Abschied aus der pädagogischen Provinz - Vera Annette Klein - E-Book

Abschied aus der pädagogischen Provinz E-Book

Vera Annette Klein

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Beschreibung

Die Machthaber der DDR sahen in der Kinderliteratur eine "Waffe", die aus jungen Lesern begeisterte Sozialisten formen müsse. Ein System umfassender Planung und Kontrolle sollte die Umsetzung dieser Vorstellung sichern. In den fünfziger und sechziger Jahren glich die DDR-Kinderliteratur einer "pädagogischen Provinz", in der nur zwei Handlungsmuster zulässig und mahnend erhobene Zeigefinger allgegenwärtig waren. Ab den siebziger Jahren aber veränderten sich das von den Autoren vertretene Kindheitsbild, die verwendeten Gestaltungsmittel, die den Texten eingeschriebene Haltung zum real existierenden Sozialismus und die mit ihnen verbundene Wirkungsabsicht. Besonders deutlich zeigte sich der Wandel am Genre der Phantastik, wie Analysen von Wera Küchenmeisters Die Stadt aus Spaß (1966) und Christa Kožiks Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart (1983) verdeutlichen.

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Seitenzahl: 195

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Literatur – Medium – Praxis.Arbeiten zur Angewandten Literaturwissenschaft

Herausgegeben von Jutta Müller-Tamm und Georg Witte

Band III

Vera Annette Klein

Abschied aus der pädagogischen Provinz

Die phantastische Kinderliteratur der DDR

im Wandel der Zeit

Die Untersuchung wurde im Sommersemester 2011 als Abschlussarbeit im Masterstudiengang Angewandte Literaturwissenschaft am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin eingereicht.

Impressum

Copyright: © 2015 Vera Annette Klein

Verlag: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-2703-3

Satz: Peter Dietze

Weitere Informationen: www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/agwlit

Vera Annette Klein studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft und Angewandte Literaturwissenschaft an der Freien Univer­sität Berlin. Aktuell arbeitet sie an einer Promotion, die sich mit ost- und westdeut­scher Literaturkritik zu DDR-Belletristik befasst.

Vorwort zur Reihe: „Literatur – Medium – Praxis“ – Arbeiten zur Angewandten Literaturwissenschaft

Die vorliegende Arbeit wurde als Abschlussarbeit im weiterbildenden Masterstudiengang Angewandte Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin eingereicht.

Der im Wintersemester 2003/04 eröffnete Studiengang bereitet auf berufliche Tätigkeiten im Bereich der Literaturvermittlung und -förderung vor und macht mit der Funktionsweise des Literaturbetriebs vertraut. Durch die Vermittlung branchenspezifischen Wissens und praktischer Fähigkeiten sollen die Studierenden in die Lage versetzt werden, ihre literaturwissenschaftlichen Fachkenntnisse in der außeruniversitären beruflichen Praxis anzuwenden. Die Lehrveranstaltungen des Studiengangs verbinden praktische Arbeit mit der theoretischen Reflexion auf die Bedingungen und Funktionen dieser Praxis. Darüber hinaus ist die Hinführung auf die Berufspraxis im Literaturbetrieb kombiniert mit der Vermittlung von vertieftem Fachwissen und Urteilsvermögen über (vor allem zeitgenössische) Literatur und ihre medialen Umsetzungen. Der Studiengang verfügt über ein enges Netzwerk an Kooperationen mit den Medien und Institutionen des literarischen Lebens, aus denen sich auch ein Großteil des Lehrpersonals rekrutiert. Dadurch ist neben dem Praxisbezug auch die stetige Aktualisierung der Lehrinhalte gewährleistet.

Die inzwischen weit über 100 Masterarbeiten des Studiengangs untersuchen unterschiedliche Aspekte der zeitgenössischen Literaturvermittlung in Verlagen, Medien, Agenturen, Literaturhäusern, Festivals und anderen Institutionen. Sie analysieren Werke der Gegenwartsliteratur, die mediale (Selbst-)Inszenierung von Autorinnen und Autoren in einem zunehmend kommerzialisierten Literaturbetrieb, den Einfluss der digitalen Revolution auf alle Akteure des Betriebs – um nur einige Beispiele zu nennen. Die Verfasser der Masterarbeiten leisten dabei oftmals Pionierarbeit, da es zu den Themen der Angewandten Literaturwissenschaft häufig kaum oder keine Forschungsliteratur gibt.

