Nasypany bestand darin, die Aufmerksamkeit seiner Crews aufrechtzuerhalten, trotz der alltäglichen Langeweile einer Wache in Friedenzeiten. Ganze Schichten vergingen ohne jedes Anzeichen von Schwierigkeiten, was gut für das Land war, aber die NEADS-Crews träge zu machen drohte. Dann, vielleicht ein dutzend Mal im Monat, erschien etwas »Unbekanntes« auf dem Radar, und alle mussten klug und unverzüglich reagieren, im Wissen, dass ein Fehler oder eine Verzögerung von nur wenigen Minuten theoretisch die Auslöschung einer amerikanischen Stadt bedeuten konnte.

In den meisten dieser Fälle gelang es der NEADS-Crew schnell, die rätselhaften Punkte auf dem Radar zu identifizieren. Doch drei oder vier Mal im Jahr, wenn die ersten Bemühungen erfolglos blieben, führten die Leute vom NEADS den aufregendsten Teil ihres Jobs aus: Sie gaben den Start von Überschall-Kampfjets in Auftrag, um herauszufinden, wer oder was da in den amerikanischen Luftraum eingedrungen war.

Landesweit konnten NORAD und seine Abteilungen jederzeit über vierzehn Kampfjets verfügen, je zwei an sieben Stützpunkten im ganze Land. Diese Jets blieben immerzu »in Alarmbereitschaft«, bewaffnet und betankt, mit einsatzbereiten Piloten. Das Militär verfügte über deutlich mehr Kampfjets auf seinen US-amerikanischen Stützpunkten, doch sie brauchten eine gewisse Zeit, um die Piloten zu holen, zu tanken und Waffen bereitzumachen, und Zeit war ein Luxus, den man sich nicht leisten konnte, falls Amerika angegriffen würde.

In dem Jahrzehnt seit dem Ende der Sowjetunion hatten sich die amerikanischen Verantwortlichen so verhalten, als wäre die Gefahr aus der Luft so gut wie verschwunden. Die landesweit vierzehn alarmbereiten Kampfjets waren deutlich weniger als zu Hochzeiten des Kalten Krieges, als zweiundzwanzig Militärstützpunkte mit zahlreichen Kampfjets permanent bereitstanden, Nordamerika gegen einen Raketenangriff oder jede andere Form von Bedrohung zu verteidigen.[45] Im Sommer 2001 hatte man sogar entschieden, dass die Zahl der alarmbereiten Kampfjets von vierzehn auf nur noch vier reduziert werden sollte, um Kosten zu sparen, auch wenn dieser Beschluss noch nicht umgesetzt worden war.[46]

NEADS kontrollierte vier dieser alarmbereiten Kampfjets direkt: zwei F-15 an der Otis Air National Guard Base in Buzzards Bay, Massachussetts, auf Cape Cod, und zwei F-16 an der Langley Air Force Base in Hampton, Virginia.

Sobald die Flieger in der Luft waren, stellte sich das unbekannte Flugzeug oder der rätselhafte Punkt auf dem Radar immer wieder als harmlos heraus: ein Fischsuchflugzeug aus Kanada mit defekter Elektronik oder ein europäisches Passagierflugzeug, dessen Piloten die falschen Codes für ihren Cockpit-Transponder verwendet hatten, ein Gerät, das dem Bodenradar neben Geschwindigkeit und Flughöhe eine Fülle von Identifikationsdaten sendet. Im Jargon von NEADS war dies ein »freundliches« Flugzeug, das sich über den Transponder nicht korrekt zu erkennen gab, als Resultat menschlichen oder technischen Versagens. Sobald die potenzielle Bedrohung vorbei war, nahmen die Wachen von NEADS von neuem ihre Beobachtung auf.

Um für unangemeldete Inspektionen und, vor allem, eine echte Bedrohung durch Unbekannte mit bösen Absichten bereit zu sein, ließen Nasypany und andere NEADS-Offiziere ihre Crews regelmäßig aufwendige Übungen absolvieren. Eine solche hatten sie für den 11. September geplant, mit dem beeindruckenden Namen »Vigilant Guardian«, der wachsame Beschützer. Hauptbestandteil der Übung war ein simulierter Angriff durch russische Bomber, mit ausgeklügelten Zweitszenarios, unter anderem einer gespielten Flugzeugentführung durch Militante, die ein Passagierflugzeug dazu zwingen wollten, auf einer Karibikinsel zu landen. Nasypany und einige seiner Kollegen wollten, dass die Übung auch den Plan von Terroristen beinhalten sollte, ein Transportflugzeug ins UN-Gebäude in New York City zu steuern, doch ein Offizier des Militärgeheimdienstes hatte die Idee einkassiert – als zu weit hergeholt, um von Nutzen zu sein.[47]

Nasypany verbrachte seine Schicht am 10. September damit, sich auf die Übung am nächsten Tag vorzubereiten, doch er hatte auch noch eine banalere Verpflichtung für seine Familie zu erledigen. NEADS erlaubte Touren für Zivilisten, so dass regelmäßig Pfadfindertrupps, Lokalpolitiker und Gruppen von Bürgern durch die Operationszentrale stapften und sich die Radarschirme ansahen, nachdem die geheimen Systeme abgeschaltet worden waren. In diesem Fall war Becky, die Schwester seiner Frau, aus Kansas zu Besuch. Sie war immer schon neugierig gewesen, wo Kevin arbeitete. Er bekam die Erlaubnis, Becky zu zeigen, was sie sich immer als aufregende Welt der nationalen Sicherheitsüberwachung in Aktion vorgestellt hatte.

