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Emotional intelligent und achtsam durchs Leben zu gehen, bedeutet einen Mehrwert für uns selbst und unsere Umwelt. Dieses Buch unterstützt Sie dabei mit praktischen und leicht umsetzbaren Tipps. Ob in der Ausbildung oder kurz vor der Pensionierung, ob Teammitglied oder Führungskraft - Sie profitieren von einem reich gefüllten Werkzeugkoffer, um Emotionale Intelligenz und Achtsamkeit auf den drei Ebenen (Individuum, Team und Organisationskultur) zu etablieren, weiter zu kultivieren oder zu steigern. Es basiert auf langjährigen Erfahrungen aus der Beratungspraxis und wird gestützt durch wissenschaftliche Erkenntnisse und Interviews, in denen Expert:innen von ihren Erfahrungen berichten. Inhalte: - Wie man emotionale Intelligenz kultiviert: die drei Hebel Verbundenheit, Klarheit und Stressreduktion - Zentrale Bestandteile des agilen Mindsets - Achtsame Führung - Gesundes Arbeiten und Umgang mit Stress, Unsicherheit und Komplexität - Emotional intelligenter Kulturwandel: das Rahmenmodell I-SNAP-I - Interviews mit renommierten Expert:innen aus Wirtschaft (u.a SAP SE, Robert BOSCH GmbH, Viessmann Climate Solutions SE) und Wissenschaft (Dr. Britta Hölzel, Prof. Johannes Michalak) - Psychologische Erkenntnisse und Ergebnisse der weltweit größten Achtsamkeits-Studie in OrganisationenDie digitale und kostenfreie Ergänzung zu Ihrem Buch auf myBook+: - Zugriff auf ergänzenden Materialien und Inhalte - E-Book direkt online lesen im Browser - Persönliche Fachbibliothek mit Ihren BüchernJetzt nutzen auf mybookplus.de
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Seitenzahl: 442
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Haufe Lexware GmbH & Co KG
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Dr. Svea von Hehn, Johanna Rauls
Achtsamkeit und emotionale Intelligenz in Organisationen
1. Auflage, Mai 2023
© 2023 Haufe-Lexware GmbH & Co. KG, Freiburg
www.haufe.de
Bildnachweis (Cover): © AdobeStock/Aleks Marinkovic
Produktmanagement: Mirjam Gabler
Lektorat: Gabriele Vogt
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[7]Wir widmen dieses Buch
Arist und Aaron (SvH)
Renate Skov (JR)
Ob als Angestellte, Teammitglied oder als Führungskraft – das Leben emotional intelligent und achtsam zu gestalten, ist ein Mehrwert für uns selbst und für alle Menschen, mit denen wir zu tun haben. Wir haben dieses Buch für jedes Alter und jede Arbeitssituation geschrieben, ob noch in Ausbildung oder schon kurz vor der Rente. Es gibt wie ein Handbuch praktische, teilweise sehr leicht anwendbare Tipps, basierend auf Erfahrungen aus der Praxis und gestützt durch die zahlreichen wissenschaftlichen Erkenntnisse und durch Interviews, in denen neun Expertinnen und Experten von ihren Erfahrungen berichten. Die Tipps enthalten viele wertvolle Werkzeuge der Psychologie, die man somit an der Hand hat, ohne selbst Psychologie studiert haben zu müssen.
Wir stellen damit einen reichlich gefüllten Werkzeugkoffer zur Verfügung, um auf den drei Ebenen – Individuum, Team und Organisationskultur – emotionale Intelligenz und Achtsamkeit zu etablieren bzw. weiter zu kultivieren oder zu steigern. Dabei gehen wir auf die drei Hebel Verbundenheit herstellen, Klarheit erhöhen und Stress reduzieren ein.
Abb. 1: Drei Hebel, um Achtsamkeit und emotionale Intelligenz auf den drei Ebenen zu stärken
Vertiefende Details sind in Boxen dargestellt; im dazugehörigen Fließtext ist aber stets eine kleine Zusammenfassung der Box gegeben, so dass einem eiligen Leser auch ein Verständnis des Buches möglich ist, wenn die Boxen übersprungen werden.
Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird im Text zwischen dem generischen Femininum und Maskulinum gewechselt, gemeint sind jedoch stets alle Geschlechter. Auch sind alle aufgeführten Techniken stets für alle Geschlechter geeignet.
Meditationen sind in »Du«-Anrede geschrieben, weil ein »Sie« eine für Meditationen unpassende Distanz entstehen lassen würde.
Dieses Buch ist ohne Zuhilfenahme künstlicher Intelligenz (z. B. ChatGPT) handgeschrieben worden.
Einen besonderen Dank möchten wir dem RETURN ON MEANING-Team aussprechen, und zwar Nils Cornelissen, Claudia Braun, Dr. Shamsey Oloko, Dr. Cornelia Schmidt, Dr. Tobias Leßmeister, Lena Martensen, Katrin Busch, Laura Seiler, Christoph Holzhaider, Karina Janning, Sören Kluge, Maria Rösch, Anna Wasiak, Laura Hansal, Alexander Rogalla, Petra Wanke, Katja Wöhl und Cornelia Röth.
Wir bedanken uns zudem sehr bei unseren Klientinnen und Klienten aus den verschiedenen Industrien sowie dem öffentlichen und dem gemeinnützigen Sektor, die uns in den letzten Jahren das Vertrauen entgegengebracht haben, ihre Kulturwandelprojekte zu unterstützen, und all den Menschen, die wir dabei kennenlernen und von denen wir uns inspirieren lassen durften. Dazu zählen insbesondere auch diejenigen, die in diesem Buch als Interviewpartnerinnen und -partner zu Wort kommen:
Petra Martin (Robert Bosch GmbH, Automotive Electronics)Prof. Matthias Birk (White & Case LLP)Dr. Britta Hölzel (I AM – Institut für Achtsamkeit und Meditation)Dr. Martin Schilling (Techstars Berlin)Frauke von Polier (Viessmann Climate Solutions SE)Max Lederer (Jung von Matt AG)Dr. Jörn Apel (remotly GmbH, TheDive GmbH)Peter Bostelmann (SAP SE)Prof. Johannes Michalak (Private Universität Witten/Herdecke GmbH)Herzlich danken möchten wir Kerstin Erlich, Anne Rathgeber und Mirjam Gabler für die beispielhafte verlegerische Betreuung und ihr Vertrauen in uns sowie Gabriele Vogt für ihr sehr gutes Lektorat. Ylva Schmökel danken wir sehr für ihre Kreativität, mit der sie die Inhalte dieses Buches lebendig gemacht hat.
Besonders herzlich verbunden danken wir Dr. Arist von Hehn, dem ein wichtiger Anteil an der Verwirklichung dieses Buches zukommt, u. a. für seine Beiträge zur psychologischen Sicherheit und New Work.
Zudem danken wir Christoph Laut für seine Expertise für die Abschnitte zu New Work und agilem Arbeiten. Wir danken Prof. Frederike Masemann und Dr. Julius Goldmann für ihre innovativen Ideen bei der Erstellung dieses Buchs. Marten Röbel danken wir für seine hilfreichen Beiträge zum Thema Stressmanagement.
Für die wertvollen Anregungen aus der Praxis sowie die fachlichen Kommentare möchten wir uns bei Sandra Meyer, Jana Lanio, Maximilian Kayer, Anna Quast, Christine Resner, Melanie Holzapfel, Florian Rauls, Sophie Kill und Pia Drews bedanken. Zudem danken wir Fenna Hein[14]ke, Annabell Curtius, Josefina Nagy, Lena Bartsch, Katinka von Rhein, Clara Scheufler, Leonie Leitner, Sophie Rudolf und Johanna Oppermann für ihr Engagement bei der Erstellung des Manuskriptes.