Um diese Pionierleistungen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, wurde die vorliegende Reihe initiiert. Sie veröffentlicht vom Wintersemester 2014/15 an in regelmäßigen Abständen eine Auswahl aus den besten Masterarbeiten des Studiengangs Angewandte Literaturwissenschaft.

Wir danken allen, die an der Vorbereitung der Publikationen mitgearbeitet haben, und dem Verlag Epubli für seine Kooperationsbereitschaft.

Prof. Dr. Jutta Müller-Tamm

(Institut für Deutsche und Niederländische Philologie

der Freien Universität Berlin)

Prof. Dr. Georg Witte

(Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin)

Kurzzusammenfassung

Nach dem Willen der Sozialistischen Einheitspartei sollte Kinderliteratur Propaganda sein, eine erzieherische „Waffe“, die aus kindlichen Lesern begeisterte junge Sozialisten formte. Um sicherzustellen, dass die Kinderbuchautoren der DDR Texte mit der gewünschten Wirkung produzierten, errichteten die politischen Machthaber ein System umfassender Planung, Ordnung und Kontrolle. Im ersten Abschritt meiner Arbeit wird dieses System eingehend dargestellt.

Anschließend wendet sich die Analyse den Inhalten der kinderliterarischen Texte zu, die unter den geschilderten Bedingungen entstanden. Der Fokus liegt dabei auf dem Genre der Phantastik, das in besonderem Maße Aufschlüsse über die Beschaffenheit der DDR-Kinderliteratur ermöglicht: Welche Haltung die Kinderbuchtexte gegenüber phantastischen Erscheinungen einnahmen, die aus einer prototypisch „anderen“, alternativen Wirklichkeit stammen, war naturgemäß vielsagend in einem Staat, der für sich in Anspruch nahm, bereits die bestmögliche Gesellschafts- und Lebensform gefunden zu haben.

Wie dargelegt wird, sind in der phantastischen DDR-Kinderliteratur zwei Phasen zu unterscheiden: In den fünfziger und sechziger Jahren wurde die Phantastik in erster Linie als ein Instrument der Warnpädagogik eingesetzt, als Mittel, Lebenseinstellungen und Verhaltensweisen, die im Sozialismus als verwerflich und falsch galten, auf abschreckende Weise zu inszenieren. Ab den siebziger Jahren hingegen, in denen die anfängliche Begeisterung vieler Literaturschaffender für den sozialistischen Staat einer zunehmenden Unzufriedenheit mit der gesellschaftlichen Entwicklung wich, ist eine zweite Phase festzustellen: Das von den Autoren vertretene Kindheitsbild veränderte sich ebenso wie die verwendeten Gestaltungsmittel, die den Werken eingeschriebene Haltung zum vorherrschenden Gesellschaftssystem und die mit ihnen verbundene Wirkungsabsicht. Anstatt das Leben im sozialistischen Kollektiv zu verherrlichen, fragten die Texte, welche Entfaltungsmöglichkeiten die Gesellschaft dem Einzelnen biete; das Andersartige wurde nun als etwas Positives und Beschützenswertes gezeigt. Dieser tiefgreifende Wandel wird durch ausführliche Beispielanalysen insbesondere von Wera Küchenmeisters Die Stadt aus Spaß (1966) und Christa Kožiks Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart (1983) anschaulich gemacht.

Zu Beginn der zwei Kapitel zu den beiden geschilderten Phasen wird zusätzlich die sich jeweils zeitgleich vollziehende Entwicklung in der Kinderliteratur der Bundesrepublik zusammengefasst.

