Acqua alta - Donna Leon - E-Book

Acqua alta E-Book

Donna Leon

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Beschreibung

Wie jeden Winter bedroht Hochwasser das größte Museum der Welt: Venedig. Eine Archäologin wird vor ihrer Wohnung zusammengeschlagen, ein renommierter Museumsdirektor wird ermordet. Ganz Venedig ist entsetzt. Commissario Brunetti will beide Fälle mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit aufklären. Und bald steht das Wasser auch denjenigen bis zum Hals, die so falsch sind wie die Kunst, mit der sie handeln. "

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Donna Leon

Acqua alta

Commissario Brunettis fünfter Fall

Roman Aus dem Amerikanischen von

Titel der 1996

bei HarperCollins Publishers, New York,

erschienenen Originalausgabe:

›Acqua alta‹

Copyright © 1996 Donna Leon

Die deutsche Erstausgabe erschien

1997 im Diogenes Verlag

Das Motto aus: Mozart, Don Giovanni,

in der Übersetzung von Thomas Flasch,

Reclam Verlag, Stuttgart 1986

Covermotiv: Foto von Fulvio Roiter (Ausschnitt)

Aus ›Living Venice‹, Magnus Edizioni,

Fagagna (UD)

Für Guy Santa Lucia

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2011

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23118 2

ISBN E-Book 978 3 257 60064 3

Dalla sua pace La mia depende, Quel che a lei piace Vita mi rende, Quel che le incresce Morte mi da.

S’ella sospira Sospiro anch’io; E mia quell’ira, Quel pianto è mio; E non ho bene, S’ella non l’ha.

Von ihrem Frieden hängt der meine ab, was ihr gefällt, schenkt neues Leben mir, was Schmerz ihr bringt, gibt mir den Tod.

Seufzt sie, seufze auch ich; ihr Zorn ist der meine,

[7] 1

Es herrschte friedvolle Häuslichkeit. Flavia Petrelli, Primadonna der Mailänder Scala, stand in der warmen Küche und schnitt Zwiebeln. Vor ihr lagen in getrennten Häufchen Flaschentomaten, zwei feingeschnittene Knoblauchzehen und zwei bauchige Auberginen. Sie stand, über das Gemüse gebeugt, vor der Marmorplatte des Küchentresens und sang, füllte den Raum mit den goldenen Tönen ihres Soprans. Hin und wieder strich sie mit dem Handrücken eine dunkle Locke zurück, die sich, kaum hinters Ohr geklemmt, wieder löste und ihr erneut über die Wange fiel.

Am anderen Ende des großen Raumes, der fast den gesamten obersten Stock des venezianischen Palazzo aus dem vierzehnten Jahrhundert einnahm, lag Brett Lynch, Besitzerin der Wohnung und Flavias Geliebte, auf einem beigefarbenen Sofa, ihre nackten Füße gegen die eine Armlehne gestemmt, den Kopf auf der anderen, und las die Partitur von I Puritani mit, während die Musik – Nachbarn hin, Nachbarn her – aus zwei großen Lautsprechern auf Mahagonisockeln dröhnte. Die Musik schwoll an und erfüllte den Raum, als die singende Elvira sich anschickte, dem Wahnsinn zu verfallen – und das sogar doppelt. Unheimlich, zwei Elviras gleichzeitig zu hören, die eine, die Flavia vor fünf Monaten in London aufgenommen hatte, sanft aus den Lautsprechern; die andere aus der Küche – die Stimme der zwiebelschneidenden Frau.

Flavia, die in völliger Übereinstimmung mit ihrer [8] Plattenstimme sang, unterbrach sich hin und wieder mit Fragen wie: »Uff, wer behauptet eigentlich, ich hätte eine Mittellage?« oder: »Soll das ein B sein, was die Streicher da spielen?« Nach jeder Unterbrechung nahm ihre Stimme die Musik wieder auf, ihre Hände das Zwiebelschneiden. Links von ihr stand auf kleiner Flamme eine große Bratpfanne, in der eine Lache aus Olivenöl auf das erste Gemüse wartete.

Vier Etagen tiefer wurde die Klingel gedrückt. »Ich geh schon hin«, sagte Brett, legte die offene Partitur auf den Boden und erhob sich. »Wahrscheinlich die Zeugen Jehovas. Die kommen gern sonntags.« Flavia nickte, schob eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht und widmete sich erneut den Zwiebeln und Elviras Wahnsinn, den sie mittendrin wieder aufnahm.

Barfüßig, froh über die Wärme der Wohnung an diesem Nachmittag Ende Januar, lief Brett über die Holzdielen auf den Flur, hob neben der Tür den Hörer der Sprechanlage ab und fragte: »Chi c’è?«

Eine Männerstimme antwortete auf italienisch: »Wir kommen vom Museum. Mit Unterlagen von Dottor Semenzato.«

Merkwürdig, daß der Direktor des Museums im Dogenpalast ihr Unterlagen schickte, und das am Sonntag, aber vielleicht hatte ihn der Brief doch alarmiert, den Brett ihm aus China geschrieben hatte – obwohl es vor ein paar Tagen am Telefon nicht so geklungen hatte –, und er wollte ihr vor dem Gesprächstermin, den er ihr widerwillig für Dienstag vormittag eingeräumt hatte, etwas zu lesen geben.

»Bringen Sie’s rauf, wenn es Ihnen nichts ausmacht. [9] Oberster Stock.« Brett hängte den Hörer zurück und drückte auf den Knopf, der vier Etagen tiefer die Tür öffnete; dann ging sie zurück und rief Flavia durch das Schluchzen der Violinen zu: »Jemand vom Museum. Mit Unterlagen.«

Flavia nickte und nahm sich die erste Aubergine vor, die sie in der Mitte durchschnitt, dann gab sie sich, ohne einen Takt auszulassen, wieder dem ernsten Geschäft hin, aus Liebe den Verstand zu verlieren.

Brett ging zur Wohnungstür zurück, bückte sich, um die umgeschlagene Ecke eines Läufers richtig hinzulegen, und öffnete die Tür. Von unten waren Schritte zu hören, dann kamen zwei Männer ins Blickfeld, die am letzten Treppenabsatz innehielten. »Nur noch sechzehn Stufen«, rief Brett mit einladendem Lächeln und stellte rasch einen nackten Fuß auf den anderen, als der kalte Luftzug aus dem Treppenhaus sie traf.

Sie blieben unter ihr auf der Treppe stehen und sahen zu der offenen Tür herauf. Der erste hatte einen großen Umschlag in der Hand. Sie ruhten sich einen Moment aus, bevor sie die letzten Stufen in Angriff nahmen, und Brett lächelte erneut und rief aufmunternd: »Forza.«

Der erste, klein und blond, lächelte zurück und betrat das letzte Treppenstück. Sein Begleiter, größer und dunkler, holte noch einmal tief Luft und kam ihm nach. Als der erste Mann bei der Tür angelangt war, blieb er stehen und wartete auf den anderen.

»Dottoressa Lynch?« fragte der Blonde.

»Ja«, antwortete sie, indem sie zurücktrat, um sie hereinzulassen.

[10] Beide murmelten höflich: »Permesso«, als sie die Wohnung betraten. Der erste, der unter dem kurzgeschnittenen blonden Haar zwei sehr hübsche dunkle Augen hatte, streckte ihr den Umschlag hin. »Das hier sind die Unterlagen, dottoressa.« Und als er ihn ihr aushändigte, fügte er hinzu: »Dottor Semenzato bittet Sie, sich das gleich anzusehen.« Sehr sanft, sehr höflich. Der Große lächelte und drehte sich zur Seite, abgelenkt von einem Spiegel links neben der Tür.

