Abolitionismus. Feminismus. Jetzt. - Angela Y. Davis - E-Book

Abolitionismus. Feminismus. Jetzt. E-Book

Angela Y. Davis

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Beschreibung

Im Zuge der Black Lives Matter-Bewegung hat die Forderung nach Abrüstung der Polizei und Abschaffung repressiver Strafrechtssysteme, die – insbesondere in den USA, aber auch weltweit – zutiefst sexistisch, rassistisch und klassistisch geprägt sind, enormen Auftrieb erhalten. Denn die Leidtragenden einer Praxis des staatlichen Polizierens und Wegsperrens sind vor allem Schwarze und Frauen of Color. Allerdings ist die Auseinandersetzung mit dem Thema Abolitionismus kompliziert, da Teile der Frauenbewegung Strafverschärfungen und ein entschiedeneres staatliches Vorgehen gegenüber Tätern sexualisierter Gewalt verlangen. Ein radikaler Feminismus jedoch, so intervenieren die Autorinnen, müsse anerkennen, dass der Versuch, Gewalt durch Gewalt zu stoppen, diese am Ende nur verschärft. Da die Autorinnen – gleichermaßen Wissenschaftlerinnen wie langjährige Aktivistinnen – ihre analytische Brillanz und organisatorische Erfahrung einbringen, ist ihnen ein überzeugendes Plädoyer dafür gelungen, dass Feminismus und Abolitionismus ebenso wenig getrennt voneinander zu betrachten sind wie geschlechtsspezifische, staatliche, häusliche Gewalt oder Militarismus, denen auf Dauer nur mit lokaler und globaler Organisierung gerecht begegnet werden kann.

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Angela Y. Davis ist politische Aktivistin, Autorin, Rednerin und emeritierte Professorin der University of California. Seit den 1970er-Jahren gilt sie als Symbolfigur der Bewegung für die Rechte von politischen Gefangenen in den USA und setzt sich bis heute für die Befreiung der Schwarzen ein, kämpft gegen rassistische, Geschlechter- und Klassendiskriminierung sowie gegen den gefängnisindustriellen Komplex in den USA.

Gina Dent ist Professorin für feministische Studien und Rechtswissenschaftlerin. Sie arbeitet zu Literatur- und Kulturwissenschaft der afrikanischen Diaspora und postkolonialer Theorie.

Erica R. Meiners ist Professorin für Pädagogik und Frauen-, Gender- und Sexualstudien an der Northeastern Illinois University.

Beth E. Richie ist Leiterin des Fachbereichs Kriminologie, Recht und Justiz sowie Professorin für African American Studies an der Universität von Illinois, Chicago.

Angela Y. Davis • Gina DentErica R. Meiners • Beth E. Richie

Abolitionismus. Feminismus. Jetzt.

Eine intersektionale Intervention

Aus dem amerikanischen Englisch von Jona Dieterson Kollektiv

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Angela Y. Davis u.a.: Abolitionismus. Feminismus. Jetzt.

1. Auflage, September 2023

Titel der Originalausgabe: Abolition. Feminism. Now.

Erstveröffentlichung: Haymarket Books, 2022

© 2022 Angela Y. Davis, Gina Dent, Erica R. Meiners & Beth E. Richie

Alle Rechte vorbehalten

eBook UNRAST Verlag, Dezember 2023

ISBN 978-3-95405-176-2

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Katharina Stahlhofen, Köln

Satz: UNRAST Verlag, Münster

Inhalt

Vorwort

Einleitung: Abolitionismus. Feminismus. Jetzt.

I. Abolitionismus.

II. Feminismus.

III. Jetzt.

Nachwort

Anhang

A. Kreislauf aus Gewalt in der Partnerschaft, staatlicher Gewalt, Macht und Kontrolle von Monica Cosby

B. INCITE!/Critical Resistance – Erklärung zu geschlechtsspezifischer Gewalt und gefängnisindustriellem Komplex (2001)

C. Reformistische Reformen vs. abolitionistische Schritte zur Beendigung der Inhaftierungspolitik

D. Literaturverzeichnis

E. Abbildungsnachweis

Anmerkungen

Vorwort

An einem Wochenende im Jahr 2001 trafen sich einige Leute aus zwei schnell wachsenden Organisationen einer noch jungen Bewegung in einem stickigen Raum, um möglichst mehr auszuhecken, als nur eine Erklärung. Ausschlaggebend für das kleine Treffen – hauptsächlich von Frauen of Color – war eine uns umtreibende Frage: Wie können Kampagnen und Analysen enger miteinander verknüpft werden, die sich sowohl auf den Aufbau einer Welt ohne Gefängnisse konzentrieren und sich gegen das Polizieren insgesamt positionieren, als auch für den Aufbau einer Welt ohne sexistische Gewalt eintreten? INCITE! Women of Color Against Violence[1] war ein wachsendes Netzwerk, das die Abhängigkeit der Bewegung gegen (geschlechtsspezifische) Gewalt vom Mainstream / Whitestream, von Polizeiarbeit und von Strafen kritisierte. Und als Critical Resistance hatten sich erst kurz zuvor Abolitionist:innen zusammengeschlossen, um für das Ende des Polizierens und die Abschaffung von Gefängnissen einzutreten. Obwohl es sich bei beiden Gruppen um neue und sich entwickelnde Netzwerke mit vielen Überschneidungen und gemeinsamen Analysen handelte, erkannten sie, wie wichtig es ist, eine gemeinsame Vision auszuarbeiten und eine Erklärung über die komplizierte Schnittmenge ihrer jeweiligen Arbeit zu verfassen und zu verbreiten. Sie erkannten, dass die Arbeit an einer gemeinsamen Erklärung, die eine ausgewogene Bewertung von zwischenmenschlicher und staatlicher Gewalt leisten sollte, nicht nur einer Debatte über die für beide Organisationen heikelsten Themen bedurfte, sondern auch die Gelegenheit bot, sich gemeinsam öffentlich zu engagieren, Analysen zu erarbeiten und Kampagnenforderungen aufzustellen sowie radikale Visionen zu veröffentlichen.