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
2 Gattungsdefinition „Phantastik“: Gansels Grundmodelle phantastischer Kinder- und Jugendliteratur
3 Entstehungsbedingungen und Inhalte der DDR-Kinderliteratur in den 50er und 60er Jahren
3.1 Ein raffiniertes System staatlicher Planung, Ordnung und Kontrolle
3.1.1 Aufbau staatlicher Monopolverlage, systematische Benachteiligung privater Kinder- und Jugendliteratur-Verlage
3.1.2 „Nutzlos, menschenfeindlich, ungesetzlich, strafbar“: das Zensursystem der DDR
3.1.3 Überwachung und Beeinflussung der Literaturschaffenden
3.1.4 „Ich konnte immer alles schreiben, was ich wollte!“ Erinnerung und Realität
3.2 Die DDR-Kinderliteratur der 50er und 60er Jahre – ein Überblick
3.2.1 Zur Vorbildfunktion der sowjetischen Kinder- und Jugendliteratur
3.2.2 „Sonnenschein und Rotzlöffel“: zwei allbeherrschende Handlungsmuster
3.2.3 Der schwere Stand der kinderliterarischen Phantastik und das phantastisch-pädagogische Modell
3.3 Die DDR-Kinderliteratur der 50er und 60er Jahre – Beispielanalyse: Wera Küchenmeisters Die Stadt aus Spaß (1966)
3.3.1 Rahmenhandlung I: dem Mars so nahe, und doch ist Jette unzufrieden
3.3.2 Binnenhandlung: vom Nirgend-Nichts bis in die DDR – um jeden Preis
3.3.3 Rahmenhandlung II: eine Begeisterung, die sich nicht überträgt
4 Entstehungsbedingungen und Inhalte der DDR-Kinderliteratur in den 70er und 80er Jahren
4.1 Die DDR-Kinderliteratur der 70er und 80er Jahre – ein Überblick
4.1.1 Ein verändertes Kindheits- und Gesellschaftsbild und die Aktivierung des Lesers
4.1.2 „Denn möglich ist ja mehr, als wir oft denken“: die gewandelte Funktion der kinderliterarischen Phantastik
4.2 Die DDR-Kinderliteratur der 70er und 80er Jahre – Beispielanalyse: Christa Kožiks Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart (1983)
4.2.1 Ein Engel im sozialistischen Plattenbau
4.2.2 Der Fünf-Punkte-Plan des Schuldirektors König
4.2.3 Ist-Zustand und Soll-Zustand: das Sinnbild vom Engelssturz und zwei Vorbildfiguren
4.2.4 Der Abdruck eines Engels im Schnee
5 Fazit
Literaturverzeichnis
Endnoten

1 Einleitung

„Literatur ist Parteiergreifen, ist Propaganda!“1

Als die Kinderbuchautorin Alex Wedding ihren Berufskollegen auf dem IV. Deutschen Schriftstellerkongress der Deutschen Demokratischen Republik 1956 diese Worte entgegenrief, sprach sie den politischen Machthabern direkt aus der Seele: Völlige Parteilichkeit und offensive Werbung für die sozialistische Sache waren genau das, was die Oberen der DDR von den Verfassern der Kinderliteratur erwarteten. „Bei der Erziehung unserer Kinder zu jungen Sozialisten ist die Kunst eine Waffe, und wir wären dumm, wenn wir diese Waffe im Bücherschrank verrotten ließen“, erläuterte Gerhart Holtz-Baumert, Chefredakteur der einflussreichen Fachzeitschrift Beiträge zur Kinder- und Jugendliteratur und von Anfang an ein wesentlicher Mitgestalter der DDR-Kinderliteratur.2Für so wichtig erachtete die Staatsführung die Kinderliteratur, dass sie von vornherein nichts dem Zufall oder auch nur den Schriftstellern allein überließ: Bereits in den Anfangsjahren der DDR wurde ein raffiniertes System staatlicher Planung, Ordnung und Kontrolle geschaffen, das sicherstellen sollte, dass die Kinderbuchautoren der DDR stets „scharfe“ und für den Kampf gegen den westlichen Gegner geeignete „Waffen“ produzierten. Die Darstellung und die Analyse dieses Systems und seiner Auswirkungen auf die Tätigkeit der Literaturschaffenden bilden einen der Schwerpunkte meiner nachfolgenden Arbeit.

Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf den Inhalten der Kinderliteratur, die unter den von mir beschriebenen Bedingungen entstand, und auf der mit ihnen verbundenen Frage, ob sich die DDR-Kinderbuchautoren wirklich zu „Waffenschmieden“ der sozialistischen Sache machen ließen. Wie ich zeigen werde, ist die Antwort auf diese Frage zweigeteilt: In den fünfziger und sechziger Jahren, der sogenannten „optimistischen Periode“3 der DDR, befanden sich die Kinderbuchautoren tatsächlich weitgehend in Übereinstimmung mit den Zielen der Staatsführung und entwarfen in ihren Werken strahlende Idealbilder des Lebens im sozialistischen Kollektiv. Ab den siebziger Jahren aber, als immer unübersehbarer „nicht zu vermittelnde Widersprüche zwischen dem offiziell verkündeten Selbstverständnis bzw. dem idealen Selbstanspruch und den realen Lebensverhältnissen“4 auftraten, kam es in der Kinderliteratur der DDR zu einem tiefgreifenden Wandel: Das von den Autoren vertretene Kindheitsbild veränderte sich ebenso wie die von ihnen verwendeten Gestaltungsmittel, die den Texten eingeschriebene Haltung gegenüber dem herrschenden Gesellschaftssystem und die mit ihnen verbundene Wirkungsabsicht; kritische und sogar subversive Darstellungsmomente mehrten sich.