Sehr freundschaftlich verbunden danken wir Dr. Ekkehard Müller-Eckhard, Sabine Kipper, Gesa Gräfer-Jagiello, Marcus Metzner, Karina Fielbrandt-Dietze, Sebastian Snela, Dr. Madeleine Friedrich, Prof. John Erpenbeck, Dr. Andreas Hoyndorf, Dr. Gregor Handler, Dr. Tobias Leipprand, Riccarda Dröwke, Amelie von Stetten, Annalena Korn, Katharina zu Lynar, Christine Holst und Lennard Sund für den wertvollen Austausch – und danke, dass es euch gibt! Dieser Dank gilt auch Katja mit Andreas und Finn sowie Ulrich Grigoleit, der mich (SvH) gelehrt hat, kritisch zu bleiben. Ein ganz besonderer Dank gilt Fabian Fumagalli für die positive Energie, Zuspruch und Neugierde sowie Luisa Huber und Fenja Jahn für ihre Unterstützung durch alle Phasen des Buchprojekts. Zudem danken wir Barbara Riedenbauer, Prof. Wolfhart Pentz, Dr. Till Knoll, Christina Leber, Linda Kokot, Janna Einöder, Linda Altendorfer, Philipp Stachel-Braum, Karl Wolf, Leonardo Molinari, Tilman Dreyer und Madalena dos Reis Goncalves für die Verbundenheit, auch über die Themen dieses Buches hinaus. Und selbstverständlich geht der Dank auch an unsere Lehrer im Bereich von Achtsamkeit, Prof. Migaku Sato Roshi und Grischa Steffin.
Kollegialen Dank für konstruktiven Austausch durch die gemeinsamen Projekte widmen wir Manfred Kirchberger, Jan Mellies, Sarah Sieringer, Dr. Peter Figge, Dr. Sebastian Muschter, Anja Koch, Britta Cosson, Daniela Neumann-Foerschner, Stefan Foerschner, Peter Ströh, Heike Lorenz, Anika Schulz und Prof. Hannah Möltner.
Ganz besonders danken wir unseren Familien für ihre Unterstützung und ihr Verständnis für die Priorität, die das Buch für uns immer wieder hatte, insbesondere an Arist & Aaron sowie an Peter, Renate, Florian & Matthias: Ohne euch würde es das Buch nicht geben.
Danke!
Svea von Hehn & Johanna Rauls
Berlin, 23.2.2023
Warum wir Transformation mit Überzeugung im Unternehmensalltag leben
In unseren Berufsleben, insbesondere bei SIEMENS, haben wir unterschiedliche Veränderungsprozesse begleitet. Um Unternehmen bzw. Einheiten von Unternehmen als führende Player in ihrem Bereich zu etablieren und unter der sehr hohen Unsicherheit und Geschwindigkeit weiterzuentwickeln, benötigen wir stetige strategische Weiterentwicklung und hohe organisatorische Adaption. Um die strategischen Unternehmensziele zu erreichen, haben wir entweder zu stark auf der eher technisch-organisatorischen »Was-Ebene« gearbeitet oder waren zu stark auf der emotionalen-zwischenmenschlichen »Wie-Ebene« unterwegs. Aus unser beider Erfahrung hängt diese Einseitigkeit häufig von den Präferenzen der handelnden Personen ab und häufig wird auf die »Was-Ebene« fokussiert.
Transformation erfordert jedoch einen ganzheitlichen Ansatz, der technologische und menschliche Aspekte in Einklang bringt. Für eine erfolgreiche Veränderung brauchen wir den Blick auf den Umgang mit uns selbst, mit unseren Kunden sowie mit unserem Team.
Umgang mit uns selbst
Aller Anfang von Veränderung geht von uns aus. Wir leben in unsicheren Zeiten, daher müssen auch wir als Menschen und in der Rolle als Führungskraft anpassungsfähig und offen für Veränderung bleiben. Inmitten von turbulenten Momenten brauchen wir, die wir in der Verantwortung stehen, Ruhe und den nötigen Fokus – jeder also die individuelle Resilienz. Früher waren wir noch nicht überzeugt davon, dass Resilienz oder Achtsamkeit in die Werkshallen gehören, jetzt stehen wir voll dahinter. In einem Treffen mit 100 Managementkolleg_innen haben wir bei uns vor Kurzem »die Minute des Ankommens«, eine kleine Achtsamkeitspraxis, durchgeführt. Wir versuchten, diese ein bis zwei Minuten in gemeinsamer Stille zu fokussieren und zu atmen. So eine im Werksumfeld höchst ungewohnte Übung hätten die Kolleg_innen nicht erwartet. Doch durch erste gute Erfahrungen mit einem Mehr an Fokus auf der »Wie-Ebene« wurde klar, dass wir einen starken Geist brauchen, um gut mit Druck und Krisen umgehen zu können.
Zudem braucht es Veränderungsfähigkeit: Wir haben uns angewöhnt, uns regelmäßig zu fragen, ob es etwas gibt, das wir an uns ändern möchten. So können wir mittlerweile Verletzlichkeit und die Selbstreflexion über das eigene Denken und Handeln als Grundlagen zum Lernen und Wachsen erkennen und zulassen. Zusammengefasst heißt das in Bezug auf emotionale Intelligenz: Selbstwahrnehmung und aktive Reflexion führen zu Momenten von Klarheit. Selbstmanagement ist die Basis von Veränderungsfähigkeit. Sich seiner Stärken bewusst zu sein, diese für hohe Resilienz zu nutzen und gleichzeitig bewusst als Vorbild voranzugehen, ist ein wichtiger Treiber, um Veränderung zu gestalten.
[16]Diese Elemente waren immer integrierter Bestandteil eines ganzheitlichen Veränderungsansatzes, der neben den konkreten o. g. Initiatitiven viel auf klassische Veränderungsmodelle (AkKo Modell & Co.) sowie eine agile Transformation der Gesamtorganisation gesetzt hat.
Umgang mit unseren Kunden
Wir wollen für unsere Kunden bestmögliche Ergebnisse erzielen. Dies ist ein Kern-Element unserer Denkweise und Ausrichtung von Prozessen und Wertströmen. In unserer Zusammenarbeit mit diversen Kunden haben wir erlebt, wie wichtig emotionale Intelligenz auch auf dieser Seite ist: Wir können unsere Kunden mit ihren Bedarfen nur verstehen, wenn wir bewusst zuhören und versuchen, uns in ihre Lage zu versetzen. Die Frage »Was generiert wirklich Kundenmehrwert« ist dabei zentral. Für eine enge Kundenorientierung braucht es soziales Bewusstsein. Vertrauensvolle und verbindliche Interaktion mit unseren Kunden basiert auf aktivem Beziehungsmanagement – es sind alles Elemente der emotionalen Intelligenz.
Umgang mit unserem Team
Um Veränderung zu ermöglichen, braucht es starke Partner. Keine Führungskraft kann alles alleine meistern und hat ein individuelles Stärken-/Schwächenprofil. Hier ist es wichtig, Partner zu finden, welche sich auf den verschiedenen Ebenen sehr gut ergänzen. Diesen haben wir beide im jeweils anderen gefunden. Wir beide haben zusammen mit unseren Teams und unseren über 1.000 Mitarbeitenden einen sehr erfolgreichen Transformationsprozess gestaltet und in den Unternehmensalltag integriert und dabei insbesondere die Stärkung der organisatorischen Resilienz der gesamten Unternehmung als Ziel gehabt. Unternehmerische Agilität und Menschlichkeit gehen Hand in Hand. Vertrauen ist die Basis der Zusammenarbeit in Teams in komplexen Kontexten. Agiles Arbeiten stellt relevante Techniken bereit, um mit der Geschwindigkeit des Wandels mitzuhalten. Aber nur mit der entsprechenden Haltung – und darum geht es auch in diesem Buch – können wir die Techniken anwenden.
Unsere Empfehlung ist es also, das Was und Wie, Business und People in einem integrierten Ansatz weiterzuentwickeln, der Technologie und Menschen gleichermaßen mit einbezieht. Viele von uns haben emotionale Intelligenz aber nicht gelernt. Und empfinden das Mindset von Offenheit und Neugierde, welches für Veränderung notwendig ist, als ungewohnt. Wir sind gespannt, ob wir in Deutschland die Mindset-Wende hinbekommen.