Brett senkte den Kopf und begann den Umschlag zu öffnen, der mit rotem Lack versiegelt war. Der Blonde kam einen Schritt näher, als ob er ihr den Umschlag abnehmen wollte, um ihr beim Aufmachen zu helfen, doch ganz plötzlich trat er hinter sie, packte sie brutal und hielt sie an beiden Armen fest.

Der Umschlag fiel zuerst auf ihre nackten Füße und landete dann zwischen ihr und dem zweiten Mann auf dem Boden. Er schob ihn mit dem Fuß beiseite, wie um den Inhalt nicht zu beschädigen, und stellte sich dicht vor sie. Während er dies tat, verstärkte der andere den Klammergriff um ihre Arme. Der Große beugte sich aus seiner beträchtlichen Höhe zu ihr hinunter und sagte mit leiser, sehr tiefer Stimme: »Sie wollen doch Ihre Verabredung mit Dottor Semenzato nicht einhalten, oder?«

Der Zorn packte sie noch vor der Angst, und ersterer sprach aus ihr. »Lassen Sie mich los, und verschwinden Sie.« Dabei versuchte sie sich mit einer abrupten Drehung aus der Umklammerung zu befreien, doch der Mann packte sie nur noch fester und preßte ihr die Arme an den Körper.

[11] Hinter ihr wurde die Musik lauter, und Flavias doppelte Stimme erfüllte den Raum. So perfekt sang sie die Stelle, man hätte nicht sagen können, daß es zwei Stimmen waren, nicht eine, die da von Schmerz und Liebe und Verlust sangen. Brett drehte den Kopf nach der Musik um, hielt aber dann mit einer bewußten Willensanstrengung mitten in dieser Bewegung inne und fragte den Mann, der vor ihr stand: »Wer sind Sie? Was wollen Sie?«

Seine Stimme veränderte sich wie sein Gesicht, das häßlich wurde. »Keine Fragen, du Schlampe.«

Erneut versuchte sie sich aus dem Griff herauszuwinden, aber es war unmöglich. Sie verlagerte ihr Gewicht auf einen Fuß und stieß mit dem anderen nach hinten, doch ihr nackter Fuß konnte dem Mann, der sie festhielt, nichts anhaben.

Hinter sich hörte sie ihn sagen: »Los schon, mach’s.«

Sie wollte gerade den Kopf zu ihm hindrehen, als der erste Schlag sie traf, genau in den Magen. Der plötzliche, explodierende Schmerz warf ihren Körper mit solcher Wucht nach vorn, daß sie beinah freigekommen wäre, aber der Mann riß sie zurück und richtete sie wieder auf. Der andere schlug erneut zu, traf sie diesmal unter der linken Brust, und sie reagierte wie zuvor mit einer unwillkürlichen Bewegung, die ihren Körper nach vorn krümmte, um ihn vor diesem gräßlichen Schmerz zu schützen.

Dann begann er in so schneller Folge, daß sie die Schläge gar nicht mehr mitzählen konnte, auf ihren Körper einzudreschen, wobei er immer wieder Brüste und Rippen traf.

Hinter ihr sang Flavias Stimme von der glückseligen Zukunft, der sie entgegensah, da sie bald Arturos Braut sein [12] werde, und dann traf der Mann sie an der Schläfe. Ihr rechtes Ohr dröhnte, und sie konnte die Musik nur noch mit dem linken hören.

Sie war sich nur eines Gedankens bewußt: Sie durfte keinen Laut von sich geben, weder schreien noch rufen, noch wimmern. Die Sopranstimmen hinter ihr verschmolzen in jubelnder Freude, und ihre Lippe platzte unter der Faust des Mannes.

Der hinter ihr ließ ihren rechten Arm los. Er brauchte sie nicht mehr festzuhalten, aber er hielt sie mit einer Hand aufrecht und drehte sie herum, bis sie ihm das Gesicht zuwandte. »Sie werden Ihre Verabredung mit Dottor Semenzato nicht einhalten«, sagte er mit immer noch sehr tiefer, höflicher Stimme.

Aber sie nahm ihn nicht mehr wahr, hörte seinen Worten nicht mehr zu, nur entfernt noch war sie sich der Musik bewußt, der Schmerzen und der dunklen Angst, daß diese Männer sie umbringen könnten.

Ihr Kopf hing vornüber, und sie sah nur die Füße. Sie ahnte mehr, wie der Große sich plötzlich auf sie zubewegte, und spürte etwas Warmes an ihren Beinen und im Gesicht. Sie hatte die Kontrolle über ihren Körper verloren, und der scharfe Geruch ihres eigenen Urins stieg ihr in die Nase. Das andere Warme war Blut, sie schmeckte es und sah es auf den Boden tropfen und an die Schuhe der Männer spritzen. Sie hing zwischen ihnen und konnte nur denken, daß sie keinen Laut von sich geben durfte, wünschte nur, sie ließen sie endlich fallen, damit sie sich zusammenkrümmen und dem Schmerz entfliehen konnte, der ihren ganzen Körper beherrschte. Und während dies [13] alles geschah, erfüllte Flavia Petrellis zweifache Stimme den Raum mit jubelnder Freude, schwang sich über den Chor und den Tenor, ihren Geliebten, empor.

Mit der größten Anstrengung, die sie je in ihrem Leben für etwas aufgebracht hatte, hob Brett den Kopf und sah in die Augen des Großen, der jetzt unmittelbar vor ihr stand. Er lächelte sie an, ein so vertrauliches Lächeln, als hätte sie das Gesicht eines Geliebten vor sich. Langsam streckte er die Hand aus, umschloß ihre linke Brust, drückte sie sanft und flüsterte: »Willst du noch mehr, cara? Mit einem Mann ist es schöner.«

Ihre Reaktion war ganz unwillkürlich. Ihre Faust traf ihn ins Gesicht und rutschte ab, ohne ihm etwas anzuhaben, aber die plötzliche Bewegung riß sie von der Hand des anderen Mannes los. Rückwärts sank sie gegen die Wand, deren Festigkeit sie an ihrem Rücken fühlte, als gehörte dieser gar nicht zu ihr.

Sie spürte, wie sie nach unten rutschte, merkte, wie ihr Pullover von der rauhen Backsteinmauer hochgeschoben wurde. Langsam, ganz langsam, wie in einer extremen Zeitlupe, sank sie an der Wand hinunter, und die grobe Fläche scheuerte an ihrer Haut, während die Schwerkraft an ihrem Körper zog.

Dann geriet alles durcheinander. Sie hörte Flavias Stimme die Cabaletta singen, aber dann hörte sie Flavias andere Stimme, die nicht mehr sang, sondern wütend schrie: »Wer sind Sie? Was machen Sie da?«

»Hör nicht auf zu singen, Flavia«, wollte sie sagen, aber sie wußte nicht mehr, wie man sprach. Sie fiel zu Boden, das Gesicht zum Wohnzimmer, wo sie vor dem Licht, das [14] aus dem anderen Raum einfiel, die Umrisse der wirklichen Flavia sah, hörte die herrliche Musik, die mit ihr hereinbrandete, und sah das große Küchenmesser in Flavias Hand.

»Nein, Flavia«, flüsterte sie, aber keiner hörte sie.

Mit einem Satz war Flavia bei den beiden Männern, die ebenso überrascht waren wie sie selbst und keine Zeit zum Reagieren hatten. Das Messer ratschte über den Unterarm des Kleineren. Er schrie vor Schmerz auf, zog den Arm an sich und legte die freie Hand über die Wunde. Blut quoll durch den Stoff seines Jacketts.

Erneute Zeitlupe. Dann sprang der Große zur noch immer offenstehenden Wohnungstür. Flavia zog das Messer an ihre Hüfte und machte zwei Schritte auf ihn zu. Der Verwundete stieß mit dem linken Fuß nach ihr und traf sie seitlich am Knie. Sie fiel hin, aber nur auf die Knie, das Messer noch immer stoßbereit.