In meiner Untersuchung weise ich diesen Wandel, der laut der Kinderliteraturforscherin Karin Richter einem Paradigmenwechsel gleichkam,5 insbesondere anhand von Texten aus dem Genre der phantastischen Kinderliteratur nach. Für diese Konzentration spricht vor allem die Tatsache, dass in phantastischen Texten stets zwei Handlungskreise präsent sind – eine sogenannte „real-fiktive“ Primärwelt, in der der Leser seine eigene oder eine vergangene Lebenswirklichkeit wiedererkennt, und eine „phantastische“ Sekundärwelt, in der sämtliche dem Leser bekannte Realitätsprinzipien außer Kraft gesetzt sind, wodurch das Unmögliche plötzlich möglich wird. Welche Haltung die Kinderbuchtexte gegenüber den Erscheinungen der Sekundärwelt, gegenüber dieser prototypisch „anderen“, alternativen Wirklichkeit einnahmen, war in der DDR – einem Staat, der für sich in Anspruch nahm, bereits die bestmögliche Gesellschafts- und Lebensform gefunden zu haben – naturgemäß vielsagend.

Meine Arbeit ist wie folgt aufgebaut: Unter Punkt 2 stelle ich die Definition von Phantastik vor, an der ich mich im Nachstehenden orientiere. Punkt 3 ist den Entstehungsbedingungen und Inhalten der DDR-Kinderliteratur der fünfziger und sechziger Jahre gewidmet; dabei analysiere ich unter Abschnitt 3.1 die Kontrollmechanismen, denen die Kinderliteraturschaffenden von staatlicher Seite unterworfen waren. Unter Punkt 3.2 arbeite ich die wichtigsten Charakteristika der DDR-Kinderbücher dieser Jahre heraus und beschreibe den schweren Stand der kinderliterarischen Phantastik innerhalb einer Zeit, in der alle Darstellungsformen, die gegen das Gebot des Sozialistischen Realismus verstießen, auf rigide kulturpolitische Behinderungen trafen. Unter Punkt 3.3 schließlich wende ich mich einer Analyse von Wera Küchenmeisters Erzählung Die Stadt aus Spaß (1966) zu. Dieses Werk ist nicht nur einer der ersten längeren Texte phantastischer DDR-Kinderliteratur, sondern auch das erste Beispiel dafür, dass kinderliterarische Phantastik von einem hochrangigen DDR-Kulturpolitiker öffentlich gelobt wurde. Letzteres ist kaum verwunderlich angesichts der Entschlossenheit, mit der Küchenmeister Position gegen Ideen bezieht, die von den sozialistischen Normen abweichen: Die Autorin entwirft eine phantastische Sekundärwelt, nur um sie Schritt für Schritt in eine exakte Kopie der real-fiktiven Primärwelt DDR zu verwandeln – wobei dieser Vorgang als eine Unumgänglichkeit erscheinen soll, als Beleg für die Notwendigkeit des DDR-Systems; tatsächlich gelingt die Umwandlung jedoch nur, wie ich zeigen werde, auf Kosten gravierender Logikbrüche.

Der vierte Punkt meiner Arbeit ist den Entstehungsbedingungen sowie dem inhaltlichen und formalen Wandel innerhalb der DDR-Kinderliteratur der siebziger und achtziger Jahre gewidmet. Dabei fasse ich zunächst unter Abschnitt 4.1 zusammen, welche gesellschaftlichen und kulturpolitischen Ursachen diesen Wandel bedingten, welche gravierenden Umgestaltungen die allgemeine Kinderliteratur in diesen Jahren erfuhr sowie welcher Status und welche Funktion nunmehr phantastischen Darstellungselementen zukamen. Unter Punkt 4.2 schließlich verdeutliche ich die zuvor beschriebenen Veränderungen anhand einer Analyse von Christa Kožiks Kinderroman Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart (1983). Im Vergleich mit Die Stadt aus Spaß markiert dieser Text das andere Extrem des Spektrums phantastischer DDR-Kinderliteratur: Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart ist zweifelsohne das am unverhohlensten gesellschaftskritische Werk, das diese Gattung innerhalb der DDR hervorgebracht hat. Inhalt von Kožiks Text ist der Versuch, eine phantastische Figur im Sinne der sozialistischen Normen umzuerziehen, aus einem Engel einen durchschnittlichen DDR-Bürger zu machen – ein Vorgang also, der durchaus Ähnlichkeit mit dem Geschehen in Die Stadt aus Spaß hat. Im Gegensatz zu Küchenmeister bewertet Kožik den von ihr geschilderten Anpassungsversuch allerdings nicht positiv, sondern negativ, nicht als einen Beweis für die vermeintlichen Vorzüge des sozialistischen Gesellschaftssystems, sondern als ein warnendes Beispiel für dessen Fehler.