Das vorliegende Buch leistet hierzu einen wichtigen Beitrag, weil es Verständnis schafft sowie kluge Vorschläge und pragmatische Tipps an die Hand gibt, die für ein so umfassendes Thema wie Mindset Change und emotionale Intelligenz notwendig sind. Das Buch ist ein Feuerwerk an Techniken und Impulsen, wie neben dem Was auch das Wie noch stärker den Weg in unsere Unternehmenspraxis finden kann. Wir kennen die Autorinnen persönlich aus unserer Zusammenarbeit der letzten Jahre in unseren Veränderungsprozessen. Sie führen wissenschaftliche Erkenntnisse mit einem tiefen Verständnis der Unternehmensrealität zu praktischen Werkzeugen zusammen.
[17]Jeder, der sich mit Veränderung in Unternehmen beschäftigt, sollte dieses Buch lesen. Und auch jeder, der dabei im Umgang mit sich selbst, mit dem Team und mit den Kunden dazulernen möchte.
Karlsruhe, Januar 2023
Manfred Kirchberger
Head of Global Manufacturing Excellence, Werkleiter und Global Manager Werkeverbund SIEMENS
AG Digital Industries
Jan Pascal Mellies
Global Head of People & Organization Strategy & Transformation der SIEMENS AG
Jan arbeitete als Finance Partner mit Manfred als Werksleiter an der Transformation des Werkes in Karlsruhe. 2021 wurde »ihr« Werk zur europaweiten Firma des Jahres durch A. T. Kearney ausgezeichnet. Das Werk verzeichnet einen 40%igen Zuwachs an Produktivität verglichen mit vor fünf Jahren.
Digitalisierung und Diskussionen rund um künstliche Intelligenz, demografische Entwicklung und die Notwendigkeit der Transformation zu einer CO2-neutralen Wirtschaft sind inzwischen im Alltag der meisten Unternehmen angekommen. Covid-19 und der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine haben das Tempo der Veränderung noch beschleunigt. Der Wandel wird zum »Neuen Normal« und wird betitelt mit der sogenannten BANI-Welt1: brittle, anxious, non-linear, incomprehensible. Menschen agieren demnach in ihren Organisationen in einer zerbrechlichen, sorgenvollen, nicht-linearen und schwer verständlichen Welt und stehen durch die damit einhergehende zunehmende Komplexität, Geschwindigkeit, Vernetztheit und Unsicherheit unter Druck: »Die Transformation muss tiefgreifender und schneller denn je erfolgen. Der wirtschaftliche Wandel richtet sich nicht auf kleinere Facetten der Unternehmenspolitik, sondern stellt traditionelle Geschäftsmodelle komplett in Frage. Die daraus folgenden Anpassungen müssen speziell für deutsche Unternehmen in zuvor ungeahnter Geschwindigkeit erfolgen, da die Wettbewerbsfähigkeit durch Technologieanbieter in USA und Asien massiv bedroht ist und zudem das Begrenzen des Klimawandels keinen zeitlichen Aufschub duldet«, so der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Paul (2022, S. 3). Ökonomie, Ökologie und gesellschaftliche Belange sind zu integrieren. Noch vor wenigen Jahren undenkbar, werden inzwischen selbst von renommierten Akteuren Alternativen zum noch vorherrschenden Modell der Wachstumsökonomie diskutiert, wie z. B. vom Club of Rome (2022) mit der gemeingutorientierten Wohlergehensökonomie. Die Energiewende ist in vollem Gange, die Notwendigkeit einer Ernährungswende heiß diskutiert, eine sogenannte lebensdienliche Wirtschaft wird vorgeschlagen, mit völlig anderen Organisationssteuerungsmodellen als bisher verbreitet (vgl. z. B. Klein & Hughes, 2019; Laloux, 2015). BANI bringt also auch Chancen mit sich.
Die Diskussionen und Diskurse, die sich entlang aktueller Fragen entwickeln, haben eines gemeinsam: Ohne die Menschen mitzunehmen, d. h. aktiv daran zu beteiligen und mitwirken zu lassen, wird es keinen Wandel geben. Der Wandel erfordert Verhaltensveränderungen und eine Veränderung der Art und Weise, wie über Dinge gedacht und wie ihnen begegnet wird, also der Mindsets (zur Darstellung von Mindsets siehe Box 3.3 in Kap. 3.2.3). Natürlich bedarf es Veränderungen in Steuerungskennzahlen und -logiken, Prozessstrukturen und Reportingsystemen – sie reichen jedoch nicht aus (vgl. z. B. Paul, 2022; 2023). Äußere Veränderung erfordert innere Transformation. Die Haltung, die uns im Umgang mit den Änderungen der Außenwelt hilft, kann [24]mit bewusst beschrieben werden. Ein anderes Wort dafür ist Achtsamkeit, was bedeutet, bewusst im gegenwärtigen Moment, also »hier«2 zu sein.
Niemand muss unter Zwang meditieren und keiner muss dringend sein eigenes Gemüse anbauen, um diese Haltung der Achtsamkeit einzunehmen. Auch müssen Führungskräfte keine Therapeuten werden, um ihren Führungsstil in Richtung achtsame Führung zu lenken. Oder ihren Konzernjob aufgeben und achtsame Coaches werden, um dadurch Organisationskulturen lebensdienlicher gestalten zu können. Es gibt auch keine Einteilung in achtsame oder unachtsame Menschen, weil alle Menschen die Kapazität in sich tragen, die notwendig ist, um achtsame Momente aktiv herzustellen.
Warum aber sollten wir Menschen nach Achtsamkeit streben? Das kann unterschiedliche Gründe haben und auf diese geht das Buch mit pragmatischen Tipps und aufbauend auf den Erkenntnissen aus Wissenschaft und Praxis ein:
Wer für sich selbst Möglichkeiten finden will, gelassen und klar zu bleiben, konfrontiert mit Unvorhersehbarkeiten und den damit zusammenhängenden Unsicherheiten, mit neuartigen Fragestellungen oder mit einer möglichen mentalen oder körperlichen Erschöpfung, erhält als Individuum in Kapitel 2 Inspirationen.Wer gerne etwas in und mit seinem Team bewegen möchte, um gemeinsam lebendig in der BANI-Welt zu agieren, Innovationen und hohe Kundenorientierung zu schaffen und die Art der Zusammenarbeit neu gestalten möchte, findet einen Fundus an Techniken und Impulsen fürs Team in Kapitel 3 – ganz unabhängig davon, ob Sie denken, dass Sie oder die anderen sich ändern sollten.Wer denkt, es sei an der Zeit, dass sich das Umfeld, also die Organisation, von innen heraus wandelt, um mit dem äußeren Wandel umzugehen, wird dabei begleitet in Kapitel 4, welches der Organisation gewidmet ist.Ganz gleich, für welche der drei Ebenen Sie sich interessieren und in welchem Kontext Sie agieren: Eine innere Transformation, um mit der äußeren Veränderung umzugehen, ist für alle schrittweise möglich – durch Erkenntnis, Training, Mitstreiter. Und es braucht Mut, diese Schritte zu gehen und die hier beschriebenen mitunter ungewohnten Techniken auszuprobieren und umzusetzen. In diesem Buch kommen Menschen zu Wort, die diesen Mut in der Arbeitswelt hatten und die sich auf den Weg gemacht haben, in verschiedenen Kontexten. Auch Sie können mit niedrigschwelligen Herangehensweisen, mit Tipps »to go« oder in übergreifenden Transformationen etwas bewirken. Und jede Person, die sich mit ihrer Selbstwahrnehmung und Entwicklung auseinandersetzt, ist wertvoll für sich, für das Team, für die Organisation – und für eine lebenswerte Gesellschaft.
[25]Eine unvorhersehbare, unbegreifliche, vielfältig vernetzte, sich kontinuierlich wandelnde Welt muss nicht bedrohlich sein, sondern kann auch mit allen Facetten von Lebendigkeit erfahren werden: als bunt, schillernd, überraschend, wundervoll. Es ist möglich, nicht in den Widerstand zu gehen, sondern BANI zu »umarmen«, um – nahezu paradox – klarer zu sehen, mehr zu verstehen, passendere Lösungen zu finden und bessere Entscheidungen zu treffen.
Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können Nietzsche, 1883
Dies bedeutet, mit dem sein zu können, was da ist – auch wenn es wie Chaos erscheint. Ohne es direkt in bestehende Konzepte und Strukturen zu formen. Bestehende Vorstellungen basieren auf Erfahrungen der Vergangenheit, aber um etwas Neues zu gestalten, um angemessen mit den Veränderungen, die uns umgeben, mitzugehen, bedarf es einer Haltung, die das Neue erfassen kann und will. Eine emotionale Intelligenz, die auf Achtsamkeit basiert, ist der Zugang zu dieser Haltung und inneren Veränderung.
Mit Achtsamkeit kommt das Bewusstsein und somit der Blick wie von jemandem, der Regie führt und von der übergeordneten Balkonperspektive aus die Richtung sieht und angibt. Emotionale Intelligenz ist das Vehikel, in dem Achtsamkeit wirksam wird.
You are here. Alle Mutigen, die sich einer Veränderung im Inneren öffnen, um die Veränderung im Außen aktiv mitzugestalten, nimmt dieses Buch mit auf die Reise.
In den letzten 30 Jahren nahm die Diskussion um die Relevanz emotionaler Intelligenz in Unternehmen an Fahrt auf (Goleman, 1997; Salovey & Meyer, 1993) und auch das Thema Achtsamkeit kam – z. B. durch das »Search Inside Yourself«-Programm3 von Google (Tan, 2018) – großflächig in die Konzerne.
[26]Einführende Definition von emotionaler Intelligenz
Es gibt verschiedene Modelle der emotionalen Intelligenz, ein weitverbreitetes ist das des US-amerikanischen Wissenschaftsjournalisten und Psychologen Daniel Goleman, der Pionierarbeit rund um den Einfluss von Emotionen im Unternehmenskontext leistete. Sein aktualisiertes Modell (Goleman & Boyatzis, 2017) umfasst die folgenden vier Dimensionen der emotionalen Intelligenz:
Selbstwahrnehmung,Selbstregulation,soziales Bewusstsein und Empathie sowieBeziehungsmanagement.Die ersten beiden Dimensionen beziehen sich auf den Umgang mit sich selbst, die dritte und vierte Dimension auf den Umgang mit anderen. Diese vier Dimensionen zeigen auf, was mittels Achtsamkeit möglich ist zu kultivieren.
Abb. 1.1: Emotionale Intelligenz umfasst vier Dimensionen
Einführende Definition von Achtsamkeit
Achtsamkeit bedeutet, mit einer Haltung der Freundlichkeit und Offenheit präsent und bewusst zu sein, im gegenwärtigen Moment (vgl. Kabat-Zinn, 2013). Achtsamkeit ist mehr als Aufmerksamkeit. Sie bedeutet, sich der eigenen Gefühle, Gedanken und Handlungen in jedem Augenblick voll bewusst zu sein. Dies meint – etwas vereinfacht gesagt –, dass man statt im [27]Autopiloten im Bewusstsein des aktuellen Daseins ist. Und nicht gedanklich in der Vergangenheit und Zukunft, sondern präsent im Hier und Jetzt.
Achtsamkeit ist bereits zu einem Trend geworden und wurde mit vielen Bezeichnungen versehen: Fähigkeit, Technik, Superpower, Haltung, Art des Schauens. Achtsamkeit verschafft einen Zugang zur inneren und äußeren Welt. Es ist zudem eine genuin menschliche Eigenschaft, die man streng genommen nicht erwerben muss, sondern ohnehin schon hat. Man vergisst nur immer wieder, sie zu nutzen, weil man sich im Autopiloten aufhält – was sicherlich auch viele Vorteile mit sich bringt, sonst würde es diesen Zustand nicht geben (Details hierzu erfolgen in Kap. 1.2.2).
Abb. 1.2: Achtsamkeit zeichnet sich durch Bewusstsein und Präsenz mit einer Haltung von Freundlichkeit und Offenheit aus
In manchen Kontexten werden diese Themen derzeit noch als »weich« angesehen und stehen in Zusammenhang mit Gesundheitsthemen, z. B. Stressreduktion, mentale Gesundheit oder Arbeitssicherheit. Vor dem Hintergrund gestiegener Ansprüche in fast jeder Branche erhalten emotionale Intelligenz und Achtsamkeit aber eine neue Bedeutung für die Unternehmenswelt, insbesondere durch den Bezug zur Veränderungsfähigkeit (siehe Box 1.1) sowie zu Innovation und Problemlösekompetenzen (siehe Box 1.3).
Christian Schmeichel, Chief Future of Work Officer bei SAP, unterstreicht dies: »Achtsamkeit und emotionale Intelligenz sind zwei grundlegende Fähigkeiten, die über die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens entscheiden werden. Man muss sich auf seine persönlichen Werte und Stärken besinnen und wie man diese am besten ins Unternehmen einbringen kann, wenn man langfristig erfolgreich arbeiten will« (SAP, 2023).
In einer emotional intelligenten Organisationskultur zu arbeiten bedeutet, schneller und innovativer zu werden. Aber nicht in dem Sinne, noch schneller zu arbeiten, sondern stattdessen sich schneller auf Neues einstellen zu können.
[28]»Achtsamkeit hat einen direkten Bezug zu Innovations- und Führungsfähigkeit. Dies wird vom Business immer mehr erkannt. Wir werden eine rasante Akzeptanz von Achtsamkeit und emotionaler Intelligenz in den nächsten Jahren erfahren«, sagt Petra Martin, Leiterin des globalen Kompetenzzentrums von BOSCH (Martin, 2022; siehe Interview 1.2.2.2). Dies bestätigt auch Prof. Matthias Birk, der an der NYU sowie an der Columbia University lehrt und als Global Director für Partner Development bei White & Case tätig ist (siehe Interview Kap. 1.2.2.8).
Neue Formen der Führung und der agilen Zusammenarbeit, die als Antwort auf die BANI-Welt Popularität erfahren haben, sind überhaupt erst möglich durch eine Veränderung, insbesondere was Haltung, Bewusstsein und Fähigkeiten im Bereich der emotionalen Intelligenz angeht (Details dazu siehe Kap. 3).
Aussagekräftige Untersuchungen in Organisationen unterstreichen diese Relevanz auch im internationalen Kontext (siehe Box 1.2). Die vielfältigen Wirksamkeiten sind mittlerweile zahlreich durch Forschungsarbeiten und auch Feld-Studien in Organisationen belegt (Details zu den Ergebnissen finden sich in Kap. 5).
Box 1.1 Achtsamkeit bewirkt in Organisationen einen besseren Umgang mit Veränderung
Die OECD benennt Achtsamkeit bereits als Future Skill (OECD, 2018), neben digitalen und weiteren Kompetenzen. Achtsamkeit gilt insbesondere durch die dokumentierte Wirkung auf Entscheidungsprozesse, auf Selbst- und Stressregulation und den Umgang mit Veränderung heute nicht mehr nur als »nice to have«, sondern als zentraler Befähiger von emotionaler Intelligenz bereits als »must have« (Congleton et al., 2015; Goleman et al., 2017).Eine Reihe aktueller Studien zeigt einen deutlichen Zusammenhang zwischen Achtsamkeit und der Kompetenz, auf veränderte Rahmenbedingungen flexibel zu reagieren (Budhiraja & Rathi, 2022; Roemer et al., 2021). U. a. untersuchte ein Forschungsteam das Arbeiten von 198 Mitarbeitenden in einem agilen, dynamischen Arbeitsumfeld. Der Achtsamkeitswert der Mitarbeitenden hatte eine positive Auswirkung auf ihre Anpassungsfähigkeit, z. B. im Hinblick auf den Umgang mit Unsicherheit, das Krisenmanagement, Lernfähigkeit und Problemlösekompetenzen (Johnstone & Wilson-Prangley, 2021).Auch McKinsey betont immer wieder die Relevanz von Achtsamkeit für die Arbeitswelt. Hier sind nicht nur die »Klassiker« Mitarbeiterbindung und Verringerung des Krankenstandes gemeint, sondern auch der Einfluss von Achtsamkeit und emotionaler Intelligenz auf die Implementierung von Strategien oder die Umsetzung von Veränderungen (z. B. Keller & Schaninger, 2019; Kumra et al., 2022).BOX 1.2 Emotionale Intelligenz ist eine international gefragte Kernkompetenz in Unternehmen
Eine Untersuchung von 2019 von Capgemini zeigt, dass in China, Indien, Amerika, Schweden, England und anderen Ländern die Mehrzahl der Mitarbeitenden bereits davon ausgehen, dass emotionale Intelligenz eine nicht mehr wegzudenkende Kernkompetenz sein wird (siehe Abb. 1.3). Die meisten Orga[29]nisationen, die befragt wurden (83 %), gehen davon aus, dass emotionale Intelligenz eine notwendige Voraussetzung für Erfolg sein wird und die Nachfrage nach dieser in den nächsten Jahren4 um bis zu ein Sechsfaches steigen wird. Organisationen können eine bis zu vierfache Kapitalrendite erreichen, wenn sie in den Aufbau von emotionaler Intelligenz investieren (Capgemini Research Institute, 2019).