Der im Deutschen noch wenig gebräuchliche Begriff des ›Polizierens‹ (policing) umfasst weit mehr als Polizeiarbeit im engeren Sinn. Der Polizeiwissenschaftler T. Feltes schreibt dazu etwas beschönigend:

»Unter Polizieren verstehen wir das gesamte staatliche, private, von Verbänden und Bürgerinitiativen getragene Handeln, das auf die Erreichung und Erhaltung von ›innerer Sicherheit‹ zielt.« (Feltes 2015)

Polizieren im weiteren und Polizeiarbeit im engeren Sinn sind aber vor allem repressives staatliches Handeln, das nicht neutral, sondern geprägt von maskulinistisch-rassistischer Cop-Culture ist, weshalb die Formen des Polizierens insgesamt stark vom sozialen und gesundheitlichen Status der Polizierten abhängig sind. (Anm. d. Ü.)

Mitglieder der beiden erst kurz zuvor gegründeten Gruppen verbrachten also ein intensives Wochenende am Mills College[2] in Oakland, Kalifornien, und erarbeiteten dort die INCITE!/Critical Resistance – Erklärung gegen geschlechtsspezifische Gewalt und den gefängnisindustriellen Komplex, in der ihre Vision und die Herausforderungen klar benannt werden:

»Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir Antworten auf geschlechtsspezifische Gewalt entwickeln, unabhängig vom sexistischen, rassistischen, klassistischen und homofeindliche Strafrechtssystem. Es ist darüber hinaus wichtig, dass wir Strategien entwickeln, die das Strafrechtssystem insgesamt infrage stellen und die gleichzeitig den Betroffenen von sexualisierter und häuslicher Gewalt Sicherheit bieten.«

In dieser elf Punkte umfassenden Erklärung wird dargelegt, wie »radikale Freiheit, gemeinsame Verantwortlichkeit und leidenschaftliche Gegenseitigkeit« das »Überleben und die Fürsorge für alle Menschen« gewährleisten können, und es wird genau aufgezeigt, warum Abolitionismus feministisch und warum Feminismus abolitionistisch sein muss.

Wie die meisten politischen Arbeiten, die gemeinschaftlich entstehen, dauerte die Arbeit an der INCITE!/Critical ResistanceErklärung viel länger als geplant und wurde 2001 zunächst nur als internes Papier fertiggestellt. Die Erklärung wurde dann später sowohl als Plakat als auch als Manifest gedruckt und zirkulierte schließlich in feministischen und abolitionistischen Kreisen, angetrieben durch die Klarheit und Überzeugungskraft der Forderungen und die wachsende Zahl von Organisationen, die sich für die Erklärung interessierten. Als wichtiger Bezugspunkt in der Geschichte des abolitionistischen Feminismus wird das Dokument als ein beispielhafter und eindeutiger Aufruf für eine komplexere Herangehensweise gegen Polizei und Gefängnisse gelobt, der mit Nachdruck betont, dass Antirassismus und Antikapitalismus für den heutigen Feminismus zentrale Dimensionen sind.

2021 kehrten wir in einem für die Zukunft der sozialen Gerechtigkeit kritischen Moment zu dieser Erklärung und ihren Interventionen zurück, denn der Abolitionismus ist heute sowohl als Analysemethode als auch als politische Praxis für die aktuelle Organisierung zunehmend bedeutsam geworden. Die Forderung nach Abschaffung der Todesstrafe ist im Mainstream angekommen und steht nun ganz oben auf den Lehrplänen. Die Schlagzeilen des Guardian verkünden eine »beispiellose« Unterstützung für die Forderung nach der Streichung von Mitteln für die Polizei. Teen Vogue veröffentlichte mehrere Artikel, die alle mit dem Schlagwort Abolitionismus arbeiten, zu Themen, die von der Frage, warum die Polizei uns nicht sicherer macht, bis hin zu der Frage reichen, warum Gesetze gegen Hassverbrechen die Gewalt gegen Asiat:innen nicht beenden werden.[3] Auf den Straßen skandieren Menschenmengen »Abolition«. Das rasche Anwachsen einer abolitionistischen Anwaltschaft wurde einerseits durch die Resolution der National Lawyers Guild beflügelt, die sich 2015 für die Abschaffung des Strafvollzugs aussprach, sowie andererseits durch Anwaltskanzleien, die von ehemals Inhaftierten gegründet wurden, wie das Abolitionist Law Center in Pittsburgh, aber auch durch Webinare und Organisierungen, die von Law for Black Lives gefördert wurden. Schulausschüsse von Oakland bis Minneapolis stimmten für die Kündigung von Verträgen mit Polizeibehörden. Hochschulen und Universitäten stellten ihre Verträge mit den örtlichen Strafverfolgungsbehörden sowie die Rolle der Campus-Polizei infrage.

Doch während die abolitionistische Bewegung immer einflussreicher wird, werden ihre kollektiven feministischen Herkunftslinien immer weniger sichtbar, selbst in solchen Momenten, die erst durch feministische Organisierung möglich wurden, insbesondere durch die von jungen Queers of Color, deren wichtige Arbeit und Analyse so oft ausgegrenzt wird. Wie einige schon vor zwanzig Jahren erkannt haben, wird der Abolitionismus am effektivsten durch die Benennung und Aufwertung einer kollektiven und feministischen Analyse und Praxis vorangetrieben. Wir kehren zu der grundlegenden Intervention der INCITE!/Critical Resistance Erklärung zurück: Abolitionismus ist ohne radikalen, antikapitalistischen, antirassistischen, dekolonialen und queeren Feminismus unvorstellbar. In diesem Buch argumentieren wir, dass abolitionistische Traditionen von Anfang an auf feministische Analysen und Organisationsformen aufbauten und dass der Feminismus, wie wir ihn verstehen, ohne eine abolitionistische Vision ebenfalls unmöglich ist. Wir schlagen eine Brücke zwischen den sich überschneidenden, aber manchmal diskontinuierlichen Welten von Wissenschaftler:innen und politischen Organisator:innen und erforschen die jüngsten Bewegungen und Organisationsformen – einschließlich derer, die von INCITE! Women of Color Against Violence und Critical Resistance eingebracht wurden – und beleuchten ein Ökosystem des abolitionistischen Feminismus, das oft in den Hintergrund gedrängt wird. Da Freiheit ein ständiger Kampf ist, war abolitionistischer Feminismus schon immer eine Politik, die jegliche Ausbeutung von Menschen und anderen Lebewesen zurückweist und untrennbar mit der Praxis verbunden ist.[4]