2 Gattungsdefinition „Phantastik“: Gansels Grundmodelle phantastischer Kinder- und Jugendliteratur

Meine Arbeit orientiert sich an den Thesen zur Phantastik, die der ostdeutsche Literaturwissenschaftler Carsten Gansel ab 1986 speziell für den Bereich der Kinder- und Jugendliteratur entwickelte; sie stellen nicht nur „die erste theoretische Gattungsbestimmung phantastischer [Kinder- und Jugendliteratur] in der DDR“6 dar, sondern auch einen der strukturiertesten und überzeugendsten Ansätze innerhalb der ausufernden Phantastik-Diskussion in der kinderliterarischen Forschung.7

Gansels Thesen basieren auf dem sogenannten „Zwei-Welten-Modell“8, also der bereits in der Einleitung angesprochenen Annahme, dass in phantastischen Texten stets zwei Handlungskreise existieren: Eine realistisch gezeichnete, vom Leser als empirisch-alltäglich bestimmbare Welt, im Folgenden „real-fiktive Primärwelt“ genannt, und eine Welt des für den Leser Irrational-Unerklärbaren, in der das Außergewöhnliche geschieht, die „phantastische Sekundärwelt“. In der phantastischen Literatur für Erwachsene entstehen aus dem Zusammenstoß der beiden Welten zumeist „Schrecken, Angst, Grauen [und] Schauder“; in der phantastischen Kinderliteratur dagegen wird die Konfrontation zweier Wirklichkeiten in erster Linie für „Komik, Spiel und satirische Pointierung“ genutzt.9

Gemäß Carsten Gansel können real-fiktive Primärwelt und phantastische Sekundärwelt auf drei verschiedene Arten zueinander in Beziehung treten. Die erste mögliche Variante, die von Gansel recht prosaisch „Grundmodell A“ genannt wird (die russische Anglistin Maria Nikolajeva schlägt die sprechendere Bezeichnung „implizite Welt“10 vor), stellt „die wohl bekannteste Variante des Phantastischen“11 dar. In nach diesem Muster gestalteten Kinderbüchern spielt die gesamte Handlung in der real-fiktiven Primärwelt; die phantastische Sekundärwelt wird nicht als solche beschrieben, beweist jedoch ihre Existenz durch das Auftreten von Figuren, Gegenständen oder Ereignissen, die es nach den Gesetzmäßigkeiten der Primärwelt eigentlich gar nicht geben dürfte. Berühmte Beispiele für derartige „Boten“ der Sekundärwelt sind etwa Pamela Travers‘ Mary Poppins, das eitle Kindermädchen, das mit seinen phantastischen Fähigkeiten den allzu eintönigen Alltag der Familie Banks durcheinanderwirbelt, oder der sprechende Stein, der in Benno Pludras Das Herz des Piraten zum ständigen Begleiter des Mädchens Jessica wird (vgl. Punkt 4.1.2). Auch der Besuch des Engels Ambrosius in der DDR-Gesellschaft der achtziger Jahre, den Christa Kožik in Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart beschreibt (vgl. Punkt 4.2 dieser Arbeit), ist ein Beispiel für das „Grundmodell A“.

Im zweiten der von Gansel beschriebenen Modelle (das von Gansel „Grundmodell B“ und von Nikolajeva „offene Welt“ genannt wird) spielt die Handlung sowohl in der Primär- als auch in der Sekundärwelt, die hier – im Gegensatz zum ersten Grundmodell – ausführlich geschildert wird. Dabei gelangen die kindlichen Hauptfiguren durch bestimmte Schleusen aus der „realen“ Welt in die phantastische und – falls sie sich nicht, wie etwa der Titelheld von Astrid Lindgrens Mio, mein Mio, zum Bleiben entschließen – am Ende auch wieder zurück: So stürzt Lewis Carolls Alice durch ein Mauseloch direkt ins Wunderland, und Michael Endes Bastian findet sich in Die unendliche Geschichte nach der Lektüre eines Zauberbuchs unversehens im Wunderreich Phantásien wieder. Auch Wera Küchenmeisters Erzählung Die Stadt aus Spaß, in der die vorlaute Protagonistin Jette aus der DDR in eine phantastische Anderswelt versetzt wird (vgl. Punkt 3.3 meiner Arbeit), ist zu diesem zweiten Grundmodell zu zählen.