Wie auch immer die beiden Männer sich verständigten, es geschah stumm, aber sie stürmten gleichzeitig zur Tür. Dort hielt der Große gerade lange genug inne, um sich nach dem Umschlag zu bücken, doch im Knien hieb Flavia mit dem Messer nach seiner Hand, und er fuhr zurück und ließ den Umschlag auf dem Boden liegen. Flavia sprang hoch und rannte ihnen nach, hielt aber nach ein paar Stufen an und kam in die Wohnung zurück, wobei sie mit dem Fuß die Tür hinter sich zustieß.

Sie kniete sich neben die andere Frau, die auf dem Rücken lag. »Brett, Brett«, rief sie, während sieauf die Freundin hinunterblickte. Der untere Teil von Bretts Gesicht war voller Blut, das ihr aus Nase und Lippe quoll und [15] aus einer Platzwunde an der linken Stirnseite strömte. Sie hatte ein Knie unter sich gezogen, ihr Pullover war bis ans Kinn hochgerutscht und entblößte ihre Brüste. »Brett«, sagte Flavia noch einmal, und einen Augenblick lang hielt sie die völlig reglose Frau für tot. Sie schob den Gedanken gleich wieder von sich und legte eine Hand an Bretts Hals.

Langsam, wie die Morgendämmerung an einem dunklen Wintertag, öffnete sich zuerst ein Auge, dann das andere, doch da es allmählichzuschwoll, ging es nur zur Hälfte auf.

»Stai bene?« fragte Flavia.

Als einzige Antwort kam nur ein tiefes Ächzen. Aber es war immerhin eine Antwort.

»Ich hole Hilfe. Nur keine Sorge, cara. Die sind ganz schnell hier.«

Sie rannte ins andere Zimmer, zum Telefon. Eine Sekunde lang begriff sie nicht, was sie daran hinderte, den Hörer abzunehmen, dann sah sie das blutige Messer, die weißen Knöchel ihrer Hand, die den Griff umklammerte. Sie ließ es fallen und griff nach dem Hörer. Mit steifen Fingern wählte sie 113. Nach zehnmaligem Klingeln meldete sich eine Frauenstimme und fragte, was sie wolle.

»Hier ist ein Notfall. Ich brauche eine Ambulanz. In Cannaregio.«

Gelangweilt erkundigte sich die Stimme nach der genauen Anschrift.

»Cannaregio 6134.«

»Tut mir leid, Signora. Es ist Sonntag, und wir haben nur eine zur Verfügung. Ich muß sie auf die Warteliste setzen.«

Flavias Stimme wurde lauter. »Hier ist eine Frau [16] verletzt. Jemand hat versucht, sie umzubringen. Sie muß ins Krankenhaus.«

Die Stimme am anderen Ende nahm einen Ton müder Geduld an. »Ich habe es Ihnen doch schon erklärt, Signora. Wir haben nur ein Sanitäterteam, und das muß vorher noch zu zwei anderen Notfällen. Sobald es frei ist, schicken wir es zu Ihnen.« Als sie keine Antwort von Flavia bekam, fragte die Stimme: »Signora, sind Sie noch dran? Wenn Sie mir noch einmal die Adresse geben, setze ich Sie auf die Liste. Signora? Signora?« Auf Flavias Schweigen hin legte die Frau am anderen Ende auf, und Flavia stand mit dem Hörer in der Hand da und wünschte, es wäre noch das Messer.

Mit zitternden Fingern legte Flavia den Hörer auf und ging zurück in die Diele. Brett lag noch dort, wo sie gelegen hatte, aber irgendwie war es ihr gelungen, sich auf die Seite zu drehen, und nun lag sie reglos da, einen Arm über der Brust, und stöhnte.

Flavia kniete sich neben sie. »Brett, ich muß einen Arzt holen.«

Flavia hörte ein ersticktes Geräusch, und Bretts Hand näherte sich langsam der ihren. Die Finger berührten kaum Flavias Arm, dann sank die Hand auf den Boden. »Kalt«, war das einzige, was sie sagte.

Flavia stand auf und ging ins Schlafzimmer. Sie riß das Bettzeug herunter, schleifte es in die Diele und deckte die reglose Gestalt auf dem Boden zu. Dann öffnete sie die Wohnungstür, ohne sich vorher durch den Spion zu vergewissern, ob die beiden Männer womöglich zurückgekommen waren. Sie ließ die Tür hinter sich offen, rannte [17] zwei Treppen tiefer und hämmerte gegen die Tür der Wohnung unter der ihren.

Kurz darauf öffnete ihr ein großer Mittvierziger mit beginnender Glatze, der in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen ein Buch hielt. »Luca«, keuchte Flavia, die sich beherrschen mußte, um nicht loszuschreien, weil sich das alles so hinzog und niemand ihrer Geliebten zu Hilfe kam. »Brett ist verletzt. Sie braucht einen Arzt.« Plötzlich versagte ihr die Stimme, und sie schluchzte. »Bitte, Luca, bitte, holen Sie einen Arzt.« Sie griff nach seinem Arm, unfähig weiterzusprechen.

Ohne ein Wort ging er in seine Wohnung zurück und schnappte sich von einem Tischchen neben der Tür sein Schlüsselbund. Das Buch ließ er auf den Boden fallen, zog die Tür hinter sich zu und verschwand über die Treppe nach unten, ehe Flavia noch etwas sagen konnte.

Flavia eilte, zwei Stufen auf einmal nehmend, in die Wohnung zurück. Sie blickte auf Brett hinunter und sah eine kleine Blutlache, die sich unter ihrem Gesicht langsam ausbreitete; eine Haarsträhne schwamm darauf. Vor Jahren hatte sie einmal gelesen oder gehört, daß man Menschen im Schockzustand wach halten solle, daß es gefährlich sei, wenn sie einschliefen. Also kniete sie sich erneut neben die Freundin und rief ihren Namen. Das eine Auge war inzwischen ganz zugeschwollen, aber beim Klang ihres Namens öffnete die Amerikanerin das andere einen winzigen Spalt und sah Flavia an, ohne ein Erkennen zu zeigen.

»Luca ist unterwegs. Der Arzt kommt jeden Moment.«

Langsam schien Bretts Blick zu verschwimmen, dann richtete er sich wieder fest auf Flavia. Sie bückte sich tiefer, [18] strich Brett die Haare aus dem Gesicht und merkte, wie ihr dabei Blut über die Finger lief. »Es wird alles gut. Die müssen gleich hier sein, und dann wirst du versorgt. Alles wird wieder gut, Liebes. Mach dir keine Sorgen.«

Das Auge ging zu, öffnete sich wieder, blickte in die Ferne, dann wieder in die Nähe. »Tut so weh«, flüsterte sie.

»Ist ja gut, Brett. Es wird alles wieder gut.«

»Tut weh.«

Flavia kniete neben ihrer Freundin, blickte in das eine Auge, versuchte es mit ihrer Willenskraft offen- und klar zu halten und murmelte dabei Dinge, die gesagt zu haben sie sich nie erinnern würde. Irgendwann fing sie an zu weinen, aber das wurde ihr nicht bewußt.

Sie sah Bretts Hand, halb unter den Decken versteckt, griff danach und hielt sie sanft in der ihren, so sanft wie die Daunen der Decke auf dem Körper ihrer Geliebten. »Es wird alles wieder gut, Brett.«

Dann hörte sie Schritte und laute Stimmen aus dem Treppenhaus. Einen Augenblick dachte sie, es könnten die beiden Männer sein, die zurückkamen, um zu Ende zu führen, was immer sie hatten tun wollen. Sie stand auf und ging zur Tür, die sie rechtzeitig zuwerfen zu können hoffte, aber dann sah sie Lucas Gesicht und hinter ihm einen Mann in Weiß mit einer schwarzen Tasche in der Hand.