Schauen wir uns einmal die Interventionen früherer feministischer Organisator:innen an: Das Combahee River Collective Statement (1977) beispielsweise war einer von mehreren Schlüsseltexten, die einen politischen Weg für radikale feministische Organisierung aufzeigten und die, wie alle Manifeste und offenen Erklärungen, eine Stellungnahme und ein Prozess zugleich waren.[5] Während das Combahee River Collective Statement für viele ein historisches Dokument ist, das den zeitgenössischen Schwarzen, lesbischen/queeren, antikapitalistischen Feminismus begründet hat, war die Organisierung, die seine Entstehung prägte, ebenso zentral wie der Inhalt des Statements. Indem die kollektive Organisierung das Leben Schwarzer Frauen und anderer Frauen of Color in den Mittelpunkt stellte, entstand ein Gefühl der Dringlichkeit für eine Wahrheitserzählung, in der sich feministische Befreiungskämpfe vor Ort mit größeren, übergreifenden politischen Prinzipien und Debatten wiederfinden. Diese breite, optimistische, handlungsorientierte und komplexe Ausrichtung des abolitionistischen Feminismus und seiner Theorie des Wandels hallt in den Bestrebungen von Organisationen nach, die sich aktiv für die Befreiung von Menschen einsetzen – wie die in Brisbane, Australien, ansässigen Sisters Inside und die britischen Sisters Uncut – und in zeitgenössischen Erklärungen, offenen Briefen, Postern und Manifesten von Netzwerken wie dem Crunk Feminist Collective, dem Movement for Black Lives, der Solidaritätserklärung mit Palästina der Abolition and Disability Justice Coalition und natürlich der INCITE!/Critical Resistance Erklärung.

Wir verstehen dieses Buch eher als eine kritische Genealogie denn als Manifest, als ein Buch, das betont, wie wichtig es ist, politische Traditionen nachzuzeichnen. Wir bieten eher eine Reihe von Ideen und dichten Beschreibungen unvollendeter Praktiken an, anstatt starre Definitionen vorzuschlagen. Wir versuchen, die gemeinsamen konstitutiven Stränge der abolitionistischen Arbeit und das Versprechen des abolitionistischen Feminismus aufzuzeigen, statt ihn auf eine sektiererische politische Position zu beschränken. Von den Schaufenstern in Chicago und den Gefängnissen in Manchester bis zu den Straßen von São Paulo und den Klassenzimmern in Johannesburg geht unsere Arbeit genealogisch vor, um die unterdrückte Geschichte der Organisierung aufzuzeigen, die unseren gegenwärtigen Mobilisierungen zugrunde liegen sollte und sie stärken muss. Wir verwenden den Begriff Ökosystem, um einen präskriptiven oder verdinglichenden Rahmen zu vermeiden und eine dynamische Ökologie der politischen Arbeit zu betonen, die Vermächtnisse, Analysen und Fragen hervorhebt, die oft ausgelöscht oder verdrängt werden. Wir verwenden den Begriff Ökosystem auch, um die Komplexität einer Landschaft zu verdeutlichen, die von miteinander verflochtenen Netzwerken, Kampagnen, Mobilisierungen und Organisationen bevölkert ist. Die Erzählung einer Geschichte des gegenwärtigen Ökosystems – mit Blick auf unterdrücktes und ausgelöschtes Wissen – verweist nicht nur auf die zugrundeliegenden Ebenen notwendiger kollektiver Arbeit, sondern liefert auch wichtige fantasievolle und konzeptionelle Werkzeuge, die wir gegenwärtig aufgreifen können.

Da unser Denken und unsere Praxis durch das Lernen, Lehren und Analysieren des kollektiven Kampfes ständig erweitert und herausgefordert werden, unterbreiten wir dieses Gemeinschaftsprojekt nicht als durchgehend lineare historische Darstellung aller Organisationen und Konzepte des abolitionistischen Feminismus. Stattdessen bringt Abolitionismus. Feminismus. Jetzt. den abolitionistischen Feminismus als Konzept mit der historischen und zeitgenössischen ideologischen und politischen Praxis ins Gespräch, die explizite und umfassende Ideen darüber erfordert, wie man Freiheit erlangen kann. Als kritische Genealogie beginnen wir mit der Erkenntnis, dass die Geschichten der abolitionistischen und der feministischen Bewegungen eng miteinander verwoben sind, sich aber nicht in einer sauberen chronologischen Reihenfolge nebeneinander entfalten. Die Historikerin Elsa Barkley Brown beschreibt Geschichtsschreibung als »alle reden gleichzeitig, mehrere Rhythmen werden gleichzeitig gespielt« und erinnert uns daran, dass »eine lineare Geschichtsschreibung uns zu einer linearen Politik führen wird, und beides wird uns in einer asymmetrischen Welt nicht weiterhelfen«.[6] Wir begrüßen desahlb auch andere Darstellungen des abolitionistischen Feminismus und sind der Meinung, dass Genealogien immer infrage gestellt werden sollten, weil es stets einen uneingestandenen Grund dafür gibt, zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte anzufangen und nicht zu einem anderen, und weil es immer darauf ankommt, welche Narrative in der Gegenwart marginalisiert oder ausgelöscht werden. Anstatt dieses kurze Buch und die Momentaufnahmen von Kampagnen, Organisationsformen und Analysen, die wir aufzeigen, als Fahrplan zu lesen – als präskriptive Werkzeuge für die Gegenwart und Zukunft – oder als die maßgebliche Stimme über Organisationen und Bewegungen, schlagen wir vor, sich mit dem Ziel unseres kollektiven Schreibens zu beschäftigen: den Dialog, die Praxis, die Reflexion – und noch vieles mehr – auszuweiten.

Einleitung: Abolitionismus. Feminismus. Jetzt.

Warum abolitionistischer Feminismus?

Da der Abolitionismus langsam im öffentlichen Diskurs ankommt und einige Befürworter:innen dabei sowohl die feministische Dimension des Abolitionismus als auch die abolitionistische Dimension des Feminismus herausstellen, ist eine eindeutige Beschreibung des Begriffs ›abolitionistischer Feminismus‹ eine Herausforderung von entscheidender Bedeutung. Konzepte, egal ob sie aus der Bewegung oder aus der Wissenschaft stammen, können spröde und inhaltsleer sein – oder gar dazu benutzt werden, um sie gegen andere einzusetzen – anstatt als lebendige, konstruktive und grundlegende Einrahmungen zu dienen, die gleichermaßen unser theoretisches Verständnis vertiefen wie unsere transformatorischen politischen und sozialen Bewegungen stärken.