Im dritten möglichen Grundmodell („Grundmodell C“ nach Carsten Gansel, „geschlossene Welt“ nach Maria Nikolajeva) schließlich spielt die gesamte Handlung in einer phantastischen Sekundärwelt. Die Primärwelt kommt nicht ausdrücklich im Text vor, ist aber laut Bernhard Rank insofern präsent, als „angedeutet wird, dass Erzähler und Zuhörer/ Leser in ihr leben“; dem Leser werde „das Bewusstsein vermittelt, dass er aus seiner primären Welt, die außerhalb des Textes existiert, auf die sekundäre blickt“.12 Laut Rank kommt dieses Grundmodell nur in sehr wenigen Kinderbüchern vor; Gansel nennt als Beispiele J.R.R. Tolkiens Der kleine Hobbit und die Scheibenwelt-Romane von Terry Pratchett.13

Abschließend sei auf den entscheidenden Unterschied hingewiesen, der zwischen Phantastischem als literarischem Darstellungsmittel und Phantastik als literarischem Genre besteht. Nicht jedes Kinderbuch, in dem Hinweise auf die Existenz einer „phantastischen“ Sekundärwelt zu finden sind, ist auch automatisch zum Genre der Phantastik zu zählen; tatsächlich sollte, wie Gansel ausführt, von Phantastik erst dann gesprochen werden, wenn „das Phantastische zur ‚systemprägenden Dominante‘ […] wird, d. h. die phantastischen Elemente komplex angewendet werden und das Zusammenspiel der Darstellungselemente entscheidend bestimmen.“14 So tritt in Christa Kožiks Kinderbuch Moritz in der Litfaßsäule (vgl. Punkt 4.1.1 dieser Arbeit) zwar eine sprechende Katze als Nebenfigur auf, insgesamt aber überwiegen innerhalb der Erzählung die realistischen Elemente bei weitem, weshalb eine Zuordnung zum Genre der Phantastik nicht gerechtfertigt wäre. Ein Gegenbeispiel hierzu sind Paul Maars Sams-Romane, deren Geschichten ohne die phantastischen Fähigkeiten ihres Titelhelden völlig undenkbar wären.

3 Entstehungsbedingungen und Inhalte der DDR-Kinderliteratur in den 50er und 60er Jahren

Das Jahr 1945 markiert in der Geschichte der deutschsprachigen Kinderliteratur einen entscheidenden Einschnitt. Im Osten wie im Westen Nachkriegsdeutschlands wurde energisch ein Bruch mit dem Zuvorgewesenen, mit der unter dem nationalsozialistischen Regime verbreiteten Kinderliteratur gefordert; rigoros ließen die Besatzungsmächte ideologisch verdächtige Werke aus den Beständen von Schulen, Bibliotheken und Buchläden entfernen. „Der Büchertisch musste gesäubert werden von vergifteter Nahrung“, erinnert sich der ostdeutsche Literaturkritiker Günter Ebert.15 „Eine Literatur ‚von Grund auf anders‘ war für die deutsche Jugend unentbehrlich geworden.“16 Wie viel Bedeutung die neuen politischen Machthaber der Kinderliteratur beimaßen, zeigt sich exemplarisch daran, dass in der DDR bereits am 8. Februar 1950, kaum fünf Monate nach ihrer Gründung, das sperrig titulierte „Gesetz über die Teilnahme der Jugend am Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik und die Förderung der Jugend in Schule und Beruf, bei Sport und Erholung“ verabschiedet wurde; in diesem Gesetz wurden die Autoren explizit angewiesen, eine „neue Kinder- und Jugendliteratur“ zu erschaffen, „die die demokratische Erziehung der heranwachsenden Generation fördert“.17 Die DDR war indes nicht der einzige neue deutsche Staat, in dem eine neue deutschsprachige Kinderliteratur aufgebaut wurde; auch in der Bundesrepublik etablierte sich eine neuartige kinderliterarische Schreibweise, deren Befürworter für sie in Anspruch nahmen, anders, besser und der richtigen Entwicklung von Kind und Gesellschaft zuträglicher zu sein als die Kinderliteratur des Nationalsozialismus.