»Gott sei Dank«, sagte sie, und es überraschte sie selbst, daß sie das wörtlich meinte. Hinter ihr verstummte die Musik. Elvira war endlich wieder mit ihrem Arturo vereint, und die Oper war zu Ende.

[19] 2

Flavia trat zur Seite und ließ die beiden Männer eintreten. »Was ist denn los? Was ist passiert?« fragte Luca mit einem Blick auf den Deckenberg und das, was darunter lag. »Mio dio«, entfuhr es ihm, und er wollte sich zu Brett hinunterbeugen, aber Flavia hielt ihn mit ausgestrecktem Arm zurück und zog ihn beiseite, damit der Arzt an die am Boden liegende Frau herankonnte.

Er bückte sich und legte ihr die Hand an den Hals. Als er den Puls fühlte, langsam, aber kräftig, schlug er die Decken zurück. Ihr Pullover hatte sich, ein blutiger Strick, unter ihrem Hals zusammengeschoben, so daß Rippen und Oberkörper entblößt waren. Die Haut war gerötet und an einigen Stellen aufgeplatzt und begann sich zu verfärben.

»Signora, können Sie mich hören?« fragte der Arzt.

Brett gab einen Laut von sich; Worte waren noch zu schwierig.

»Signora, ich werde Sie jetzt umdrehen. Nur ein wenig, damit ich etwas sehen kann.« Er gab Flavia ein Zeichen, die sich auf der anderen Seite der reglosen Gestalt hinkniete. »Halten Sie die Schultern fest. Ich muß ihre Beine strecken, damit ich sehe, was los ist.« Er faßte Bretts linkes Bein an der Wade und legte es ausgestreckt vorsichtig hin, dann tat er dasselbe mit dem rechten. Langsam drehte er sie auf den Rücken, und Flavia ließ gleichzeitig die Schultern auf den Boden sinken. Das alles bereitete Brett nur neuen Schmerz, und sie stöhnte.

[20] Der Arzt wandte sich wieder an Flavia: »Holen Sie mir eine Schere.« Gehorsam ging Flavia in die Küche und nahm eine Schere aus einem großen geblümten Keramiktopf auf dem Tresen. Dabei merkte sie, wie es ihr heiß aus der Pfanne mit Olivenöl entgegenschlug, die zischelnd und brodelnd immer noch auf dem Herd stand. Rasch drehte sie die Flamme aus und lief in die Diele zurück.

Der Arzt nahm die Schere, zerschnitt den blutgetränkten Pullover und pellte ihn vorsichtig von Bretts Körper. Der Schläger hatte einen dicken Ring an der rechten Hand getragen und damit Spuren hinterlassen, kleine runde Abdrücke, die sich dunkel von dem graublauen Fleisch ringsum abhoben.

Der Arzt beugte sich wieder über die Liegende und sagte: »Machen Sie bitte die Augen auf, Signora.«

Brett bemühte sich zu gehorchen, aber sie bekam nur das eine auf. Der Arzt nahm eine kleine Taschenlampe aus seiner Tasche und richtete den Strahl auf ihre Pupille. Sie zog sich zusammen, und Brett schloß unwillkürlich das Auge.

»Gut, gut«, sagte der Arzt. »Jetzt möchte ich, daß Sie den Kopf etwas bewegen, nur ein ganz klein wenig.«

Obwohl es sie sichtlich anstrengte, schaffte Brett es.

»Und nun den Mund. Können Sie ihn öffnen?«

Als sie es versuchte, japste sie vor Schmerz, ein Laut, bei dem Flavia sich gegen die Wand lehnen mußte.

»Jetzt werde ich Ihre Rippen abtasten, Signora. Sagen Sie mir bitte, wenn es weh tut.« Behutsam befühlte er, eine nach der anderen, ihre Rippen. Zweimal stöhnte sie auf.

Er nahm ein Päckchen sterilen Mull aus seiner Tasche [21] und riß es auf. Aus einer Flasche mit Antiseptikum befeuchtete er den Mull und begann langsam das Blut von ihrem Gesicht zu wischen. Sobald er es weggetupft hatte, quoll neues aus ihrer Nase und der klaffenden Wunde an ihrer Unterlippe. Er winkte Flavia zu sich, die sich wieder neben ihn kniete. »Hier, drücken Sie ihr das auf die Lippe, und lassen Sie nicht zu, daß sie sich bewegt.« Damit gab er Flavia den blutigen Mulltupfer, und sie tat wie geheißen.

»Wo ist das Telefon?« fragte der Arzt.

Flavia deutete mit dem Kopf zum Wohnzimmer. Der Arzt verschwand durch die Tür, und Flavia hörte ihn wählen, danach mit jemandem im Krankenhaus sprechen und eine Trage anfordern. Warum war sie darauf nicht selbst gekommen? Sie wohnten so nah beim Krankenhaus, sie brauchten gar kein Ambulanzboot.

Luca, der hinter ihr stand, begnügte sich schließlich damit, die Decke wieder über Brett zu ziehen.

Der Arzt kam zurück und beugte sich zu Flavia hinunter. »Sie werden bald hier sein.« Dann sah er Brett an. »Ich kann Ihnen nichts gegen die Schmerzen geben, bevor wir Sie nicht geröntgt haben. Sind die Schmerzen schlimm?«

Für Brett bestand die ganze Welt aus Schmerzen.

Der Arzt sah, daß sie fröstelte, und fragte: »Haben Sie noch mehr Decken?« Luca ging ins Schlafzimmer und kam mit einer weiteren Steppdecke zurück, die er mit der Hilfe des Arztes über Brett breitete, obwohl es nicht viel zu nützen schien. Ihre Welt war kalt geworden, und sie spürte nur Kälte und Schmerz.

[22] Der Arzt richtete sich auf und fragte, an Flavia gewandt: »Was ist denn passiert?«

»Ich weiß es nicht. Ich war in der Küche, beim Kochen. Als ich herauskam, lag sie auf dem Boden, so wie jetzt, und zwei Männer waren da.«

»Was für Männer?« wollte Luca wissen.

»Ich weiß es nicht. Einer war groß, der andere klein.«

»Und dann?«

»Ich bin auf sie losgegangen.«

Die Männer wechselten einen Blick. »Wie?« fragte Luca.

»Ich hatte ein Messer. Ich war doch beim Gemüseschneiden, und als ich aus der Küche kam, hatte ich das Messer noch in der Hand. Als ich die beiden sah, habe ich nicht überlegt, ich bin einfach auf sie losgegangen. Sie sind dann die Treppe hinuntergerannt.« Sie schüttelte den Kopf, das alles interessierte sie nicht. »Was ist mit ihr? Was haben die ihr getan?«

Bevor der Arzt antwortete, entfernte er sich ein paar Schritte von Brett, obwohl sie bestimmt nicht in der Lage gewesen wäre, seine Worte zu hören oder gar zu verstehen. »Sie hat ein paar Rippen gebrochen und einige böse Platzwunden. Außerdem könnte ihr Kiefer gebrochen sein.«

»Oh, Gesù«, entfuhr es Flavia, und sie hielt sich rasch die Hand vor den Mund.

»Aber für eine Gehirnerschütterung gibt es keine Anzeichen. Sie reagiert auf Licht und versteht, was ich sage. Trotzdem müssen wir noch röntgen.«

Noch während er das sagte, hörten sie Stimmen im Treppenhaus. Flavia kniete sich neben Brett. »Sie kommen [23] jetzt, cara. Es wird alles gut.« Ihr fiel nichts anderes zu tun ein, als ihre Hand auf die Decken über Bretts Schulter zu legen und zu hoffen, daß die Wärme zu der Frau darunter durchdrang. »Es wird alles wieder gut.«

Zwei Männer in weißen Kitteln erschienen an der Tür, und Luca winkte sie herein. Sie hatten ihre Trage vier Etagen tiefer neben der Haustür stehenlassen, wie man es überall in Venedig machen mußte, und statt dessen den Korbstuhl mitgebracht, in dem sie die Kranken durch die engen, verwinkelten Treppenhäuser der Stadt zu tragen pflegten.