Als wir begannen, gemeinsam an diesem Buch zu arbeiten, gingen wir davon aus, dass es relativ einfach sein würde, zu bestimmen, was feministisch und was abolitionistisch war und ist. Diese Frage erwies sich jedoch als komplexer, was zum Teil auf das Medium zurückzuführen ist: Es kann durchaus herausfordernd sein, über Organisationsformen und Ideen zu schreiben, die von Natur aus in Bewegung sind und sich daher in ihren Beziehungen zueinander immer wieder leicht verändern. Weder Abolitionismus noch Feminismus bezeichnen etwas Feststehendes, sondern sind vielmehr politische Methoden und Praktiken. Ist ein Projekt oder eine Kampagne auch dann feministisch oder abolitionistisch, wenn die Teilnehmer:innen diese Begriffe gar nicht in ihrer Arbeit oder Kampagne verwenden? Könnten wir unabhängig voneinander feststellen, was »feministisch« am »Abolitionismus« oder »abolitionistisch« am »Feminismus« ist? Wie greift der abolitionistische Feminismus die politisch relevanten Themen auf, die in der praktischen Umsetzung beider Konzepte oft verdrängt werden, wie beispielsweise Rassismus und Kapitalismus, Heteropatriarchat, Internationalismus und Transfeindlichkeit? Gerade weil es auf diese und noch andere Fragen keine verkürzten Antworten gibt, sind sie so konstruktiv. Wir setzen hinter jedes Wort im Titel einen Punkt, um zu verdeutlichen, dass jedes dieser Konzepte mit seiner eigenen einzigartigen Geschichte den Rahmen dieses Projekts bildet. Angesichts der Tatsache, dass Abolitionismus und Feminismus weiterhin von einer Reihe von Wissenschaftler:innen und Organisator:innen getrennt voneinander theoretisiert werden, zielt unser Projekt nicht darauf ab, diese bereits existierenden (und laufenden) Bestrebungen abzuwürgen, zu korrigieren oder zu verdrängen. Vielmehr beinhaltet die eigentliche Bedeutung des Begriffs ›abolitionistischer Feminismus‹ eine Dialektik, eine Differenzierung und eine Form der Unterbrechung: ein Beharren darauf, dass abolitionistische Theorien und Praktiken am überzeugendsten sind, wenn sie auch feministisch sind, und dass umgekehrt ein Feminismus, der auch abolitionistisch ist, der inklusivste und überzeugendste Feminismus in diesen Zeiten ist.

Obwohl sich beide Ansätze analytisch und empirisch schon immer überschneiden – die Bewegung zur Beendigung geschlechtsspezifischer und sexualisierter Gewalt kann beispielsweise niemals von der Arbeit zur Beendigung staatlicher Gewalt, einschließlich der Polizeigewalt, getrennt werden –, ist ein solch ganzheitliches Verständnis nicht immer vorauszusetzen. Wie die Rassismusforscherin Mari Matsuda bereits 1991 schrieb, muss ein Feminismus, der in der Lage ist, aufkommende und bestehende Formen von Herrschaft sinnvoll infrage zu stellen, immer flexibel genug sein, um »die andere Frage zu stellen«:

»Die Art und Weise, wie ich versuche, die Verflechtungen aller Formen von Diskriminierung zu verstehen, ist eine Methode, die ich ›die andere Frage stellen‹ nenne. Wenn ich etwas sehe, das rassistisch aussieht, frage ich: ›Wo ist das Patriarchat darin?‹ Wenn ich etwas sehe, das sexistisch aussieht, frage ich: ›Wo ist der Heterosexismus darin?‹ Wenn ich etwas sehe, das homofeindlich aussieht, frage ich: ›Wo sind hier die Klasseninteressen?‹ Die Arbeit in Bündnissen zwingt uns dazu, sowohl nach den offensichtlichen als auch nach den nicht offensichtlichen Herrschaftsverhältnissen Ausschau zu halten, und während wir das getan haben, haben wirerkannt, dass keine Form der Diskriminierung jemals allein dasteht.«[7]

Matsudas Vorschlag erfordert die Anerkennung der Intersektionalität von Kämpfen und unsere Bereitschaft, Veränderungen zu berücksichtigen, um sie in unsere Organisationsarbeit einzubauen – ebenso wie die konstruktive Fähigkeit, kritisch zu reflektieren, und die Möglichkeit, zu lernen und zu wachsen.

Für uns ist abolitionistischer Feminismus eine politische Arbeit, die diese Sowohl-als-auch-Perspektive einnimmt und über die binäre Entweder/oder-Logik und die Oberflächlichkeit von Reformen hinausgeht. Wir sehen die Wechselbeziehung zwischen staatlicher und individueller Gewalt und gestalten unseren Widerstand entsprechend: Wir unterstützen Betroffene und ziehen Täter zur Rechenschaft, arbeiten lokal und international, bauen Communitys auf und reagieren gleichzeitig unmittelbar auf Erfordernisse. Wir arbeiten an der Seite inhaftierter Menschen und fordern ihre Freilassung. Wir mobilisieren wütenden Protest gegen die Vergewaltigung einer Frau, lehnen aber gleichzeitig verstärkte Polizeieinsätze als Reaktion darauf ab. Wir unterstützen die Betroffenen und bauen nachhaltige und langfristige kulturelle und politische Veränderungen auf, um Behinderten- und Transfeindlichkeit zu bekämpfen, während wir unmittelbar Sofortmaßnahmen ergreifen, wenn es zu Übergriffen kommt. Diese manchmal chaotischen und riskanten kollektiven Praktiken der Kreativität und Reflexion formen neue Visionen von Sicherheit und beleben komplexe Szenarien, die den abolitionistischen Feminismus formen.