Abb. 1.3: Emotionale Intelligenz ist eine für die meisten Länder nicht wegzudenkende Kernkompetenz, wobei diese Erkenntnis in Deutschland weniger ausgeprägt ist als in anderen Ländern (nach Capgemini Research Institute, 2019)
In dieser Studie wird deutlich, dass sich die Erkenntnis in Deutschland allerdings erst langsam durchsetzt. Wir erleben trotz einer überzeugenden Datenlage in vielen Unternehmen in Deutschland – bis auf wenige Ausnahmen – noch immer eine verhältnismäßig große Zurückhaltung beim Thema emotionale Intelligenz und Achtsamkeit.
BOX 1.3 Achtsamkeit bewirkt erhöhte Innovation und Problemlösekompetenz
Erste Forschungsarbeiten berichten eine positive Wirkung von Achtsamkeit auf kreative Fähigkeiten. Vereinfacht kann man sagen: Achtsamkeit verschafft einen besseren Zugang zur eigenen Intuition und erweitert so den Raum für kreative Ideen und Lösungen. Hier eine kleine Auswahl an aktueller Forschung:
Ein umfangreicher Literaturreview von Henriksen und Kollegen (2020) beschreibt eine komplexe, aber positive Beziehung zwischen Achtsamkeit und Kreativität. Achtsamkeit ermögliche ein bewussteres Monitoring der eigenen Gedanken, was neue Ideen schneller zum Vorschein bringe, so das Forschungsteam.[30] In einer weiteren Untersuchung steigerte ein Achtsamkeitstraining die Fähigkeiten, sich auf neue Impulse einzulassen, was sich positiv auf das Entstehen neuer Ideen auswirkt (Baas et al., 2014).Im Anschluss an ein Achtsamkeitstraining waren Personen besser in der Lage, Probleme zu lösen (Ostafin & Kassman, 2012). Die Autorinnen führten dies auf verbesserte Fähigkeiten der non-konzeptionellen Wahrnehmung zurück.In Untersuchungen aus verschiedenen Unternehmenskontexten wurde Achtsamkeit als der verantwortliche Wirkmechanismus und als Innovationsfähigkeit von Führungskräften sowie Mitarbeitenden herausgestellt (Krishnan, 2021; Al-Zu‹bi, 2018).Verschiedene namhafte Autorinnen und Autoren sind sich einig, dass Achtsamkeit zu einer erhöhten Selbstwahrnehmung führt und diese zu einer besseren Wahrnehmung von anderen Menschen beiträgt (Decety & Lamm, 2006). Nach Goleman ist die Selbstwahrnehmung die Basiskompetenz von emotionaler Intelligenz, auf der die anderen Dimensionen emotionaler Intelligenz aufbauen (2011). Dabei sei Achtsamkeit die Fähigkeit, die wesentlich zur Selbstwahrnehmung beiträgt, und vor allem Meditationspraxis die entscheidende Technik, diese zu verbessern (Goleman & Davidson, 2017).
Die Forschung der letzten Jahre, die in Kapitel 5 differenziert dargelegt wird, legt den Schluss nahe, erstmals einen direkten Zusammenhang zwischen Achtsamkeit und allen vier Dimensionen von emotionaler Intelligenz zu sehen: Die vier Dimensionen der emotionalen Intelligenz bilden Überschriften dessen, was durch Achtsamkeit fähig ist zu kultivieren, insbesondere mittels Bewusstsein. Ohne Achtsamkeit keine emotionale Intelligenz. Wie oben gesagt: Emotionale Intelligenz ist das Vehikel, in dem Achtsamkeit wirksam wird.
Der aktuelle Stand der Forschung zu emotionaler Intelligenz und Achtsamkeit kann entlang der vier Dimensionen vereinfacht zusammengefasst werden (in Kap. 5 finden Sie dies dann differenziert dargelegt):
Selbstwahrnehmung: Mithilfe von Achtsamkeit lernt man, die eigenen Gefühle zu beobachten und zu differenzieren sowie den Körper bewusster wahrzunehmen, wodurch die Selbstwahrnehmung verbessert wird. Mit Übung gelingt es auch, die eigenen Gedanken zu betrachten.Selbstregulation: Mittels Achtsamkeit schafft man es, sich auch in stressigen Situationen zu beruhigen, heftige Gefühle zu kanalisieren und sich von Rückschlägen zu erholen. Man lernt durch Achtsamkeit, seine Emotionen zu verstehen und damit umzugehen.Soziales Bewusstsein und Empathie: Die Anwendung von Achtsamkeitstechniken ermöglicht eine bewusstere Wahrnehmung der Gefühle anderer und hilft dabei, Verständnis für sie zu entwickeln. Es fällt einem leichter, sich in andere hineinzuversetzen, die Vielfalt an Emotionen zu unterscheiden und klarer soziale Signale zu lesen.[31]Beziehungsmanagement: Achtsamkeit unterstützt dabei, anderen aktiv zuzuhören, ihren Bedürfnissen offener zu begegnen und ihnen gegenüber Wertschätzung auszudrücken. Dies erhöht die Qualität der Interaktionen und damit die Zusammenarbeit.Emotionale Intelligenz bezeichnet alles, was im Inneren in Bezug auf sich selbst und in Bezug auf andere Menschen passiert – nicht nur in Bezug auf Emotionalität.
Was sind die Kriterien für eine Kultur der emotionalen Intelligenz in Unternehmen? Zunächst ist sie kein Kuschelkurs, sondern integriert die Verbundenheit zwischen Menschen und die Klarheit und Ehrlichkeit in den Interaktionen (siehe Abb. 1.4).
Organisationen können sich in einer Schnelldiagnostik fragen: Stellen wir in unserem Team eher Beziehungen in den Vordergrund – also betrachten wir eher Harmonie als wünschenswert? Dann sind wir wahrscheinlich gut darin, eine Verbundenheit zueinander aufzubauen. Manchmal fällt es uns dann allerdings schwer, klar zu sein, weil wir eine Harmonie nicht stören wollen. Oder haben Inhalte die Priorität, dann gelingt es uns vielleicht besser, sachlich und klar zu sein. Wenn uns allerdings die Sache, an der wir arbeiten, sehr am Herzen liegt, verlieren wir dann die Verbindung zum Gegenüber? Oder können wir beides?
Unternehmen mit einem hohen Reifegrad an emotionaler Intelligenz bzw. Achtsamkeit integrieren beides. Wie genau und was mit Reifegerad gemeint ist, wird in Kapitel 4 beschrieben.