Beim Eintreten sahen sie nur kurz auf das blutige Gesicht der Frau am Boden, als wäre es ein alltäglicher Anblick für sie, was wohl auch der Fall war. Luca verzog sich ins Wohnzimmer, und der Arzt wies die Männer an, die Verletzte mit besonderer Vorsicht hochzuheben.

Die ganze Zeit fühlte Brett nichts als die Umklammerung des Schmerzes. Er kam von überall in ihrem Körper, aus der Brust, die sich zusammenzog und jeden Atemzug zur Qual werden ließ, von ihren Gesichtsknochen und dem brennenden Rücken. Manchmal spürte sie die Schmerzen einzeln, dann verschmolzen sie wieder in eins, überfluteten sie, vermischten sich und blendeten alles aus, was nicht Schmerz war. Später sollte sie sich von alledem nur an dreierlei erinnern: die Hand des Arztes an ihrem Kinn, eine Berührung, die zu einem weißen Lichtblitz in ihrem Hirn wurde; Flavias Hand an ihrer Schulter, die einzige Wärme in diesem Meer von Kälte; und den Moment, als die Männer sie hochhoben und sie aufschrie und ohnmächtig wurde.

Stunden später, als sie aufwachte, war der Schmerz [24] immer noch da, doch irgend etwas hielt ihn auf Armeslänge von ihr ab. Sie wußte, wenn sie sich bewegte, und sei es auch nur einen Millimeter, würde er wiederkommen und noch schlimmer sein, also lag sie völlig still und versuchte, in jeden einzelnen Teil ihres Körpers hineinzuspüren, um festzustellen, wo der schlimmste Schmerz lauerte, doch bevor sie ihrem Gehirn diesen Auftrag geben konnte, wurde sie von Schlaf übermannt.

Später erwachte sie wieder, und diesmal schickte sie ihren Verstand ganz vorsichtig aus, um ihre diversen Körperteile zu erkunden. Der Schmerz wurde immer noch von ihr ferngehalten, und es schien, als wäre Bewegung nicht mehr so gefährlich, so verhängnisvoll. Sie konzentrierte sich auf ihre Augen und versuchte festzustellen, was dahinter lag, Licht oder Dunkel. Sie bekam es nicht heraus, und so ließ sie ihre Gedanken weiterwandern, über ihr Gesicht, wo Schmerz lauerte, zum Rücken, der warm pochte, und dann zu ihren Händen. Eine war kalt, die andere warm. Stunden lag sie, wie es ihr vorkam, reglos da und dachte darüber nach: Wie konnte eine Hand kalt und die andere warm sein? Eine Ewigkeit grübelte sie über diesem Rätsel.

Eine warm, eine kalt. Sie beschloß, die Hände zu bewegen, um zu sehen, ob das etwas änderte, und unendlich viel später fing sie damit an. Sie versuchte die Hände zu Fäusten zu ballen und konnte sie doch nur ein ganz klein wenig bewegen. Aber es genügte – die warme Hand wurde von intensiverer Wärme umschlossen und von oben und unten kaum merklich gedrückt. Sie hörte eine Stimme, von der sie wußte, daß sie ihr vertraut war, aber sie erkannte sie [25] nicht. Warum sprach diese Stimme Italienisch? Oder war es Chinesisch? Sie verstand die Worte, konnte sich aber nicht erinnern, welche Sprache es war. Erneut bewegte sie die Hand. Wie angenehm diese Wärme gewesen war. Sie versuchte es noch einmal, und wieder hörte sie die Stimme antworten, spürte die Wärme. Oh, wie wunderbar. Da waren Worte, die sie verstand, und Wärme, und ein Teil ihres Körpers, der schmerzfrei war. Beruhigt schlief sie ein.

Endlich war sie bei Bewußtsein und verstand, warum eine Hand warm und die andere kalt war. »Flavia«, flüsterte sie kaum hörbar.

Der Druck um ihre Hand verstärkte sich. Die Wärme auch. »Ich bin hier«, sagte Flavia ganz dicht an ihrem Ohr.

Ohne zu wissen, woher, verstand Brett, daß sie den Kopf nicht drehen konnte, um etwas zu sagen oder ihre Freundin anzusehen. Sie versuchte ein Lächeln, wollte sprechen, aber etwas hielt ihr den Mund zu. Sie versuchte zu schreien, um Hilfe zurufen, doch die unsichtbare Macht hielt ihr den Mund zu.

»Nicht sprechen, Brett«, sagte Flavia, wobei sie den Druck ihrer Hand verstärkte. »Nicht den Mund bewegen. Er ist mit Draht fixiert. Du hast einen Kiefer gebrochen. Versuch bitte nicht zu sprechen. Es ist alles in Ordnung. Du wirst wieder gesund.«

Es war sehr schwer, alle diese Wörter zu begreifen. Aber der Druck von Flavias Hand genügte, der Klang ihrer Stimme reichte aus, um sie zu beruhigen.

Als sie aufwachte, war sie voll bei Bewußtsein. Es war noch immer ziemlich anstrengend, das eine Auge zu öffnen, aber sie konnte es, auch wenn das andere nicht [26] aufgehen wollte. Sie seufzte, erleichtert, daß sie es nicht mehr nötig hatte, ihren Körper mit Tricks zu überlisten. Sie blickte um sich und sah Flavia, die auf ihrem Sessel zusammengesunken schlief, den Kopf nach hinten gelehnt, den Mund leicht geöffnet. Schlaff hingen ihre Arme links und rechts herunter, ganz dem Schlaf hingegeben.

Während sie Flavia beobachtete, erforschte Brett erneut ihren Körper. Vielleicht konnte sie Arme und Beine irgendwie bewegen, auch wenn es schmerzte. Sie lag offenbar auf der Seite, und ihr Rücken tat weh, ein dumpfer, brennender Schmerz. Nachdem sie nun wußte, daß dies das schlimmste war, versuchte sie, den Mund zu öffnen, und spürte den gräßlichen Druck an den Zähnen. Der Kiefer war mit Drähten fixiert, aber sie konnte die Lippen bewegen. Am schlimmsten war, daß ihre Zunge im Mund eingesperrt war. Bei dieser Erkenntnis überkam sie regelrechte Panik. Wenn sie nun husten mußte? Sich verschluckte? Sie verdrängte den Gedanken mit Gewalt. Wenn sie so klar denken konnte, war sie schon wieder obenauf. Sie sah keine Schläuche an ihrem Bett, keine Streckvorrichtungen. Schlimmer, als es schien, konnte es also nicht sein, und das war erträglich. Gerade noch. Aber doch erträglich.

Urplötzlich erkannte sie, daß sie Durst hatte. Ihr Mund brannte, die Kehle schmerzte. »Flavia«, sagte sie, aber sie hörte sich kaum selbst. Flavia öffnete die Augen und starrte voller Schrecken um sich, wie sie es immer tat, wenn sie plötzlich aufwachte. Nach einer kleinen Weile beugte sie sich ganz nah an Bretts Gesicht heran.

»Flavia, ich habe Durst«, flüsterte Brett.

[27] »Und dir auch einen wunderschönen guten Morgen«, antwortete Flavia, laut lachend vor Erleichterung. Da wußte Brett, daß es ihr bald bessergehen würde.