Die Fähigkeit, sowohl nach innen als auch nach außen zu blicken, sowohl unmittelbare Erfordernisse anzugehen als auch weitreichende Unrechtssysteme zu konfrontieren und auf komplizierte und vielschichtige Weise über Abolitionismus nachzudenken, stellt einen feministischen Ansatz zur Veränderung dar. Unser Ansatz baut auf den Begriffen der doppelten und dreifachen Gefahr auf, die von Fran Beal und der Third World Women’s Alliance entwickelt wurden, sowie auf Deborah Kings Theorie der mehrfachen Gefährdung (multiple jeopardy) oder der Vorstellung, dass Formen von Herrschaft und Unterdrückung sowohl miteinander verbunden sind als auch sich gegenseitig verstärken – was Kimberlé Crenshaw später als Intersektionalität im juristischen Kontext definieren sollte.[8] Diese Ideen haben wichtige Wurzeln, die oft bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Abolitionistischer Feminismus ist eine Praxis – eine politisch informierte Praxis –, die eine bewusste Bewegung und einsichtige Antworten auf die Gewalt systemischer Unterdrückung fordert. Aufbauend auf diesen grundlegenden Ansätzen verkündet diese Theorie der Veränderung, dass wir mehrere Dinge gleichzeitig tun können und müssen. Wir arbeiten lokal und international. Wir nehmen die Menschen in die Pflicht und glauben daran, dass sie sich ändern können. Wir sind davon überzeugt, dass wir radikal und aktiv sein müssen. Wir reflektieren, lernen und passen unsere Praktiken an. Wir konfrontieren Ungerechtigkeit. Wir entwickeln andere Lebensweisen. Wir sind uns darüber im Klaren, dass die Organisierung zur Beendigung sexualisierter Gewalt die Arbeit gegen das Gefängnissystem einschließen muss – gegen Grenzpatrouillen, gegen die Inhaftierung von Behinderten, gegen die Kriminalisierung radikaldemokratischer Proteste – und ebenso ganz zentral für gegenseitige Hilfe, polizeifreie Schulen, reproduktive Gerechtigkeit und für die Würde von trans Personen.[9] All dies ist möglich, weil das »Wir« keine Gruppe von Individuen ist, sondern vielmehr ein Kollektiv, das seine Mitglieder und die Projekte, Ziele und Kampagnen, die mit dem Alltag verbunden sind, begründet, definiert und somit Freude und Kampf umfasst. Untrennbar.

Der abolitionistische Feminismus schreckt nicht vor Widersprüchen zurück, die oft die Initialzündung für Veränderungen sind. Indem wir an diesem Sowohl-als-auch festhalten, können wir unsere kollektiven unmittelbaren und alltäglichen Bedürfnisse nach Sicherheit, Unterstützung und Ressourcen befriedigen und uns gleichzeitig für den Abbau von Gefängnissystemen einsetzen. Wohnungslose sollten einen sicheren Platz zum Schlafen bekommen, während wir Kampagnen organisieren, um Wohnraum für alle zu schaffen. Kampagnen zur Schließung von Gefängnissen können vorankommen, wenn wir weiterhin Klassen in Gefängnissen unterrichten, Prozesse der Wiederherstellenden Gerechtigkeit (restorative justice) unterstützen und Bewährungsanhörungen organisieren. Die Proteste gegen sexualisierte Übergriffe und Morde von Polizisten gehen weiter, während wir internationale Solidaritätsbewegungen gegen den Export militarisierter Polizeitaktiken aufbauen. Ein Markenzeichen des abolitionistischen Feminismus ist der Spagat zwischen notwendigen Antworten auf unmittelbare Erfordernisse auf der einen, und kollektiven und radikalen Forderungen nach strukturellem und letztlich revolutionärem Wandel auf der anderen Seite. Diesem Spagat, den wir hier feststellen, müssen wir uns auch tatsächlich stellen. Diese Widersprüche sind keine Begrenzungen, keine vorgeschriebenen Horizonte oder Gelegenheiten für schnelle aber wenig brauchbare Lösungen, sondern konstruktive und notwendige Baustellen kollektiver Analyse und Arbeit.

Die Aushandlungen in diesem Spannungsfeld schaffen darüber hinaus experimentelle und kollektive Praktiken der Sicherheit, Verantwortung und Heilung, die nicht an das bestehende Strafrechtssystem gebunden sind. Diese Instrumente und Praktiken (mit dazugehöriger Analyse), die oft umständlich als Community-Verantwortung (community accountability) oder Transformative Gerechtigkeit (transformative justice) bezeichnet werden, bieten und verbreiten Antworten, ohne den strafenden und einsperrenden Staat einzuschalten. Das Engagement ist sowohl reaktiv – wenn es darum geht, was in einem Moment zu tun ist, in dem Unrecht und Gewalt verübt werden –, als auch beispielhaft, wenn es um Ideen für einen umfassenderen, längerfristigen Präventionsrahmen geht, der Unrecht verhindern kann. Die Praktiken der Community-Verantwortung und der Transformativen Gerechtigkeit gehen zwar von unserem politischen Hintergrund aus, sie bieten aber weitaus mehr Menschen vielfältige konkrete Möglichkeiten, sich zu engagieren.

Die radikale Vorstellungskraft, die von Science Fiction entfacht wird, Illustration von Ira M. Leigh, 2015.

Dieses wachsende internationalistische Ökosystem von abolitionistischen Feminist:innen – das größtenteils von unbezahlter Arbeit getragen wird – schafft immer wieder neue radikale Werkzeuge und andere Ressourcen. Bevor es sich im Januar 2020 auflöste, dokumentierte das Transformative Justice Kollektiv in Berlin jahrelang vielfältige Möglichkeiten, wie normale Menschen versuchen können, auf zwischenmenschliche Gewalt, insbesondere geschlechtsspezifische und sexualisierte Gewalt, zu reagieren, ohne auf Polizei und Gefängnisse zurückzugreifen, und bot Workshops und Ressourcen zum Austausch von Taktiken und Strategien an. Mit Lese- und Lernzirkeln, Diskussionsgruppen und anderen Workshops bietet Alternative Justice in Indien »gemeinschaftsbasierte feministische Interventionen gegen sexualisierte Gewalt und Missbrauch in Indien« an, »ohne auf das Strafsystem zu bauen«. Durch direkte Aktionen, Stellungnahmen und politische Bildungsveranstaltungen fordert das britische Netzwerk Sisters Uncut dazu auf, Finanzmittel aus dem Strafvollzug abzuziehen und das Geld in die Communitys, das Gesundheitswesen, die Bildung und die Kunst zu investieren, und zeigt konkrete Alternativen auf. Survived & Punished und Love & Protect unterstützen von Gewalt Betroffene, die wegen ihrer Selbstverteidigung kriminalisiert werden, indem sie Kampagnen entwickeln, die sich für einzelne Personen einsetzen und zugleich strukturelle und systemische staatliche Gewalt offenlegen. Queer- und Transnetzwerke – von der britischen Gruppe Bent Bars bis zum Transgender, Gender Variant and Intersex Justice Project in der Bay Area – entwickeln und veröffentlichen Wege, um auch dann Sicherheit zu gewährleisten, wenn ein Anruf bei der Polizei keine Option ist und wenn Menschen sich in Einrichtungen befinden, die auf Gewalt basieren.