Abb. 1.4: Unternehmen mit einem hohen Reifegrad an emotionaler Intelligenz bzw. Achtsamkeit zeichnen sich aus durch hohe Verbundenheit, hohe Klarheit und Stressreduktion
[32]Die beiden wichtigsten Hebel zur Gestaltung einer emotional intelligenten und achtsamen Kultur im Unternehmen sind demnach also, Verbundenheit sowie Klarheit herzustellen. Es geht hier darum, eine bessere Verbindung zu sich selbst und zu anderen sowie eine höhere Klarheit zu sich und anderen aufzubauen. Der dritte Hebel liegt darin, Stress zu reduzieren, dies aus zwei Gründen:
Stress ist nicht nur eine Barriere, um Verbundenheit herzustellen, weil er die Empathie reduziert. Er erschwert es auch, klar zu denken. Dies zeigen Forschungsergebnisse aus den Neurowissenschaften (Nitschke & Bartz, 2022; Schulreich et al., 2022; Todd et al., 2015).Die meisten Menschen und Teams in Unternehmen müssen zunächst erst einmal etwas Raum schaffen, um Zeit und Kapazität aufbringen zu können, damit sie an Verbundenheit und Klarheit arbeiten können.Daher sind die pragmatischen Werkzeugkoffer in diesem Buch in die drei Bereiche Verbundenheit, Klarheit sowie Stressreduktion strukturiert. Diese wiederum werden entlang der drei Ebenen Individuum, Team und Organisation besprochen, da es für die nachhaltige Kultivierung von Achtsamkeit und emotionaler Intelligenz eines holistischen Ansatzes bedarf.
Abb. 1.5: Drei Hebel, um Achtsamkeit und emotionale Intelligenz auf den drei Ebenen zu stärken
Als Einzelperson kann man achtsamer werden und auch im Team entsprechende Techniken entwickeln. Aber man fühlt sich schnell wie in dem berühmten gallischen Dorf, wenn die Umgebung dysfunktional erscheint, zumeist verfällt man wieder in alte Gewohnheiten, wenn vom Umfeld die Veränderungen nicht mitgetragen werden. Auf der Organisationsebene kann die Unternehmenskultur wie ein Gewächshaus gestaltet werden, sodass sie wie ein Nährboden wirkt, auf dem emotionale Intelligenz und Achtsamkeit gedeihen können. Nur mit diesem systemischen Ansatz lassen sich die Veränderungen bewirken, die es braucht, um mit der BA-NI-Welt umzugehen. Die notwendigen inneren Veränderungen auf der individuellen Ebene beziehen sich auf mentale Gesundheit, Fokus und Präsenz sowie Mitgefühl, warum und wie wird in Kapitel 2 näher beschrieben. In den Teams beziehen sich die Veränderungen auf die psycho[33]logische Sicherheit, achtsame Führung und agile Mindsets, dies wird eingehender in Kapitel 3 beleuchtet. Die folgende Abbildung visualisiert die einzelnen Zusammenhänge:
Abb. 1.6: Die BANI-Welt erfordert einen emotional intelligenten Umgang, sowohl beim Individuum (Kap. 2) als auch im Team (Kap. 3) und in der Organisationskultur (Kap. 4).
[34]Zusammengefasst: Äußere Veränderung erfordert innere Transformation. Die vier Dimensionen der emotionalen Intelligenz beschreiben Vorgänge in Bezug zu sich selbst und in Bezug auf andere Menschen. Achtsamkeit entwickelt diese emotionale Intelligenz und ermöglicht den Zugang zur inneren Welt. Sie ist sowohl auf den Ebenen Individuum, Team als auch der Organisationskultur notwendig, um als Unternehmen nachhaltig mit BANI umgehen zu können. Emotionale Intelligenz und Achtsamkeit können entlang der drei Hebel Verbundenheit, Klarheit und Stressreduktion kultiviert werden. Wie dies genau umgesetzt werden kann, ist Thema dieses Buches.
Übung
Denken Sie an eine Führungskraft oder Mentorin, die Sie in Ihrem beruflichen Werdegang unterstützt und vielleicht geprägt hat – welche Attribute zeichnen diese Person aus und in welchen Situationen wurde dies deutlich? Notieren Sie ein paar Eigenschaften. Wenn Ihnen niemand einfällt, fragen Sie sich alternativ: Wen würden Sie um Rat fragen bei Entscheidungen? Und welche Attribute zeichnen diese Person aus?
Wenn diese Frage Menschen in Unternehmen gestellt wird, kommen als Antwort häufig folgende Eigenschaften: »vertrauensvoll, authentisch, empathisch, offen, klar.« Und als Situationen werden u. a. genannt: »Ist auch in stressigen Situationen gelassen geblieben; gab uns einen sicheren Ort zum Wachsen; stand bei Herausforderungen hinter uns; hat uns gezeigt, dass unsere Arbeit wichtig ist; ist mit gutem Beispiel vorangegangen; kann man sich anvertrauen, wenn es nicht gut läuft; hört gut zu und hat uns inspiriert, nach höherer Qualität zu streben« (diese und weitere Beispiele siehe Abbildung 1.7). Dies alles sind Attribute aus dem Bereich von emotionaler Intelligenz, häufig aus dem Bereich der Interaktion.
In einer Studie befragte die Unternehmensberatung Bain & Company über 2000 Mitarbeitende der Economist Intelligence Unit, welche Attribute sie bei Führungskräften inspirieren. Mit großem Abstand wurde Centeredness als häufigste Eigenschaft genannt (Garton, 2017). Centeredness meint die vollkommende Präsenz im Hier und Jetzt, das Kernelement von Achtsamkeit.
Abb. 1.7: Beispiele, wie sich emotionale Intelligenz im Arbeitsalltag in der Führung ausdrückt
Selten wurden von den Teilnehmenden Attribute aus dem Bereich von IQ – wie fachliche Expertise oder Intelligenz – genannt, denn fachliche Expertise und Intelligenz haben (hoffentlich) die meisten Personen in der Organisation, in der sie arbeiten, da diese eine notwendige Voraussetzung für beruflichen Erfolg darstellen.
BOX 1.4 Emotionale Intelligenz in 19 Kompetenzen
Innerhalb der vier oben genannten Dimensionen der emotionalen Intelligenz – Selbstwahrnehmung, Selbstregulation, soziales Bewusstsein und Empathie sowie Beziehungsmanagement – gibt es 19 Kompetenzen der emotionalen Intelligenz (Goleman, 2002), beginnend im Bereich der Selbstwahrnehmung: Hier finden sich die emotionale Selbstwahrnehmung, zutreffende Selbsteinschätzung und Selbstvertrauen. Unter Selbstregulation fallen folgende Kompetenzen: emotionale Selbstkontrolle, Transparenz, Anpassungsfähigkeit, Leistung, Initiative und Zuversicht (also eine positive Einstellung). Organisationsbewusstsein, Empathie und Service bilden das soziale Bewusstsein. Die vierte Dimension der emotionalen Intelligenz, das Beziehungsmanagement, umfasst Einflussnahme, Coaching und Mentoring, Konfliktmanagement, Veränderungskatalysator, Bindungen aufbauen, Teamarbeit und Kooperation sowie inspirierende Führung.
Abb. 1.8: Definition emotionaler Intelligenz (Goleman & Boyatzis, 2017)
Überall dort, wo Menschen miteinander interagieren, macht sich emotionale Intelligenz oder besser gesagt das Fehlen eben dieser bemerkbar. Sei es in Besprechungen, Verhandlungen, Überzeugungssituationen oder Problemlösegesprächen zwischen Teammitgliedern, Kundinnen, Zulieferern oder anderen Dienstleisterinnen entlang jeder Ebene in Organisationen: Es macht einen spürbaren Unterschied dahingehend, wie die Begegnung abläuft. Denn es geht dabei nicht nur um das, was besprochen wird, sondern insbesondere um die Form, wie miteinander umgegangen wird. Ebenso ist nicht nur in Interaktionen mit anderen, auch im Umgang mit sich selbst emotionale Intelligenz unabdingbar, um sich selbst wahrzunehmen, die eigenen inneren Vorgänge zu verstehen und sie zu regulieren.
Eine Reihe an wissenschaftlichen Befunden hat die Wirksamkeit von emotionaler Intelligenz auf verschiedene Bereiche untersucht. In der nachfolgenden Abbildung werden die aktuellen und auf die Arbeitswelt bezogenen, wissenschaftlich robusten Studienergebnisse in sechs Bereichen dargestellt.