Flavia drehte sich um und nahm ein Glas Wasser von dem Tisch hinter ihr. Sie bog den Plastikstrohhalm und schob ihn Brett zwischen die Lippen, gewissenhaft auf der linken Seite, weit weg von der geschwollenen Platzwunde, die ihren Mund verzerrte. »Ich habe sogar Eis hineingetan, wie du es gern magst«, sagte sie, während sie den Strohhalm festhielt, solange Brett zu trinken versuchte. Ihre Lippen waren wie versiegelt, aber schließlich gelang es ihr, sie an einer Ecke zu öffnen, und herrlich kaltes Wasser umspülte ihre Zähne und floß in ihre Kehle.

Schon nach wenigen Schlucken zog Flavia das Glas weg und sagte: »Nicht so viel. Warte ein wenig, dann bekommst du mehr.«

»Ich fühle mich wie narkotisiert«, sagte Brett.

»Das bist du auch, cara. Alle paar Stunden kommt eine Schwester und gibt dir eine Spritze.«

»Wie spät ist es?«

Flavia sah auf ihre Armbanduhr. »Viertel vor acht.«

Die Zahl sagte Brett gar nichts. »Tag oder Nacht?«

»Tag.«

»Welcher Tag?«

Flavia lächelte und antwortete: »Dienstag.«

»Dienstag früh?«

»Ja.«

»Warum bist du hier?«

»Wo soll ich denn sonst sein?«

»In Mailand. Du mußt heute abend singen.«

[28] »Dafür gibt es zweite Besetzungen, Brett«, meinte Flavia wegwerfend. »Damit sie einspringen, wenn die erste Garnitur krank wird.«

»Aber du bist nicht krank«, murmelte Brett, durch Schmerzen und Medikamente begriffsstutzig geworden.

»Laß das nicht den künstlerischen Direktor der Scala hören, sonst darfst du meine Vertragsstrafe bezahlen.« Flavia war bemüht, einen leichten Ton anzuschlagen.

»Aber du sagst nie eine Vorstellung ab.«

»Tja, nun habe ich es aber getan, und damit fertig. Ihr Amerikaner nehmt die Arbeit immer so ernst«, sagte Flavia. »Willst du noch etwas Wasser?«

Brett nickte und bereute die Bewegung sofort. Sie lag ein paar Sekunden still und hielt die Augen geschlossen, bis Übelkeit und Benommenheit wieder abgeklungen waren. Als sie die Augen öffnete, sah sie Flavia, die sich mit dem Glas in der Hand über sie beugte. Wieder schmeckte sie die herrliche Kühle, schloß die Augen und ließ sich ein Weilchen wegdriften. Dann fragte sie plötzlich: »Was ist eigentlich passiert?«

Bestürzt fragte Flavia: »Erinnerst du dich nicht?«

Brett schloß wieder die Augen. »Doch. Ich erinnere mich. Ich hatte Angst, sie würden dich umbringen.« Wegen der verdrahteten Zähne dröhnte ihr Kopf bei jedem Wort.

Flavia lachte darüber, spielte weiter die Tapfere. »Keine Chance. Wahrscheinlich habe ich zu oft die Tosca gespielt. Ich bin kurzerhand mit dem Messer auf sie losgegangen, und den einen habe ich am Arm erwischt.« Sie wiederholte die Bewegung, fuhr mit dem Arm durch die Luft und [29] lächelte, offenkundig in Erinnerung daran, wie der Stich den Mann getroffen hatte. »Ich wünschte, ich hätte ihn umgebracht«, sagte Flavia beiläufig, und Brett glaubte es ihr.

»Und dann?«

»Abgehauen sind sie. Dann bin ich zu Luca runtergelaufen, und der ist rüber ins Krankenhaus, und dann haben wir dich hierhergebracht.« Während Flavia sie ansah, fielen Brett langsam die Augen zu, und sie schlief ein paar Minuten, den Mund halb offen, so daß die groteske Verdrahtung ihrer Zähne sichtbar war.

Plötzlich öffnete sie das eine Auge und blickte um sich, als wäre sie überrascht, sich hier wiederzufinden. Sie sah Flavia und beruhigte sich.

»Warum haben die das getan?« sprach Flavia jetzt die Frage aus, die sie seit zwei Tagen umtrieb.

Es dauerte eine ganze Weile, ehe Brett antwortete: »Semenzato.«

»Vom Museum?«

»Ja.«

»Und? Was haben sie gesagt?«

»Ich verstehe es nicht.« Hätte Brett ohne Schmerzen den Kopf schütteln können, hätte sie es getan. »Ergibt keinen Sinn.« Ihre Worte klangen verzerrt infolge der schweren Klammer, die ihre Zähne zusammenhielt. Sie sagte noch einmal Semenzatos Namen und hielt dann lange die Augen geschlossen. Als sie sie wieder öffnete, fragte sie: »Was fehlt mir alles?«

Flavia war auf die Frage vorbereitet und beantwortete sie kurz. »Zwei Rippen gebrochen. Und der Kiefer ist angeknackst.«

[30] »Was noch?«

»Das ist das Schlimmste. Außerdem ist dein Rücken ziemlich übel aufgeschürft.« Sie sah Bretts Verwirrung und erklärte: »Du bist gegen die Wand gestürzt und im Fallen mit dem Rücken an den Steinen entlanggerutscht. Außerdem ist dein Gesicht ziemlich blau«, schloß Flavia, bemüht, es nicht so ernst klingen zu lassen. »Der Kontrast betont deine Augen, aber ich glaube, insgesamt gefällt mir das nicht so gut.«

»Wie schlimmist es denn?« fragte Brett, die den scherzhaften Unterton nicht mochte.

»Ach, nicht allzu schlimm«, sagte Flavia, offensichtlich nicht ganz wahrheitsgetreu. Brett warf ihr einen langen, einäugigen Blick zu, der Flavia zu der Erläuterung zwang: »Dein Brustkorb muß noch bandagiert bleiben, und eine Woche oder so wirst du wohl ziemlich steif sein. Er hat gesagt, daß nichts zurückbleibt.« Weil es die einzige gute Nachricht war, die sie hatte, vervollständigte sie die Aussage des Arztes: »In ein paar Tagen nehmen sie dir die Drähte wieder heraus. Es ist nur ein Haarriß. Und deine Zähne sind unbeschädigt.« Als sie sah, wie wenig sie Brett damit aufmunterte, fügte sie hinzu: »Die Nase auch.« Noch immer kein Lächeln. »Keine Narben im Gesicht. Wenn die Schwellung erst einmal abgeklungen ist, siehst du wieder aus wie neu.« Flavia sagte nichts über die Narben, die Brett auf dem Rücken behalten würde, noch äußerte sie sich darüber, wie lange es dauern werde, bis die Schwellungen und Blutergüsse aus ihrem Gesicht verschwunden sein würden.

Brett merkte plötzlich, wie sehr diese kurze [31] Unterhaltung sie ermüdet hatte, und wieder zerrte der Schlaf an ihr. »Geh für ein Weilchen nach Hause, Flavia. Ich werde jetzt schlafen, und dann …« Ihre Stimme verebbte, bevor sie den Satz noch beenden konnte, und schon schlief sie. Flavia setzte sich in ihrem Sessel zurecht und inspizierte das zerschundene Gesicht, das zur Seite gedreht vor ihr auf dem Kissen lag. Die Blutergüsse an Stirn und Wangen hatten sich innerhalb der letzten anderthalb Tage fast schwarz verfärbt, und das eine Auge war noch zugeschwollen. Bretts Unterlippe war um den vertikalen Riß herum angeschwollen und klaffte weit auseinander.