In dieser vielfältigen Ressourcenlandschaft kursieren Ratgeber über die Praxis Transformativer Gerechtigkeit und Community-Verantwortung, die Diskussionen und Praktiken anstoßen sowie zu weiteren Überlegungen anregen. People Against Prisons Aotearoa in Aotearoa, Neuseeland, bieten Begleitbroschüren zu ihren Workshops an, darunter Transformative Justice Workshop: Practical Ways of Solving Interpersonal Harm and Conflict in our Communities, die Handlungsmöglichkeiten aufzeigen, mit denen alltägliche Konflikte gelöst werden können, ohne die Strafverfolgung einzuschalten.[10]Fumbling Towards Repair von Mariame Kaba und Shira Hassan ist ein Workbook for Community Accountability Facilitators.[11] Ejeris Dixon und Leah Lakshmi Piepzna-Samarasinhas Beyond Survival: Strategies and Stories from the Transformative Justice Movement und der Sammelband von Ching-In Chen und Genoss:innen mit dem Titel The Revolution Starts at Home: Confronting Intimate Violence within Activist Communities ist voll von Geschichten, in denen reflektiert und analysiert wird, wie Menschen innerhalb sich organisierender Gemeinschaften – manchmal auch erfolglos – den Umgang mit Konflikten und Unrecht bewerkstelligen.[12] Das 576-seitige Toolkit von Creative Interventions und dem StoryTelling and Organizing Project in Oakland bietet Werkzeuge, Ausdrucksweisen und eine Fülle von Material, um mit dem Lernen und schließlich auch mit der Praxis zu beginnen. Diese wachsende Zusammenstellung von Ressourcen und Organisationen – als ein Teil unseres internationalistischen abolitionistischen feministischen Ökosystems – beinhaltet weder eine Checkliste noch ein Patentrezept, sondern bietet den Menschen vielfältige, nützliche Handlungsvorschläge und Werkzeuge, die wir schon heute gemeinsam anwenden können.[13] Diese Ressourcen – und noch viele andere – werden auf Graswurzelversammlungen und Zusammenkünften auf der ganzen Welt ausgetauscht, kritisiert, übersetzt und modifiziert. Und das alles wird nahezu ausnahmslos durch unbezahlte Arbeit organisiert.

Neben diesen Texten produzieren Künstler:innen weiterhin eine Reihe visueller Interventionen in unserem Karzerstaat – darunter Werke, die die Realitäten des täglichen Überlebens im Gefängnis minutiös dokumentieren. Künstler:innen haben schon immer eine Schlüsselrolle gespielt, wenn es darum ging, Widerstand zu leisten und uns die Mittel an die Hand zu geben, um uns etwas anderes vorstellen zu können – wie die in diesem Buch enthaltenen Grafiken zeigen. Unsere Plakate, Memes, Banner, Statements, Slogans, Signal- und Snapchat-Gruppen und vieles mehr schaffen – in Anlehnung an eine Formulierung der Kunstwissenschaftlerin Nicole Fleetwood – eine Anti-«Knast-Ästhetik«[14] oder, wie wir es formulieren würden, eine feministische Ästhetik des Abolitionismus – um unsere kollektiven Fähigkeiten zu erweitern, das Regime heteronormativer und rassifizierter Bestrafung zu visualisieren, das den US-amerikanischen Gefängnis- und Polizeistaat beherrscht, und auch die unzähligen Wege, auf denen Menschen – Arme, Queers, First Nations, Braune, Schwarze und/oder Nicht-Staatsbürger:innen – versuchen, sich trotz all dieser Hindernisse zu entfalten und Widerstand zu leisten. In den letzten zehn Jahren ist auch das Publikum für die Werke von Autor:innen, die spekulative Schwarze (und queere) Zukunftsvorstellungen in den Mittelpunkt stellen, wie Octavia Butler, N. K. Jemison und Nnedi Okorafor, explodiert. Das wachsende Interesse an diesen Autor:innen und Künstler:innen, die den Kampf um eine Schwarze Zukunft herausstellen, und das immer umfangreichere Werk, das im Dialog mit diesen spekulativen Texten entstanden ist, kann nicht von den materiellen Forderungen getrennt werden, die in dieser Zeit entstanden sind: Fund Black Futures.[15]Abolitionismus. Feminismus. Jetzt. Während die lokale Organisierung weiterhin das diskursive Umfeld verändert und einen am Abolitionismus orientierten Diskurs über Gefängnisse und Polizeiarbeit legitimiert und vorantreibt, tragen kulturelle und künstlerische Projekte dazu bei, den Gefängnisstaat als unmenschlich zu entlarven und institutionelle Gewalt zu einem wichtigen Diskussionsthema etablierter Medien zu machen. Man denke beispielsweise an die multimediale Puppenspiel-Performance von Papel Machete, die eine fiktionale Erzählung über das letzte Gefängnis in den USA entwirft.[16] Visuelle Kultur, Musik, Kunst und Fiktion prägen die Vorstellungskraft der Bevölkerung auf viel tiefgreifendere Weise, als politische Forderungen nach Gesetzesreformen es jemals könnten.