Abb. 1.9: Sechs Wirkfaktoren emotionaler Intelligenz
Neurowissenschaftliche Studien legen einen Schutz vor emotionaler und psychischer Belastung bzw. erhöhte Resilienz durch eine hohe emotionale Intelligenz nahe (O’Connor et al., 2002). Weitere Studienergebnisse bestätigten bei Fachkräften im Gesundheitswesen den Zusammenhang zwischen hoher emotionaler Intelligenz und geringerem Stressempfinden (Nikolaou & Tsaousis, 2002). Hier wurden zudem bei hoher emotionaler Intelligenz eine höhere Einsatzbereitschaft und Loyalität gegenüber der Organisation festgestellt (ebenda). Eine hohe emotionale Intelligenz beeinflusst auch die individuelle Verhandlungs-, Innovations- und Problemlösekompetenz positiv (Humphrey, 2013; Rock, 2011). Aktuelle Studienergebnisse im Kontext von kundenorientierten Branchen zeigen einen Zusammenhang von hoher emotionaler Intelligenz mit Zeitersparnis sowie einer gesteigerten individuellen Leistungsfähigkeit (Kaur & Singh, 2021).
[38]Die Wirksamkeit von emotionaler Intelligenz zeigt sich auch in der Zusammenarbeit auf Teamebene: Teams mit emotional intelligenten Umgangsformen weisen eine höhere Leistungsfähigkeit auf bedingt durch psychologische Sicherheit (Edmondson, 2018). Zudem besteht ein positiver Zusammenhang zwischen emotionaler Intelligenz und ethischem Verhalten (Hopkins & Deepa, 2018). In einer Metaanalyse zeigt sich ein signifikanter, positiver Zusammenhang zwischen emotionaler Intelligenz und Servant Leadership (Miao et al., 2021), der stark durch ethisches Verhalten geprägt ist. Dies wird u. a. damit begründet, dass Personen, die über eine hohe emotionale Intelligenz verfügen, wahrscheinlicher die Konsequenzen der Handlung, die sie in Erwägung ziehen, beachten (Jeffries & Lu, 2018).
Übung
Schließen Sie für einen Moment die Augen und fragen sich, welche Laternen auf Ihrer Straße stehen oder welche Kleidung der Mensch, den Sie zuletzt gesehen haben, trägt.
Menschen sind selbst überrascht, wie sehr sie Details im täglichen Leben ignorieren, insbesondere in Bezug auf andere Menschen. Achtsamkeit befähigt, präsent zu sein und mühelos wahrzunehmen, was sowohl im Inneren als auch um einen herum geschieht.
Achtsamkeit wurde aus dem »Ökoregal« geholt und ist im gesellschaftlichen Mainstream angekommen. Das öffentliche Interesse am Thema ist so groß wie nie zuvor. Die stark wachsende Anzahl beeindruckender Studienergebnisse (siehe Abb. 1.10) hat dabei enorm zur Popularität im westlichen Kulturkreis beigetragen. Allein in den Jahren 2019 und 2020 wurden jeweils über 1.000 wissenschaftliche Publikationen unter dem Schlagwort »Mindfulness« (dt. Achtsamkeit) veröffentlicht.
Achtsamkeit ist zu einem Trend geworden, was zu einem Wildwuchs an Bezeichnungen geführt hat. In diesem Buch wird Achtsamkeit aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet – praktisch, technisch, wissenschaftlich, joblich, klinisch, systemisch. Hier wird jeweils versucht, die dabei passende Sprache anzuwenden. Eine gängige und handliche Definition wurde bereits in Kapitel 1.1. gegeben (siehe dazu auch Abb. 1.2) mit »Raus aus dem Autopiloten und den Gedanken an Vergangenheit und Zukunft hin zu Präsenz und Bewusstsein«. Achtsamkeit bedeutet Gewahrsein, d. h., im gegenwärtigen Moment präsent zu sein und die eigenen Gefühle, Gedanken, Körperempfindungen sowie die Umgebung mit einer freundlichen, neugierigen und offenen Haltung wahrzunehmen (Mindfulness All-Party Parliamentary Group, 2015). Es bedeutet auch, sich der eigenen Handlungen in jedem Augenblick voll bewusst zu sein (Nhat Hanh, 2023).
Abb. 1.10: Steigende Anzahl veröffentlichter wissenschaftlicher Artikel zu Achtsamkeit (angelehnt an American Mindfulness Research Association, 2022)
Meditation findet sich seit tausenden von Jahren in verschiedenen Traditionen und Religionen, z. B. in der christlichen Mystik, bei den Benediktinern, im Yoga, im Buddhismus (vgl. von Hehn & von Hehn, 2021). Achtsamkeit selbst ist erstmals vor ca. 2.500 Jahren im Satipatthasna Sutta und Anapanasati Sutta (z. B. in der Übersetzung von Thich Nhat Hanh, 2008) beschrieben als Sati, was mit »volles Bewusstsein« übersetzt wird. Die Meditation wurde zwar nicht von Buddha erfunden, der diese tiefe Versenkung wahrscheinlich während seiner Jahre als Asket gelernt hat. Ihm wird aber die Idee, einfach nur präsent zu sein für den gegenwärtigen Moment – was Achtsamkeit ausmacht – zugeschrieben.
Heute finden in vielen verschiedenen Organisationen – Schulen, Verwaltungen, Therapiepraxen, Gefängnissen, Sportverbänden und vielen weiteren – Achtsamkeitsprogramme statt, in denen auch die Achtsamkeits-Meditation gelehrt wird. In Unternehmen ist Achtsamkeit ebenfalls angekommen. Unternehmen aus dem Bereich des Güterverkehrs auf Schienen oder des Stahlbaus schulen bereits ihre Mitarbeitenden in Achtsamkeit, um deren Aufmerksamkeit in Gefahrensituationen zu erhöhen und so den Arbeitsschutz zu verbessern. Darüber hinaus berichten aktuelle Überblicksarbeiten von zahlreichen positiven Effekten für den Arbeitsplatz durch Achtsamkeit (siehe z. B. Eby et al., 2019; Lomas et al., 2019; Vonderlin et al., 2020). Führende Organisationen in Deutschland und in den USA bieten heute achtsamkeitsbasierte Programme an. Die überwiegende Mehrheit basiert dabei auf Modifizierungen des sogenannten Mindfulness-Based-Stress-Reduction-(MBSR)-Programms von Prof. Jon Kabat-Zinn (Eby et al., 2019).
[40]Achtsamkeit wurde durch mehrere Strömungen in der westlichen Welt populär. Die Verbreitung von Zen – u. a. durch Thich Nhat Hanh – und Yoga – angestoßen durch Krishnamacharya – legten wichtige Grundsteine. Die Entwicklung von MBSR in den 1970er Jahren (Gross, 2012), die zunehmende Forschung um die Wirkweisen – u. a. angestoßen durch den Dalai Lama – und die Bemühungen, die Wirksamkeit der Achtsamkeitstechnik Meditation mittels Neurowissenschaften zu belegen, sowie ihre populärwissenschaftliche Verbreitung, machten Achtsamkeit auch außerhalb des Buddhismus populär. Die wichtigsten Meilensteine zur Entwicklung von Achtsamkeit in Wissenschaft und Praxis sind in der folgenden Liste zusammengefasst; die entsprechenden Akteure werden auf myBook+ näher vorgestellt.