Man hatte Flavia mit Gewalt aus dem Behandlungszimmer fernhalten müssen, während die Ärzte an Brett arbeiteten, ihren Rücken säuberten und ihren Brustkorb bandagierten. Sie war auch nicht dabeigewesen, als sie ihr die dünnen Drähte zwischen den Zähnen hindurchfädelten und ihren Kiefer fixierten. Sie hatte nur auf dem langen Korridor des Krankenhauses auf und ab tigern und ihre Ängste denen der anderen Besucher und Patienten zugesellen können, die in kleinen Grüppchen in die Cafeteria gingen und das bißchen Licht suchten, das in den kleinen Hof fiel. Sie war eine Stunde lang nur auf und ab gegangen und hatte sich von verschiedenen Leuten drei Zigaretten erbettelt, die ersten, die sie seit über zehn Jahren wieder rauchte.

Seit dem späten Sonntag nachmittag hatte sie an Bretts Bett gesessen und gewartet, daß sie aufwachte, war nur gestern einmal kurz in die Wohnung zurückgegangen, um zu duschen und einige Telefonate zu führen, wobei sie auch die angebliche Krankheit erfand, die sie heute abend davon [32] abhielt, an der Scala zu singen. Ihre Nerven waren angespannt durch Schlafmangel, zuviel Kaffee, das erneute Verlangen nach einer Zigarette und diesen öligen Schmierfilm von Angst, der sich all denen auf die Haut legt, die sich zu lange in einem Krankenhaus aufhalten müssen.

Sie sah zu ihrer Geliebten hinüber und wünschte sich erneut, sie hätte den Mann umgebracht, der das getan hatte. Flavia Petrelli hatte wenig Sinn für Reue, aber um so mehr für Rache.

[33] 3

Hinter ihr ging die Tür auf, aber Flavia wandte den Kopf nicht um, wer es war. Eine Schwester wahrscheinlich. Ein Arzt wohl kaum; die waren rar hier. Kurz darauf hörte sie eine Männerstimme fragen: »Signora Petrelli?«

Sie drehte sich um, wobei sie überlegte, wer das wohl sein konnte und wie er sie hier ausfindig gemacht hatte. An der Tür stand ein relativ großer, kräftig gebauter Mann, der ihr entfernt bekannt vorkam, aber sie konnte ihn nicht einordnen. Einer der Stationsärzte? Oder schlimmer, ein Reporter?

»Guten Morgen, Signora«, sagte er, wobei er regungslos in der Tür stehenblieb. »Ich bin Guido Brunetti. Wir haben uns vor ein paar Jahren schon einmal getroffen.«

Es war der Polizist, der damals in der Wellauer-Sache ermittelt hatte. Nicht unintelligent, erinnerte sie sich, und Brett hatte ihn aus Gründen, die Flavia nie ganz verstanden hatte, simpatico gefunden.

»Guten Morgen, Dottor Brunetti«, antwortete Flavia förmlich und bewußt leise. Sie stand auf, vergewisserte sich mit einem Blick, daß Brett noch schlief, und ging zu ihm hinüber. Sie reichte ihm die Hand, und er drückte sie kurz.

»Hat man den Fall jetzt Ihnen übergeben?« fragte sie. Als die Worte heraus waren, merkte sie, wie aggressiv ihre Frage geklungen hatte, und es tat ihr leid.

Er überging ihren Ton. »Nein, Signora. Ich habe Dottoressa Lynchs Namen im Protokoll von dem Überfall [34] gesehen und wollte wissen, wie es ihr geht.« Noch bevor Flavia eine Bemerkung über seine Langsamkeit machen konnte, erklärte er: »Den Fall bearbeitet ein Kollege, ich habe den Bericht erst heute morgen gelesen.« Er sah zu der schlafenden Frau hinüber; legte die Frage in seinen Blick.

»Besser«, sagte Flavia. Sie ging wieder zu Brett und winkte ihn näher an das Bett heran. Brunetti kam durchs Zimmer und blieb hinter Flavias Stuhl stehen. Er stellte seine Aktentasche auf den Boden, stützte beide Hände auf die Stuhllehne und sah auf das Gesicht der zusammengeschlagenen Frau hinunter. Schließlich fragte er: »Was ist passiert?« Er hatte sowohl den Bericht als auch Flavias Aussage gelesen, aber er wollte es von ihr selbst hören.

Flavia verkniff sich die Erwiderung, das herauszufinden sei seine Sache; statt dessen erzählte sie mit gedämpfter Stimme: »Am Sonntag kamen zwei Männer zu Bretts Wohnung. Sie sagten, sie kämen vom Museum und brächten Unterlagen. Brett hat ihnen aufgemacht. Nachdem sie schon ziemlich lange mit ihnen in der Diele war, bin ich nachsehen gegangen, warum sie nicht zurückkam, und da lag sie auf dem Boden.« Brunetti nickte, während sie sprach; das stand alles in der Aussage, die sie gegenüber zwei verschiedenen Polizisten gemacht hatte. »Als ich aus der Küche kam, hatte ich ein Messer in der Hand. Ich war gerade beim Gemüseschneiden und hatte schlicht vergessen, es wegzulegen. Als ich sah, was die machten, habe ich nicht erst nachgedacht. Einen habe ich verletzt. Eine ziemlich böse Schnittwunde am Arm. Daraufhin sind sie aus der Wohnung gerannt.«

»Raubüberfall?« fragte er.

[35] Sie zuckte die Achseln. »Möglich. Aber warum dann das?« Sie deutete mit einer Handbewegung auf Brett.

Er nickte wieder und murmelte: »Richtig, richtig.« Dann trat er vom Bett zurück, stellte sich neben sie und fragte: »Ist viel Wertvolles in der Wohnung?«

»Ja, ich glaube schon. Teppiche, Bilder, Keramiken.«

»Das Motiv könnte also Raub gewesen sein«, meinte er, und für Flavia klang es, als wollte er sich selbst damit überzeugen.

»Die Männer haben gesagt, der Direktor des Museums hätte sie geschickt. Wie sind die auf so etwas gekommen?« fragte sie. Raub als Motiv erschien ihr nicht plausibel, und das um so weniger, je öfter sie Bretts Gesicht ansah. Wenn dieser Polizist das nicht begriff, würde er gar nichts begreifen.

»Wie schwer sind ihre Verletzungen?« erkundigte er sich, ohne auf ihre Frage zu antworten. »Ich hatte noch keine Zeit, mit den Ärzten zu sprechen.«

»Gebrochene Rippen und ein angebrochener Kieferknochen, aber keine Anzeichen für eine Gehirnerschütterung.«

»Haben Sie schon mit ihr gesprochen?«

»Ja.«

Ihre brüske Antwort erinnerte ihn daran, daß bei ihrem letzten Zusammentreffen keine besondere Sympathie zwischen ihnen geherrscht hatte. »Es tut mir leid, daß so etwas passieren konnte.« Er sagte das wie ein Mensch, nicht wie ein Amtsvertreter.

Flavia nickte flüchtig, antwortete aber nichts.

»Wird sie es überstehen?«

[36] So wie die Frage gestellt war, trug sie ihrer intimen Beziehung zu Brett Rechnung, schloß ihre Fähigkeit mit ein, das Seelenleben ihrer Freundin zu beurteilen und zu erkennen, wieviel Schaden eine solche Mißhandlung ihr zufügen konnte. Flavia war verwirrt, weil sie ihm am liebsten für diese Frage gedankt hätte, mit der er ihre Rolle in Bretts Leben anerkannte. »Ja, sie wird es überstehen.« Dann, sachlicher: »Und die Polizei? Haben Sie schon etwas herausgefunden?«

»Nein, leider nicht«, antwortete Brunetti. »Die Beschreibungen, die Sie von den beiden Männern gegeben haben, passen auf niemanden, den wir hier kennen. Wir haben in den Krankenhäusern von Venedig und Mestre nachgefragt, aber es ist niemand mit einer Messerwunde eingeliefert worden. Der Umschlag wird noch auf Fingerabdrücke untersucht.« Er sagte ihr nicht, daß dies vielleicht durch eingesickertes Blut erschwert würde, auch nicht, daß der Umschlag leer gewesen war.