Während Nasypany seine Frau und seine Schwägerin durch die Zentrale von NEADS führte, machte sich Enttäuschung auf Beckys Gesicht breit. Die Schaltzentrale der US-Flugabwehr erschien ihr nicht viel anders als die Büros des Klimaanlagenherstellers, für den sie arbeitete.

»Sieht aus, als würdet ihr nicht viel machen«, sagte Becky. »Ist ja wirklich ruhig hier.«[48]

Nasypany konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Eine gute Schicht bestand für NEADS – und das Land – aus acht Stunden stiller Monotonie. »Hier ist Ruhe was Gutes«, erklärte Nasypany ihr. »Wenn es hektisch wird und die Leute laut rufen, das ist schlecht.«

MOHAMMED ATTAAmerican Airlines Flug 11
ZIAD JARRAHUnited Airlines Flug 93

In einem Zimmer im zweiten Stock eines mittelmäßigen Hotels in Boston machte sich ein unauffälliger Mann bereit zum Aufbruch. Er zog ein Polohemd an, die eine Schulter schwarz, die andere weiß, und packte einen klapprigen Travelpro-Koffer, der den Rollkoffern ähnelte, die Linienpiloten gerne benutzten.[49][50]

Wäre nicht das Leuchten seiner dunklen Augen gewesen, hätte Mohammed Atta leicht übersehen werden können: dreiunddreißig Jahre alt, schlank, 1,70 m groß, glattrasiert, mit struppigem schwarzen Haar, einem hängenden Augenlid und einem strengem Mund über einem markanten Kinn. Nach einer Nacht in Zimmer 308 des Milner Hotels sammelte Atta seine Sachen für einen letzten Aufbruch, den allerletzten Schritt einer jahrelangen Reise, von der er glaubte, sie würde ihn aus dem zornigen Dunkel in die ewige Erlösung führen.[51]

Als jüngstes von drei Kindern eines schroffen, ehrgeizigen Anwalts und einer überbehütenden Hausfrau verbrachte Atta seine frühe Kindheit in einem Dorf in Ägypten.[52] Attas Vater, der ebenfalls Mohammed hieß, beklagte sich, dass Attas Mutter ihren ängstlichen Sohn zu sehr verwöhnte, dass sie ihn »weich« machte, indem sie ihn neben seinen zwei älteren Schwestern wie ein Mädchen großzog.[53] Die gläubige, aber säkulare Familie – im Gegensatz zu Islamisten, die wollten, dass die Religion die Politik, das Recht und die Gesellschaft Ägyptens bestimmte – zog nach Kairo, als Atta zehn war. Während seine Altersgenossen spielten oder fernsahen, lernte Atta und gehorchte seinen Eltern, ein pflichtbewusster Sohn, der entschlossen war, seinem strengen Vater zu gefallen und es seinen intelligenten Schwestern nachzutun, die sich darauf vorbereiteten, Ärztin und Professorin zu werden.[54]

Als Atta 1990 seinen Abschluss in Architektur an der Universität Kairo machte, schloss er sich einer Fachgruppe an, die Verbindungen zur Muslimbruderschaft hatte, einer politischen Gruppierung, die sich für eine Herrschaft des Islam einsetzte und den Westen dämonisierte.[55] Doch seine Hoffnungen auf eine Karriere schwanden, weil seine Noten nicht gut genug waren, um einen Platz an der renommierten Graduiertenschule der Universität zu erlangen.[56] Auf Drängen seines Vaters hin lernte Atta Englisch und Deutsch, und über einen Freund der Familie wurde der Plan gefasst, sein Studium in Deutschland fortzusetzen.

Im Jahre 1992, mit vierundzwanzig, schrieb sich Atta an der Technischen Universität in Hamburg-Harburg ein, um ein Diplom in Stadtplanung zu erwerben. Manche Männer, die mit Anfang zwanzig aus einer traditionellen Gesellschaft in eine kosmopolitische neue Heimat kamen, hätten dies als Gelegenheit begriffen, ihren Horizont zu erweitern, ihren Interessen nachzugehen oder gegen einen kontrollsüchtigen Vater zu rebellieren. Atta schlug einen anderen Weg ein. Er vergrub sich in seiner Religion und tauschte seine sanftmütige Art gegen fundamentalistischen Zorn auf den Westen.

Er mied das pulsierende soziale und kulturelle Leben Hamburgs, einer reichen Stadt, in der Prostitution genauso florierte wie der Handel. Er ließ sich einen Bart wachsen und wurde zu einer festen Größe in der radikalsten Moschee der Stadt, die al-Quds genannt wurde, der arabische Name der Stadt Jerusalem.[57] Die meisten der fünfundsiebzigtausend Muslime in Hamburg waren Türken mit gemäßigtem Glauben, doch al-Quds richtete sich an die kleine Minderheit von Arabern, die sich zu extremen Interpretationen des Islam hingezogen fühlten. Der Standort der Moschee stellte das Spirituelle wortwörtlich über das Weltliche: Die Räume der Moschee befanden sich oberhalb eines Bodybuilding-Studios in einem heruntergekommenen Teil der Stadt. Die Prediger versuchten sich gegenseitig in ihrem Hass auf die USA