1848-1870Der Buddhismus breitet sich in San Francisco aus, nachdem sich chinesische Siedler im Zuge des Goldrauschs dort niedergelassen haben.ab ca. 1898Sri T. Krishnamacharya (geb. 1888 in Indien) studiert Yoga und macht diese Lehre einer breiten Masse zugänglich, nachdem sie zuvor nur wenigen Privilegierten zugänglich war; er bringt Yoga in die westliche Welt.1959Das erste und einflussreiche buddhistische Center wird von dem Zen-Lehrer Shunryu Suzuki Roshi in San Francisco eröffnet. Eine Reihe weiterer renommierter buddhistischer Lehrer (u. a. Taizan Maezumi Roshi) immigriert aus dem asiatischen Raum in die USA, um weitere buddhistische Center zu eröffnen.1960-1979Buddhistische Lehren werden im Westen populär. Steve Jobs beschäftigt sich mit der Zen-Schule und beginnt, Achtsamkeit in die Unternehmenskultur und das Design von Apple zu integrieren.1966Der buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh (»father of mindfulness«) immigriert in Folge des Vietnamkriegs nach Frankreich. Er prägt dort den Begriff »Mindfulness«, macht ihn der westlichen Welt zugänglich und gründet eines der größten buddhistischen Klöster in der westlichen Welt.1979Der Wissenschaftler und Zen-Schüler Prof. Jon Kabat-Zinn entwickelt das Programm »Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR)« zur Linderung chronischer Schmerzen und Stress an der Stress Reduction Clinic der Universität von Massachusetts in Worcester, USA.1987Die erste Konferenz des Mind and Life Instituts findet auf Initiative von Neurowissenschaftlern und des Dalai Lama in Dharamshala, Indien, statt, um den Dialog zwischen buddhistischen Traditionen und Wissenschaft zu fördern.1990Der amerikanische Psychiater Steven C. Hayes entwickelt die »Acceptance and Commitment Therapy« (ACT5) als eine moderne Weiterentwicklung der kognitiven Verhaltenstherapie, die achtsamkeits- und akzeptanzbasierte Techniken einsetzt.[41]2001Die »Mindfulness-Based Cognitive Therapy« (MBCT) wird von den Achtsamkeitsforschern und Verhaltenstherapeuten Zindel, Segal, Williams und Teasdale entwickelt. MBCT ist ein achtwöchiges Therapieverfahren zur Rückfallprävention bei Depression. Die Achtsamkeitsübungen orientieren sich eng an MBSR (s. o.) und werden mit Elementen aus der kognitiven Verhaltenstherapie kombiniert.2004Die Neurowissenschaftler Prof. Richard Davidson und Dr. Antoine Lutz studieren erstmals umfassend die Gehirnströme tibetischer Mönche. Sie weisen eine außergewöhnlich hohe Gamma-Aktivität nach, die geistige Spitzenleistungen (Aufnahmefähigkeit, Gedächtnisprozesse und Aufmerksamkeit) repräsentiert – ein Durchbruch in der Gehirnforschung, aus dem ein neues Forschungsfeld entsteht: »Contemplative Neuroscience« – die Neurowissenschaft der Meditation.2006Der Cerealienhersteller General Mills implementiert unter der Leitung von Janice Marturano ein firmenweites Achtsamkeitsprogramm für Führungskräfte des Unternehmens in den Vereinigten Staaten.2007Der Google Ingenieur Chade-Meng Tan entwirft unter Beteiligung von Daniel Goleman und Zen-Mönchen »Search Inside Yourself« (SIY) als Personalentwicklungsprogramm für Google. In Großbritannien starten die ersten großen Achtsamkeits-Initiativen an Schulen.2009Die Goldman Sachs Group bietet ein Personalentwicklungsprogramm zu Resilienz und Achtsamkeit an.2011Die Headspace-App wird vom ehemaligen buddhistischen Mönch Andy Puddicombe entwickelt.2012Das SIY-Programm wird eigenständige Non-Profit-Organisation mit dem Ziel, Achtsamkeit in Unternehmen und Organisationen zu etablieren.2013Das Softwareunternehmen SAP bietet SIY-Trainings als Personalentwicklungsprogramm an.2014Das Time Magazin ruft die »Mindful Revolution« aus.2015Achtsamkeit ist Thema beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Achtsamkeit wird offiziell zum Milliardengeschäft in den USA (IBIS World).2016Das britische »Healthy Workforce Programme« der NHS kooperiert mit Headspace, um Mitarbeitenden Zugang zu Achtsamkeit zu ermöglichen.2017Calm wird Apple-App des Jahres (über30 Millionen Downloads). Mehr als 1.000 Meditationsapps sind auf dem Markt. Headspace etabliert Meditationskanäle in Airlines und veröffentlicht Pläne für öffentliche Meditationskabinen.2020Die Anzahl wissenschaftlicher Artikel zum Thema Achtsamkeit wächst in der Studiendatenbank Web of Science auf über 16.000.2022Der Virtual-Reality-Anbieter Tripp erhält 11 Millionen Dollar, um das »Mindful Metaverse« zu entwickeln.Tab. 1.1 Ausgewählte Meilensteine im Überblick, die einen Einblick über die Entwicklung von Achtsamkeit zu einer säkularisierten Form geben; kein Anspruch auf Vollständigkeit.
»Achtsamkeit ist bei uns raus aus der Lächel-Ecke und wird für ihre Wirkung auf Innovationsfähigkeit anerkannt«
Zur Person:
Petra Martin ist seit 32 Jahren bei der Robert Bosch GmbH und leitet seit 12 Jahren das Kompetenzzentrum Leadership im Geschäftsbereich Automotive Electronics. Die gelernte Wirtschaftswissenschaftlerin entwickelt zahlreiche Weiterbildungsangebote für weltweit 40.000 Mitarbeitende von Bosch/AE mit dem Fokus auf Leadership, Zusammenarbeit und agile Organisationsentwicklung. Petra entwirft mit ihrem Team laufend neue Formate, um Achtsamkeit in den Alltag von Führungskräften integrierbar zu machen, gilt als Pionierin im Bereich Achtsamkeit in Unternehmen und inspiriert auf Kongressen andere Organisationen. Petra hat einen erwachsenen Sohn und lebt mit ihrer Familie in Braunschweig.
Wie ist dein Bezug zu Achtsamkeit und der von Bosch?
Vor über 15 Jahren begann ich mit Achtsamkeit durch Meditation und Yoga. Beides steigerte mein persönliches Wohlbefinden und führte zu einer bewussteren Haltung bei regelmäßiger Ausübung. Zudem las ich viele Studien und integrierte das neue Wissen in ein neues Format zur Führungskräfteentwicklung, das 3.000 Personen durchliefen. Dadurch haben wir Achtsamkeit aus der Lächel-Ecke herausgeholt. Ca. 3.000 Leute nehmen im Konzern auch weiterhin unsere achtsamkeitsbasierten Angebote an – Tendenz steigend, dennoch fristet das Thema bislang weiter ein Nischendasein.
Seitdem hat Achtsamkeit für mich an Vielfalt und Einsatzmöglichkeit gewonnen. Heute denke ich, dass Achtsamkeit einer der größten Hebel in der Arbeitswelt ist und noch viel mehr Auf[43]merksamkeit erfordert: Achtsamkeit bringt viele wertvolle Aspekte mit sich, sodass wir sie im Businesskontext wirklich gut gebrauchen können. Nicht nur, dass Menschen empathischer werden und besser zusammenarbeiten können, wohlwollender miteinander umgehen und weniger gestresst sind, sondern: Die Menschen werden innovativer. Seitdem wir über eine Studie den Fokus auf Innovation gelegt haben, bekommt das Thema Achtsamkeit intern mehr Aufmerksamkeit, auch bei den Bereichsvorständen.
Kannst Du mehr zu der Bedeutung von Achtsamkeit und Innovation erzählen?
Die Bedeutung von Achtsamkeit wird in Zukunft massiv wachsen; insbesondere die Ernsthaftigkeit, mit der Unternehmen sie betrachten werden. Dazu muss Achtsamkeit aus dem Well-Being- und Gesundheits-Bereich heraus. Wir müssen offen dazu stehen, dass Achtsamkeit das Business fördert. Es geht nicht nur darum, dass sich die Mitarbeitenden wohler fühlen und netter miteinander umgehen. Ich bin überzeugt davon, dass wir den Innovationsmuskel durch Achtsamkeit trainieren können, dazu gibt es auch bereits Studien (Anmerkung: siehe Box 1.3).
Ich hatte eine Studie zu Innovation durchgeführt und anschließend mit meiner Kollegin auf der Veranstaltung »Bosch Connected World« (Konferenz alle 2 Jahre, zuletzt im Nov. 22 in Berlin, 10.000 Personen) einen Vortrag zu Mindfulness und Innovation gehalten. Wir hielten eine Pille hoch: »Wenn ihr dieses Wundermittel einmal am Tag nehmt, dann werdet ihr innovativ und alles wird sprudeln.« Das Fazit war: Alle würden dieses Mittel gerne nehmen. Und das Wundermittel ist tatsächlich da – Meditation. Es verhält sich wie mit dem Joggen – jeder weiß, dass es gesund ist, trotzdem macht es nicht automatisch jeder.