Hinter ihm bewegte sich Brett unter den Decken, seufzte auf und war wieder still.

»Signora Petrelli«, begann er und hielt inne, suchte nach den richtigen Worten. »Ich würde gern eine Weile bei ihr sitzen bleiben, wenn es Sie nicht stört.«

Flavia ertappte sich bei der Frage, warum sie sich so geschmeichelt fühlte, nur weil er so selbstverständlich akzeptierte, was sie und Brett füreinander waren, dann überraschte sie sich selbst mit der Erkenntnis, daß sie gar nicht genau wußte, was das eigentlich war. Von diesen Gedanken bestimmt, zog sie einen zweiten Stuhl heran und rückte ihn neben ihren.

[37] »Grazie«, sagte er. Dann setzte er sich hin, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Sie hatte den Eindruck, daß er nötigenfalls den ganzen Tag so dazusitzen gedachte.

Er machte keine weiteren Anstalten, sich mit ihr zu unterhalten, saß nur still da und wartete auf irgend etwas. Sie setzte sich neben ihn, erstaunt, wie wenig sie das Bedürfnis verspürte, weiter mit ihm Konversation zu machen oder sich an Benimmregeln zu halten. Sie saß einfach da. Zehn Minuten vergingen. Langsam sank ihr Kopf nach hinten gegen die Stuhllehne, und sie döste ein, dann schreckte sie wieder hoch, als ihr Kopf nach vorn fiel. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Halb zwölf. Er war seit einer Stunde hier.

»War sie inzwischen wach?« fragte sie ihn.

»Ja, aber nur ein paar Minuten. Gesagt hat sie nichts.«

»Aber sie hat Sie gesehen?«

»Ja.«

»Und erkannt?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Gut.«

Nach einer langen Pause fragte er: »Signora, würden Sie gern für ein Weilchen nach Hause gehen? Vielleicht etwas essen? Ich bleibe hier. Sie hat mich gesehen, wird also keine Angst bekommen, wenn sie aufwacht und ich hier bin.«

Vor Stunden hatte Flavia nagenden Hunger verspürt; jetzt war er verschwunden. Aber die Mischung aus Müdigkeit und Ungewaschensein klebte an ihr, und der Gedanke an eine Dusche, saubere Handtücher, frischgewaschene Haare, frische Kleider ließ sie fast japsen vor Sehnsucht. [38] Brett schlief fest, und in wessen Obhut war sie sicherer als in der eines Polizisten?

»Ja«, sagte sie und stand auf. »Ich bleibe nicht lange. Wenn sie aufwacht, sagen Sie ihr bitte, wo ich hingegangen bin.«

»Natürlich«, sagte er und erhob sich, während Flavia ihre Tasche nahm und hinter der Tür ihren Mantel holte. Auf der Schwelle drehte sie sich zum Abschied um und bedachte Brunetti mit dem ersten richtigen Lächeln, das sie ihm bisher geschenkt hatte. Dann verließ sie das Zimmer und schloß leise die Tür hinter sich.

Brunetti hatte zuerst kaum einen Blick auf den Bericht von dem Überfall geworfen, den Signorina Elettra ihm heute morgen in sein Büro gebracht hatte, zumal nachdem er gesehen hatte, daß die uniformierten Kollegen sich schon damit befaßten. Als sie ihn die Mappe beiseite legen sah, hatte Signorina Elettra gesagt: »Ich dachte, Sie würden sich das vielleicht gern etwas genauer ansehen, Dottore.« Damit war sie in ihr eigenes Büro hinuntergegangen.

Die Adresse hatte ihm nichts gesagt, aber in einer Stadt, die nur sechs verschiedene Postbezirke mit fortlaufenden Hausnummern kennt, waren Anschriften ziemlich bedeutungslos. Der Name hatte ihn mitten aus der Seite angesprungen: Brett Lynch. Er hatte keine Ahnung, daß sie aus China zurück war, hatte sie in den Jahren, die seit ihrem letzten Zusammentreffen verstrichen waren, ganz vergessen. Die Erinnerung an dieses Zusammentreffen und alles, was damit zusammenhing, war es dann, was ihn ins Krankenhaus geführt hatte.

Die schöne junge Frau, die er vor einigen Jahren [39] kennengelernt hatte, war nicht mehr wiederzuerkennen, hätte leicht jede beliebige zusammengeschlagene und mißhandelte Frau sein können, die er im Laufe seiner Arbeit bei der Polizei gesehen hatte. Während er sie betrachtete, listete er im Kopf die Männer auf, von denen er wußte, daß sie solcher Art von Gewalt gegen eine Frau fähig waren – nicht gegen eine, die sie kannten, sondern gegen eine, auf die sie beim Begehen eines Verbrechens trafen. Es wurde eine sehr kurze Liste: Einer saß im Gefängnis von Triest, der andere befand sich dem Vernehmen nach auf Sizilien. Die Liste derer, die einer ihnen bekannten Frau so etwas antun würden, war sehr viel länger, und einige davon hielten sich in Venedig auf, aber er bezweifelte, daß einer von ihnen Brett Lynch kannte oder einen Grund gehabt hätte, ihr das anzutun, falls er sie doch kannte.

Raub? Signora Petrelli hatte den beiden Polizisten, die sie vernommen hatten, gesagt, daß die beiden Männer, die in Bretts Wohnung gekommen waren, offenbar nicht gewußt hatten, daß sich noch jemand dort aufhielt, folglich ergab das Zusammenschlagen keinen Sinn. Wenn sie die Wohnung hätten ausrauben wollen, hätten sie Brett fesseln oder in ein Zimmer sperren und sich dann in aller Ruhe nehmen können, was sie wollten. Keiner der Diebe, die er in Venedig kannte, würde so etwas tun. Wenn also nicht Raub, was dann?

Da Brett die Augen geschlossen hielt, überraschte ihn ihre Stimme, als sie plötzlich sagte: »Mi dai da bere?«

Erschrocken beugte er sich vor.

»Wasser«, sagte sie.

Auf dem Tischchen neben ihrem Bett standen eine [40] Plastikkaraffe und ein Becher mit Strohhalm. Er goß Wasser in den Becher und hielt ihr den Strohhalm an die Lippen, bis sie alles ausgetrunken hatte. Hinter ihren Lippen sah er das Geflecht der Drähte, die ihre Kiefer zusammenhielten. Das also war der Grund, warum sie so undeutlich sprach, dies und die Medikamente.

Ihr rechtes Auge öffnete sich, ein intensiveres Blau als die Haut drum herum. »Danke, Commissario.« Das Auge blinzelte und blieb offen. »Komischer Ort für ein Wiedersehen.« Wegen der Drähte klang ihre Stimme wie aus einem schlecht eingestellten Radio.

»Ja«, stimmte er zu und mußte über die Absurdität ihrer Bemerkung und seine banale Förmlichkeit lächeln.

»Flavia?« fragte sie.

»Sie ist mal kurz nach Hause gegangen, kommt aber bald wieder.«

Brett bewegte den Kopf auf dem Kissen, und er hörte sie scharf die Luft einziehen. Nach einer kleinen Weile fragte sie: »Warum sind Sie hier?«

»Ich habe Ihren Namen in dem Bericht von dem Überfall gelesen, da wollte ich wissen, wie es Ihnen geht.«

Ihre Lippen bewegten sich ganz leicht, vielleicht ein von Schmerzen abgeschnittenes Lächeln. »Nicht sehr gut.«

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Schließlich fragte er, obwohl er es eigentlich nicht hatte tun wollen: »Erinnern Sie sich, was passiert ist?«