Doch selbst wenn wir eine Vielzahl von Reaktionen und Interventionen entwickeln, um die strafenden Methoden zu überwinden – einige davon nennen sich Transformative Gerechtigkeit, andere nicht –, wird es zu Gewalt kommen, wie all diese Quellen zeigen. Frauen werden sexuell missbraucht, trans Menschen werden geschlagen, Menschen mit Behinderungen werden in ihren Haushalten wie Geiseln gehalten und Schwarze und andere People of Color werden sich gegenseitig verletzen. Wir wollen nicht so tun, als ob diese Formen der Gewalt nicht existierten. Unsere eigenen Kontexte, Projekte, Arbeitsstätten und Organisationen sind nicht immun dagegen. Während wir dieses Buch schreiben, werden in Organisationen und Bewegungen um uns herum Vorwürfe von sexualisierter Gewalt, Transfeindlichkeit und Rassismus laut. Wir kämpfen. Und wir sind uns bewusst, dass die schlimmsten Folgen oft von den Schwächsten zu tragen sind: Menschen, die ohne Bezahlung in Gefängnissen und anderen Einrichtungen eingesperrt sind und sich dort organisieren, und Menschen, die unbezahlt in Bewegungen und Basisorganisationen arbeiten. Demütig erkennen wir diese Risiken an, und dennoch stürzen wir uns gemeinsam hinein. Dies ist keine unmögliche Arbeit, denn wir tun dies gemeinsam. Abolitionismus. Feminismus. Jetzt. beschreibt, wie und warum Abolitionismus ohne Feminismus unvorstellbar ist, warum Feminismus ohne Abolitionismus unvorstellbar ist, und warum dieser Dialog jetzt unbedingt notwendig ist. Wir hoffen, dass die Leser:innen über die Ideen in diesem Buch nachdenken und sich zum Handeln bewegen lassen – ein Handeln, das nicht von uns vorgegeben, sondern von der Arbeit, den Ideen und den Herausforderungen, die in diesem Buch zusammengetragen sind, inspiriert wird.

Die 2020 veröffentlichten Forderungen der Kampagne #8toAbolition, die auf die Abschaffung aller staatlichen Gewaltsysteme abzielt.

Warum wir?

Kollektives abolitionistisch-feministisches Organisieren, Lehren und Lernen hat uns zusammengebracht und bringt uns auch weiterhin zusammen. Als Wissenschaftler:innen, Pädagog:innen und Organisator:innen sind wir in Projekte involviert, die sich um die Abschaffung von Gefängnissen und Polizei drehen, während wir versuchen, antikarzerale Ansätze innerhalb feministischer Bewegungen gegen Gewalt zu fördern. Gemeinsam haben wir eine Reihe von Organisationen aufgebaut und unterstützt, an Kampagnen gearbeitet, an Delegationen teilgenommen, Versammlungen einberufen, gelernt (und gelehrt), alles als Teil der Organisationsarbeit von Bewegungen. Insbesondere mit INCITE! Women, Gender Non-Conforming, and Trans People of Color Against Violence und Critical Resistance verbindet uns eine lange und intensive Geschichte. Angela ist eines der Gründungsmitglieder von Critical Resistance, Beth ist Gründungsmitglied von INCITE!, Gina ist seit der Gründung und der ersten Konferenz von Critical Resistance im Jahr 1998 dabei, und Erica kam 2006 dazu. Für Beth, Gina und Angela begann dieser Austausch bereits in den späten 1990er-Jahren, Erica, die Jüngste von uns, kam zehn Jahre später dazu. Bei Autofahrten und auf Podiumsdiskussionen, bei Organisationstreffen und Kampagnen, in Klassenzimmern und auf Strategiesitzungen, in Küchen bei gemeinsamen Mahlzeiten bewegten sich die Gesprächsfragmente unseres Austauschs durch Chicago, New York, Oakland, Bahia, Brisbane, London, Palästina und andere Teile der Welt. Was bedeutet es, dass Abolitionismus jetzt auf vielen Lehrplänen ganz oben steht und nicht mehr wie ein nachträglicher Gedanke erst kurz vor Ende eines Kurses angesprochen wird? Welche Auswirkungen hat es, dass bislang nur wenige Menschen ausdrücklich anerkennen, wie sehr der Feminismus den Abolitionismus geprägt hat? Warum müssen wir uns weiterhin dafür einsetzen, dass der Feminismus vom Abolitionismus inspiriert wird?

Unsere Entscheidung, gemeinsam an einem kleinen Buch mit dem Titel Abolitionismus. Feminismus. Jetzt. zu arbeiten, war lange vor den antirassistischen Protesten und Aufständen im Frühjahr 2020 in den Vereinigten Staaten und auf der ganzen Welt und vor dem verstärkten Aufkommen von Forderungen wie »Defund the Police« und »Police Out of Schools« getroffen worden. Wir trafen uns wöchentlich per Zoom, bevor Zoom-Kurse, Konferenzen und andere Online-Treffen ganz normal wurden. Wir setzten unsere Arbeit in den ersten Tagen der Pandemie fort, während der Aufstände in unseren Wohnvierteln und während wir veränderte Arbeits-, Lebens- und Organisationsbedingungen aushandeln mussten. Wir ließen uns nicht unterkriegen von der Unberechenbarkeit im eigenen Land, unzureichenden Bandbreiten, Tornados, neuen Welpen, Waldbränden, Pflegebedürftigkeit, angeordneten Schutzmaßnahmen und sogar einem Aufstand weißer Rassist:innen. Unsere Arbeit wurde von der Dringlichkeit des aktuellen Geschehens immer wieder unterbrochen – Rückmeldungen über den Gesundheitszustand geliebter Menschen, Echtzeit-Updates zu dringenden lokalen Aktionen, Fragen zum Lehren und Lernen, Sorgen über den Ausgang der Wahlen 2020 und Strategiesitzungen über die Schwächen und die Zukunft der Bewegung. Aber dieses Projekt hatte sich schon lange als zwingend notwendig erwiesen: Unser Engagement in mehreren Gruppen, die sich gleichermaßen gegen Knäste wie gegen geschlechtsspezifische Gewalt einsetzen, verdeutlicht die Notwendigkeit der Unteilbarkeit – Feminismus ist zentral für den Abolitionismus und der Abolitionismus ist untrennbar mit unserem Feminismus verbunden – und motiviert uns zu der gemeinsamen Arbeit, abolitionistischen Feminismus zu verschriftlichen, zu verbreiten und zu verstärken. Die Mobilisierungen im Jahr 2020, der Aufstand der weißen Rassist:innen Anfang 2021 und die COVID-19-Pandemie haben diese Dringlichkeit nur noch verstärkt, uns aber auch zahlreiche konkurrierende Notwendigkeiten abverlangt.