Um die ganze Tragweite dieses Umbruchs zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass die nationalsozialistische Kinderliteratur nicht nur von einem offenkundigen Bemühen um politische Indoktrination geprägt war, sondern auch von einer ausgesprochen geringen Wertschätzung von Kindheit. Es war, wie Werner Graf ausführt, ein „typisches Merkmal“ nationalsozialistischer Kinderbücher, dass die darin auftretenden Kinder als „untauglich, ängstlich und dumm“ dargestellt wurden.18 Das höchste Ideal der Nationalsozialisten war die arische Jugend, die vollerblühten Körper gestählt für den Kampf; vor diesem strahlenden Bild verblasste die Kindheit zu einer Zeit der Schwäche, der schmählichen Unselbstständigkeit.19 Die kindlichen Protagonisten des nationalsozialistischen Kinderbuchs hatten daher vor allem eine Aufgabe: möglichst schnell ihr Kindsein zu überwinden, möglichst rasch erwachsen zu werden, um endlich dem Vaterland dienen zu können. „Ach, du Dummerle“, seufzt die Mutter zu Beginn von Hanne Menkens Die Kinder von Au (1942) enttäuscht, als der kleine Konrad Angst vor einer böse fauchenden Gänseschar hat; stolz auf ihren Jungen zeigt sie sich erst, als er lernt, stark und tapfer zu sein wie sein Vater, der Wehrmachtsoldat.20 Der Impetus der nationalsozialistischen Kinderliteratur war dabei stets „dezidiert erzieherisch, zivilisatorisch, moraldidaktisch“21; was dem Kind im Buch widerfuhr, sollte auch das Kind vor dem Buch verinnerlichen: „[Unter dem nationalsozialistischen Regime] hatten Kinder Selbstverleugnung zu lernen – auch lesend.“22

Wurde die Kindheitsphase in der nationalsozialistischen Kinderliteratur als „defizitäre Vorstufe des [wahren] Menschseins“23 diffamiert, so erschien sie in der Kinderliteratur, die in den fünfziger und sechziger Jahren in der BRD entstand, als höchstes Ideal. Auf erhobene Zeigefinger und allzu durchsichtige Versuche der Erziehung im Sinne der Erwachsenen, wie sie im nationalsozialistischen Kinderbuch üblich waren, wurde in der neuen BRD-Kinderliteratur verzichtet; hier konzentrierten sich die Autoren ganz auf eine Darstellung der kindlichen Weltsicht und ermöglichten damit, so Jörg Steinz und Andrea Weinmann, den kindlichen Lesern erstmals eine uneingeschränkt lustvolle Lektüre.24 Hans-Heino Ewers spricht in Bezug auf diese neue Schreibweise von einer „Kinderliteratur der Kindheitsautonomie“ – wobei es sich allerdings nicht, so Ewers weiter, um eine Autonomie „im Sinne des Infragestellens erwachsener Autoritäten“ handele.25 Nicht durch eine direkte Konfrontation mit Erwachsenenfiguren gewannen die kindlichen Protagonisten an Selbstbestimmung, sondern durch eine Trennung von ihnen: Die Handlung wurde in Freiräume fernab oder außerhalb der Erwachsenengesellschaft verlegt, in denen die kindlichen Figuren ungehemmt und ungestört sie selbst sein konnten. Kindheit erschien dabei verklärt als ein „außergewöhnliches, gesteigertes Dasein“, als ein „vom Alltag, vom Gewöhnlichen abgesetzter festlicher Zustand“.26 Diese Trennung von Erwachsenen- und Kinderwelt bedeutete zugleich, dass die neue BRD-Kinderliteratur im Vergleich mit der nationalsozialistischen deutlich entpolitisiert war: Aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und Diskurse kamen in den BRD-Kinderbüchern der fünfziger und sechziger Jahre so gut wie nie vor. Derartige Belange wurden von den Verfechtern des neuen Kindheitsbildes, gestützt auf den damaligen Erkenntnisstand der Entwicklungspsychologie, nicht als kindgemäßes Sujet erachtet: „Die seelischen Probleme der Erwachsenen versteht das Kind nicht“, befand Anna Krüger 1959, und Ruth Koch pflichtete ihr bei, „die kritische Darstellung unserer Welt“ sei für Kinder vollkommen „unverständlich“.27