Da sich die Rahmenbedingungen für dieses Projekt ständig änderten und die Arbeit je nach den täglichen Anforderungen begann und endete, achteten wir sorgfältig auf einen gemeinschaftlichen Prozess. Wir kommen aus sehr unterschiedlichen Orten, wurden in unterschiedlichen akademischen und Organisationstraditionen ausgebildet und arbeiten und lehren in sich überschneidenden, aber auch unterschiedlichen Bereichen. Vielleicht ungewollt spiegelte unsere Schreibpraxis für dieses Projekt die Organisationsarbeit wider, die wir anstrebten und zum Teil auch aufzeichnen wollten. Wir bemühten uns um eine kollektive Stimme, die unser gemeinsames Denken und unsere Praxis widerspiegelt, förderten eine kontinuierliche kritische Reflexion und machten uns Gedanken darüber, was und wer übersehen oder ausgelassen wurde, wobei wir stets darauf bedacht waren, Erzählungen, Menschen und Analysen zu würdigen, die leicht vergessen oder verdrängt werden. Wir kämpften uns durch die Unzufriedenheit mit den Technologien und Werkzeugen, die zur Unterstützung des kollektiven Schreibens und der kollektiven Analyse zur Verfügung stehen, und ließen uns von den sich überschneidenden, aber auch widersprüchlichen Werkzeugen und Vokabularen inspirieren, während wir gleichzeitig unser tiefes Gefühl der Verantwortung für kollektive Mobilisierungen – in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – beibehielten. Wir einigten uns ausdrücklich auf unvollendete Diskussionen über das Vorwissen unseres imaginären Publikums sowie darauf, gemeinsam mehr erreichen zu wollen, als nur die gegenwärtige Geschichte aufzuzeichnen, und nahmen uns vor, uns auf die Arbeit und die Zukunft einzustellen. Dabei arbeiteten wir mit Demut und der tiefen Erkenntnis, dass uns dabei Kollektive, die Unterschiede einbeziehen, und nicht etwa einzelne Akteur:innen, vorantreiben und unterstützen. Diese Formen produktiver Konvergenz und Dissonanz ziehen sich durch unsere Kapitel und spiegeln sich auch in den Bewegungen und Mobilisierungen wider, über die wir berichten. Unser zentraler Punkt der Einheit ist unser fortwährendes Engagement für die Praxis und die Politik des abolitionistischen Feminismus und das Vertrauen, das aus der gemeinsamen Arbeit, den Visionen, den Lektionen, den Räumen und der Fürsorge in den letzten zehn und mehr Jahren entstanden ist. Dies ist eben die Zeit, die kollektive Prozesse, dringlich und unbeholfen, wohlüberlegt und ganz und gar präsent.

Warum kollektiv?

Der Schlüssel zu diesem abolitionistisch-feministischen Ökosystem sind Netzwerke, Organisationen und Kollektive. Die Arbeit ist niemals ein Einzelprojekt. Einzelne werden müde, brennen aus. Bewegungen stellen sich breiter auf und machen weiter. Manchmal besteht die Gruppe nur aus ein paar Leuten, die sich in einem Kirchenkeller treffen, aber diese Versammlungen, Netzwerke und Ad-hoc- oder formellen Gruppen schaffen aufrührerische Orte der politischen Bildung, die Beziehungen entwickeln, Vokabular, Strategien, Werkzeuge und Analysen austauschen und den Menschen die Möglichkeit geben, zu lernen und zu üben: Welche Werkzeuge stehen zur Verfügung, um jemanden zur Verantwortung zu ziehen, wenn wir nicht die Polizei rufen? Kollektivismus ist ein roter Faden, der sich durch alle Generationen, Völker und Mobilisierungen zieht – unterbewertet und unerkannt, aber der Schlüssel zur Freiheit.

Wir sind vorsichtig genug, um hier weder ein einzelnes Netzwerk noch eine bestimmte Kampagne zu romantisieren. Die Arbeit wird von Menschen gemacht, und deshalb ist sie, wie wir alle, nie ganz fehlerfrei. Die Hinwendung zu »der Gemeinschaft« ist außerdem heikel, manchmal mythisch: Aber Gemeinschaft ist gleichzeitig eine radikale Vision, eine flüchtige Möglichkeit und ein Kampf – abolitionistischer Feminismus in der Praxis. Die in dieser Genealogie vorgestellten Netzwerke und Kollektive (die nur einen Bruchteil der gesamten abolitionistisch-feministischen Landschaft ausmachen) erinnern uns daran, dass Abolitionismus nicht alles Unrecht oder alle zwischenmenschliche Gewalt beenden wird: Wir müssen daran arbeiten, einerseits Leid zu verhindern und zu reduzieren, während wir gleichzeitig transformative Handlungsweisen einüben und ausbauen, um zu reagieren, wenn Unrecht geschieht. Abolitionistischer Feminismus ist der bewusste Einsatz unserer Ressourcen, um unser kollektives Bestes zu fördern und gleichzeitig die »Verantwortlichkeit« vom Strafregime zurückzufordern.

Bei kollektiver Organisierung geht es immer um Lernen und Veränderung, und wir wissen, dass die Risiken ungleichmäßig verteilt sind. Doch während die komplexe (feministische) Standpunkt-Theorie erlernte Ignoranz nicht entschuldigt – zum Beispiel bei cisgeschlechtlichen und/oder weißen Menschen, deren Schwäche und Inkompetenz das Ergebnis ihrer willentlichen Haltung ist, nicht zuzuhören, nicht wissen oder lernen zu wollen –, ist politisches Bewusstsein hingegen ein fortlaufender, kollektiver und pädagogischer Prozess, der nie endet. Doch wie können wir innerhalb der Bewegung Räume schaffen, in denen Menschen sich irren dürfen, lernen und verlernen können, Verantwortung übernehmen und sich ändern? Da diese Arbeit nur in Beziehungen, in Gemeinschaften, stattfinden kann, ist es zwingend erforderlich, dass diese Arbeit nicht wieder auf denselben Körpern lastet – insbesondere auf denen von Frauen, üblicherweise Frauen of Color.

Unsere Fähigkeiten, die andere Frage zu stellen, kollektiv zu kämpfen und zu praktizieren, wird dadurch gestärkt aber auch erschwert, dass die Bestrebungen des abolitionistischen Feminismus oft als utopisch bezeichnet werden. Der Abolitionismus ist notwendigerweise spekulativ, und wir begrüßen leidenschaftlich seine utopische Dimension.[17]