Eines der für die neue BRD-Kinderliteratur maßgebendsten Werke war Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf (1949), die Geschichte eines phantastisch starken kleinen Mädchens, das in seiner Villa Kunterbunt ein Leben ganz ohne kontrollierende Eltern führt, ein Leben, in dem sich alles um kindliches Spiel und kindlichen Spaß dreht und Politik oder die Erwartungen von Erwachsenen keinen Platz haben. Der Gedanke, erwachsen werden zu wollen, ist Lindgrens Pippi völlig fremd; sie schluckt sogar geheimnisvolle „Krummelus“-Pillen, die genau das verhindern sollen (Pippi in Taka-Tuka-Land, S. 176). Pippi und andere Werke ihrer schwedischen Autorin erwiesen sich als so prägend, dass die fünfziger und sechziger Jahre oft als „Lindgren-Ära“ der BRD-Kinderliteratur bezeichnet werden.28 Weitere wichtige Kinderbuchautoren, die in dieser Zeit ihren Durchbruch auf dem westdeutschen Markt erlebten, waren etwa James Krüss, Otfried Preußler und Michael Ende. Wie Lindgren gestalteten sie die kindlichen Freiräume, in denen sich ihre Protagonisten bewegen, bevorzugt als märchenhafte oder phantastische Welten; die kinderliterarische Phantastik erlebte so einen „regelrechten Boom“29, erwies sich als „qualitativ wie quantitativ fruchtbarste Gattung dieser Epoche“30 in der Bundesrepublik.

In der DDR stieß die neugestaltete Kinderliteratur der BRD auf heftige Kritik: „Die illusionäre Abhebung des Kindes oder der Kindheit von der realen sozialen Wirklichkeit [dient] den Apologeten des kapitalistisch-imperialistischen Systems, die [auf diese Weise] die Jugend über die realen politischen und sozialen Verhältnisse in dieser Ausbeuterordnung hinwegtäuschen, sie zur Anpassung dirigieren und jeden Gedanken an revolutionäre Veränderung ersticken“, zürnte etwa Günter Ebert.31 Die Kinderliteratur, die in der DDR der fünfziger und sechziger Jahre entstand, hätte sich nicht stärker von der Kinderliteratur der BRD unterscheiden können; eine Figur wie Lindgrens Pippi war in ihr vollkommen undenkbar: Lindgrens Werk wurde in der DDR erst 1975 veröffentlicht, ein ganzes Vierteljahrhundert später als in der Bundesrepublik, und auch dann nur mit erheblichen Textänderungen.32

Die Differenz zwischen West und Ost, verkündete der DDR-Literaturtheoretiker Manfred Altner stolz, sei natürlich als Überlegenheit, als Zeichen für die „völlig neue historische wie literaturhistorische Qualität“ der sozialistischen Kinderliteratur zu verstehen, die sich Aufgaben stelle, „von denen der sehr kleine Bereich bürgerlich-humanistischer Kinderliteratur Westdeutschlands nicht einmal träumen kann.“33 Hinter Altners „Aufgaben“ verbirgt sich exakt dasselbe, was auch Gerhart Holtz-Baumert mit seinem Vergleich von Kinderliteratur mit einer Waffe so eindrücklich forderte (vgl. S. 13): Die sozialistische Kinderliteratur, so Altner weiter, sei „darauf gerichtet, im Kinde den sich entwickelnden jungen Staatsbürger, das aktiv mitgestaltende Glied der sozialistischen Gemeinschaft heranzubilden, […] die allseitig entwickelte sozialistische Persönlichkeit, die ihre Kenntnisse, Fähigkeiten, Überzeugungen, die Gesamtheit ihrer Wesenskräfte für die weitere Entwicklung des Sozialismus einsetzt“.34 Knapper und klarer gesagt: Die DDR-Kinderliteratur sollte ihre kindlichen Leser zu jungen Sozialisten erziehen, die begeistert beim Aufbau beziehungsweise der Aufrechterhaltung des sozialistischen Gesellschaftssystems halfen. „Identitätsstiftend, kollektivbildend, gesellschaftslegitimierend“35 sollte die Kinderliteratur nach dem Willen Altners und der DDR-Führung wirken – und damit in letzter Instanz die Herrschaft der politischen Machthaber sichern. Mit welchen Maßnahmen die kulturpolitischen Funktionäre die Erfüllung dieser „Aufgaben“ zu kontrollieren suchten und wie genau die DDR-Kinderliteratur in den Fünfzigern und Sechzigern aussah, ist Inhalt des nun folgenden Teils meiner Arbeit.

3.1 Ein raffiniertes System staatlicher Planung, Ordnung und Kontrolle

Unter welchen Bedingungen entstanden Kinder- und Jugendbücher in der DDR?36 Wie intensiv kontrollierte der Staat ihren Entstehungsprozess, wie stark griff er in ihre Inhalte ein? Die Forscher um Rüdiger Steinlein, Heidi Strobel und Thomas Kramer, die 2006 im